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Die unerforschte Stadt

 

 

Harald Harst: Aus meinem Leben

 

Band: 189

 

Die unerforschte Stadt

 

Erzählt von

Max Schraut (Walther Kabel)

 

1. Kapitel.

Unseres Hauses Geheimnis.

Wenn das Harstsche Familienhaus in der Blücherstraße einmal wie ich zur Feder greifen und seine eigene Chronik schreiben könnte, – ich glaube, sie würde keineswegs langweilig werden.

Über dem Eingang dieses behaglichen alten Steinkastens ist in die dicke Mauer ein zierlich behauener Sandstein in Form einer Maurerkelle eingefügt, deren breite Fläche in längst vom Zahn der Zeit arg verwaschenen Zeichen außer der Zahl 1803 noch die Buchstaben H. H., Hermann Harst, zeigt.

Dieser Maurermeister Hermann Harst, der Urgroßvater meines Freundes, muß nach allem, was sich über ihn in der Familie von Mund zu Mund weitervererbt hat, ein ebenso tüchtiger Handwerker und Geschäftsmann wie origineller Kauz gewesen sein. Damals, als er auf dem Gebiete des heutigen Vorortes Schmargendorf das große Gebäude errichten ließ, durchlebte Deutschland genau so unruhige Zeiten wie heute, wo wir unter den Folgen des unseligen Krieges schwer zu tragen haben. Napoleon war Kaiser der Franzosen geworden. Sein staatsmännischer und militärischer Ehrgeiz bedrohte die Ruhe Mitteleuropas. Weitsichtige Männer ahnten damals schon auch für Berlin die kommende Schreckenszeit, den Zusammenbruch des friederizianischen Preußens, das auf den Lorbeeren des großen Königs sanft eingeschlummert war. –

Nach dieser kurzen Vorbemerkung führe ich den Leser an einem klaren, kalten und stürmischen Dezemberabend in Harald Harsts Arbeitszimmer, das in besagtem Hause gleich rechts vom Vorderflur lag und mit seinen drei Fenstern, seiner Länge von sieben Meter und seiner Tiefe von fünf Metern mehr einem kleinen Saale glich – nein – gleicht.

Es war gegen halb zehn. Der altertümliche Kamin sandte seine Wärmestrahlen bis hinein in die linke Hinterecke dieses eleganten und doch so nachdrücklich persönliche Eigenart betonenden Raumes. In dieser Ecke stehen das Klubsofa, der viereckige Eichentisch und die drei Klubsessel.

Auf diesem mit einer kostbaren echten Kaschmirdecke belegten Tische brannte die elektrische Stehlampe mit bronzefarbenem Seidenschirm und zwei Birnen. Harst saß in der einen Sofaecke und kramte in alten Familienurkunden, während ich im Klubsessel lag und die Beine auf einen zweiten Sessel gestützt hatte. Ich war müde und schläfrig.

Aus meinem gedankenlosen Hindösen wurde ich durch einen leisen Ausruf Harsts aufgeschreckt.

„Sollte es möglich sein!!“ – Und nochmals wiederholte er, nur leiser, denselben Satz …

Ich wandte faul mein haararmes Haupt. „Was gibt’s?!“ „Ich habe hier den vergilbten Bauentwurf meines Urahns soeben wieder studiert, den Grundriß, lieber Alter. Und als ich ihn – heute zum ersten Male – umdrehte und mir die fleckige Rückseite des mürben, starken Papiers beschaue, entdecke ich zwischen den Stockflecken und der anderen Alterspatina Reste von Buchstaben. Die Tinte ist natürlich vollkommen vergilbt, und wenn ich nicht die unleserlichen Wortteile ergänzt hätte, würde ich auch heute noch nicht wissen, daß unser Heim … ein Geheimnis enthält. – Ob wohl – ein anderes Thema – bei der Wortbildung „Geheimnis“ der Ausdruck „Heim“ mit von …“

„Bleiben wir beim Thema,“ unterbrach ich ihn. Ich war durchaus nicht mehr schläfrig. „Lies mal vor … Ich bin gespannt …“

„Darfst du auch sein … – Mein Urgroßvater hat hier ein Jahr nach der Fertigstellung des Gebäudes folgendes vermerkt:

18. Juni 1804.

Dieweil zu erwarten steht, daß der glorreiche Kaiser Napoleon, der in Punkto Klugheit die Herren Staatsmänner unserer Zeit bedeutend übertrifft, auch unsere Land sich untertan zu machen versuchen wird, habe ich für unruhige Tage zum Schutz des Wertvollen und zur Erhaltung des Lebens der Meinen in aller Diskretion mit eigener Hand in langen Nächten an diesem meinem Hause eine bauliche Wariatio vorgenommen, indem ich den westlichen Kellergang um ein beträchtliches erweiterte und so ein Gelaß schuf, dessen Ausdehnung, Einrichtung und Zugang uns, so Gott will, genügend schützen wird. – Meinem getreuen Eheweibe Anna habe ich dringend befohlen, diese Zeichnung vor jedermann verborgen zu halten, so daß, zumal mein Freund, der Apotheker Gimmel vom Gendarmenmarkt, Berlin, mir eine schnell wieder verschwindende Dintenmixtur gebraut hat, mit diesem Geheimnis meines Hauses keinerlei Mißbrauch getrieben werden kann.

Hermann Harst,
Maurermeister, Ziegelbrenner.

Ich hatte mit gespitzten Ohren zugehört …

Harst reichte mir nun den zerknitterten, am Rande vielfach zerfetzten Grundriß, und mit steigendem Interesse überlas ich nun persönlich die Wortfragmente, aus denen ich freilich niemals den vollen Sinn herausgetüftelt hätte, obwohl Apotheker Gimmels „Dintenmixtur“ immerhin leidlich erkennbare Schriftzeichen zurückgelassen hatte.

„Und dies Geheimnis ist nun hundertzweiundzwanzig Jahre selig entschlummert gewesen, bis du es …“ – hier brach ich ab, denn Harald hatte sich erhoben und ging zum Schreibtisch, nahm die Karbidlaterne aus dem Seitenfach und wandte sich der Tür zu.

Ich kenne ihn seit Jahren. Überflüssige Worte macht er nie. Im Flur setzten wir die Wintersportmützen auf und schritten durch die Pendeltür in den Hinterflur, wo sich unter der in das erste Stockwerk hinaufführenden Treppe der Eingang zu den ausgedehnten Kellerräumen befindet.

Der altehrwürdige plumpe Schlüssel steckte im Schloß der Kellertür.

„Mathilde ist wieder einmal nachlässig gewesen,“ meinte Harald. „Der Schlüssel soll abgezogen werden …“

Er öffnete die Tür. Ich rieb ein Zündholz an. Die Laterne puffte auf.

In demselben Moment drang aus dem Treppenschacht aus fernen Tiefen des Kellers ein unbestimmtes Geräusch an unser Ohr …

Harst, der die Hand nach der Laterne ausgestreckt hatte, ließ den Arm langsam sinken, beugte den Oberkörper lauschend vor und flüsterte: „Es kann eine Katze sein … Die kaputte Scheibe des einen Fensters des Kohlenkellers hätte längst erneuert werden müssen …“

Wir lauschten. Aus den Kellerräumen wehte uns die muffige Luft lagernder Kartoffeln entgegen. Jeder kennt diesen Geruch. Aber meine Nase – und mein Geruchssinn ist (als einziger!) wohl infolge meiner Nervosität besser entwickelt als der Haralds – unterschied noch etwas anderes: eine ganz geringe Beimengung von … Parfüm!

Nun gibt es im ganzen Harstschen Hause außer Kölnisch Wasser keine Wohlgerüche. Weder Harst noch ich benutzen jemals ein Parfüm. Für Leute unseres Liebhaberberufs könnte die geringste Menge Derby, Safranor, Peau d’Espagne oder eines sonstigen Herrenparfüms verhängnisvoll werden. Und Haralds Mutter schwärmte lediglich für Kölnisch Wasser, ebenso unsere brave dicke Köchin Mathilde, letztere „anleihenweise“ – als Mitbenutzerin der schlichten Flaschen von Johanna Maria Karina ihrer gütigen, weißhaarigen Herrin. –

Wie der nachts auf Beute ausziehende lichtscheue Panther außer dem ausgelegten Köder auch den gut verborgenen Jäger wittert, – ein Vergleich, der hier vielleicht etwas hinkt, denn ich habe wahrhaftig nichts pantherartiges an mir, – ebenso windete nun ich mit meiner niemals prämierten Stupsnase mißtrauisch in das Dunkel vor uns hinein … Harst hatte die Laterne längst an sich genommen und unter der Schnürjacke verborgen.

Kein Zweifel: es war nicht nur der fade Geruch der eingekellerten Kartoffeln, es war auch Parfüm und zwar fraglos Derby! Auf meine Nase ist unbedingt Verlaß.

„Derby!“ hauchte ich Harald ins Ohr …

Er – ebenso leise: „Ganz recht … Es ist ein Fremder vor uns in den Keller hinabgegangen!“

Da – – abermals das ferne unklare Geräusch …

Jetzt hielt es längere Zeit an, dieses merkwürdige Scharren.

„Es klingt wie das Arbeiten einer gut geölten Stahlsäge,“ raunte mir Harald zu …

Dann schlich er die Treppe hinab, indem er die Jacke etwas lüftete …

Ich folgte …

Wir standen nun im Kreuzgange des Kellers. Das Geräusch war verstummt. Plötzlich vor uns ein deutliches Knacken und das Poltern herabfallender Steine …

Harst stürmt vorwärts … an drei Türen vorüber. Rechts die vierte halb offen … Ein leerer Raum mit einem vergitterten Fenster nach dem Hofe zu … Aber das Gitter fehlt. Der Fensterflügel ist zurückgedreht … Das Gitter lehnt unten an der Mauer.

„Um ein paar Sekunden zu spät,“ sagt Harst achselzuckend, beleuchtet das Fenster, schnuppert …

Ja – der Derby-Geruch ist hier noch intensiver … Und wie ich die Nase dicht an das Fensterloch bringe, rieche ich’s fast aufdringlich, dieses von der Lebewelt vielfach so sehr bevorzugte Parfüm …

Harst hebt das herausgesägte Gitter empor …

„Hm – saubere, schnelle Arbeit …,“ meint er. „Das war kein Neuling … Was wollte der Mensch hier?!“

Er beugte sich ganz tief und beleuchtet den Boden. Aber die schmutzigen, trockenen Ziegelsteine haben keinerlei Spuren angenommen. –

Was wollte der Mensch hier?! Ein Dieb?! – Ausgeschlossen! Blücherstraße 10 besuchen nur Bestohlene, keine Gauner, es sei denn, daß diese Herren von der Verbrecherzunft vielleicht dem starken Triebe finsterer Rachegelüste folgen … Wir sind bei den Herren nicht beliebt, und ihresgleichen handelt noch nach dem primitiven Grundsatz aus Raubritterzeiten: Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Harst stellt das Gitter wieder an die Mauer und meint gleichgültig:

„Vielleicht vermute ich das Richtige, mein Alter … Komm nur …“

Er geht voraus, den Kellergang hinab, bis dorthin, wo der Gang endet. Wir befinden uns jetzt bereits unterhalb des Hofraumes, der das Haus vom Gemüsegarten trennt, stehen hier vor einer unverputzten Ziegelmauer aus jenen gebrannten Steinen großen Formats, wie sie vor hundert Jahren hergestellt wurden, – stehen also nun an jener Stelle, wo sich der Zugang zu dem von Hermann Harst, dem Urahn, eigenhändig hergestellten Geheimgelaß befinden müßte.

Harst läßt den grellen Lichtschein der Laterne über diese Mauer, den Abschluß des Ganges, hingleiten.

Nichts zu sehen, was irgendwie auf eine verborgene Tür hingedeutet hätte – nichts …

Dann beginnt er mit der großen Klinge seines Taschenmessers in den Mauerfugen umherzustochern …

Nichts …

Aber er ist hartnäckig, geduldig. Und auch ich bin überzeugt, das hier etwas zu entdecken ist. Die Niederschrift des Erbauers dieses Hauses kann nicht trügen.

Harald bückt sich schließlich, tritt einen Schritt zurück, beleuchtet die Ziegelsteine, mit denen hier wie überall in den Kellern der Boden belegt ist. Mit einer ihm sonst fremden Hast deutet er plötzlich auf eine große, halb verfaulte, breitgedrückte Kartoffel rechts an der Seitenwand. Ich sehe, daß in dem schmierigen, stinkenden Fäulnisbrei sich die Sohle eines schmalen, kleinen Stiefels deutlich abzeichnet. Jemand hat die Kartoffel zertreten – jemand: die Person, die das Gitter heraussägte – ohne Zweifel, denn diese Spur ist ganz frisch.

„Ein Weib,“ sagt Harald nur …

Und wie er es sagt, hat er mit der rechten Hand, mit dem Zeigefinger aus einer breiten Fuge des Ziegelbodens einen verrosteten eisernen Ring, der mit einer ebenso verrosteten eisernen Kette verbunden ist, herausgeholt …

Zieht … hebt eine viereckige Falltür auf … –

So fand er das bescheidene Geheimnis seines eigenen Hauses.

 

2. Kapitel.

Mein Fellboot.

Unter der Falltür gähnt uns ein enger Schacht mit einer eisernen Leiter darin entgegen. Aus diesem Schacht weht uns verdorbene Luft an, vermischt mit … Derby!! Wieder Derby!!

Harst atmet tief, nickt … „Ich dachte es mir ja … Sie war hier unten …“

Er beginnt die Leiter hinabzuklettern.

Ich folge neugierig. Aus dem gemauerten, feuchten Schacht führt eine dicke Tür aus Eichenbohlen in einen quadratischen Raum, etwa fünf Meter im Geviert, der vollkommen leer ist. Die Tür hat außen ein plumpes Schloß und einen Riegel, innen zwei stärkere Riegel. Der Boden ist auch hier mit Ziegeln belegt, aber naß und mit weißlichem Schimmel bedeckt, desgleichen die Wände. In einer Ecke steht ein plumper Ofen, dessen eisernes Rauchfangrohr oben in der Decke verschwindet …

Harst sagt nur: „Das Rohr mündet sicherlich im Wurzelwerk der hohen uralten Buche auf unserem Hofe …“

Dann – er schien noch mehr hinzufügen zu wollen – streckt er die Hand aus und greift nach einem Briefe, der auf dem kleinen Ofen liegt und dessen graublauer Umschlag uns bisher entgangen ist.

Ich lese die Anschrift mit:

Mr. Harald Harst.

Eilt!!

„Also deshalb!!“ meint Harald kopfschüttelnd. „Etwas umständlich …!“

Schneidet den Umschlag sauber auf und zieht den Briefbogen heraus …

Ebenfalls mit Tintenstift geschrieben – eine Handschrift, die mancherlei verrät, eine grob hingehauene, steile, schmucklose Schrift, nirgends ein Schnörkel, unverkennbar von einer Frau von sehr eigenwilligem, rücksichtslosem Charakter …

Harald wirft nur einen flüchtigen Blick auf die erste Seite, springt plötzlich zur Balkentür …

Und da sehe auch ich auf der Eisenleiter blitzschnell zwei Beine in Sporthosen nach oben zu verschwinden …

Höre die Ziegelsteintür herabpoltern …

„Wir sind eingesperrt,“ lacht Harst ironisch. „Freilich hat die Person sich die Sache anders gedacht, hoffte auch die Eichentür noch schließen zu können, und dann wären wir allerdings böse in der Patsche gewesen, mein Alter …“

Er schiebt Brief und Umschlag in die Jackentasche, steigt die Leiter empor und versucht, die Falltür emporzudrücken. Es gelingt.

Wir verlassen den Keller und sitzen nun wieder in Haralds Arbeitszimmer. Die Gleichgültigkeit und Gelassenheit meines Freundes gegenüber dem soeben Erlebten setzt selbst mich in Erstaunen. Er langt nach dem silbernen Zigarettenkasten und raucht sich umständlich eine seiner Mirakulum an.

„Und der Brief?“ frage ich ungeduldig.

Harst formt drei Rauchringe … „Wir begehen immer wieder dieselben Fehler, mein Alter,“ sagt er dann, – – ohne den Brief aus der Tasche hervorzuholen. „Wir sind Luftfanatiker, und die bis zum Schlafengehen offenen Fenster meines nach dem Hofe hinausliegenden Schlafzimmers haben uns schon so manchen bösen Streich gespielt …“

Ich verstand ihn sofort. „Du glaubst, daß die Frau uns von deinem Schlafzimmer aus belauscht hat?“

„Ja. Und dann, als sie unser Kellergeheimnis mit angehört hatte, schlich sie vom Schlafzimmer aus in den hinteren Flur und in den Keller, fand die Falltür, legte den Brief auf den Ofen und … sägte das Gitter durch, um einen zweiten Ausgang zur Verfügung zu haben. Nachher wollte sie uns einsperren, was ihr nicht gelang. Und weil sie uns einsperren wollte, weil sie hoffte, daß unsere Hilferufe dort unten nicht gehört werden würden, und daß wir vielleicht elend umkommen könnten, weiß ich auch, was in dem Briefe steht. Es ist ein Drohbrief …“

Jetzt griff er in die Tasche, strich den zerknitterten Briefbogen glatt und las vor (englischer Text):

„Wir haben noch miteinander abzurechnen, Mr. Harst. Ich rate Ihnen dringend, Ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Vierundzwanzig Stunden, und die Rechnung ist glatt“

„Ganz nett – kurz und bündig, mein Alter … Dem Weibe ist so allerhand zuzutrauen … Wir werden gut tun, uns ein wenig ich acht zu nehmen …“

„Wer ist’s? Hast du eine Ahnung?“

„Vielleicht …“

„Kennst du denn die Handschrift?“

„Nein. Und wenn du wissen willst, ob mir die Fußspur in dem Brei der zertretenen Kartoffel bekannt ist, muß ich genau so mit Nein antworten. Ich vermute, daß die Frau mit zu James Barnes famosem Detektivinstitut gehört, das ja in Wahrheit nur eine Verbrecherbande großzügigster Art gewesen ist. Soweit mir im Augenblick gegenwärtig, war Barne verheiratet ober besser – ist verheiratet. Vielleicht hat seine Frau, fraglos ähnlichen Schlages wie er, mir nun den Krieg erklärt, da sie sich hinsichtlich des Schicksals ihres Mannes kaum einer Täuschung hingeben dürfte. Er wird aufgeknüpft werden.“

„Hm – so hältst du diesen Besuch der Donna Unbekannt also für eine Fortsetzung des Gralsburg-Abenteuers?! Ist diese Annahme nicht etwas kühn?! Wir haben doch schließlich weit mehr Feinde als nur die vielleicht noch auf freiem Fuße befindlichen „Kollegen“ der glorreichen Detektei Barne …!“

Harst nahm mit einem Male die Zigarette aus dem Mundwinkel und lauschte …

Auch ich hörte trotz des nicht geringen Lärms, den der Wintersturm an den Giebeln, Erkern und Schornsteinen unseres freistehenden Hauses vollführte, ganz deutlich, daß draußen ein Kraftwagen vor unserer Gitterpforte vorgefahren war. Die Pforte wurde regelmäßig um neun Uhr abends von der dicken Mathilde verschlossen. Für einen leidlich gewanden Menschen war es jedoch ein leichtes, sie zu überklettern, was schon so mancher späte Ratsuchende getan hatte. Es befand sich jedoch links an der Pforte unter dem Briefkasten auch der deutlich sichtbare Knopf einer elektrischen Zugglocke, so daß niemand, den nicht gerade Erregung, Angst und Eile vollends blind machten, turnerische Übungen zu vollbringen brauchte, um bis zur Haustür zu gelangen.

Wir warteten nun, ob die Flurglocke anschlagen würde.

Nichts geschah …

Dann – es mochten drei Minuten verstrichen sein – rollte das Auto wieder von dannen.

„Merkwürdig!“ sagte Harald mit leichtem Kopfschütteln … „Selbst wenn es eine Autotaxe war und der Fahrgast erst noch bezahlte, müßte er …“

Er beendete den Satz mit einer kurzen, energischen Handbewegung, erhob sich und betrat rasch sein Schlafzimmer, ließ die Tür weit offen, schaltete das Licht ein und verschloß die Innenladen der Fenster, legte die eiserne Stange vor und kehrte zu mir zurück.

„So,“ meinte Harald, „nun tu bitte bei dir drüben dasselbe, mein Alter. Ich will einmal bis zur Gitterpforte gehen und dort nach dem Rechten schauen.“

Meine Zimmer liegen auf der anderen Seite des Flurs. Ich war vorsichtiger als Harald und untersuchte noch rasch meine beiden Räume, da ich nach Haralds warnenden Bemerkungen vorhin doch damit rechnete, daß „Frau Barne“ (ob sie’s gewesen, verdiente ein Fragezeichen) sich vielleicht bei mir eingeschlichen hätte. In meiner nur einfenstrigen Schlafstube spürte ich nun unverkennbar den in diesem Falle sehr vielsagenden Derby-Geruch. Das machte mich noch vorsichtiger. Ich ließ mir Zeit. Ich habe da genau wie Harst in meinem Wohn- und Arbeitszimmer eine Unmenge Erinnerungsstücke an unsere Auslandsreisen aufgestapelt und so das reine Völkermuseum geschaffen, in dem nicht einmal ein echter Eskimokajak, ein kleines Fellboot, fehlt. Dieses schmale Fahrzeug hängt an zwei Riemen an der Decke genau über meinem Schreibtisch. Daß indische Andenken in diesem Museum am zahlreichsten vertreten sind, wird niemand weiter wundern, der unsere Vorliebe für das Land wundervoller Baudenkmäler und weniger wundervoller Tiger und Giftschlangen kennt. –

Mein Verdacht, die Fremde könnte meine Räume für längere Zeit als Versteck erwählt haben, erwies sich als gegenstandslos. In der Schlafstube war die Frau zweifellos gewesen, dann wohl aber wieder zum Fenster hinausgestiegen und bei Harald eingedrungen.

Ich hatte den Drücker der Flurtür schon in der Hand, wollte gerade auch das Licht in meinem Wohnzimmer ausschalten, als mein Blick nochmals prüfend das Gemach überflog.

Ich stutzte …

Was ich sah, war so wenig auffällig, daß ich zunächst an eine Täuschung glaubte …

Der Kajak schaukelte an den Lederriemen droben unter der Zimmerdecke ganz leicht hin und her, kaum merklich. Und mir wäre dies wohl auch sicherlich entgangen, wenn nicht der Schatten, den das Fellboot warf, gleichfalls und infolge seines größeren Umfangs sich stärker bewegt hätte.

Jetzt sog ich prüfend die Luft ein …

Jetzt spürte ich auch hier den Derby-Geruch, der freilich durch das scharf duftende Sandelholz, aus dem verschiedene meiner Andenken hergestellt waren, fast bis zur äußersten Grenze der Wahrnehmfähigkeit für ein menschliches Geruchsorgan übertönt wurde.

Ich wußte genug. Das Weib war noch hier im Hause, steckte oben in dem Kajak.

Ich überlegte nicht lange. Meine Rechte glitt nach der Schlüsseltasche. Die Sicherung der kleinen treuen neunschüssigen Clement schnellte mit leisem metallischem Knacken zurück.

„Bitte – verlassen Sie Ihr Versteck sofort!“ rief ich laut.

„Sie haben sich in dem Fellboot verborgen. Wenn Sie irgendwie zögern, schieße ich …“

Ich hätte natürlich nicht geschossen.

Diese energische Aufforderung (in englischer Sprache) brauchte ich nicht zu wiederholen.

Aus dem Schlupfloch des Kajak kam ein Kopf mit einer braunen wolligen Sportmütze zum Vorschein – ein altes, faltiges, bartloses Gesicht …

Dann der übrige Mensch: ein Zwerg mit Kürbisschädel, vielleicht ein Meter zehn Zentimeter groß, aber breit in den Schultern und gelenkig wie ein Pavian.

Ich war reichlich baff über diesen Liliputaner, zumal er nun, nachdem er von dem Kajak sehr geschickt auf den Teppich gesprungen war, nicht nur einen intensiven Derby-Geruch um sich verbreitete, sondern auch sehr zierliche, dunkelbraune hohe Schnürstiefel, grünbraune Stutzen und dunkelgraue Sporthosen trug – eine Beinpartie, die mir ja bereits von der Eisenleiter des Geheimgemachs her bekannt waren.

Meine Verblüffung war begreiflich. Nicht eine Frau, sondern dieser Zwerg mit dem Greisengesicht war der Eindringling, der Überbringer des Briefes, der Zerstörer des Kellergitters und … Harsts Feind, unser Feind.

„Hände hoch!“ befahl ich …

Er lachte mir krähend ins Gesicht …

„Herr Schraut, Sie schießen ja doch nicht …! – Lassen Sie mich laufen … Die ganze Geschichte war ein Scherz – eine Wette …“

„Nehmen Sie die Hände aus den Taschen – – sofort!“ Ich war wütend. Der Bursche glaubte mit mir leichtes Spiel zu haben. Irrtum …

Er sah’s mir wohl an, daß mein Geduldsfaden dicht am Reißen war …

Langsam zog er die Hände heraus …

Und – – urplötzlich fühlte ich da, wie mir etwas Kaltes über das Gesicht strich …

Meine klugen brannten jäh wie Feuer …

Gleichzeitig mit diesem Säurestrahl, den der kleine Schuft mir vermittels eines in der linken Hand verborgenen Balles von unten her unter die Brille gespritzt hatte, schlug er mir mit der anderen Hand die Pistole zur Seite …

Ich war geblendet, aber auch für Minuten von so scheußlichen Schmerzen in den Augen gepeinigt, daß ich sogar um Hilfe zu rufen vergaß. …

Außerdem hatte auch nur der eine entsetzliche Gedanke in meinem überhitzten Hirn Raum: du wirst das Augenlicht verlieren, wirst blind werden.

Als ich dann überlaut Haralds Namen brüllte, als Harst von drüben herbeigeeilt kam, war der Zwerg längst entwischt – durch den Keller, wie Harald nachher feststellte.

 

3. Kapitel.

Das Pergament.

Zum Glück erwies sich die Flüssigkeit, die ich für Säure gehalten hatte, lediglich als sehr scharfes Salzwasser, und Harst gelang es denn auch, durch mehrmaligem Auswaschen meiner Augen mich in kurzem wieder aktionsfähig zu machen, wie er sich ausdrückte.

„Wir haben nämlich drüben bei mir Besuch, mein Alter,“ erklärte er in meiner Schlafstube und legte den Schwamm weg, mit dem er mir seine Samariterdienste geleistet hatte. „Eine Dame – keinen Zwerg … Frau Doktor Loncire, die Witwe des in Neuguinea heimtückisch von Barnes Gesellen niedergeknallten Forschungsreisenden. Sie hat gestern abend durch den Londoner Rundfunk von den Vorgängen in der Gralsburg Kenntnis erhalten und ist daraufhin sofort abgereist, um sich mit uns in Verbindung zu setzen. Weshalb – das wird sie dir persönlich mitteilen …“

Ich fühlte mich durch mein ungeschicktes Verhalten dem Zwerge gegenüber recht gedemütigt. Daß auch ausgerechnet mir dies hatte passieren müssen – eine Schande! Ich hatte mich von dem kleinen Burschen vollkommen überlisten lassen. Ich war kaum in der Stimmung, Frau Loncire jetzt sofort unter die Augen zu treten.

„Frau Loncire weiß doch nichts von dieser kleinen Blamage. Folge mir nur. Ihr Anliegen ist nicht uninteressant. Sie ist bereits bei dem Herzog Daugberry im Bristolhotel gewesen und hat mir von ihm ein paar Zeilen mitgebracht. Kurz – es handelt sich um die von Doktor Loncire 1921 in Neuguinea entdeckte Goldmine.“ –

Frau Doktor Adelaide Loncire (sie war in Australien geboren) reichte mir ihre schmale, tadellos gepflegte und doch kräftige Hand …

Wir nahmen Platz …

Harald sagte leichthin … „Mein Freund ist in seinem Zimmer mit einer die Augen reizenden Flüssigkeit etwas leichtsinnig umgegangen, Frau Loncire. Nun – die Sache ist wieder in Ordnung … Wenn Sie vielleicht nochmals beginnen wollten, Frau Loncire. Schraut wird es interessieren, aus Ihrem eigenen Munde Ihr Anliegen zu hören.“

„Gern, meine Herren …“ Sie sprach recht fließend deutsch. „Wie Sie wissen, Herr Schraut, war mein Mann mit dem Herzog Daugberry eng befreundet. Im Januar 1921 begab Ralph sich zum ersten Male nach Neuguinea und blieb dort bis Februar 1922. Nach seiner Rückkehr nach London teilte er mir in Gegenwart des Herzogs mit, daß er in dem bisher unerforschten Südostteile der großen Insel eine überreiche Goldader entdeckt habe. Daraufhin rüstete dann der Herzog jene Expedition aus, von deren Mitglieder dieses Scheusal von Barne nur den Herzog am Leben lies. Ich habe nie mehr geglaubt, daß Ralph noch nach all den Jahren wieder lebend auftauchen könnte. Frauen haben für Ereignisse, die sich auf ihr Liebstes beziehen, ein weit feiner entwickeltes Ahnungsvermögen als Männer. – Was Ihnen und Ihrem Freunde Harst bisher nicht bekannt war, Herr Schraut, ist folgendes: Ralph hatte 1921 in Neuguinea zwei Geländeskizzen über die Lage der Goldader angefertigt. Die eine ließ er mir zurück, als er März 1922 mit der Expedition England wieder verließ, um die Ader auszubeuten. Die zweite Zeichnung nahm er mit. Da nun James Barnes Mörderbande die Expedition überfallen hat, bevor diese ihr Ziel erreicht hatte, dürfte diese zweite Skizze verlorengegangen sein. Sie war übrigens für jeden Uneingeweihten wertlos, da Ralph vorsichtig genug gewesen war, beiden Zeichnungen eine Form zu geben, die einem Bilderrätsel gleicht. – Ralph hat nun niemals damit gerechnet, daß ihm etwas zustoßen könnte, und deshalb weder dem Herzog noch mir die Skizze genau erklärt, wie mir Daugberry vorhin im Hotel Bristol bestätigte. Weil ich nun diese Goldader – ich bin in sehr bescheidenen Verhältnissen zurückgeblieben – unbedingt als Ralphs Erbschaft für meine beiden Kinder und mich ausbeuten möchte, handelt es sich zunächst darum, ob Sie, meine Herren, mir behilflich sein wollen, natürlich gegen einen entsprechenden Anteil an dem Gewinn, diese Erbschaft zu realisieren. Herzog Daugberry hat mir eine Karte an Herrn Harst mitgegeben, und unterstützt meine Bitte. Das Herzogspaar läßt Sie beide herzlichst grüßen. Es reist heute nacht nach London zurück.“

Frau Adelaide Loncire öffnete jetzt ihr Handtäschchen und nahm ein zweimal gefaltetes Stück Pergamentpapier heraus.

„Hier ist die Skizze, meine Herren … Wie Sie sehen, besteht sie lediglich aus einer Menge kreuz und quer niedergeschriebener Wörter, die scheinbar keinerlei Bezug auf die Goldader oder das Gelände haben … Weder der Herzog noch ich konnten vorhin im Hotel Bristol auch nur im geringsten aus dieser Zeichnung irgendwie klug werden, und es war ein grober Mißgriff meines Mannes, seine Geheimniskrämerei so weit zu treiben, daß er weder seinem Freunde noch mir die Skizze erklärte. Wenn Sie, Herr Harst, dieses Worträtsel nicht deuten können, ist die Goldader für alle Zeit für mich verloren, denn in jene Wildnis, die Ralph 1921 nur in Begleitung von drei farbigen Trägern, die nachher an Malaria starben, durchquert hat, wird wohl so bald kein anderer sich hineinwagen, – noch weniger aber nach einer Goldader suchen, von der man nichts weiß, als daß sie vorhanden ist.“

Sie reichte Harald das Pergamentblatt, und wir beide beugten uns neugierig darüber.

Ich gebe das Bild der Zeichnung hier mit denselben deutschen Wörtern wieder.

 

 

Ehrlich gesagt: meine bebrillten Augen hatten noch nie etwas so fein Ausgeklügeltes zu Gesicht bekommen. Ich für meine Person gab es von vornherein auf, dieses Worträtsel zu lösen, und Haralds Gesichtsausdruck machte ebenfalls ganz den Eindruck, als ob er nicht viel Hoffnung hätte, nach dieser Skizze, die keine Skizze war, die Goldader zu finden.

Harald drehte das Pergamentblatt hin und her, schüttelte zuweilen den Kopf, rauchte ein paar Züge aus seiner Mirakulum, legte die Zigarette wieder weg und meinte schließlich:

„Ihr Gatte muß ein sehr kluger Mann gewesen sein, Frau Loncire …“

„Gewiß … Sonst hätte die englische Regierung wohl kaum seine erste Expedition nach Neuguinea pekuniär unterstützt …“

„Ein sehr kluger Mann,“ murmelte Harst darauf nochmals … Und lauter: „Wie ich sehe, haben Sie dieses Pergament bereits mit Säuren behandelt, da Sie wohl annahmen, daß vielleicht Eintragungen mit unsichtbarer Tinte vorhanden sein könnten.“

„Ja, Herr Harst. Ich fand jedoch nichts.“

„Haben Sie diese Arbeit allein vorgenommen, Frau Loncire? Ich meine den Versuch, Schriftzeichen hervorzurufen.“

Er hob den Blick und schaute sie scheinbar zerstreut an.

Adelaide Loncire erwiderte etwas zu hastig: „Natürlich allein, Herr Harst … Ich konnte doch eine derart wertvolle Urkunde keinem Chemiker vorlegen. – Überhaupt möchte ich an Sie und Ihren Freund genau dieselbe Bitte richten wie vorhin an das Herzogspaar: meine Absicht, die Mine auszubeuten, muß unbedingt geheim bleiben, da sonst fraglos Abenteurer sich finden würden, die mir dasselbe Schicksal bereiten könnten wie der Expedition des Herzogs und meines armen Gatten.“

Harst nickte … „Selbstverständlich müßte alles in größter Stille vorbereitet werden, Frau Loncire. Nur – – zunächst müßte ich dieses außerordentlich schwierige Bilderrätsel gelöst haben, was immerhin ein paar Tage dauern dürfte. Gewiß, eine glückliche Eingebung des Augenblicks könnte mir den Sinn dieser Zeichnung vielleicht auch sehr bald verraten – vielleicht. – Was sagt denn der Herzog dazu?!“

„Er zuckte die Achseln, erklärte, daß die Expedition ja bereits am dritten Tage nach dem Abmarsch von der Hafenstadt Granville überfallen und bis auf ihn auf einer Bergterrasse niedergemacht wurde …“

„Hm – Bergterrasse …,“ murmelte Harald sinnend und starrte auf das Blatt.

Frau Loncire fügte lebhafter hinzu: „Gewiß, der Herzog meint, die Zeichnung bedeute nichts anderes als die einzuschlagende Marschroute, und die Wörter müßten wohl durch Striche erst und richtig miteinander verbunden werden – müßten. – Ralph hat wirklich sehr unbedacht gehandelt, als er mir diese für jeden Unkundigen geradezu sinnlose Skizze zurückließ …“

Ihre Stimme war scharf und gereizt geworden.

Kein Wunder. Die Frau war arm, hatte zwei Kinder, und … hätte vielleicht Millionärin werden können!

Harald hob abermals den Kopf …

„Lassen Sie mir das Pergament bis morgen abend hier, es ist bei mir vollkommen sicher …“ Er deutete aus den Panzerschrank. „Wo sind Sie abgestiegen, Frau Loncire? Sollten wir Glück haben und sollte ich die Lösung schon früher finden, möchte ich Ihnen doch Nachricht geben. Finden werde ich die Lösung. Wann – das steht dahin. Unser Hirn ist nicht jederzeit gleich leistungsfähig. Es gibt glückliche und minder glückliche Tage. Ich bin auch sehr vom Wetter abhängig. Bei Sonnenschein steigert sich der ganze Lebensimpuls des Menschen.“

Frau Adelaide erwiderte, daß sie im Pensionat Gerrmar in der Kaiserallee 83 abgestiegen sei … „Ein sehr bescheidenes Flurzimmer, Herr Harst … – Und wenn Sie nun die Skizze gedeutet haben, was dann?!“ Sie war wieder recht nervös … Ihre Finger kamen nicht zur Ruhe …

„Darüber sprechen wir später,“ meint Harald liebenswürdig und mit einem aufmunternden Lächeln. „Wollen Sie Schraut und mich nach Neuguinea begleiten?“

„Ja – gern – – sehr gern … Meine Kinder sind bei meiner Schwester gut aufgehoben …“

Dann verabschiedete sie sich. Harst begleitete sie bis zur nächsten Autohaltestelle. Ich bewachte derweil das kostbare Pergament und überlas immer von neuem diese Wörter, die den Weg zu einem Goldschatz weisen sollten und doch nichts anderes waren als das Produkt eines überklugen Kopfes – ein Produkt, das in der Luft wie eine schillernde, unerreichbare Seifenblase schwebte.

 

4. Kapitel.

Die Tote im Auto.

Harst kehrte zurück, verschloß die Haustür, legte Pelz und Hut im Flur ab, öffnete die Zimmertür und winkte mir … „Wir wollen nun erst einmal sehen, wo dein Zwerg geblieben ist …“

Es war jetzt kurz vor Mitternacht.

Im Keller fanden wir an dem herausgesägten Gitter einen neuen Zettel befestigt – wieder dieselbe energische Schrift, die zuerst von Harst für die einer Frauenhand gehalten worden war.

„Noch vierundzwanzig Stunden. Sie entgehen mir nicht!“

„Theater!“ sagte Harst geringschätzig.

Wir durchsuchten den Keller nur flüchtig, stiegen auch nochmals in das Geheimgemach hinab.

„Dein kleiner Gegner wird es nicht zum zweiten Male wagen, sich hier in unserem Hause zu verstecken,“ meinte Harald. „Schließen wir den Keller ab …“

Dann saßen wir wieder in seinem Zimmer …

Harald ließ sich von mir die Skizze geben, die ich vorhin in die Tasche gesteckt hatte.

Er warf mir einen eigentümlichen Blick zu …

„Du bist doch immer so stolz auf deine feine Nase, mein Alter … – Welches Parfüm benutzt Frau Loncire?“

„Ylan-Ylan …“

„Stimmt … – Und nun beschnuppere mal freundlichst diese lächerliche Skizze …!“

„Lächerlich?!“

„Bitte …“

Ich beroch das Blatt …

Es roch nach Ylan-Ylan, aber auch nach – Derby!!

Das Blut schoß mir ins Gesicht …

„Derby!! – Was bedeutet das?! – Harald, rede endlich! Ich merke, daß …“

„… bei alledem etwas nicht stimmt!“ Sein hageres durchgeistigtes Gesicht strahlte. „O, es ist ein Vergnügen, gegen Leute zu kämpfen, die nicht die ausgetretenen Bahnen sogenannter routinierter Verbrecher wandeln! Routine ist immer Schablone. Dies hier ist eigener Entwurf … – Also höre. Wir vernahmen draußen das Auto. Es hielt, fuhr wieder davon. Du gingst in deine Zimmer hinüber. Ich wollte draußen mich umschaun, blickte aber zunächst mal durch den Türspion der Haustür … Ich sah Frau Loncire vor der Gitterpforte stehen und … mit einer winzigen Taschenlampe spielen … hm … spielen … Sie schaltete sie dreimal ein und aus und starrte dann angestrengt nach links, wo deine Wohnzimmerfenster liegen … Du hattest die Vorhänge nicht vorgezogen, und wenn dein Freund Zwerg im Kajak oben gleichfalls … mit einer Taschenlampe gespielt hat, kann Frau Adelaide dies vielleicht beobachtet haben …“

„Signale!“ rief ich ganz atemlos. „Die beiden stecken unter einer Decke …! Daher riecht das Pergament auch nach Derby!“

„Aha – nun kommst du schon auf den richtigen Dreh, mein Alter! Ich denke, die Sache ist so … Die Frau und der Zwerg vereinbaren, daß der Gnom uns belauschen soll, nachdem die Frau uns das Pergament hiergelassen hat. Der Zwerg horcht im Schlafzimmer, spielt sich nachher als blutrünstiger Rächer auf, kneift scheinbar aus, trifft mit der Frau zusammen, teilt ihr mit, daß er bei dir als bestes Versteck den Kajak bemerkt hat, schleicht sich abermals ins Haus und signalisiert der Frau, daß er bereits im Kajak in Sicherheit sei. Alles andere war eben Spiegelfechterei: der Brief, der Versuch, uns einzusperren, und jetzt der Zettel! Der Gnom wollte eben um jeden Preis bei uns den Eindruck hervorrufen, er sei eine völlig selbständig handelnde Persönlichkeit und habe mit der späten Klientin nichts gemein …“

Ich nickte eifrig … Ich war völlig im Bilde. Sagte: „Der Zwerg wollte nachher den Kajak verlassen und hier den Lauscher …“

„… ja – des Pergaments wegen … Er sollte zu erfahren suchen, ob ich die Lösung schon in dieser Nacht fände und wie sie laute. Die Frau kennt mich, wußte, daß ich nicht eher ruhen würde, bis das Worträtsel erledigt war … Nun – –“ er zeigte auf das Pergament – „die Geschichte ist verblüffend einfach … Ich kann dir die einzuschlagende Marschroute schon jetzt genau beschreiben …“

„Witz?!“ meinte ich mißtrauisch …

„Durchaus nicht. – Fangen wir unten an. Da steht „Schüssel“. Darüber Siedlung. Schüssel bedeutet das Meer, Siedlung den Hafen Granville, der ja tatsächlich auf der Südostseite von Neuguinea liegt.“

„Hm – aber neben Siedlung liest man noch Genie und Fund?!“

„Ganz recht. Aber all diese Wörter, die nichts Gegenständliches bezeichnen und die rechte Seite der Skizze füllen, sind nur Blendwerk: Dummheit, Witz – Silberband, Unkenntnis – Bürste, Geheimnis – Buckel, Torheit – Treppe, Genie – Fund, – – all dies hat Doktor Loncire nur hineingeschrieben, um die Zeichnung zu verwirren. – Du kannst mir schon glauben, – es ist so! Erinnere dich, daß die Frau erwähnte, die Expedition sei schon am dritten Marschtage auf einer Bergterrasse niedergemacht worden. Ein terrassenförmiger Berg ist nun gleichsam eine Riesentreppe.“

„O – – links von „Siedlung“ steht „Treppe“ …“

„Ja – und – – da hatte ich den ersten Anhaltspunkt. Das andere war kinderleicht … – Von Granville aus soll man sich westwärts wenden bis zu einem fraglos sehr auffälligen terrassenförmigen Berge, von der Westseite dieses Berges nach Norden zu einem ebenfalls terrassenförmigen Berge … Bitte, betrachte die Zeichnung …“

„Ja, gewiß … – Und dann?“

„Von diesem zweiten Berge oder Höhenzuge, dessen Terrassen nach Norden abfallen, denn das zweite „Treppe“ ist von links nach rechts geschrieben, geht es ostwärts – „Hochtourist“ –, das heißt beschwerliche Kletterpartie, vielleicht über einen Gebirgspaß bis zu einem neuen Berge, der in seinen Umrissen vielleicht einem buckligen Menschen gleicht …“

„Famos! – Und an der Nordseite dieses Berges schließt sich nach Westen zu „Bürste – Bürste“ an … Was bedeutet das?!“

„Wald natürlich … Eine Bürste ist ein Wald von Borsten … Haaren …“

„Glänzend …! – Aber was soll das zweimalige „Bürste“ mit Verbindungsstrich und darunter wieder Buckel?!“

„Nun – zwei Urwälder, durch ein Tal oder Plateau getrennt, und nördlich davon wieder ein „buckliger“ Berg. Nach Norden zu folgen von diesem Berge zwei terrassenförmige Höhenzüge – Treppen –, zwischen denen ein Fluß – Silberband – dahinströmt!“

„Natürlich – – verblüffend einfach!!“

„Und diesem Flusse muß man nach Norden folgen, dann gelangt man zu „Frucht – Stein“, was nur bedeuten kann einen besonders alten riesigen Brotfruchtbaum und einen auffallenden Felsblock. Nördlich von diesen beiden Kennzeichen liegt „Ort † † †“, das dürfte die Goldader sein, und östlich von dieser ein Dorf der Eingeborenen – „Siedlung“ … – Ohne Zweifel sind nun all diese von Doktor Loncire angegebenen Wegmarken so ins Auge springend, daß ein Abirren von der richtigen Marschroute unmöglich ist. Uns jedenfalls, mein Alter, wäre es eine Kleinigkeit, die Goldader zu finden, die meines Erachtens gar nicht so weit von der Küste entfernt liegen kann und die Loncire entdeckt hat, als er aus dem Innern nach Granville zurückmarschierte.“

Als Harald jetzt das Pergament in den Tresor einschloß, fragte ich: „Frau Adelaide hatte den Zwerg also nur ausgeschickt, um später nicht auf uns beide als Reisebegleiter angewiesen zu sein, um also die Beute nicht mit uns teilen zu müssen …?“

„Du triffst das Richtige … Diese Geschäftsschlauheit entspricht ganz ihrer kühlen, berechnenden Natur. Der Tod ihres Mannes, der doch erst vor zwei Tagen zur Gewißheit wurde, scheint ihr sehr wenig nahegegangen zu sein. Ihr liegt lediglich etwas an der Goldader. Nun – wenn wir ein Honorar von dieser Dame auch unschwer entbehren können, mein Alter, so gibt es in Berlin jetzt vor Weihnachten doch übergenug Wohltätigkeitsanstalten, die für ihre Kinderbescherungen eine größere Spende sehr gut brauchen können. An Frau Loncires Armut glaube ich nicht. Ihre Kleidung war raffiniert einfach, dabei aber aus einem ersten Atelier, ihr Pelzmantel ganz neu und ihre Ringe ein kleines Vermögen wert. Sie wird die Lösung des Rätsels mit zehntausend Mark bezahlen müssen. Dann mag sie mit ihrem Zwerge und ihrem sonstigen Anhang getrost ohne uns gen Neuguinea ziehen. Ich reiße mich wahrhaftig nicht danach, wieder monatelang im Ausland mich umherzutreiben. Ich möchte einmal wieder deutsche Weihnacht feiern und Mutters strahlende Augen sehen, wenn sie uns ihre Geschenke im Kerzenglanz überreicht … Neuguinea lockt mich gar nicht. Diese Frau Adelaide ist mir reichlich unsympathisch, wenn auch ganz interessant, denn sie ist gerieben, steckt ein Dutzend Hochstapler in die Tasche und besitzt die kalte Entschlossenheit eines erprobten Geldschrankknackers, ist mithin gefährlich. Ich bin nur neugierig, was sie morgen mittag sagen wird, wenn ich sie höflichst ersuche, zehntausend Mark auf den Tisch des Hauses zu zählen …“

Er steckte den Geldschrankschlüssel in die Hosentasche, gähnte zwanglos, schaute auf die Standuhr und sagte mir Gute Nacht.

Es war drei Viertel eins geworden.

Ich hatte bereits die Tür nach dem Flur geöffnet, als das Telephon auf Haralds Schreibtisch Sturm läutete …

„Nanu – jetzt noch?!“ meinte Harst und nahm den Hörer von der Gabel … „Hier Harald Harst … Ah – ’n Abend, Bechert … Was gibt’s denn …? – – Wie – – hier in unserer Nähe …?! Ermordet? … Im Laubengelände hinter unserem Gemüsegarten …? … Auto?! – Im Auto?! – – Etwas übersichtlicher, lieber Bechert … – Gut, wenn die Mordkommission erst unterwegs ist, bin ich ja noch rechtzeitig an Ort und Stelle … – Regierungsrat Queißner hat also ausdrücklich gebeten, daß Schraut und ich mitmachen … Sie wissen ja, Bechert, ich dränge mich niemandem auf, und wenn ich auch mit Ihnen, Ihren Kollegen und Vorgesetzten sehr gut stehe, so …, – schön, schön, lieber Bechert … Genügt mir … Wiedersehen …“

Ich hatte die Tür wieder leise zugedrückt … Hatte gespannt auf jedes Wort gelauscht.

Harst legte den Hörer langsam auf die Stützen zurück und sagte achselzuckend: „Vorläufig wird’s mit dem Schlafengehen nichts … Auf dem Feldwege draußen am Laubengelände hat ein Chauffeur einer Autotaxe seinen weiblichen Fahrgast mit einer Schußwunde im Kopf im Innern des Wagens tot aufgefunden – vor einer halben Stunde. Es muß Mord vorliegen, erklärte Freund Bechert. Im Wagen ist keine Waffe gefunden worden, außerdem sitzt der Einschuß im Hinterkopf. – Ziehen wir uns an … Regierungsrat Queißner vom Polizeipräsidium hat uns durch Bechert ausdrücklich bitten lassen, uns am Tatort einzufinden, da wir ja kaum zweihundert Schritt zu gehen haben … – Hilft also nichts, mein Alter … Die Herren vom Präsidium sind uns so oft gefällig gewesen, daß ich gern eine Stunde opfere, wenn auch der Fall als solcher kaum interessant sein dürfte. Morde sind in den seltensten Fällen für unser Spezialgebiet geeignet. Solche Dinge erledigt die Polizei weit besser als wir. Unsere Berliner Kriminalpolizei hat jetzt selbst die englische überflügelt. Hut ab vor diesen Herren!“ –

Fünf Minuten später arbeiteten wir uns mit hochgeklappten Pelzkragen gegen den eisigen Sturm auf dem Feldwege vorwärts. Schon von weitem glotzten uns die Scheinwerfer eines Autos wie die Augen eines vorsintflutlichen Ungeheuers grell strahlend entgegen. Neben dem Wagen standen der Chauffeur, zwei Schupobeamte und ein Zivilist, der uns bereits bekannt war: ein Kriminalassistent von der nächsten Revierwache.

Er grüßte … „Man hat mich bereits davon verständigt, Herr Harst, daß Sie und Herr Schraut sich hier einfinden würden … – Bitte – wenn die Herren die Tote sich von außen ansehen wollen …“ Er brachte unter dem Mantel eine große flache elektrische Laterne zum Vorschein. Wir traten näher an das Auto heran. Auf dem Polstersitz lag eine Dame im schwarzen Sealpelz, halb gegen die Rückwand gelehnt. Der Kopf hing kraftlos zur Seite. Der schwarze elegante Hut mit Seidenbandgarnierung war tief ins Genick gerutscht und gab auch die Stirn und das aschblonde Haar frei. Von einer Wunde oder von Blutspuren war so, wie die Tote lag, nichts zu bemerken.

Das linke Türfenster, durch das wir hineinschauten, war herabgelassen.

Harst wandte sich an den Chauffeur. „Berichten Sie kurz … Wo stieg die Dame ein, wohin wollte sie, und die Hauptsache: war dieses Fenster offen, als Sie Ihren Fahrgast tot vorfanden?“

Der Chauffeur kam nicht dazu sofort zu antworten. Vor uns tauchten sechs Gestalten auf, die sich eiligst näherten … Es war die Mordkommission.

 

5. Kapitel.

Die Unbekannte.

Über die Arbeitsmethode der Mordkommission der Kriminalpolizei einer Weltstadt ist bereits in so zahlreichen Zeitungsberichten oder in frei erfundenen Kriminalromanen gesagt worden, daß ich nur das hervorheben will, was Harsts Anteil an den Nachforschungen am Tatorte betrifft. – Der Chauffeur erzählte, daß die Dame auf dem Potsdamer Platz seinen Wagen an die Bordschwelle gewinkt habe. Die Dame habe außer dem ledernen Handtäschchen, das noch jetzt unten im Auto läge, nichts weiter bei sich gehabt, weder Schirm noch Koffer, obwohl sie zweifellos aus dem Hauptgebäude des Potsdamer Bahnhofs gekommen sei. Sie habe ihm in etwas gebrochenem Deutsch befohlen, nach der Blücherstraße in Schmargendorf zu fahren und dann links in den Feldweg einzubiegen, der sich an der Rückseite der Blücherstraße zwischen deren Häusern und dem Laubengelände hinziehe. Die Dame wußte sehr gut Bescheid und gab dem Chauffeur so genaue Anweisungen, daß er auch unschwer die Zufahrt zu dem Feldwege fand, wo er nach fünfzig Schritt halten sollte. Das linke Türfenster ließ die Dame vor Antritt der Fahrt herab. Sie machte einen sehr erhitzten, erregten Eindruck und blickte sich, bevor sie einstieg, mehrmals um, als ob sie in dem vorüberflutenden Menschengewühl irgend jemand suchte, – Als der Chauffeur das Auto dann stoppte, regte sich im Innern des Wagens nichts. Er kletterte vom Fahrersitz herab und sah zu seinem Schreck in dem erleuchteten Wagen (das Auto hatte Deckenlicht) die Dame halb in einer Ecke liegen – wie jetzt noch. Er suchte sie aufzurichten, dabei glitt der Kopf zur Seite, und er bemerkte Blut in den Haaren des Hinterkopfes, das bis ins Genick hinabgerieselt war und auch die Polsterung beschmutzt hatte. Da er an einen Selbstmord glaubte, sich aber anderseits auch sagte, man könnte womöglich ihn selbst für den Täter halten, lief er die kurze Strecke bis zur Blücherstraße zurück und bat hier einen gerade vorüberkommenden Herrn, die nächste Revierwache zu verständigen. – – Der Chauffeur war ein älterer Mann, und seine Aussage machte in allem einen durchaus glaubwürdigen Eindruck.

Den ganzen Umständen nach konnte die Frau nur während der Fahrt von einem Unbekannten, der sich irgendwie unbemerkt in den Wagen geschwungen hatte, (die Kraftwagen müssen ja an Straßenkreuzungen häufig längere Zeit halten) erschossen worden sein. Selbstmord war unmöglich, wie der Polizeiarzt schon nach flüchtiger Besichtigung der Wunde betonte. Außerdem, hob er hervor, hätte die Frau nach dieser Gehirnverletzung auch niemals mehr die Kraft gehabt, die Waffe etwa zum offenen Fenster hinauszuschleudern.

Wie der Arzt die Tote nun in eine andere Lage brachte, stutzte er mit einem Male …

„Sie lebt noch … Merkwürdig, der Puls geht ganz kräftig …“

Es stellte sich heraus, daß die Kugel dicht unter der Hirnschale saß und daß sie das Gehirn kaum allzusehr verletzt haben könnte.

Bevor die Bewußtlose dann in ein Krankenhaus geschafft wurde, durchsuchte man noch ihr Handtäschchen und die Taschen ihres Pelzes. Nichts war darin – gar nichts. Sie trug auch nicht ein einziges Schmuckstück, keinen Ring – nichts.

Hier nun machte Harst die Herren darauf aufmerksam, daß der Stoff der schwarzen Seidenbluse vorn an der Brust leicht zerrissen war, und daß die Finger der Unbekannten sowie die Ohrläppchen deutlich bewiesen, daß die Dame sowohl Ringe als auch Ohrringe besessen habe.

„Ihr Schmuck – Brosche, Ringe und so weiter – sind ihr geraubt worden, als der Chauffeur das Auto hier für Minuten allein gelassen hatte,“ erklärte Harald. „Hier am linken kleinen Finger ist eine leichte Kratzwunde. Der Dieb hat Mühe gehabt, die Ringe abzustreifen, und dabei die Fingerhaut mit seinen Nägeln abgeschürft. Dieser Dieb ist mit dem Mordbuben fraglos identisch. Er hat die Fremde schon verfolgt, bevor diese noch das Auto heranwinkte. Die Frau schaute sich nicht „suchend“, sondern „ängstlich“ nach den Vorübergehenden um. Der Attentäter hat trotzdem, wahrscheinlich gut maskiert und daher für die Dame unkenntlich, mit angehört, wohin die Frau fahren wollte, ist ihr in einem anderen Auto vorausgeeilt und hat den Schuß auf sie erst hier abgegeben, als der Kraftwagen schon hielt – aus einer Luftpistole oder einem Luftgewehr. Der Lärm des auslaufenden Motors übertönte das geringe Geräusch des Schusses. Nachdem der Chauffeur, womit der Verbrecher rechnete, sich entfernt hatte, um Hilfe herbeizuholen, plünderte dieser die scheinbar Tote aus und nahm auch den ganzen Inhalt des Handtäschchens mit, wahrscheinlich, um die Identifizierung der Fremden zu erschweren. Der Mann dürfte auch nicht auf den Hinterkopf, sondern auf die Schläfe gezielt haben, und nur dem glücklichen Umstande, daß das Bleigeschoß hier am Rande der Fensteröffnung entlangschrammte – bitte, der Wagen ist neu lackiert und hier ist die frische Schramme, die noch leichten Bleiglanz zeigt –, hat die Frau ihr Leben zu verdanken, da die Kugel eben abwich. Es dürfte nach alledem ein sorgfältig vorbereiteter Anschlag vorliegen, nicht Raubmordversuch, sondern Mordversuch aus anderen Motiven. – Die Spuren des Täters werden dort in jenem Garten dicht hinter dem niederen Staketenzaun in der Nähe jener Haselnußsträucher zu finden sein.“

Es war so. Wenn der gefrorene Boden auch nur geringe Spuren angenommen hatte, so ließ sich doch auch an dem alten bemoosten Holzzaun erkennen, wo der Verbrecher diesen zweimal überklettert hatte. Die Haselnußbüsche, die ihn gedeckt hatten, standen gerade so, daß der Schule von dort aus bequem in das Innere des Autos zielen konnte. Die Entfernung betrug sechs Meter, und Harald betonte, daß somit nur eine Luftbüchse, keine Luftpistole als Waffe in Frage käme.

Nachdem die Verletzte fortgeschafft war, wurden die Spuren genau aufgezeichnet und hierbei stellte sich bis zur völligen Gewißheit heraus, daß Haralds Kombinationen stimmten.

Um drei Uhr morgens waren wir wieder daheim. Ich mußte das Krankenhaus anrufen, und der Oberarzt gab mir bereitwilligst Auskunft. Die Fremde würde mit dem Leben davonkommen. Offenbar sei es eine Französin, da der Pelz, der Hut und die Bluse Firmenschildchen Pariser Geschäfte trügen. Freilich würde die Dame die Sprache und die Möglichkeit, sich mit anderen zu verständigen, erst nach Wochen wiedererlangen, da immerhin wichtige Teile des Gehirns verletzt seien.

Ich wiederholte Harald diese Auskunft, über die er sich, in der Sofaecke Zigaretten qualmend, nicht weiter äußerte.

Um halb vier gingen wir zu Bett.

Morgens halb zehn war ich mit dem Anziehen fertig. Als ich zu Harald hinüberging und an seine Schlafzimmertür pochte, erhielt ich keine Antwort.

So fand ich ihn denn … bewußtlos im Bett liegen. Im Zimmer roch es stark nach Chloroform.

Eine Stunde drauf war Harst wieder bei Besinnung, aber noch sehr matt. Seine ersten Worte waren:

„Ich habe nichts gehört … Man hat mich betäubt, ohne daß ich munter wurde … Sieh im Tresor nach, ob die Zeichnung noch vorhanden ist.“

Das Pergament fehlte, war gestohlen worden. Der Eindringling, der Harald das Chloroform hatte einatmen lassen, hatte den Tresorschlüssel aus Harsts Hosentasche genommen, den Geldschrank geöffnet, nachher wieder verschlossen und den Schlüssel auf den Nachttisch gelegt.

Dieser geriebene Gauner konnte nur wieder der Zwerg gewesen sein. Harst behauptete, der Bursche habe doch noch im Hause gesteckt, als wir über die Skizze sprachen und Harald sie mir erläuterte, habe uns eben belauscht – – abermals belauscht!

Als ich dann in dem Fremdenheim in der Kaiserallee, wo Frau Adelaide Loncire abgestiegen sein wollte, telephonisch nachfragte, wurde mir der Bescheid, die Dame sei morgens sechs Uhr nach Hamburg abgereist. –

Diese Ereignisse bildeten das Vorspiel zum zweiten Teil unseres Abenteuers in der … unerforschten Stadt. – Der Leser mag sich noch auf weitere Überraschungen seltsamster Art gefaßt machen …

 

 

Die Geheimnisse der Prinz Albert-Berge

 

1. Kapitel.

Frau Lucie Barne.

Mittags war Harald wieder vollkommen bei Kräften. Ich merkte ihm an, daß er sich wieder durchaus auf der Höhe fühlte, war aber doch anderseits erstaunt und etwas beunruhigt, weil er mit tief gefalteter Stirn andauernd in seinem Arbeitszimmer auf und ab schritt und sich in keiner Weise darüber äußerte, ob er die Vorfälle in unserem Hause, insbesondere diese heimtückische Betäubung und den Diebstahl des Pergaments etwa auf sich selbst beruhen lassen wollte.

Dann öffnete er die Tür zur Bibliothek und setzte sich dort an den Bechsteinflügel, saß eine Weile zusammengesunken auf dem Klavierschemel und legte schließlich wie träumend die Hände auf die Tasten, schlug ein paar weiche Mollakkorde an und ging ebenso unvermittelt in die Ouvertüre zu Puccinis Boheme über.

Still setzte ich mich in einen der Sessel am Fenster und lauschte.

Wenn Harald diese besondere Stimmung hat, den Flug seiner Gedanken durch rauschende Töne anzufeuern, beschäftigt ihn stets eine besonders komplizierte Frage …

Ich hörte nebenan im Arbeitszimmer die Standuhr mit tiefem Gongton halb eins schlagen.

In demselben Moment brach das Spiel ab, Harst klappte das Instrument zu und sagte laut:

„Es ist Frau Adelaide Loncire … Wir werden nach dem Versuchslaboratorium des Reichstelegraphenamtes fahren …“

Oberregierungsrat Bachmann, der Leiter des Laboratoriums, war noch anwesend und uns persönlich gut bekannt.

„Ich komme mit einer Bitte, Herr Oberregierungsrat,“ sagte Harald. „Würden Sie vielleicht von London aus die Photographie einer gewissen Frau Adelaide Loncire, Birmingham-Street 18, durch den Kornschen Bildfernübertrager hierher übermitteln lassen? – Es handelt sich um einen sehr ernsten Kriminalfall. Sie haben gewiß in der Mittagszeitung, die dort auf dem Schreibtisch liegt, von dem geheimnisvollen Anschlag gegen eine bisher nicht identifizierte Dame gelesen …“

„Allerdings, – Schuß aus einer Luftbüchse …“

„Ganz recht. – Ich vermute nun aus bestimmten Gründen, daß diese Dame eine Frau Loncire aus London ist, Gattin des Forschungsreisenden, der …“

„Ah – ich weiß Bescheid, verehrter Herr Harst … Gralsburg – – James Barne – –, es stand ja in allen Zeitungen …“

„Frau Loncire wohnte oder wohnt in London mit ihrer Schwester zusammen … Diese Schwester besitzt fraglos doch ein gutes Bild der Dame, und eine Radiodepesche nach London …“

„– ja, dann können wir in zwei Stunden das Bild übertragen haben … Ich werde sofort die nötigen Anweisungen geben …“

Er ließ uns für Minuten allein, so daß ich Gelegenheit fand, Harald zu fragen:

„Du glaubst, die Frau Loncire, die uns das Pergament brachte, war gar nicht Frau Loncire?“

„Nein – sie war’s sehr wahrscheinlich nicht. Die echte Frau Adelaide ist die Verwundete. Sie war bei dem Herzogspaar, ihr gab der Herzog die Zeilen für mich mit, die man dann Frau Loncire stahl …“

„Und die unechte Frau Adelaide – woher hatte sie die Skizze?“

„Von Barne, nehme ich an … Barnes Mörderkonsortium wird das Pergament nach dem Überfall auf die Expedition bei Doktor Loncire gefunden haben. Die unechte Frau Loncire ist eben entweder Barnes Gattin oder doch ein Mitglied dieses famosen Detektivinstituts, das nun hinter Schloß und Riegel sitzt.“

„Hm – wie kamst du denn auf die Vermutung, die Frau aus dem Auto könnte Frau Adelaide und die andere eine Schwindlerin sein?“

„Weil der Herzog mal erwähnte, seines Freundes Loncire Gattin sei zwar in Australien geboren, im übrigen aber Pariserin und besitze noch immer eine übergroße Vorliebe für die leichtlebige Seine-Stadt. Die Frau im Auto aber trug Kleidungsstücke, die aus Paris stammten. Außerdem bewies aber auch die „unechte“ gegenüber dem nunmehr festgestellten Tode des Forschungsreisenden eine solche Gefühlskälte, daß mir dies gleich etwas zu denken gab … – Warten wir ab …“ –

Bereits ein und drei Viertel Stunden später könnte Oberregierungsrat Bachmann uns das Fernbild überreichen.

Ein Zweifel war unmöglich. Harst hatte recht gehabt: die Verwundete war Frau Loncire.

Wir bedankten uns bei dem liebenswürdigen Leiter des Laboratoriums und fuhren heim. Jetzt war Harald außerordentlich gesprächig.

„Diese Sache mit der falschen Frau Loncire und dem Zwerge erledigen wir ganz allein, mein Alter,“ sagte er. „Hier handelt es sich darum, für die Witwe des Forschers und deren Kinder die Goldader vor einer Ausplünderung durch gemeine, wenn auch fraglos hochintelligente Verbrecher zu schützen. Ich werde unserem Freunde Kriminalkommissar Bechert nachher telephonisch mitteilen, wer die Verwundete ist und ihn bitten, ihr in meinem Namen, sobald sie das Bewußtsein wiedererlangt, zu erklären, daß ich „ihre Sache in die Hand genommen habe und abgereist bin“. Dann weiß sie, daß die Goldader nicht mehr in Gefahr ist, von Unberechtigten ausgebeutet zu werden …“

Abends teilte Harald bei Tisch dann etwas zögernd seiner Mutter mit, daß wir morgen abreisen müßten.

Die gütige Matrone war entsetzt …

„Nach Neuguinea, – – aber Harald! Ich habe bereits bei Kramuschke einen besonders schönen Tannenbaum bestellt!“

„Und ich, liebe Mama, habe bereits an meinen Freund Wolpoore nach Madras gekabelt, daß er uns seine Jacht „India“ nach Bombay entgegenschickt, möglichst mit zwölf zuverlässigen Farbigen und allem zu einer Expedition in unbewohnte Tropengegenden Nötigem. Die „India“ kann uns in fünf Tagen nach Granville auf Neuguinea bringen, und die ganze Geschichte wird in drei Monaten erledigt sein …“ –

Am folgenden Mittag reisten wir ab. In Genua bestiegen wir den englischen Luxusdampfer „Kanada“, und am 17. Dezember trafen wir in Bombay ein, wo tatsächlich die schlanke weiße „India“ bereits unweit des Viktoriadocks ankerte.

Zu unserer freudigen Überraschung war Lord Edward Wolpoore persönlich an Bord. Er war noch immer verblüffend jung geblieben, und die Nachwehen jener schrecklichen Jahre, als noch ein rachsüchtiges Weib mit infernalischer Schlauheit ihm dauernd nach dem Leben getrachtet hatte, waren vollkommen beseitigt. Er richtete uns herzliche Grüße von seiner Gattin und seinen Kindern aus und erklärte, er wolle diese Expedition mitmachen, deren Ziel ihm freilich noch unbekannt sei … –

Wir saßen im Salon der „India“, und nun begann Harald die Geschichte der Goldader zu berichten, während die Jacht bereits den Hafen verließ und mit einundzwanzig Knoten gen Süden steuerte.

Das meiste war unserem Freunde bereits aus den Zeitungen bekannt. Als Harst geendet hatte, meinte Wolpoore verwundert: „Und Sie beide haben nichts während der Überfahrt nach Bombay von diesem Weibe und ihrem Anhang gespürt?“

„Nichts gemerkt – nichts!“ erklärte Harald. „Aber – es kann ja noch kommen, lieber Wolpoore. Oder besser: es kommt bestimmt! Die Frau ist James Barnes Gattin, wie wir jetzt wissen. Ich habe von der „Kanada“ aus mich durch Radiodepeschen mit der Londoner Geheimpolizei verständigt. Auch der Zwerg ist den Londoner Herren kein Fremder gewesen, heißt Allan Goord und war Barnes tüchtigste Kraft … – Könnte ich mir nachher mal die zwölf Inder ansehen, lieber Wolpoore?“

„Gewiß …Es sind bis auf drei Leute Arbeiter von meinen Plantagen, tüchtige, abgehärtete junge Kerle, die mit Freuden dabei waren, eine Summe Geldes zu verdienen …“

„Und die drei anderen?“

„Hat mein Plantagendirektor in Madras aufgegabelt … Förmliche Riesen, bester Harst … Stauer vom Hafen … Sie werden zufrieden sein …“

Der Lord strich die Asche seiner Importe an der Schale ab und fügte bedächtiger hinzu: „Meinen Sie, daß diese Frau Lucie, der Sie so außerordentliche verbrecherische Fähigkeiten zutrauen, bereits nach Neuguinea unterwegs ist?“

„Bestimmt. Nachdem einer ihrer Getreuen Frau Loncire niedergeknallt hatte, wird die Bande – es sind gewiß noch ein halbes Dutzend erlesene Londoner schwere Jungen mit dem Weibe verbündet – schleunigst abgereist sein. Wenn sie den Orientexpreß benutzt hat, kann sie drei volle Tage Vorsprung haben …“

Der Lord erhob sich …

„Sehen wir uns also das Dutzend Inder an, lieber Harst.“

Wir gingen an Deck.

Hier standen an der Heckreling des Lords Leibarzt Doktor Pilling und der Kapitän der Jacht, der dicke gemütliche Schotte Patrick O’Kalargberty … Wir hatten die Herren schon vorhin begrüßt, und der Käpten rief uns jetzt zu:

„Mylord, da ist er wieder …!“

Er deutete mit dem Fernrohr nach Norden, wo die Küste gerade unter der Horizontlinie verschwand …

Ich schaute in die unendliche Ferne …

Sah einen kleinen Dampfer mit zwei Masten … Er folgte der „India“, war etwa zehn Seemeilen hinter uns.

Wolpoore nickte …

„Ja, das ist er – unverkennbar mit den beiden Masten und dem gelben Schornstein …“ Wandte sich an Harald:

„Dieser kleine Küstendampfer warf gestern in Bombay neben uns Anker … Am Bug lasen wir den Namen „Nebar“. Mein Kapitän, der alte brave Kalargberty, steckt ja seine Whiskynase in alles, brachte also auch bald heraus, daß dieser Dampfer nur äußerlich den Eindruck eines völlig verwahrlosten Trampkahnes mache, daß er unlängst den Besitzer gewechselt und – die Hauptsache! – überaus kräftige Maschinen habe … Auch der Name ist geändert worden. Früher hieß er „Antje“, gehörte einem Holländer. Der jetzige Herr des „Nebar“ ist ein Malaie, einer jener reichen modernen farbigen Kaufleute, die es an Verschlagenheit selbst mit den Chinesen aufnehmen …“

Harst hatte sich inzwischen von dem Kapitän das Fernglas geben lassen und beäugte den kleinen schnittigen Dampfer lange Zeit. – Dann fragte er den Lord: „Haben Sie noch wie früher die beiden Schnellfeuergeschütze an Bord, Wolpoore?“

Unser englischer Freund kniff die Augen klein. „Ah – Sie trauen dem „Nebar“ nicht! Genau wie ich! Deshalb erzählte ich Ihnen auch, was ich über den Dampfer durch den Käpten erfuhr. – Keine Sorge im übrigen, lieber Harst. Die Geschütze sind noch da, außerdem drei Maschinengewehre, und dann – meine zwanzig Matrosen sind tadellos bewaffnet, ebenso die zwölf Leute, die uns in die Wildnis begleiten sollen …“

„Dann lassen Sie die Geschütze an Deck bringen, Wolpoore, – für alle Fälle … Vorher aber“ – und dies galt dem Kapitän – „halten Sie mehr auf die Küste zu. Wollen sehen, ob der „Nebar“ in unserem Kielwasser bleibt. – Gehen wir nach vorn …“

Auf dem Vorderdeck standen die zwölf Inder schon bereit. Harst rief die drei in Madras angeworbenen Neuen vor. Es waren tatsächlich wahre Herkulesse, diese prächtigen braunen Burschen … Sie beherrschten den ostasiatischen Hafenjargon tadellos, und Harst richtete verschiedene Fragen an sie, unter anderem auch, ob die Leute schon mal zur See gefahren seien und ob sie Papiere besäßen. – Mir kam es vor, als ob er gegen diese drei ein geringes Mißtrauen hegte.

Die Leute besaßen Papiere, auch Zeugnisse, hatten vor Jahren ein paar Seereisen als Heizer gemacht und benahmen sich, was ich betonen will, so zwanglos und frei, daß wohl auch bei Harald nun jeder Verdacht schwand.

Wir begaben uns wieder nach achtern. Die „India“ hatte derweilen ihren Kurs geändert. Aber der „Nebar“ folgte uns nicht, dampfte ruhig weiter. Trotzdem wurden die Geschütze an Deck geholt und in ihre Öltuchkappen gehüllt. –

Am anderen Morgen war von dem „Nebar“ selbst vom Mastkorb aus mit den besten Gläsern nichts mehr zu bemerken.

Harst schien nun völlig beruhigt zu sein.

Fünf Tage drauf näherten wir uns nach einer ohne jeden Zwischenfall verlaufenen und vom Wetter außerordentlich begünstigten Fahrt der Torresstraße, die die Rieseninsel Neuguinea, die drittgrößte der Erde, von Australien trennt. Am folgenden Mittag hofften wir im Hafen von Granville zu sein.

 

2. Kapitel.

Er wäscht die Jacke …

In der Torresstraße liegen eine ganze Menge von kleinen grünen, zum Teil felsigen Eilanden. Vormittags elf Uhr glitt die weiße „India“ an der größten dieser weit verstreuten, meist unbewohnten Inselchen, der Klarence-Insel vorüber.

Wolpoore, Doktor Pilling und wir beide saßen in Liegestühlen auf dem Achterdeck unter dem stets feucht gehaltenen Sonnensegel. Auch das Deck wurde andauernd unter Wasser gesetzt, denn die Hitze war heute bei völliger Windstille geradezu unerträglich. Wir hatten soeben von dem Funker der Jacht die mit Maschine geschriebenen neuesten Tagesnachrichten erhalten, die von den Apparaten der „India“ vom Sender Melbourne, Australien, aufgefangen worden waren. Unter anderem lasen wir so auch, daß Frau Doktor Loncire im Berliner Städtischen Krankenhause nun endlich die Sprache wiedererlangt und über das gegen sie unternommene Attentat nähere Angaben gemacht habe.

Harald zeigte dieser Nachricht gegenüber eine erstaunliche Gleichgültigkeit. Er saß mit halb geschlossenen Augen da, rauchte Zigaretten und rührte sich kaum. – Wolpoore lachte.

„Hat die Hitze Sie so schlaff gemacht, lieber Harst …“

„Ich war nie weniger schlaff, nie so munter wie jetzt,“ lautete die verblüffende Antwort …

Wolpoore, Pilling und ich blickten Harst überrascht an.

Harald fügte ebenso gelassen hinzu:

„Vorn am Bugspriet steht einer der drei Stauer aus Madras und wäscht seine Leinenjacke …“

„Freilich – – eine äußerst harmlose Beschäftigung!“ nickte der Lord und nahm eine neue Zigarre.

„Harmlos?!“ meinte Harald gedehnt … „Der Kerl schwenkte die Jacke dreimal in der Luft, als wollte er die Wassertropfen und Seifenflocken abschütteln … Dann schaute er nach der Insel hinüber, und – – ich auch. Ich habe mindestens so gute Augen wie er … Auf der bewaldeten Landzunge flatterte in dem Gipfel der hohen einzelnen Palme dreimal ein roter Zeugfetzen. – Bitte – nicht hinsehen, meine Herren … Es ist hier fraglos eine Teufelei im Gange. Diese drei Stauer haben im Sommer 1922, was aus ihren Papieren hervorgeht, eine Reise als Heizer nach Cooktown in Queensland, Australien, gemacht. Cooktown ist derjenige Hafen, der regelmäßige Dampferverbindung mit Granville hat. Die drei Stauer sind scheinbar bis Januar 1923 in Cooktown geblieben. Und – – im Dezember 1922, meine Herren, wurde die Expedition des Herzogs Daugberry auf Neuguinea niedergeknallt. Damals starb auch Doktor Loncire durch die Kugeln der Meuchelmörder James Barnes. Ich behaupte, die drei Madrasleute könnten uns über jenen Angriff auf die Expedition mancherlei Einzelheiten berichten. Der Malaie, der den schnellen Dampfer „Antje“, jetzt „Nebar“ kaufte, ist gleichfalls ein Verbündeter der Frau Barne. James Barnes sogenanntes Detektivinstitut unterhielt Beziehungen nach Indien, China und Australien. In Madras hatte Barne eine Filiale. – Der Dampfer „Nebar“ ist uns fraglos vorausgeeilt, und noch bevor wir die Küste von Neuguinea sichten, wird der „Nebar“ uns zu kapern versuchen. – „Nebar“ …!! Wenn Sie den Namen zerlegen und die beiden Silben umstellen, klingt Nebar keineswegs mehr malaiisch … Bar Ne – Barne!!“

„Donnerwetter!“ entfuhr es dem Lord …

Harst rauchte drei Züge, warf den Stummel über Bord.

„Und jener Madrasstauer, der den poetischen Namen Kauri führt, hat sich bisher mit Bienenfleiß in der Kombüse nützlich gemacht … Sehr verdächtig, denn die Kerle sind faul wie die Sünde. Nur Kauri nicht. – Da – jetzt gießt er den Bottich aus, hängt die Jacke zum Trocknen auf und verschwindet im Mannschaftslogis …“

Wolpoore sagte energisch:

„Legen wir die drei Kerle in Eisen, Harst! Und wenn der Dampfer wirklich einen Angriff wagt, wird er sich üble Beulen holen!!“

Harst nickte. „Das wohl … Er wird uns jedoch erst angreifen, wenn Kauri und die beiden anderen Burschen ihre Aufgabe hier an Bord erfüllt haben. Und diese Aufgabe dürfte derart sein, daß die „India“ sich kaum mehr wehren kann …“

„Ah – – etwa … eine Bombe – – dergleichen!“ rief der Lord erregt. „Soll die Jacht leck gemacht werden und …“

Harst winkte lässig ab. „Ich habe bereits vor vier Tagen heimlich die Schiffskisten der drei durchsucht … Nein – Bomben nicht. Aber etwas Schlimmeres … – Doktor, kennen Sie Bati-Lianen?“ wandte er sich an Pilling.

„Natürlich … Der Saft der in den Mangrovendickichten wachsenden Bati-Lianen ist neuerdings sehr wertvoll, da er das Morphium vollkommen ersetzt, – ein schmerzstillendes Schlafmittel von rascher Wirkung, völlig geschmack- und geruchlos, dickflüssig und goldgelb wie Honig und äußerlich nur daran erkennbar, daß es in Flaschen einen roten Bodensatz bildet …“

„Ja – und Kauri hat in seinem Koffer drei Fläschchen Bati verborgen, meine Herren … Deshalb hat er sich mit dem Koch angefreundet. Heute mittag wird er das Essen mit Bati vergiften. Eine halbe Stunde drauf wird aus der „India“ ein Dornröschenschloß werden, – alle schlafen, – – oder besser: es würde so geworden sein! Wir werden Kauri zur rechten Zeit abfassen. Schraut und ich werden uns in der Küche verstecken. Der Koch muß ins Vertrauen gezogen werden.“

Wolpoore reichte Harst die Hand …

„Mein alter lieber Harst, Sie sind doch stets auf dem Posten! – Hol’ mich der Teufel: die Bande hätte uns alle abgeschlachtet!“

„Ohne Zweifel, Wolpoore … – Pilling mag nun in die Kombüse gehen. Das fällt am wenigsten auf. Der Koch soll ein Versteck vorbereiten …“ –

Der Koch war ein Chinese, seit zehn Jahren in Diensten Wolpoores, und so treu und anhänglich, wie dies ein Chinamann sein kann.

Um zwölf saßen Harst und ich in einer kleinen Kammer neben der Kombüse. In die Tür waren zwei Löcher gebohrt worden. Wir konnten die Küche bequem überblicken.

Sehr bald erschien Kauri und half den beiden Kombüsenboys beim Kartoffelschälen.

Eine halbe Stunde verstrich …

Kurz nach halb eins machte Kauri sich am Herde zu schaffen, reinigte den Aschenkasten und äugte immer wieder nach dem Koch und den Boys hin. Die waren genau instruiert, verschwanden nun in der Vorratskammer …

Im selben Moment griff Kauri in die Tasche seiner Leinenhosen, brachte eine fingerlange Flasche zum Vorschein, zog mit den Zähnen den Stöpsel heraus, hob den Deckel von dem großen Aluminiumtopf, in dem die Sagosuppe mit Dörrobst kochte, und …

… und Harst war schon hinter ihm, riß ihm die Flasche aus der Hand, hielt ihm die Clement vor die Stirn.

Aber dieser hünenhafte Bursche besaß mehr Geistesgegenwart, als wir vermutet hatten. Ein blitzschneller Fausthieb von unten – Harsts Pistole flog gegen die Decke.

Der Inder überrannte mich, raste die Treppe empor …

Wir kamen zu spät …

Er war über die Reling in die See gesprungen …

Hatte Mut der Bursche … Wußte, daß im Kielwasser der „India“ stets ein halbes Dutzend Haie, Menschenhaie von vier Meter Länge, auf Küchenabfälle lauerten …

Kam dann auch nicht weit, der Flüchtling … Zwei der Meereshyänen schossen heran, und obwohl wir, Wolpoore und der Steuermann auf die Bestien Schnellfeuer eröffneten, verschwand Kauri in der Tiefe … hinter sich blutige Streifen in der trägen See zurücklassend.

Er war gerichtet. –

Die beiden anderen Madrasleute standen dann gefesselt auf dem Achterdeck vor uns. Kein Wort war aus ihnen herauszuquetschen. Mit überlegenem Hohn lachten sie Harst an. – Sie wurden in Eisen gelegt und sicher eingesperrt.

Dann ließ Harst den Funker die in Granville stationierten beiden kleinen englischen Kreuzer anrufen. Wolpoores Name genügte. Der reichste Plantagenbesitzer Indiens ist überall bekannt. Der eine Kreuzer funkte zurück, daß man sofort auf den Dampfer „Nebar“ Jagd machen und uns entgegenfahren würde.

Aber – von dem „Nebar“ war keine Spur zu bemerken. Es war daher anzunehmen, daß Frau Barne, die fraglos an Bord des Dampfers sich aufhielt, mit den drei Stauern noch weitere Signale verabredet gehabt hatte. Da diese ausblieben, hatte der „Nebar“, der sicherlich hinter einer der kleinen Inseln gelegen hatte, Lunte gerochen und war verduftet.

Am nächsten Mittag ankerten wir in dem kleinen Hafen von Granville neben den beiden Kreuzern.

Am anderen Tage standen die beiden überlebenden Madrasleute vor dem Kriegsgericht des Kreuzers „Singapore“. Eine Stunde drauf baumelten sie an der Fockraa. Sie hatten selbst mit der Hanfschlinge um den Hals nichts von ihren Geheimnissen preisgegeben.

 

3. Kapitel.

Doktor Pillings Schlaflosigkeit.

Abends acht Uhr dann große Beratung im Salon der Jacht. Harst war sehr damit einverstanden, daß außer den neun Indern, die als Träger dienen sollten, noch sechs Mann der Besatzung der „India“ und auch Doktor Pilling die Expedition mitmachten, denn er rechnete mit aller Bestimmtheit damit, daß Fran Lucie Barne inzwischen irgendwo an der zerklüfteten, buchtenreichen Südküste gelandet war, und daß sie uns mit Hilfe einer Bande farbigen Gesindels überfallen würde.

Schon am Nachmittag hatten wir in Granville bei dem englischen Polizeichef Nachfrage gehalten, ob in Granville in den letzten Tagen fremde Farbige, Inder oder Malaien aufgetaucht seien. Doch – keinerlei verdächtige Gestalten waren beobachtet worden, und auch unsere eigene Aufmerksamkeit vermochte nichts festzustellen, was auf die Anwesenheit feindlicher Spione in Granville hingedeutet hätte.

„Trotzdem,“ erklärte Harst jetzt, „dürfen wir keinerlei Vorsicht außer acht lassen. Am besten ist, wir brechen nachts auf. Die Pinasse der Jacht mag uns irgendwo in einer westlich gelegenen Bucht absetzen. Dann brauchten wir wenigstens für die erste Zeit nicht zu fürchten, daß Frau Barne uns angreift.“ –

Die Vorbereitungen wurden denn auch sofort begonnen, das Gepäck verteilt, die Waffen nochmals nachgesehen, der Patronenvorrat abgeschätzt und ergänzt, die für die Goldgräberei nötigen Werkzeuge, Sprengstoffe und so weiter ebenfalls einer Prüfung unterzogen.

Die sechs Matrosen der „India“, die uns außer den neun Indern noch begleiten sollten, waren Mischlinge mit völlig europäischem Gesichtsschnitt, alle sechs bereits mehrere Jahre auf der „India“. Sie und die neun Träger hatten jeder rund vierzig Pfund Gepäck zu schleppen, das in sehr bequemen Rucksäcken verstaut war. Wir Weißen, der Lord, Doktor Pilling und Harst und ich, trugen jeder etwa zwanzig Pfund in gleicher Weise. – Noch in derselben Nacht gegen ein Uhr verließ die Pinasse die Jacht und schlängelte sich bei leichtern Tropenregen zum Hafen hinaus. Eine Stunde später setzte sie uns in einer Bucht an Land. –

Auf Einzelheiten unseres Marsches durch die bergige Wildnis kann ich mich hier nicht einlassen.

Harald hatte, da wir ja schon in Berlin Doktor Loncires Skizze eingebüßt hatten, aus dem Gedächtnis eine neue Zeichnung angefertigt. Er spielte den Führer, fand auch wirklich den ersten terrassenförmigen Berg und genau so sicher nachher den „Buckel“ – tatsächlich eine einzelne bewaldete Bergkuppe, die einem buckligen Menschen in langem grünem Mantel glich.

Am dritten Tage erreichten wir die Schlucht zwischen den beiden „Bürsten“, – kein Tal, sondern einen Abgrund, einen Kanon. Am Südrande lagerten wir. Harst nahm seine Remingtonbüchse und wollte ein Baumkänguruh zu schießen versuchen. Neuguineas Tierwelt ähnelt ja durchaus der des fünften Kontinents Australien. Meine Begleitung hatte Harald abgelehnt. Im Grunde war mir das ganz lieb, denn ich war müde und hatte mir die Füße etwas wundgelaufen. – Nach drei Stunden erst kehrte Harst mit einem feisten Baumkänguruh zurück, dessen Fleisch nachher zwei weitere Tage vorhielt.

Als er neben Lord Wolpoore vor dem Zelte Platz genommen hatte und dieser ihn fragte, ob er besonderes erlebt habe, sagte er leise:

„Dies hier fand ich in einer Höhle der Schluchtwand neben Resten von Skeletten – von mindestens zwölf Menschen …“ – Er hielt Wolpoore auf der flachen Hand einen Hosenknopf hin, auf dem noch die eingestanzte Londoner Firma deutlich zu lesen war.

Der Lord rief zögernd: „Die ermordete Expedition?!“

„Ja, Wolpoore … Die Schurken haben die Leichen der Erschossenen damals in jene Höhle getragen, in der sich zwei Bauten der großen schwarzen Ameisen befinden. Die Ameisen haben dafür gesorgt, daß nicht einmal mehr etwas von der Kleidung übrigblieb. Das einzige, was ich zwischen den Gebeinen entdeckte, war dieser Hosenknopf. Sie sehen: Galargi, London, die große Firma für Sport- und Tropenausrüstung! Ich glaube, der Beweis genügt. – Wichtiger noch als dieser Fund ist aber eine andere Entdeckung. Der Skizze des toten, ermordeten jungen Forschers nach muß jenseits dieses Kanons nach Norden zu ein zweiter Buckelberg liegen. Ich habe ihn gesehen und auch eine Stelle an dieser südlichen Kanonwand bemerkt, wo der Abstieg weiter keine Schwierigkeiten bereitet. Wir können wieder aufbrechen. Bis zum Abend erreichen wir noch den zweiten Buckelberg.“

Dieser Fund Haralds, dieser eine Hosenknopf, sollte noch von besonderer Bedeutung werden.

Je mehr wir uns nun dem Ziele näherten, desto vorsichtiger wurden wir. Harst hatte inzwischen zwei der Inder, sehr intelligente, fixe Burschen, zu tadellosen Spähern ausgebildet. Diese waren stets dreihundert Meter voraus und suchten das Gelände nach Spuren ab. Merkwürdig: wir blieben vollkommen unbehelligt. – Nachdem wir den zweiten Buckelberg am Morgen des vierten Tages überwunden hatten, erblickten wir nach Norden zu ein endloses Tal, dessen Seitenwände deutlich Terrassenbildung erkennen ließen. In dem steinigen, nur von Gestrüpp bestandenen Tale floß ein breiter, klarer Bach dahin, das Silberband der Skizze!

Bisher war niemand von uns Teilnehmern der Expedition erkrankt. Wenn die Tage auch sehr heiß waren, so bewegten wir uns doch andauernd in einem Hochlande mit reiner, frischer Luft. Sümpfe und dergleichen hat der Südosten von Neuguinea kaum aufzuweisen. Wir fühlten uns alle frisch, lebendig und unternehmungslustig. Nur Doktor Pilling klagte ein wenig über Schlaflosigkeit und Unruhe. Die dünne Höhenluft (wir befanden uns am vierten Tage in etwa 1000 Meter Höhe, also mitten in den Ausläufern des bis zu 4300 Meter ansteigenden Owen Stanley-Gebirges), mochte unserem stillen, bescheidenen Doktor, der erst kurze Zeit bei Lord Wolpoore war, nicht recht bekömmlich sein. Wenn wir nachts im Zelte lagen, wälzte sich Pilling andauernd hin und her, ging so und so oft leise hinaus, kehrte zurück und nahm schließlich doch ein Schlafmittel, worauf er dann stets am Morgen kaum zu erwecken war. –

So brach denn nun der siebente Morgen nach unserem Abmarsch von der Küste an. Ali, der indische Koch, weckte uns um sechs Uhr. Pilling war wieder kaum munter zu bekommen. Der Tee war bereits fertig. Wir frühstückten hastig, denn Harald hatte schon am vergangenen Abend erklärt, daß wir heute bestimmt „Frucht – Stein“, also das Ziel, erreichen würden. – Wir alle spürten heute dieselbe Nervosität. Die Entscheidung nahte. Würden wir die Goldmine finden?! – Die Vorsichtsmaßregeln wurden verdoppelt. Wir marschierten weiter am linken Ufer des breiten Baches das endlose, gewundene Tal nach Norden zu entlang. Harst hatte heute jedoch die Marschordnung geändert. Wir beide bildeten den Vortrupp. Dann kamen als Verbindungsleute die beiden indischen Späher, dann die Trägerkarawane und als Nachtrupp der Lord und Pilling und zwei Matrosen. Harst und ich waren etwa fünfhundert Meter voraus. Zuerst hüllte Harald sich in Schweigen, hatte nur Auge und Ohr für die Umgegend.

„Was hast du nur?!“ fragte ich schließlich. „Hat Pilling dich ebenfalls im Schlafe gestört? Ein angenehmer Zeitgenosse ist er nicht …“

„Nein … Überhaupt …“

Da brach er ab, riß mich hinter einen großen Stein und drückte mich zu Boden …

„Still …!!“

„Was gibt’s?!“ flüsterte ich …

Harst richtete sich wieder auf … Lugte über den Rand des Steins hinweg …

Seine Remingtonbüchse entsicherte er dabei und schob sie schußfertig vor …

Mein Herz begann schneller zu klopfen …

Dann raunte Harst mir zu:

„Es war ein blondbärtiger Europäer … Nun ist der Mann verschwunden … Er trug einen Karabiner im Arm … Drüben vor den Riesenfarnen stand er … Ich glaube, er hat uns doch bemerkt … Krieche zurück. Die Karawane soll halten … Dann kehre zurück …“

Ich beeilte mich nach Kräften. Aber verdammt unbehaglich war mir doch zumute. Es stand ja nun fest: Frau Barnes Mörderhorde war uns auf Umwegen vorausgeeilt, und womöglich waren wir gar hier in dem nicht allzu breiten Tale umzingelt worden. – Ich stieß auf unsere beiden Späher, die uns beobachtet hatten und ebenfalls sofort in Deckung gegangen waren, teilte ihnen das Nötige mit und kroch wieder auf den Stein zu, hinter dem jedoch … Harald nicht mehr kauerte!

Wo war er?!

Der steinige Boden sagte mir nichts, da er keine Spuren annahm. – Hatte man Harst etwa hinterrücks überfallen und weggeschleppt? – Nein – auch das nicht! Denn so leicht und so geräuschlos ist ein Harald Harst nicht zu überwältigen.

Ich lugte über den Stein hinweg nach den Riesenfarnen hinüber …

Und da – ein heller, breitrandiger Strohhut, ein Nackenschleier …

Harst – Harst tief gebückt den Boden musternd, nach Fährten suchend …

Ich bin bei ihm … Er sagt achselzuckend: „Der Mann ist spurlos verschwunden … Hier stand er … Da siehst die Eindrücke seiner derben Stiefel. Und das seltsame: er trug Matrosentracht und einen ähnlichen Strohhut wie wir! Ich erkannte sogar am blauen Blusenärmel irgendein Abzeichen. Es mag ein goldener Anker gewesen sein. – Jede weitere Fährte fehlt …“ Harald hat immer langsamer gesprochen. So, als ob ganz besondere Gedanken sein Hirn durchkreuzen … Dann – in so versonnener Art, daß meine Unruhe und nervöse Spannung sich noch, mehr steigert: „Überhaupt, mein Alter, – wir sind nicht von Gefahren, aber von Geheimnissen umgeben … Pilling ist eine sehr rätselhafte Persönlichkeit. Seine Schlaflosigkeit war Schwindel. Als er in der dritten Nacht aus dem Zelte schlich, habe ich den Zeltpflock an meiner Seite gelockert und bin ihm gefolgt. Er kroch auf allen Vieren davon und traf mit einem Manne unweit des Lagerplatzes zusammen, von dem ich in der Dunkelheit nur die Matrosentracht und den blonden Vollbart und einen Strohhut erkannte. Ob dieser Mann derselbe war, den ich heute hier bemerkte, weiß ich nicht. Jedenfalls hat Pilling häufiger mit ihm nächtliche Zusammenkünfte gehabt. Leider glückte es mir nie, die beiden zu belauschen. Sie waren außerordentlich vorsichtig, und nur eins stellte ich fest: sie sprachen Deutsch miteinander! – Was hältst du davon? – Pilling ist erst bei Wolpoore Leibarzt geworden, nachdem meine Kabeldepesche an den Lord abgegangen war, – drei Tage später erhielt Pilling die Stellung, und nur deshalb, weil Pilling glänzende Zeugnisse aufweisen konnte. Ist dir nicht aufgefallen, daß der Doktor niemals über seine Vergangenheit spricht und stets den Zugeknöpften spielt?!“

„Einer von Frau Barnes Bande?“ – und als ich diese Frage gestellt hatte, erschien sie mir töricht und gedankenlos, denn natürlich mußte Doktor Pilling ein Spion der Feinde sein.

Harst schüttelte leicht den Kopf. „Irrtum – stimmt nicht! Pilling ist Deutscher, behaupte ich. Pilling – unter uns gesagt – war’s, der an Bord der „India“ mir gegenüber mal eine Bemerkung darüber fallen ließ, daß Kauri sich so sehr um die Freundschaft des Kochs bemühte. Das hätte er nie getan, wenn er zu den Barne-Leuten zählen würde … – Kehren wir um. Ich möchte mit dir allein nachher das Tal weiter nach Norden zu durchforschen. Wir brauchen keine Begleiter …“

Als wir die Karawane erreichten, herrschte dort große Aufregung. Pilling war verschwunden. Wie und wohin – niemand wußte es.

Harald überredete Wolpoore denn ohne besondere Mühe, hier an geeigneter Stelle ein verschanztes Langer zu beziehen, während wir beide zunächst mal auskundschaften wollten, ob die Umgebung sicher sei.

Mittags ein Uhr verließen wir dann mit vollgepackten Rucksäcken die Gefährten. Harst schritt hundert Meter voran. Wir bewegten uns in dem recht unübersichtlichen Tale mit äußerster Behutsamkeit vorwärts. Die Talwände wurden immer höher, steiler und kahler, der Bach breiter und tiefer. Die Hitze in diesem vielfach gewundenen, aber in der Hauptrichtung nach Norden zu verlaufenden Kanon entlockte uns Ströme von Schweiß. Die Büchsen schußfertig im Arm, die Augen überall, stets auf jedes Geräusch lauschend, stets den Boden argwöhnisch musternd – so drangen wir zwei Stunden lang vorwärts, bis nach einer scharfen Biegung des Tales, das man weit eher als Abgrund bezeichnen konnte, eine himmelhohe Wand jedem weiteren Schritt Einhalt gebot. In dieser schwarzen, grauschwarzen Steilwand verschwand der Bach in einem natürlichen Tunnel, den er freilich nur zur Hälfte ausfüllte.

Harst watete hier wortlos durch den Bach. Winkte dann … Ich folgte ihm. Er zeigte mir am anderen Ufer in dem angespülten feinen schmalen Schlammstreifen den einzelnen klaren Abdruck eines Stiefels. …

„Er ist in den Tunnel eingedrungen,“ sagte Harald gedämpft und setzte sich auf einen nahen Felsblock, zog sein Zigarettenetui hervor und rauchte … „Halten wir hier kurze Rast, mein Alter … Gib die Kognakflasche her … Wir wollen uns stärken. Der Marsch durch den Tunnel wird anstrengend werden.“

Ich nahm neben ihm Platz, trocknete das schweißfeuchte Gesicht und grübelte über dieses neue Rätsel nach. Wenn Pilling nicht Frau Barnes Helfershelfer war, – welcher Art waren dann seine Geheimnisse, und wer mochte der blonde Deutsche sein, der doch offenbar stets in der Nähe unserer Karawane geblieben war?!

Unvermittelt begann Harald dann zu sprechen …

„Den ganzen Umständen nach muß man mich, als ich die Depesche an Wolpoore von unserem Postamt abschickte, beobachtet haben. Es war damals am Schalter sehr voll … Man wird das Telegramm gelesen haben. Der Beamte am Schalter ließ es vor sich liegen und berechnete erst die Gebühren. So konnte Frau Barne nachher gleichfalls nach Madras depeschieren, wo ihr Mann noch gute Beziehungen zu dunklen Existenzen gehabt haben mag – außer seiner Filiale, die freilich von der Polizei auf Ersuchen von London her bald aufgehoben wurde. So konnten die drei Stauer sich auf die „India“ einschmuggeln. – Aber – wie wußte Pilling, daß wir die „India“ benutzen würden?! Weshalb trat er die Stellung als Leibarzt bei Wolpoore an?! – Und schließlich noch etwas. Auf Doktor Loncires Skizze ist dieser Tunnel nicht angedeutet … – Viele, viele noch ungelöste Fragen, mein Alter …! – – Brechen wir auf … Raus mit den Taschenlampen … Hinein in den finsteren Tunnel!“

Er erhob sich lebhaft …

„Harald!!“

„O – ich weiß, du willst mich warnen. Aber ich glaube, – – doch nein, – das, was ich vermute, schwebt noch so vollständig haltlos in der Luft, daß nur der Augenschein uns Gewißheit bringen kann … – Besinne dich mal, was der Herzog Daugberry uns in dem Ostseebade Graal[1] mitteilte, nämlich, daß sein Freund Loncire sich in etwas geheimnisvoller Weise über die Siedlung geäußert habe, die unweit der Goldader läge …“

„Ich besinne mich … Und – worauf schließt du hiernach?“

Er antwortete nicht, stieg in den Bach und watete in den Tunnel hinein.

 

4. Kapitel.

Die deutsche Stadt.

Das Wasser war angenehm kühl und reichte uns bis zu den Hüften zumeist. Unserer Taschenlampen grelle Lichtfinger griffen in die Finsternis keck hinein und zerteilten die schwarzen Vorhänge drohender Dunkelheit. Dieser Marsch durch den unterirdischen Bach schien nach etwa einer Viertelstunde notwendig ein Ende zu haben. Starkes Brausen kündete uns schon von weitem einen Wasserfall an. Der Bach stürzte denn auch etwa zehn Meter tief in einen Abgrund. Der Lärm des Wasserfalles, der aufsprühende Gischt, die eisige Luft und die ganze unklare Lage, in der wir beiden Abenteurer uns hier in den Tiefen eines Bergmassivs befanden, legten sich mir wie ein erstickender Alb auf die Brust. – Ich brüllte Harald ins Ohr, wir sollten umkehren … Er tat, als hörte er nichts, untersuchte die Seiten des Tunnels, beugte sich über den Abgrund und … begann schließlich an der rechten Seite hinabzuklettern.

Wahrhaftig – hier waren breite Stufen in das schlüpfrige Gestein gehauen, eine unauffällige Treppe …

Links von uns, keinen Meter entfernt, schoß die Wassermenge des Baches senkrecht in den Abgrund …

Ein Fehltritt – ein Ausrutschen, Ausgleiten, und man war geliefert!

Wir hatten die Büchsen umgehängt, hielten uns an Steinzacken fest, kamen wohlbehalten unten an und setzten unseren Weg mit frischem Mute fort.

Der Bach trat zehn Minuten später nach scharfer Krümmung durch ein haushohes Felsentor wieder ins Freie … Sonnenlicht flutete uns entgegen … Ein weites Tal, von mächtigen Gebirgsstöcken umrahmt, zeigte uns alle Pracht tropischen Pflanzenwuchses – ein wahrer Garten Eden! Drei Meilen mochte dieses von aller Welt völlig abgeschlossene Tal lang sein, mindestens eine Meile breite. In der Mitte gleißte der Spiegel eines großen Sees, der von dem Bache gebildet wurde. Palmenhaine wechselten mit Pandanen- und Eukalyptuswäldern ab. Weite Grasflächen schimmerten in hellerem Grün.

Wir hatten eine Anhöhe erstiegen, und als wir nun den Blick nach rechts wandten, gewahrten wir dreierlei: Mitten in einer köstlichen Savanne einen ungeheuren einzelnen Felsblock, hundert Meter nach Osten zu aber einen jener altehrwürdigen Brotfruchtbäume, deren Stamm häufig bis zu fünf bis sieben Meter Durchmesser erreicht. Zwischen diesen beiden Merkzeichen aber („Stein“ und „Frucht“ der Skizze fraglos!) lag etwas nach Norden zu ein wild zerklüfteter Felshügel. – Und das dritte: jenseits der Savanne an einer Bucht des Sees erkannten wir zierliche Häuschen, blinkende Fensterscheiben, Tiergehege, in denen sich Rinder, Schafe, Schweine und Känguruhs tummelten …

Ich riß das Fernglas aus dem Futteral, stellte es ein.

Das war keine Siedlung, kein Dorf, – das war eine kleine Stadt … Zwischen den schlanken Stämmen von Sagopalmen, wundervollen Pandanen und üppigem Buschwerk, flimmerten die Umrisse weiterer Baulichkeiten hindurch. Zahme Tauben saßen auf den Dachfirsten, Hühner stolzierten auf eingezäunten Höfen umher …

Nur – – auch nicht ein einziger Mensch war zu erblicken … Kein Schornstein der blitzsauberen Holzhäuser rauchte …

Ich ließ das Glas sinken. Mein fragender Blick begegnete dem Haralds …

Harst murmelte etwas vor sich hin …

Es klang wie „Pommerania“ …

„Pommerania?!“ meinte ich. „So rede doch …! Hast du diese Stadt hier zu finden erwartet?!“

Er sagte nichts, stieg den Hügel hinab, nahm die Büchse entsichert in den Arm und wandte sich nach Osten. Hier liefen durch die Savanne mit ihren kräftigen meterhohen Gräsern überall schmale, von Menschen ausgetretene Pfade hindurch. Auch Räderspuren von Wagen fanden wir, die mit Zugochsen bespannt gewesen. Je mehr wir uns dem zerklüfteten Felshügel näherten, der zwischen dem riesigen Steingebilde und dem uralten Brotfruchtbaum lag, desto deutlicher zeigte es sich, daß hier noch vor kurzem zahllose Menschen hin und her geeilt waren. Das Gras war völlig niedergetreten, und mit einem Male stießen wir auf eine etwas primitive Wasserleitung aus Holzröhren, die mitten in das Felsgewirr des ausgedehnten kahlen Hügels führte.

„Die Goldader!“ meinte Harald nur …

Dann standen wir in einer tiefen Felsrinne, deren Wände zweifellos durch Sprengschüsse in Geröll zertrümmert war … Harald bückte sich und hob ein Stück Gestein auf, deutete auf eine goldene Furche darin …

„Gold, mein Alter! Die Goldader ist bereits ausgebeutet worden …!“

Ich fühlte mich wie im Traumland … Kaum dreihundert Meter weiter lag das erste Gehöft der Stadt … Ich erkannte die Vorhänge an den Fenstern, freute mich über den hellgrünen Ölfarbenanstrich des Wohnhauses, über die dunkelgrünen Fenster und die dunkelrote Tür, deren Fläche nach Bauernart mit plumpen Blumen bemalt war … –

Harst hatte es jetzt plötzlich sehr eilig, war mir zehn Schritt voraus …

Immer mehr Einzelheiten dieses Städtchens hier in den Prinz Albert-Bergen (so wird dieser Teil des großen, Neuguinea durchziehenden Gebirgsmassivs auf der Karte bezeichnet), hier in weltferner, jedem Uneingeweihten unzugänglichen Einsamkeit enthüllten sich meinen staunenden Augen.

Harst öffnete die Tür des Hauses. Wir traten ein, durchschritten helle freundliche Zimmer mit schlichten Möbeln, sahen an den getünchten Wänden gefällig gerahmte Bilder aus Zeitschriften: deutsche Landschaften, den Loreleyfelsen, die Stadt Köln, Helden deutscher Geschichte, Friedrich den Großen, Bismarck, Hindenburg … – Das Ganze machte den Eindruck, als ob die Bewohner (dem Schlafzimmer nach ein Ehepaar und zwei Kinder) soeben erst etwa zu einem Spaziergang oder zur Feldarbeit aufgebrochen seien.

Von diesem Gehöft lief eine gepflasterte Straße bis zum nächsten Anwesen und dann weiter in die recht ausgedehnte Stadt hinein, – eine Stadt, die … nicht einen einzigen Menschen mehr zu beherbergen schien, obwohl wir noch in verschiedenen Wohnhäusern und drei Kaufläden uns genauer umsahen, bevor wir den runden Marktplatz dieser Urwaldsiedlung erreichten.

Was wir fanden, sei nachher berichtet. Ich muß nämlich noch bemerken, daß wir bei der Besichtigung der anderen Häuser genau feststellen konnten, wie deren Besitzer politisch und religiös dachten. So hatte das eine Haus Bilderschmuck aufzuweisen, der auf einen Anhänger des Sozialismus hindeutete. Bebel, Marx, Reichspräsident Ebert und moderne Führer des Sozialismus blickten streng, feierlich oder gutmütig von den Wänden auf uns beide Neugierige, die wir uns bemühten, die Schubladen eines verschlossenen Schreibtisches zu öffnen. – Es war nicht der einzige Schreibtisch, den wir ohne wesentlichen Erfolg durchstöberten. Deutsche Zeitungen, Bücher, Preislisten englischer Firmen aus Madras – das fanden wir wohl! Nirgends aber Papiere, die uns über die Besitzer, Namen und Herkunft, Aufschluß gegeben hätten. – In einem dritten Häuschen wohnten zweifellos strenge Katholiken. Ein kleiner Hausaltar, Kruzifix mit darum gewundenem Rosenkranz, Papstbilder, – – nur keine persönlichen Papiere oder Familienphotos! – Dann wieder ein Heim von Lutheranern, dann das eines Seemannes: Landkarten, Seekarten, Schiffsgeräte, das Bild eines Dampfers … – In den Kaufläden gut gefüllte Regale … Sogar eine Drogerie, gleichzeitig Apotheke. Nur – – keine Menschenseele, nur Haustiere, auch Katzen, die vor uns ängstlich flüchteten … Hunde fehlten, obwohl auf fast jedem Hof eine Hundehütte stand.

So kamen wir bis zum Marktplatz, der genau so sauber gepflastert war wie die Straßen. In der Mitte ein Kirchlein, rundherum Palmen. An der Nordseite ein großes freistehendes Gebäude, – ohne Frage das Gemeindehaus.

Wir schritten darauf zu, bogen um die Kirche und … standen beide minutenlang reglos. Denn jetzt erst gewahrten wir ein langes Gerüst aus frischen Balken, ähnlich dem einer sehr breiten Schaukel, – – einen Galgen! Daran hingen eng nebeneinander in Hanfschlingen vierzehn Tote mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen, – ganz rechts eine Frau, dann drei Europäer, von denen der eine ein Knabe zu sein schien. Die anderen waren Farbige, offenbar Inder. Und der Knabe – – die Erleuchtung kam mir blitzartig! – – war der Zwerg Allan Goord, der Vertraute der Lucie Barne!!

Wir brauchten die Papptafel, die an einem der Seitenpfähle des Galgens mit Nägeln befestigt war, gar nicht mehr zu lesen … Wir wußten auch so Bescheid!

Auf der Tafel stand in großen lateinischen Buchstaben in deutscher Sprache:

Durch Urteil vom 28. Dezember des Jahres wegen Mordes, Mordversuchs und wegen anderer Verbrechen hingerichtet.

Darunter drei unleserliche Namen als Unterschrift. Nur die Vornamen waren leidlich zu entziffern:

Friedrich, Siegfried, Johannes.

Daß es sich hier um eine rein deutsche Niederlassung handelte, war uns ja längst zur Gewißheit geworden.

Und doch – wo kamen diese Kolonisten her, die hier auf Neuguinea, das doch für Deutschland genau so wie alle anderen Kolonien längst verlorengegangen war, sich in diesem Weltabgeschiedenheit niedergelassen hatten …?!

Hatte denn Doktor Ralph Loncire, als er 1921 dieses von allen Seiten durch Berge verrammelte Tal und auch die Goldader entdeckt hatte, diese Stadt noch nicht angetroffen? War sie erst nachher erbaut worden? – Freilich, alle diese Häuser, deren Zahl ich auf etwa vierhundert schätzte, machten den Eindruck von Neubauten, konnten vielleicht zwei, drei Jahre stehen.

Sinnend, aber auch von einem stillen Grauen durchbebt, wenn mein Blick die Toten streifte, stand ich da …

Harst meinte da: „Sie haben in rund vier Jahren eine ganze Stadt in der Wildnis erstehen lassen … Das bringt nur deutscher Fleiß und deutsche Fähigkeit fertig … – Schau dort drüben hin – zwei Sagemühlen …! Daneben offenbar noch andere Fabrikanlagen – mit Ausnutzung der Wasserkraft des Gießbaches, der dort von der Talwand herabschießt.“

„Wer – – sie?!“ fragte ich ungeduldig. „Wer?! Woher kamen diese hunderte von Deutschen? Niemand daheim weiß etwas von dieser Siedlung, niemand in Granville ahnt etwas davon!! Kein Mensch in Granville kann von dieser Stadt Kenntnis haben … Man hätte uns doch sonst …“

Harald unterbrach mich …

„Es soll auch niemals bekannt werden, was aus den Leuten der Pommerania geworden – niemals! Wir beide werden schweigen, und das Geheimnis dieses friedlichen Paradieses wird bewahrt werden, so gewiß ich Harst heiße!“

Er sprach mit einem Ernst und Nachdruck, der seine Worte wie einen Schwur erscheinen ließ.

„Pommerania?“ meinte ich. „Was ist …“

Er winkte ab …

„Später, mein Alter … Dort die Tür des Gemeindehauses steht weit offen … Das sieht wie eine Einladung aus.“

Er schritt weiter …

Fünf Steinstufen empor, hinein in die Vorhalle. Hier in der Mitte ein großer, mit grünem Tuch bespannter Tisch. Mitten auf dem Tisch zwei Papiere, an den Ecken durch zackige Stücke reinen Naturgoldes beschwert …

Und nun – die Lösung eines Teiles dieser Rätsel …

Das obere Papier ein Scheck, ausgestellt auf die Filiale der Bank von Indien in Madras, über 50 000 Pfund Sterling lautend – von Doktor Artur Pilling für Harald Harst als Bevollmächtigten der Witwe Adelaide Loncire!!

50 000 Pfund Sterling, – – eine Million!!

Und der zweite Zettel, dieselbe Schrift wie der Scheck, wie das Todesurteil am Galgen:

Landsleute, bewahrt unser Geheimnis. Die Goldader erschien Ralph Loncire reicher, als sie es in Wirklichkeit war. Der Erlös aus dem verkauften Golde gehört der Witwe des Mannes, der einen Teil von uns hier vorfand, als wir noch in Hütten hausten. – Lucie Barne und ihre Räuberbande suchte uns vorgestern zu überfallen. Auch wir hatten acht Tote zu beklagen. Die Schuldigen sind gerichtet.

Hierunter wieder die drei unleserlichen Unterschriften. –

Harst nahm schweigend den Scheck und schob ihn in seine Brieftasche.

Unter den anderen Zettel schrieb er:

Landsleute, ihr hättet euch vor uns nicht zu verstecken brauchen …! Wir werden dafür sorgen, daß niemand euren Frieden stört.

Harald Harst – – Max Schraut.

Ich hatte genau wie Harald die Remingtonbüchse auf den Tisch gelegt. Was sollte uns hier auch zustoßen?!

Und doch – – welch’ ein Leichtsinn!!

Ein Leichtsinn, den wir bitter büßen sollten …

Urplötzlich eine rauhe Stimme dicht hinter uns:

„Hände hoch, deutsche Schnüffler …!!“

Wir fuhren herum …

Drei Kerlen stehen vor uns … Schußfertige Pistolen …

Drei Weiße in zerfetzten Leinenanzügen, die Gesichter voller Risse, barhaupt, im wirren Haar Gräser, Aststückchen.

Drei Kerle, in deren erschöpften, abgehetzten Gesichtern die blutunterlaufenen Augen Wut und Mordgier sprühen …

Der mittlere lacht höhnisch … Sein Englisch verrät alle scheußlichen Entstellungen aus dem Londoner Verbrecherviertel.

„Also haben wir euch beide wirklich, euch deutschen Spürhunde …!! Nun – die vierzehn von uns, die da draußen am Galgen baumeln, und die zwölf, die im Kampf mit den Ansiedlern fielen, sollen sofort gerächt werden …!! Ein Zufall, daß wir drei von unserem Haupttrupp abgekommen waren … Wie wilde Tiere sind wir im Dickicht umhergeirrt … Dann sahen wir euch beide in den Tunnel eindringen, schlichen hinter euch drein …!“

Seine Stimme wurde schrill … „Sterben sollt ihr! Ihr seid an allem schuld … Ihr habt auf der „India“ diesen Pilling mit nach Neuguinea gebracht … Der hat die Ansiedler gewarnt, der …“

Der Bursche links von ihm fiel ihm ins Wort …

„Was schwatzt du da ganze Opern zusammen, Tim!! – Eine Kugel, – – das wäre denn doch ein zu leichter Tod für die beiden …!“

Ein satanisches Grinsen …

„Wir werden sie binden – hier auf diesen Tisch festbinden, dann diese große Bretterbude anzünden … Schmoren sollen die Schufte …! In Flammen soll die ganze Stadt aufgehen! Das deutsche Pack, das hier haust, hat sich irgendwo im Gebirge verkrochen … O – – wundern sollen sie sich!! Lucie Barne und unsere Kameraden sollen eine Feuerbestattung erhalten, wie sich’s diese Deutschen nicht träumen lassen! – – Hände hoch, ihr beiden! Tim, binde sie …!!“

Dem Kerl stand der Geifer vor der stoppligen Schnauze …

„Hände hoch …!!“ brüllte er nochmals …

Harst hob die Arme, aber nur, um sie sehr nachlässig über der Brust zu kreuzen …

„Und wenn ich euch fünfzigtausend Pfund Sterling biete, – würdet ihr dann …“

„Maul gehalten!! Wo willst du eine Million hernehmen, dreckiger Sandfloh!“ grinste der junge Bursche tückisch … „Also – – Hände hoch – – sofort! Braten sollt ihr, deutsche Schweine!! Und um euch herum werden wir Lucie Barne und die dreizehn anderen aufschichten! Ein Feuerchen soll’s werden, wie …“

„Narren!“ sagte Harald kalt. „So schießt doch – – schießt doch …!! Ich …“

Aber – seine Rechnung war falsch gewesen … Der baumlange Bursche feuerte … Haralds Strohhut flog nach rückwärts, und durch sein Haar zog sich eine Furche, in der nun ein paar rote Tropfen emporquollen …

Der Knall des Schusses dröhnte überlaut in der Halle wieder …

Harst lachte ironisch und reckte die Arme gehorsam empor.

Stimmte seine Rechnung trotzdem?!

Ein eiliger Gedanke glitt durch mein Hirn, als ich nun seinem Beispiel folgte. Hatte Harst diesen einen Schuß herausfordern wollen? Hoffte er, daß die Ansiedler durch den Schuß herbeigerufen werden würden?!

 

5. Kapitel.

Die Stadt, die niemand findet …

„Jonny, kratzt dich der Satan!!“ fauchte Tim, wohl der älteste der drei, nunmehr seinen Kameraden an. „Kannst du wissen, ob diese deutschen Schweine sich nicht irgendwo in nächster Nähe verkrochen haben?! Willst du die Brut uns auf den Hals hetzen?! – Verdorben hast du alles mit deiner verfluchten Voreiligkeit!! Jetzt freilich kommt’s auf drei oder vier Schüsse mehr oder weniger nicht an. Entweder wir sind gehört worden oder nicht. Machen wir also ein Ende – und dann … auf und davon!“

Wahrhaftig – – jetzt wurde es bitterster Ernst. Jetzt glomm in den Augen der drei Strolche vertierte Mordgier auf … Ich sah des dritten Pistolen (der Kerl war klein und O-beinig und sicherlich mal Seemann gewesen) auf meinen Kopf gerichtet. Vier Schritt nur – und schießen konnten die Halunken! Mir rieselte es eiskalt über den Rücken …

Sekunden entschieden hier – Bruchteile von Sekunden … – Hilfe von anderer Seite für uns?! Woher wohl?! – Meine Beine wurden schwach … Die Knie zitterten mir … Im Munde bekam ich einen gallenbitteren Geschmack …

Da – – Harsts ruhige Stimme:

„Überlegt es euch! Die Ansiedler haben hier die Goldader abgebaut und den Erlös in der Bank von Indien in Madras deponiert – eine runde Million …“

Goldader!! – Wie klug gewählt war diese schnelle Erwähnung des lockenden Edelmetalls …

Die Pistolen senkten sich etwas …

Harst fuhr fort: „Ich soll diese Million für Frau Loncire abheben … Ich habe keine Lust, mein Leben hier um dieser einen Million wegen einzubüßen … – Hier ist der Scheck … Bitte – prüft ihm Wenn ihr wollt, gebe ich euch meinen Ausweis mit … Dann könnt ihr die Summe abheben – einer von euch als Harald Harst. Meine Unterschrift werdet ihr ja wohl unschwer nachmalen können …“

Er hielt Tim den Scheck hin …

Der fiel denn auch wirklich auf die ziemlich plumpe Falle herein …

Trat vor …

Eine Million …!! – Die Kerle vergaßen alle Vorsicht. Auch die beiden anderen drängten sich neben Tim, stierten den schmalen Streifen Papier an … Kannten sich aus mit derlei Formularen. Tim nickte befriedigt …

Wir beide hatten den langen schweren Tisch dicht neben uns. Hatten schon vorher gesehen, daß die Platte gut fünf Zentimeter dick war und daß sie aus dem sehr festen Holz der sogenannten Austra-Kiefer bestand, die in Nordaustralien ebenso häufig wie hier auf Neuguinea zu finden ist. – Harst gab mir einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen … Sein Blick glitt nach links – auf den Tisch. Ich verstand sofort. Es gehörte auch weiter keine besonders rasche Auffassungsfähigkeit dazu, Haralds Plan zu begreifen. Kippten wir den Tisch nach hinten, schlüpften wir hinter den Tisch, so glitten uns unsere Büchsen ganz von selbst in die Hände.

Die drei Strolche studierten noch immer den Scheck. Sie waren mißtrauisch, ob der Scheck auch richtig ausgestellt sei und ob die Summe ihnen ausgezahlt werden würde, ohne daß sich Weiterungen ergaben. Sie standen dicht nebeneinander, behinderten also einer den andern beim raschen Gebrauch ihrer Pistolen …

Mit geradezu akrobatenhafter Schnelligkeit hatte da Harst auch schon den bescheidenen Trick ausgeführt. Der Tisch kippte … Blitzschnell waren wir in Deckung, blitzschnell hatten wir die Büchsen in der Hand …

Und Harst feuerte auch sofort – auf gut Glück über die Tischkante hinweg …

Drei Schüsse folgten dem seinen …

Dann drückte auch ich ab … Die Kugeln der Verbrecher klatschten in das Holz … Unsere Kugeln erreichten ihr Ziel.

Zwei wütende Aufschreie … Stampfende eilige Schritte … Stille …

Wir lugten über den Rand unserer Barrikade hinweg … Leer die Vorhalle … An der Tür lag der Scheck … Draußen rannten die drei Kerle davon … Tim und der schlanke junge Bursche waren recht unsicher auf den Beinen. Trotzdem gaben sie ihr letztes her, stürmten vorwärts, als säße Satanas ihnen auf den Fersen, verschwanden zwischen den Häusern, bevor wir noch das Kirchlein erreicht hatten. – Sie zu finden, war nicht ganz einfach, bot auch die Gefahr, etwa aus einem der Gebäude niedergeknallt zu werden.

„Stopp!“ meinte Harald und blieb stehen, verwahrte zunächst den Scheck wieder in seiner Brieftasche … „Wenn auch zwei von ihnen angeschweißt sind, gefährlich bleiben sie trotzdem … Wollen dort links durch jenes Gehöft in die Savanne hinein, mein Alter … Möglich, daß die Burschen nach dem Tunnel fliehen … Dann müssen wir sie sehen …“

Er drehte sich um, betrachtete nochmals den Galgen mit den vierzehn Gehenkten, das schmucke freundliche Gemeindehaus … „Vielleicht kommen wir nie mehr hierher, mein Alter … Nimm gleichfalls Abschied von dieser Stätte deutschen Fleißes … – Und nun vorwärts! Die Kerle sind geradeaus geflohen, wir machen einen Bogen …“ Und er setzte sich in Trab …

Vorüber an Tiergehegen, an Stallungen, sauberen Gärten, hinein in die Savanne mit ihrem zum Teil niedergetretenen Grase … Dort vor uns der Steinhügel – die tiefe ausgesprengte Rinne: die einstige Goldader! Und von der Höhe des Hügels ein Blick gen Süden … Nichts …! – Dort der Bach, der Tunnel mit mächtigem Ausgang, wie ein geheimnisvoller Höhleneingang …

Ich wende den Kopf nach rechts …

„Harald!!“ Meine Hand deutet auf den uralten Brotfruchtbaum …

Wir starren hinüber …

An dem tiefsten Ast hängen unsere drei Gegner … in Hanfschlingen … Tims Beine zucken noch zuweilen empor, als wollte er Tanzschritte üben. Dann bleibt auch er regungslos …

„Schnelle Justiz,“ meint Harald mit einem leichten Aufatmen. „Das erspart uns weitere Aufregungen. – Gehen wir … Die Landsleute haben ihren guten Grund, sich nicht vor uns sehen zu lassen … Davon später …“

Mir will es nicht recht in den Sinn, daß wir dieses kleine deutsche Paradies verlassen sollen, ohne einen einzigen der Ansiedler zu Gesicht bekommen zu haben. Anderseits sagen mir die Vorgänge hier, daß die Leute sich nicht zeigen wollen.

Wir erreichen den Tunnel … das Bachufer. Harald weist auf eine Schleuse, die wir vorhin nicht bemerkt haben. Das Schleusentor steht offen.

„Wenn sie es schließen, füllt sich der Tunnel,“ meint Harst. „Dann ist dieses Tal von allen Seiten abgesperrt … – Hinein in den Tunnel!“

Nach einer halben Stunde sind wir wieder drüben am anderen Ausgang, im anderen Tale … Und nun, als Harald gemächlich eine Zigarette anzündet, sagte er: „Im Jahre 1914 im Juli, verließ der deutsche Dampfer „Pommerania“ mit achthundert Ansiedler den Bremer Hafen. Als der Dampfer sich der Küste von Deutsch-Neuguinea näherte, wo die Ansiedler ausgebootet werden sollten, war inzwischen der Weltkrieg ausgebrochen. Ein feindlicher Hilfskreuzer wollte die „Pommerania“ anhalten. Der deutsche Kapitän rammte im Einverständnis mit der Besatzung und den Auswanderern den Gegner, der bereits das Feuer auf die „Pommerania“ eröffnet hatte. Von den Feinden kam nicht einer mit dem Leben davon. Die hochgehende See machte Rettungsversuche unmöglich. Aber ein holländischer Küstenfahrer hatte von fern alles beobachtet. Die Sache wurde bekannt, und die Engländer suchten nun die inzwischen an einsamer Stelle gelandeten „Pommerania“-Leute einzukreisen und zur Verantwortung zu ziehen – ohne Erfolg. Man hat nie mehr etwas von ihnen gehört, und auch Doktor Loncire ahnte nicht, daß die in Hütten hausenden Ansiedler, auf die er in jenem Tale stieß, die Gesuchten seien.“

„Woher weißt du das alles?“ fragte ich verwundert …

„Durch Pilling, mein Alter … Pilling pflegte im Schlafe zu sprechen. Er lag im Zelt dicht neben mir. In seinen lebhaften Träumen spielten die Versenkung des Hilfskreuzers und das erste entbehrungsreiche Leben in der Wildnis dieser Insel die Hauptrolle … Nun begreifst du auch, weshalb die Landsleute sich selbst vor uns verborgen hielten. Sie wußten durch Pilling, daß ein Engländer, eben Wolpoore, mit uns war, und sie rechnen nun darauf, daß wir beide Vorsorge treffen, daß ihr Geheimnis bewahrt bleibt.“ –

Als wir das Lager unserer Karawane erreicht hatten, erklärte Harald dem Lord und unseren Gefährten, daß wir beide dort, wo der Bach in dem Bergmassiv verschwände, lediglich den Scheck auf einem Felsblock gefunden haben … Es hätte also weiter keinen Zweck, nach der Goldader zu suchen.

Wolpoore merkte wohl, daß wir die Hauptsachen verschwiegen, fragte aber nicht weiter, da schließlich der Zweck unserer Expedition, Frau Loncire das Erbe ihres Gatten zu sichern, erreicht war.

Absichtlich wählte Harald dann zum Rückmarsch einen anderen Weg, vernichtete auch die von ihm aus dem Gedächtnis angefertigte Skizze.

Unsere Heimreise war nichts als eine harmlose Vergnügungsfahrt. In Madras ließ Harst die Million nach London für Frau Adelaide Loncire überweisen. Beim Abschied von Wolpoore meinte dieser mit leichtem Schmunzeln: „Ihr beide habt mir manches vorenthalten, was den Scheck und die Goldader betrifft … Vielleicht ahne ich die Zusammenhänge, denn auch ich habe aus Pillings Traumgesprächen mancherlei entnommen.“

Wir schieden von Wolpoore in herzlicher Freundschaft.

 

Nächster Band:

Pension Dr. Buckmüller.

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 36, Elisabeth-Ufer 44

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „Gral“. Gemeint ist der Ort „Graal“ (Graal bei Müritz), der mit „aa“ geschrieben wird. Siehe auch Band 188 „Das Urwaldrätsel“.