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Die unsichtbare Faust

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 302

 

Die unsichtbare Faust.

 

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

Der geheime Kommerzienrat Gotein legte die Zeugnisse auf den Tisch zurück und nickte anerkennend.

„Dagegen läßt sich in der Tat nichts einwenden,“ meinte er zögernd. „Aber – nun ja – sehen Sie, Herr Doktor, bei einem derartigen Posten sprechen nicht nur die behördlich ausgestellten Papiere mit, sondern auch – hm ja – die Familienverhältnisse.“

Der junge Privatlehrer, der sich heute hier um die neu zu besetzende Stellung eines Erziehers der beiden Söhne des reichen Großkaufmannes bewarb, schaute diesen mit einem halb unsicheren, halb überraschten Blick in das von einem leicht ergrauten Spitzbart umrahmte kluge, jedoch zumeist völlig undurchdringliche Gesicht.

„Familienverhältnisse? – Wie soll ich das verstehen, Herr Geheimrat?“ fragte er nun mit leiser Unruhe in seiner angenehmen, weichen und biegsamen Stimme.

Gotein vermied eine direkte Antwort.

„Aus welchem Grund haben Sie eigentlich nicht Ihr Staatsexamen als Oberlehrer gemacht, sondern sich mit der Erlangung des philosophischen Doktortitels begnügt?“ warf er ohne besondere Betonung hin.

Herbert Mikla war es, als ob ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzte. – Also wieder diese Frage, wieder dieses Bohren in einer Vergangenheit, die ihm bisher stets die Erreichung einer gesicherten Stellung vereitelt hatte …! –

Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte seine Zeugnisse zusammengerafft und ohne Gruß das Zimmer verlassen, in dem doch nur abermals tiefe Demütigungen seiner warteten. Aber die kühle Überlegung besiegte die erste Aufwallung eines mit Recht verletzten Stolzes. Er wollte wissen, wie weit auch dieser Mann, dem er heute zum ersten Mal in seinem Leben gegenüberstand, über sein trauriges Schicksal unterrichtet war.

Das Unsichere aus seiner Haltung und dem Ton seiner Stimme verschwand, und den Geheimrat scharf anblickend fragte er kalt und doch mit einer gewissen Bitterkeit:

„Es unterliegt keinem Zweifel, daß Sie von irgendeiner Seite veranlaßt worden sind, Herr Geheimrat, über diesen Punkt von mir Aufklärung zu verlangen. Hätten Sie sich lediglich erkundigt, weshalb ich das Staatsexamen nicht abgelegt habe, so wäre mir diese Frage nicht weiter aufgefallen. Aber Sie deuteten vorher auf meine Familienverhältnisse hin, und das beweist mir, daß auch hier bei Ihnen wieder meine heimlichen Widersacher an der Arbeit gewesen sind und Sie vor mir, na sagen wir – gewarnt haben.“

Gotein war ein guter Menschenkenner. Diese Eigenschaft ist ja für einen Mann, der seine Millionen dauernd an der Börse arbeiten und sich vermehren läßt, ebenso notwendig wie ein weitschauender Blick in die Zukunft neuer geschäftlicher Unternehmungen und auch wie jene großzügige Gewissenlosigkeit, die sich nicht daran stößt, daß eine gelungene Spekulation vielleicht unzählige andere Existenzen vernichtet. Und als Menschenkenner fühlte er heraus, daß dieser junge Privatgelehrte vielleicht wirklich unverdient von einem mißgünstigen Geschick verfolgt wurde. Außerdem hatte er mit seinen feinen Ohren auch nicht ein einziges Wort aus diesen halb anklagenden Sätzen des Dr. Mikla überhört.

„… auch hier bei Ihnen sind wieder meine heimlichen Widersacher an der Arbeit gewesen,“ hatte jener gesagt „…auch hier…!!“ Also erlebte der Doktor nicht zum ersten Mal die Enttäuschung, daß er als Bewerber nicht weiter in Frage kam, weil … weil …

Der Geheimrat schaute den Privatlehrer jetzt mit steigendem Interesse für dessen Persönlichkeit an.

„Sie meinen, ich sei gewarnt worden,“ erwiderte er bedächtig. „Nun ja – es ist so. Wozu solch ich das leugnen?! Ich habe einen anonymen Brief erhalten, in dem …“

Er kam nicht weiter. Dr. Mikla hatte sich mit einem Ruck erhoben.

„Also wieder dieselbe Geschichte!“ stieß er erregt hervor. „Sie brauchen mir weiter keine Erklärungen abzugeben, Herr Geheimrat! Ich weiß jetzt Bescheid. Ich eigne mich zum Erzieher nicht, weil mein Vater im Zuchthaus gesessen hat und ich selbst auch nur so ganz knapp am Gefängnis vorbeigekommen bin …!“ Sein ganzes feingeschnittenes Gesicht zuckte vor ohnmächtiger Wut und beißendem Spott.

„Sie gestatten, daß ich mich verabschiede. Dürfte ich um meine Zeugnisse bitten.“

Der Großkaufmann hatte den Besucher scharf beobachtet und jede seiner Mienen während dieses plötzlichen Ausbruchs eines leidenschaftlich aufbrausenden Herzens studiert. Jetzt hob er mit einer Geste, die fast gebieterisch war, die Hand und sagte kühl:

„Behalten Sie Platz. – Aus Ihren Reden entnehme ich, daß schon häufiger anonyme Briefe für Sie stark hinderlich gewesen sind. Wollen Sie mir nicht vielleicht hierüber näheren Aufschluß geben?“

Heribert Mikla hatte sich nicht wieder gesetzt. Schnellen Schrittes kam er um den Tisch herum, langte nach seinen Zeugnissen und erklärte ablehnend:

„Ich bedaure. Wir kennen uns denn doch zu wenig, Herr Geheimrat, als daß ich mich mit Ihnen in eine Erörterung über Dinge einlassen könnte, die für Sie jeglichen Interesses entbehren.“

Eine leichte Verbeugung, und er schritt der Tür zu – leider nicht der richtigen, die ihn in den Flur führen sollte, sondern der nach dem einen Nebengemach hin, öffnete sie etwa stürmisch und … prallte zurück, indem er ein undeutliches: „Bitte sehr um Verzeihung!“ murmelte. Ehe er die Tür jedoch wieder schließen konnte, rief eine helle Mädchenstimme:

„Herr Doktor – halt – halt! – Wie kommen Sie denn hierher?“

Mikla war inzwischen wieder in das Herrenzimmer zurückgetreten. Unschlüssig stand er einen Moment da. Dann eilte er jedoch hastig – und dieses Mal durch die richtige Tür – davon.

Gleich darauf erschien eine junge Dame in der noch halb offenstehenden Tür nach dem Musikzimmer hin und fragte den Geheimrat, der unbewegt noch immer in dem tiefen Klubsessel saß und in dessen Augen es doch wie von verhaltener Heiterkeit leuchtete:

„Du, Pa, – sollte etwa Dr. Mikla zu uns als Erzieher kommen? Und – weshalb ist er in so unmöglicher Weise weggelaufen?“

Der Geheimrat antwortete mit einer Gegenfrage:

„Woher kennst du denn diesen Herrn eigentlich, Traude?“ –

Das klang etwas erstaunt und forschend.

„Eine Kollegenbekanntschaft, Pa,“ meinte sie, vor ihm stehen bleibend. „Dr. Mikla hört ebenfalls die öffentliche Vorlesung bei Professor Remscheid über moderne Literatur. Er saß einmal neben mir und lieh mir einen Bleistift. Wir haben dann zuweilen vor Beginn des Kollegs miteinander geplaudert – natürlich nur über wissenschaftliche Dinge. Er scheint ein sehr kluger Kopf zu sein. – War er wirklich der Hauslehrerstelle wegen bei dir?“

„Ja. Er hatte auf die Anzeige in den Zeitungen hin mir seine Zeugnisse eingeschickt, und, da diese vorzüglich sind, bestellte ich ihn mir zu heute Vormittag her. Inzwischen waren aber in mir gewisse Bedenken aufgetaucht, die mir die Anstellung des Doktors als nicht ratsam erscheinen ließen. Als ich dies ihm gegenüber andeutete, rannte er in ziemlich taktloser Weise davon.“

Traude Gotein, – schlank, blond und mit einen regelmäßigen Gesicht, das trotz des lebhaften dunklen Augenpaares und des etwas sinnlichen Mundes einen stark hervortretenden Ausdruck reichen Geisteslebens besaß, schüttelte langsam den Kopf.

„Ich verstehe dich nicht ganz, Pa. – Bedenken waren in dir aufgetaucht?! – Du sagtest aber doch, seine Zeugnisse seien vorzüglich gewesen. Dann mußt du doch noch unter der Hand irgendwelche Erkundigungen über den Doktor eingezogen haben …!“

„Nein. Man hat mir vielmehr einen anonymen Brief heute morgen zugeschickt, dessen Angaben Mikla durch seine Äußerungen und sein Verhalten bestätigt hat.“

Traude Gotein hatte bisher an Dr. Mikla kaum ein besonderes Interesse genommen. Als sie ihn in dem großen Hörsaal kennen lernte, sagte sie sich, daß er mit seinem eleganten Äußeren, der tadellosen Figur und dem energisch geschnittenen Gesicht, das durch ein paar braune, melancholische Augen einen besonderen Reiz gewann, für Frauenherzen leicht gefährlich werden könne. Dann stellte sie noch fest, wie harmonisch auch seine geistigen Fähigkeiten mit seiner Erscheinung im Einklang standen, und geriet sogar ein ganz klein wenig in den Bann dieser weichen, wohlklingenden Stimme, in der stets ein so weher, trauriger Unterton zu vernehmen war. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr sehr bald, daß der Doktor fraglos schon schwere Enttäuschungen in seinem Leben durchgemacht habe, und daß deshalb über seinem ganzen Sichgeben eine gewisse menschenfeindliche Scheu und müde Gleichgültigkeit lagerte.

Jetzt nun hatte sie Gelegenheit, sich über Miklas Persönlichkeit näheren Aufschluß zu verschaffen. Sie war weit über ihre zwanzig Jahre hinaus gereift und selbstständig, dabei doch heiter und lebensfroh. Und wenn sie jetzt mit ihrem Vater über diesen ihnen beiden eigentlich fremden Herrn eingehender sprach, so brauchte sie nicht zu fürchten, daß der Geheimrat sofort bei ihr ein tiefgehendes Interesse an dem Privatlehrer vermutete.

So wurde denn zwischen Vater und Tochter das Thema Dr. Mikla nach allen Richtungen hin erörtert. Er zeigte ihr auch den anonymen Brief und faßte sein Urteil über den so plötzlich ausgekniffenen Herrn, wie er sich ausdrückte, dahin zusammen, daß der Doktor ohne Frage ein lauterer Charakter sei.

„Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen,“ meinte er in seiner bestimmten Art. „Ich habe deinen Kollegbekannten sehr genau beobachtet. Der arme Kerl leidet unter den Nachstellungen irgendwelcher ihm übelgesinnter Kreaturen. Er deutete an, daß nicht zum ersten Mal ein anonymer Brief ihm die Erreichung einer seinen Wünschen entsprechenden Stellung unmöglich gemacht habe. Ich werde an ihn schreiben und ihn für die Jungen als Erzieher anstellen. – So, Kind, und nun muß ich zur Börse. Das Auto wartet unten schon gut eine halbe Stunde.“

* * *

Herbert Mikla sagte sich schon auf der mit einem Plüschläufer belegten Marmortreppe, daß er sich soeben zu recht törichtem Tun habe hinreißen lassen. Mußten nicht der Geheimrat und auch dessen Tochter durch dieses fluchtartige Davoneilen notwendig auf die Vermutung kommen, daß das schlechte Gewissen ihn fortgetrieben habe …?! –

Aber – was lag ihm schließlich an dem Urteil dieser Leute …! Nichts – nichts! –

Er lachte bitter auf. Nun würde auch Fräulein Gotein ihn nicht mehr kennen, und die kurzen Gespräche in der Wandelhalle der Universität würden aufhören. Auf diese Minuten hatte er sich immer ein wenig gefreut – das merkte er erst jetzt. Und doch – es war ja von ihm eigentlich eine Torheit gewesen, Anschluß an irgend einen Menschen zu suchen, und sei es selbst nur für eine noch so kurze Zeit zum Zwecke gegenseitiger Aussprache über rein wissenschaftliche Dinge. Er war förmlich dazu verflucht, stets einsam zu bleiben, stets! Auch in diesem Punkt hatte er wieder seine bitteren Erfahrungen gemacht. –

Nun war die schmiedeeiserne Tür des vornehmen Hauses, dessen zweiten Stock mit etwa fünfzehn Zimmern der Geheimrat Gotein bewohnte, erreicht, und er trat auf die Straße hinaus, auf den breiten Kurfürstendamm, dessen Baumschmuck hier dicht an der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche leider der Untergrundbahn vor einiger Zeit zum Opfer gefallen war.

Herbert Mikla war inzwischen wieder ruhiger geworden. Die alte stumpfe Gleichgültigkeit hatte sich seiner nach diesem kurzen Aufbegehren verletzten Stolzes abermals bemächtigt. Er war ja ein Narr, ein doppelter Narr! Einmal, weil er überhaupt noch versuchte, sich eine Stelle als Hauslehrer oder Erzieher zu verschaffen, und dann, daß er noch so empfindlich war und sich über die Zurückweisung seiner Person ärgerte …! –

Besser, er freute sich dieser lauen Frühlingsluft, die auch ihm die Brust unwillkürlich weitete und die all den ihm begegnenden Menschen ein so warmes Leuchten in die Augen trieb und ihre Bewegungen straffte. Der Frühling war da, und selbst für Berlin in diesem Jahre recht früh. Befand man sich doch erst anfangs April. Dabei zeigten die Bäume und Sträucher in Vorgärten auch hier am Kurfürstendamm schon überall grüne Spitzen, manche sogar schon halbentwickelte Blättchen. Und die Spatzen lärmten und flatterten geschäftig hin und her, schleppen Strohhalme und Gräser in ihre Schlupfwinkel und rüsteten die Nester für die Nachkommenschaft.

Mikla bog jetzt in die Tauentzienstraße ein und ging auf das neue, graue Gebäude zu, in dessen Räumen das Wirtshaus zum Pschorr-Bräu mit seinen gutgepflegten Bieren und nicht allzu teuren Speisen schnell ein festes Stammpublikum gefunden hatte. Er aß hier regelmäßig zu Mittag, und so steuerte er sofort auch auf den kleinen Tisch im Erdgeschoß zu, den die Kellner für ihn immer belegten.

Ohne sich um die anderen Gäste zu kümmern, durchschritt er den langgestreckten Raum. Er brauchte sich ja nicht nach Freunden oder Bekannten umzusehen. Er besaß keine, war einsam, lebte wie ein Einsiedler in der Millionenstadt Berlin …

Desto mehr fuhr er jetzt zusammen, als eine Stimme ihn anrief:

„Mikla – holla – hierher!“

Er wandte den Kopf nach der Seite, blieb halb unbewußt stehen.

Dann flutete ihm heiße Röte ins Gesicht und so tuend, als habe er den einstigen Korpsbruder nicht erkannt, ging er weiter.

Schnelle Schritte vernahm er da hinter sich, und schon legte sich eine Hand ihm auf die Schulter. Nun mußte er dem Baron von Gaulen Rede und Antwort stehen – es ließ sich nicht mehr vermeiden.

„Mikla – zum Donner! Habe ich mich denn in den drei Jahren so verändert, daß du mich nicht wiedererkennst!“ meinte der langaufgeschossene Herr und streckte ihm die Hand herzlich zur Begrüßung hin. „An meinen Tisch – ich bin ganz allein. Na – und dann wollen wir gehörig Wiedersehen feiern.“

Er nahm den sich halb Sträubenden Doktor unter den Arm und zog ihn durch die Stuhlreihen einfach mit sich.

„So, Alterchen, nun häng’ deine Sachen an den Ständer und setz’ dich! – Mach’ keine Flausen! Her damit! – Bist du aber ein komischer Heiliger geworden! Du scheinst ja rein vor mir Angst zu haben.“

Nur um kein Aufsehen in dem dichtgefüllten Lokal zu erregen nahm Herbert Mikla neben dem Baron Platz. Dann aber sagte er sofort leise, so schwer ihm diese Eröffnungen auch über die Zunge kamen:

„Ich bin dir eine Erklärung für mein Benehmen schuldig. Wir sind nicht mehr Korpsbrüder. Ich habe nämlich das Band unserer Hansea ablegen müssen. – Bitte, laß mich aussprechen. Habe ich dir erst alles erzählt, so wirst du kaum noch Wert darauf legen, mit mir an einem Tische zu sitzen. – Damals vor drei Jahren, als dein Vater starb und du als einziges Kind Majoratsherr von Gaulen wurdest, stand ich kurz vor dem Staatsexamen. Du tratst dann deine große Reise an, die dich rund um die ganze Erde führte. Nebenbei – ich danke dir auch für die häufigen Kartengrüße, die du mir sandtest. – Schon einen Monat nach deiner Abreise begann das Schicksal mich unter seine erbarmungslosen Hämmer zu nehmen. Mein Vater, der als Oberingenieur bekanntlich bei der Triton-Werft in Stettin angestellt war, wurde plötzlich verhaftet und unter der Anschuldigung, durch Auslieferung von Zeichnungen eines neuen Unterseeboottyps an eine fremde Macht Landesverrat verübt zu haben, unter Anklage gestellt. Die Untersuchung gegen ihn fand beim Reichsgericht in Leipzig in größter Heimlichkeit statt, weil Staatsinteressen mit auf dem Spiel standen. Bei der zwei Monate später angesetzten Hauptverhandlung wurde mein armer Vater freigesprochen, am nächsten Tage aber wiederum verhaftet. Ich war damals selbst in Leipzig, erfuhr jedoch nicht, welch’ neues Belastungsmaterial gegen ihn inzwischen beschafft worden war. Die amtlichen Stellen kamen mir, soweit dies möglich war, mit größter Zuvorkommenheit entgegen. Ich kann darüber wirklich nicht klagen. Vierzehn Tage später gab es eine neue Hauptverhandlung, und da wurde mein Vater zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. – Meine Mutter warf dieser entsetzliche Schlag auf das Krankenbett, und in kurzer Zeit schwand sie dahin. Meine einzige Schwester, die an einen Amtsrichter verheiratet war, sagte sich völlig von mir los, da ich nach wie vor behauptete, mein Vater müsse unschuldig sein. Ihr Gatte hat zur Schaffung dieser jetzt unüberbrückbaren Kluft zwischen uns wohl auch das Seinige dazu beigetragen. Er wollte seine Frau eben vollständig von einer Familie loslösen, deren Namen jetzt mit einem so schweren Makel behaftet war.“

Herbert Mikla mußte hier einen Augenblick schweigen, da der Kellner für den Baron die Suppe brachte. Doch dieser winkte ungeduldig ab. –

„Lassen Sie sich selbst das von mir Bestellte schmecken,“ sagte er kurz. „Ich speise nachher mit meinem Freunde zusammen.“ –

Er betonte das Wort „Freund“ ziemlich stark, als ob er dem Doktor damit zeigen wollte, daß das bisher Gehörte an ihrem gegenseitigen Verhältnis nichts ändere. Dann wandte er sich an Mikla.

„Weiter, Herbert, – ich will alles wissen – alles!“ Dabei nickte er ihm herzlich zu.

Doch Miklas Gesicht behielt den gramerfüllten Ausdruck bei. Und seine müde, weiche Stimme berichtete halb flüsternd nun auch die Fortsetzung dieses Dramas.

„Nach der Verurteilung meines Vaters zog ich mich in Königsberg von allen Bekannten zurück, ließ mich auch nie mehr auf dem Korpshaus sehen. Und anscheinend waren die Hanseaten mir dankbar dafür. Dann schrieb ich mein Austrittsgesuch. Es wurde abgelehnt – anstandshalber wohl nur. Ich selbst hatte mir ja nichts zu Schulden kommen lassen. So vergingen drei Monate. Dann trat eines Abends ganz überraschend mein Vater bei mir ein. Er war aus dem Zuchthaus entlassen worden, da sich nach seiner Verurteilung abermals allerlei Anhaltspunkte ergeben hatten, die es zum mindesten sehr fraglich erscheinen ließen, ob er tatsächlich schuldig war, und da der Reichsanwalt in Leipzig aus diesem Grunde selbst das Wiederaufnahmeverfahren beantragt hatte, das mit einer Freisprechung … aus Mangel an Beweisen endigte. – Ich will mich kürzer fassen, sonst müßte ich stundenlang erzählen. Mein Vater, verbittert und in seiner Schaffenskraft völlig gebrochen, ging nach Amerika. Das sind nun genau zweieinhalb Jahre her. Einige Zeit nach seiner Abreise ereilte mich dann das Geschick. Ich war damals auf zwei Tage nach dem Seebade Kranz gefahren, um mir etwas Erholung zu gönnen. Bei meiner Rückkehr wurde ich – verhaftet. In der Universitätsbibliothek waren größere Bücherdiebstähle vorgekommen, und auf eine anonyme Anzeige hin hatte die Polizei in meiner Abwesenheit bei mir Haussuchung abgehalten. Man fand in meinem Schreibtisch zwölf Pfandscheine über teure Werke, die aus der Universitätsbibliothek stammten, außerdem noch einige Bücher, die ich – nach Ansicht der Polizei! – ebenfalls – gestohlen hatte und die auch zu den Bibliotheksbeständen gehörten. Meine Unschuldsbeteuerung half nichts. Ich blieb in Haft, um eine Verschleierung des Tatbestandes zu verhüten. Erlaß mir Einzelheiten jener furchtbaren Zeit! Jedenfalls wurde ich nachher vor der Strafkammer freigesprochen – ebenfalls aus Mangel an Beweisen, – wie mein Vater!! Vor einer Verurteilung rettete mich nur der Umstand, daß einer der Pfandleiher als Zeuge bestimmt bekundete, ich habe die Bücher bei ihm nicht versetzt, der Betreffende habe vielmehr anders ausgesehen. Hinzu kamen noch einige andere Momente, die es glaubwürdig erscheinen ließen, daß man absichtlich mich in den Verdacht des Diebstahles habe bringen wollen. Ich war freigesprochen, – aber aus Mangel an Beweisen!! Ein derartiges Urteil schleppt man wie eine Zentnerlast dauernd mit sich herum. Das sollte ich bald merken, Daß ich mit dieser Vergangenheit nie in den Staatsdienst eintreten konnte, war mir klar. Ich verließ daher Königsberg, gab das Staatsexamen auf und zog hier nach Berlin, um mich durch Stundengeben zu ernähren, denn der Rest meines Geldes mußte bald aufgezehrt sein. Ein neues Austrittsgesuch wurde nunmehr von unserem Königsberger Korps kühl und glatt genehmigt. Ich habe das niemandem verdacht! Der Schein sprach zu sehr gegen mich. – So, und nun werde ich mich verabschieden. Mag es dir gut gehen, Gaulen!“

Er wollte sich erheben, aber des Barons lange, schmale Aristokratenhand drückte ihn energisch auf den Stuhl zurück. Und dieselbe Hand ergriff dann Herbert Miklas Rechte mit festem Druck.

„Lieber Herbert,“ sagte Franz-Heinrich von Gaulen ernst, „hältst du mich für einen solchen Idioten, daß ich daran glauben könnte, du hättest Bücher geklemmt und versetzt …?! – Nee, mein Lieber, diese drei Jahre in der Fremde haben alles, was ich noch so von feudalen Vorurteilen und überfeinen Ehrbegriffen in einem Winkel meines Herzens aufgespeichert hatte, gründlich ausgefegt. Du bist für mich noch genau derselbe liebe, brave, stets hilfsbereite Kerl von einst – genau derselbe! Berlin sollte ja eigentlich für mich die letzte Station meiner Reise um die Erde sein, hier wollte ich noch einmal das deutsche Großstadtleben auskosten und mich dann mit Feuereifer auf die Verwaltung meiner ostpreußischen Besitzungen werfen. Morgen früh gedachte ich, – amüsiert habe ich mich hier jetzt übergenug! – nach Gaulen abzureisen. Daraus wird nun nichts! Erst muß ich dich mal ordentlich aufrütteln und zusehen, ob dir nicht irgendwie zu helfen ist. Doch davon später! Zunächst gestattest du mir wohl, daß ich für uns ein kleines Menü zusammenstelle, so gut sich das machen läßt in einem Bierpalast. – Kellner – die Speisekarte!“

 

2. Kapitel.

Franz-Heinrich von Gaulen war eine Persönlichkeit, die man kaum übersehen konnte: zwei Meter lang, dabei knochendürr, ein abschreckend mageres braun gebranntes Gesicht, darin eine große, schmale Nase, glitzerndes Monokel vor dem rechten Auge, spärliches blondes Haar und zu alledem ein sicheres, vornehmen lässiges Benehmen und eine Stimme, die nur selten etwas von ihrem harten, hellen Klang verlor. –

Damals in Königsberg hatte er nur zum Vergnügen ein paar staatswissenschaftliche Kollegs belegt, war jedoch nie in den Hörsälen zu sehen gewesen, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß er keine wissenschaftlichen Interessen besaß. Im Gegenteil, er war eigentlich auf jedem Gebiet besser bewandert wie der Durchschnittsgebildete, hatte aber noch nebenbei ein paar Spezialfächer, die er mit einem Eifer betrieb, als müsse er darin einstmals das schwierigste Examen ablegen: Chemie und gerichtliche Medizin und deren verwandte Gebiete.

Nach der Übernahme des Majorates trieb ihn die Wander- und Abenteuerlust in die Fremde. Seinem allem Außergewöhnlichen mit Vorliebe nachjagenden Charakter genügte es nicht, als reicher Weltenbummler einfach mit einem bequemen Luxusdampfer von Hafen zu Hafen zu reisen, gut vorbereitete Ausflüge in das Innere zu unternehmen und womöglich irgendein Reisebureau für sich sorgen zu lassen. Das war durchaus nicht nach Franz-Heinrichs Geschmack. Schon von Hamburg war er nach New York mit einem alten Dreimaster als einziger Passagier gefahren, ein andermal wieder benutzte er einen Walfischfänger, um nach den Fidschi-Inseln zu gelangen, selbst auf einem übelduftenden Guano-Frachtdampfer schiffte er sich ein, um die Guano-Eilande westlich von Neu Guinea kennenzulernen. Mit einem Wort, Franz-Heinrich von Gaulen reiste als richtiger Weltenbummler außerhalb der üblichen Touristenwege, und was er auf diese Weise von Land und Leuten kennenlernte, war doch etwas mehr, als in dem umfangreichsten Reisehandbuch stand. –

Die gemeinsame Mahlzeit würzte er daher mit allerlei Erlebnissen, die er in seiner trockenen, humorvollen Art zum besten gab. –

Nachher schlug er bei dem prächtigen Wetter eine Fahrt ins Freie vor. Und Herbert Mikla half kein Sträuben – er mußte mit, nachdem er seinen Stundenschülern durch ein halbes Dutzend Rohrpostkarten mitgeteilt hatte, daß er heute verhindert sei.

Gaulen nahm ein Auto, und dieses brachte sie in kaum zwanzig Minuten durch die Villenkolonie Grunewald nach dem bekannten Gartenrestaurant Hundekehle, wo sie den Kraftwagen verließen und durch den Wald nach Paulsborn wanderten.

Jetzt erst begann der Baron über das zu sprechen, was seine innersten Gedanken schon in den Gesprächspausen bei Tisch so lebhaft beschäftigt hatte.

„Mein lieber Herbert,“ meinte er, „hier haben wir die nötige Ruhe, uns einmal gründlich über diese Königsberger Büchergeschichte zu unterhalten. Daß irgendein Lump dir damit einen bösen Streich hat spielen wollen, steht ja außer Frage. Deine zweitägige Abwesenheit von Hause ist dazu benutzt worden, die Pfandscheine und die Bücher in dein Zimmer zu schmuggeln. – Hast du denn nie den Versuch gemacht, die Persönlichkeit dieses Halunken festzustellen? Kennst du nicht irgend jemand, der dir feindlich gesinnt ist und dem du es zutraust, eine solche doch fraglos sorgfältig vorbereitet gewesene Schurkereien zu begehen?“

Dr. Mikla schüttelte den Kopf und erwiderte seufzend:

„Über diese Fragen habe ich selbst schon genügend nachgegrübelt. Nein – ich habe keinen Feind! – Du weißt ja, daß ich stets zu den Menschen gehörte, die sich schnell die Herzen anderer, und dies ganz ohne ihr Zutun, erobern. – Wenn ich sage: „Ich habe keinen Feind“, so gilt dies natürlich nur mit der Einschränkung, daß ich diesen Feind nicht kenne. In Wahrheit besitze ich sogar einen oder mehrere Gegner, die mir dauernd zu schaden suchen, – auch heute noch, die mich in den letzten Jahren, eben seit jenem Diebstahl, hartnäckig mit ihrer Heimtücke verfolgt haben – unablässig, mit grausamer Energie – wie gut dressierte Bluthunde. – Weshalb sie das tun, aus welchem Grund gerade meine harmlose Person das Ziel ihrer Anfeindungen ist – ich ahne es auch nicht im entferntesten!“

Der Baron war unwillkürlich stehen geblieben und schaute dem Freund in das leidenschaftlich erregte Gesicht.

„Ja, Franz-Heinrich, – so steht es um mich – so!!“ preßte der Doktor zwischen den Zähnen hervor, und seine Stimme zitterte dabei unter dem ohnmächtigen Grimm, der in ihm tobte. „Ich bin so gut wie ein vogelfreies Wild, nach dem irgend eine finstere Macht ungestraft stets auf’s neue ihre gierigen Hände ausstreckt. Ich fühle dieses Verhängnis um mich her – aber ich kann ihm nicht entgegentreten, da ich nicht weiß, wann und woher es droht. Es ist, als ob eine unsichtbare Faust mich von allen Freuden des Lebens wegreißt, mir langsam alles nimmt, woran mein Herz hing, mir Steine in den Weg rollt, damit ich strauchele und falle und mich langsam dem Abgrunde der Verzweiflung zutreibt! Ja, Franz-Heinrich, es hat schon Augenblicke in meinem Dasein gegeben, wo diese selbe Faust, dieses wesenlose Gespenst eines unerbittlichen Feindes, mir die Waffe zum Selbstmord in die Hand drücken wollte …!“

Des Doktors Gesicht war jetzt völlig verzerrt. Aus seinen meist so melancholischen Augen lohte ein Feuer, das nur das wildeste Aufbegehren gegen dieses schleichende Schicksal entzündet haben konnte.

Der Baron war keines Wortes mächtig. Was er da eben gehört hatte, begriff er nicht. Ungläubig, als habe er einen nicht ganz Zurechnungsfähigen vor sich, blickte er den Freund an. Und Herbert Mikla verstand sofort die Bedeutung dieses Blickes.

„Glaube nicht, daß ich phantasiere,“ meinte er, indem er den Baron mit sich fortzog. „Gehen wir weiter. Der Sturm in meinem Innern ist schon vorüber. – So, und nun will ich dir die Beweise für das Vorhandensein dieser unsichtbare Faust nennen. Nicht alle. Das würde dich ermüden. Aber so einige recht kennzeichnende Beispiele. – Ich habe mich hier in Berlin bisher achtmal um eine Anstellung als Hauslehrer bemüht und alle diese achtmal sind die Leute noch zur rechten Zeit vor mir durch anonyme Briefe gewarnt worden, in denen daraufhingewiesen war, daß mein Vater ein früherer Zuchthäusler und ich nur noch mit genauer Not dem Gefängnis entgangen sei. – Weiter. – Ich hatte hier in Berlin zufällig Anschluß an einen Stammtisch gefunden, so eine Art Verein ohne Statuten, in dem Künstler, Beamte, Kaufleute – kurz alles interessante Leute, vertreten waren. Nach drei Wochen erklärte mir der Altersvorsitzende eines Abends, daß meine Anwesenheit am Stammtisch nicht mehr erwünscht sei. Er drückte das höflicher aus, aber – ich wußte Bescheid! Dann hatte ich einmal gerade eine Woche in Eberswalde eine Stelle als Privatsekretär eines Großindustriellen inne. Der Herr schien mit mir sehr zufrieden zu sein. Plötzlich aber zahlte er mir das Gehalt noch für den nächsten Monat aus und … schickte mich fort. – Ich lernte bei einem Ausflug nach Werder die Familie eines Sanitätsrates kennen, Liebe, gute Menschen. Nachdem ich zweimal bei ihnen im Hause gewesen war, schrieb mir der Arzt, daß er mit den Seinen für Monate verreise. Ich möchte mich also nicht unnötig zu ihnen bemühen. – Überall, wo ich mir Privatstunden verschafft hatte, mengte sich ebenfalls die „unsichtbare Faust“ ein. Notgedrungen mußte ich schließlich für einen Spottpreis unterrichten. Dann nahmen die Eltern der schlechten Schüler, die mir anvertraut wurden, um die Lücken in deren Wissen auszufüllen, an meiner Vergangenheit keinen Anstoß mehr. Die Stunden für 1,50 Mark, erteilt von einem richtiggehenden Doktor der Philosophie, hoben alle Bedenken auf. – – So, Franz–Heinrich, das ist eine Blütenlese von den kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen der Chor der Rache nicht umgibt. – Halt – ein Geschichtchen habe ich noch vergessen, sogar ein sehr wichtiges. Im vorigen Sommer wollte ich vierzehn Tage zu meiner Erholung in einem billigen Ostseebade zubringen, stieg dort in der billigsten Pension ab und richtete mich außerdem aufs billigste ein. „Billig“ ist er überhaupt der Leitstern meines jetzigen Lebens. Gewiß – ich halte nach wie vor auf mein Äußeres, trage gutsitzende Anzüge usw., – aber diesen Luxus muß ich mit anderen Einschränkungen „teuer“ bezahlen. Also in jener Pension wird eines Tages einem der Dienstboten, die bei Tisch bedienen, die Geldbörse gestohlen, die das Mädchen in der Veranda auf das Fensterbrett gelegt haben will. Zwei Tage später werde ich zu dem Gemeindevorsteher, der gleichzeitig Kurdirektor war, befohlen und genau nach meinen Personalien ausgefragt, auch danach, ob ich nicht schon einmal wegen Diebstahles in Untersuchungshaft gesessen habe. Inzwischen hielt ein Gendarm in dem Pensionat in meinem Zimmer eine Durchsuchung meiner Sachen ab, bei der zum Glück das leere Portemonnaie nicht gefunden wurde, wodurch ich ausdrücken will, daß ich eigentlich schon damit rechnete, daß die „unsichtbare Faust“ es mir in den Koffer gezaubert hatte. So mußte man mich laufen lassen, – und ich lief auch sofort bis Berlin zurück, bildlich gesprochen natürlich, da ich von den Freuden des Strandlebens übergenug hatte. – Dies dürfte jetzt wohl genügen. – Kein Wunder, wenn ich beinahe schon menschenscheu geworden bin, wenn ich stets auf der Lauer liege und jeden heimlich beobachte, ob er vielleicht mein unbekannter Feind ist, und wenn ich … einsam bin, ganz einsam wie ein Verfemter.“

Die letzten Worte hatte der Doktor ganz leise gesprochen. Ja, der ohnmächtige Grimm war verraucht. Und jetzt schimmerte es feucht in seinen Augen wie von mühsam zurückgedrängten Tränen.

Das schob sich des Barons Arm in den Herbert Miklas.

„Armer Kerl, du sollst nicht mehr allein sein,“ sagte der junge Majoratsbesitzer herzlich. „Ich verlasse dich nicht! Und wir beide werden jetzt vereint den Kampf gegen dieses Gespenst aufnehmen.“ –

Das Restaurant Paulsborn kam in Sicht. Die Freunde suchten sich einen Tisch ganz in einer entfernten Ecke des Vorgartens aus und nahmen Platz. Die Luft war schon warm genug, um draußen im Freien sitzen zu können. Und hier erörterten sie dasselbe Thema weiter, wobei Gaulen zumeist allerhand Fragen stellte, die Mikla beantwortete, soweit er es vermochte.

„Eine mehr als rätselhafte Geschichte, in der Tat! Aber gerade das Geheimnisvolle darin lockt mich. Das ist so recht nach dem Geschmack des als verschroben verschrienen Franz-Heinrich von Gaulen! Noch heute telegraphiere ich meinem Güterdirektor, daß Gaulen sich vorläufig ohne seinen Herrn behelfen muß. Und von morgen ab, mein lieber Herbert, beginnt der Kampf. Du selbst sollst dich darum nicht kümmern, lebst vielmehr genau so weiter wie bisher. Sonst wird der Gespensterchor vorzeitig gewarnt. Einen Feldzugsplan werde ich auch schon noch entwerfen. Und vielleicht nehme ich mir als Helfer irgend einen gewandten Privatbeamten. Das muß ich mir aber alles erst noch in Ruhe überlegen. – So, und nun Schluß mit dieser düsteren Geschichte, die so gar nicht in den schönen Sonnenschein und die ganze Frühlingstimmung hineinpaßt. Du aber, alter Junge, wirst jetzt sofort ein anderes Gesicht aufsetzen! Freust du dich denn gar nicht darüber, daß du in mir einen Bundesgenossen gefunden hast?“

Herbert Miklas Augen strahlten und seine Hand suchte die des langen Barons.

„Freuen?! – Das ist ja gerade kein Ausdruck für das, was ich empfinde! Ich kann das Glück ja kaum fassen, daß ich nicht mehr einsam sein soll, daß es einen Menschen gibt, der an meine Unschuld glaubt …!“

„Armer, lieber Kerl!“ sagte Gaulen leise und strich unwillkürlich über die Hand des anderen. –

Doch schnell schüttelte er die weiche Regung wieder ab.

„Zum Frühling gehört Lebensfrohsinn und Heiterkeit!“ meinte er, die Kaffeetassen beiseite schiebend. „Kellner, hierher! – Ist Ihre Maibowle denn trinkbar?“ Dabei deutete er auf ein am nächsten Baum befestigtes Pappschildchen, welches „Maibowle, Glas 50 Pfg.“, anpries.

Der Kellner zog das Gesicht lang. Er war Menschenkenner, und daher erwiderte er mit gedämpfter Stimme:

„Vielleicht stellen die Herren sich besser nach der Weinkarte eine Mischung zusammen. Ananas, Waldmeister und Erdbeeren sind vorhanden.“

* * *

Bis nach Mitternacht dehnten die beiden Korpsbrüder die Wiedersehensfeier noch aus.

Als der Baron dann sein Zimmer im „Astoria-Hotel“ betrat, fand er auf der Platte des kleinen Schreibtisches einen Brief vor. Die Adresse und das Schreiben selbst waren mit Maschine hergestellt. Letzteres enthielt eine Warnung vor zu nahem Verkehr mit dem schon mehrfach wegen Diebstahles stark verdächtig gewesenen Dr. Herbert Mikla, dessen Vater sogar im Zuchthaus gesessen hätte. –

Unterzeichnet war der Brief: „ein wohlmeinender Freund.“

Franz-Heinrich von Gaulen knüllte den Wisch zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dazu murmelte er etwas zwischen den Zähnen hindurch, das wie ein kräftiger Fluch klang. – –

Auch auf Herbert Mikla wartete in seinem billigen möblierten Zimmer eine ungeahnte Überraschung. Der Geheimrat teilte ihm mit, daß er ihn morgen vormittag elf Uhr in seiner Wohnung zu sprechen wünsche zwecks näherer Festlegung der Bedingungen für die Erzieherstelle, die er ihm hiermit übertrage.

Der Doktor, dem der genossene Wein den Kopf doch etwas wirr gemacht hatte, begriff zunächst gar nicht die Bedeutung dieses Briefes. Dann schüttelte er ungläubig das alkoholschwere Haupt. –

Wie, der Geheimrat wollte wirklich über diesen Fleck in seiner Vergangenheit hinwegsehen …?! Sollte hier nicht Traude Gotein so etwas Fürsprecherin gespielt haben …?! Woher sonst diese nachträgliche Sinnesänderung bei dem Großindustriellen, der doch sicher ein Mann von recht starren Grundsätzen war …?! –

Trotzdem Mikla sich über diese Mitteilung freute, war er doch nicht einig mit sich, ob er die Stelle annehmen solle. Er wollte erst einmal mit dem Baron über diese Angelegenheit reden. Immerhin ging er dann mit einem gewissen gehobenen Gefühl zu Bett. War ihm doch seit langer Zeit das Glück wieder einmal hold gewesen – seit sehr langer Zeit. Und dieser Erfolg trat gerade an dem Tag ein, wo er in Franz-Heinrich von Gaulen einen treuen Helfer gefunden hatte. Bedeutete etwa dessen Auftauchen hier in Berlin den Wendepunkt in seinem Dasein, sollte jetzt vielleicht sein Lebensweg wieder aufwärts zu besseren Zeiten führen …? –

Es war, als ob eine innere Stimme ihm ein freudiges „Ja!“ zuflüsterte. –

Und zuversichtlich und hoffnungsfroh schlief er dann ein.

 

3. Kapitel.

Als sich Herbert Mikla am nächsten Morgen im Hotel „Astoria“ einfand, um mit dem Baron die Angelegenheit Gotein durchzusprechen, war der Majoratsherr bereits ausgegangen. Der Doktor wartete zwei volle Stunden auf ihn in der Vorhalle, blätterte eine Unmenge ausländischer Zeitungen durch und mußte schließlich doch unverrichteter Sache wieder fortgehen. Auch im Pschorr-Bräu fand Franz-Heinrich von Gaulen sich nicht zum Mittagessen ein, obwohl er wußte, daß Herbert dort regelmäßig speiste.

Kein Wunder, daß der ohnedies zum Mißtrauen neigende Doktor auf die Vermutung kam, der Baron könne inzwischen doch anderen Sinnes geworden sein, was ihre gegenseitigen Beziehungen anbetraf. Herbert Miklas am Morgen noch so frohe Laune verschlechterte sich daher zusehends, das Essen schmeckte ihm nicht und unverwandt blickte er nur nach der Tür hin, wo er Gaulen jeden Augenblick eintreten zu sehen hoffte.

Doch der Majoratsherr kam nicht. –

Dann erhielt der Doktor Gesellschaft an seinem kleinen Tisch, was ihm höchst unangenehm war. Mit einem „Sie gestatten wohl“ nahm ein einfach gekleideter, schmächtiger Herr ihm gegenüber Platz. Der Mann sah mit dem blonden Vollbart, der goldenen Brille und dem hochgekämmten Kopfhaar wie ein Schulmeister aus, schien sehr schüchtern und ungewandt zu sein und vertiefte sich bald in seine Morgenzeitung, nachdem er die Suppe ausgelöffelt hatte.

Mit einem Mal ließ er das Blatt sinken und beugte sich etwas vor.

„Schrecklich – dieser neue Raubmord in der Zieten-Straße,“ sagte er zu Mikla, indem er auf eine großgedruckte Überschrift in der Zeitung deutete. „Haben Sie schon den neuen Bericht gelesen, mein Herr?“

Der Doktor, stets zu schnellem Argwohn selbst bei den harmlosesten Anlässen bereit, musterte den Fremden mißtrauisch, antwortete aber trotzdem höflich:

„Ich kenne den Bericht. Hoffentlich hat die Polizei Glück. Einfach erscheint mir die Sachlage nicht.“

„Sehr richtig! Gar nicht einfach ist die Sachlage! Es müssen raffinierte Burschen bei diesem Morde die Hand mit im Spiel gehabt haben – ohne Frage wohl Berufsverbrecher.“ Seine etwas verschleierte Stimme sank immer mehr zu einem vorsichtigen Flüsterton herab, und immer weiter beugte er sich über den schmalen Tisch.

Herbert Mikla glaubte dann seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als der Unbekannte nun, an den Nebentischen sicherlich nicht zu verstehen, fortfuhr:

„Verraten Sie durch keine Bewegung, keine Miene Ihre Überraschung, Herr Doktor! Ich komme im Auftrage des Barons von Gaulen, bin Privatdetektiv und soll die Geschichte mit der „unsichtbaren Faust“ in Ordnung bringen. Tun sie so, als ob wir noch über den Mord sprächen. Da – nehmen Sie meine Zeitung und schauen Sie hinein. Ich werde mich jetzt neben Sie setzen. Dann können wir ungehindert miteinander reden.“

Ganz mechanisch ergriff Mikla das Blatt und stierte auf die Stelle, wo ihm das grausame Wort „Mord“ dickgedruckt in die Augen sprang. Schnell fand er sich dann aber in die seltsame Situation hinein. Daß der Unbekannte tatsächlich nur ein Abgesandter des Barons sein könnte, sagte ihm der Ausdruck „unsichtbare Faust“, den der Doktor gestern ja mehrfach Gaulen gegenüber zur Kennzeichnung des Treibens seiner geheimen Feinde gebraucht hatte.

Der Unbekannte spielte die Rolle einer reinen Zufallsbekanntschaft geradezu vorzüglich weiter. Dabei berichtete er sehr geschickt mit kleinen Unterbrechungen dem Privatlehrer alles Nötige.

„Ich heiße Alexander Marx. Ich bin nicht etwa Angestellter eines Detektivinstituts. Nein – ich arbeite ganz allein und nur bei „besseren“ Sachen. Der Baron hat meine Adresse von einem Freunde erfahren, der im auswärtigen Amt tätig ist und den er heute morgen extra zu diesem Zweck dort aufsuchte, da er wußte, daß dieser Herr von Platen einmal vor Jahren die Hilfe eines Privatdetektivs bei einer recht verzwickten Sache in Anspruch nehmen mußte. Die Angelegenheit damals wurde glatt von mir erledigt.“

Alexander Marx steckte sich nun sehr umständlich eine Zigarre an. Dann deutete er mit dem Finger auf die Zeitung und fuhr, keineswegs in auffälliger Weise leise sprechend, fort:

„Der Baron war um elf Uhr vormittags bei mir und erzählte diese ganze unglaubliche Geschichte. Ich biß natürlich auf diesen delikaten Köder sofort an. So etwas rangiert unter „bessere“ Sachen. Mit gewöhnlichem Kleinkram gebe ich nicht überhaupt nicht ab. – Entschuldigen Sie!“

Er stand auf und holte von einem unbesetzten Tische einen Streichholzbehälter, wobei er unauffällig die Umsitzenden musterte.

„Der Baron hat mich nun mit der Aufklärung Ihres Falles beauftragt,“ sagte er, wieder neben Mikla Platz nehmend. „Wir haben folgendes vereinbart. Herr von Gaulen wird sich scheinbar von Ihnen zurückziehen. Er hat nämlich gestern Abend einen Brief auf seinem Zimmer vorgefunden – na, den Inhalte des Schreibens brauche ich Ihnen wohl nicht anzugeben. Ich betone, scheinbar – das heißt, im Interesse der Sache! Dafür wird er in Gemeinschaft mit mir desto eifriger hinter diesen Halunken her sein, die Ihnen dauernd nachstellen. – Der Feldzug gegen diese Bande – denn es handelt sich ohne Frage um mehrere Personen – soll nun gleich heute beginnen. Aus dem Bericht des Barons geht mit Sicherheit hervor, daß einer Ihrer heimlichen Widersacher die Gelegenheit haben muß, Ihre Korrespondenz teilweise zu überwachen und vielleicht auch Ihrem Zimmer zuweilen unbemerkt Besuche abzustatten. Wie ich heute schon festgestellt habe, wohnen Sie seit zwei Jahren bei einer Witwe Lange in der Augsburger Straße Nr. 66. Dort an der Flurtür hängen nun außer Ihrer noch fünf weitere Visitenkarten. Also ein Massenquartier. Ich halte es nun für nicht ganz ausgeschlossen, daß einer Ihrer Mitbewohner bei der Frau Lange ein für Ihre Überwachung bestellter Spion ist. Dieser hätte dann ja die beste Gelegenheit, hin und wieder Ihren Schreibtisch zu revidieren und andere lichtscheuen Dingen zu treiben.“

Herr Marx lehnte sich jetzt in seinen Stuhl zurück und sagte lauter als bisher:

„Ja – so denken Sie sich die Ausführung des Mordes …! Sie als Laie! Ich erlaube mir überhaupt keine Urteil über solche Sachen, da ich davon nichts verstehe!“ Er beugte sich nun wieder vor und sprach leise weiter:

„Meine Tätigkeit wird also damit beginnen, daß ich zu Frau Lange ziehe, sobald dort ein Zimmer frei wird. – Wissen Sie vielleicht, ob jemand in nächster Zeit auszieht?“

„Ja. Die russische Studentin. Die lebt für den Geschmack der braven Vermieterin zu unsolide. Vorgestern noch sagte die Lange zu mir, sie wolle die Urusowska an die frische Luft setzen, sofern sie einen anderen Mieter fände.“

„Großartig! Die Urusowska wird also fliegen! Dafür sorge ich schon. Bin ich eingezogen, so sind wir uns natürlich völlig fremd, Herr Doktor. – Außerdem dürften Sie mich auch kaum wiedererkennen. Alles weitere findet sich dann. – Haben Sie sonst noch etwas, daß ich dem Baron bestellen soll?“

Mikla erzählte von der Hauslehrerstelle bei dem Kommerzienrat.

„Ich bin heute jedoch nicht bei ihm gewesen, sondern habe ihn telephonisch vom „Astoria-Hotel“ aus mitgeteilt, daß ich erst morgen zu ihm kommen würde,“ fügte er hinzu. „Ich wollte mich nämlich erst mit Gaulen besprechen. – Wozu raten Sie mir, Herr Marx?“

„Annehmen!“ sagte dieser dann kurz. „Vielleicht bringt uns diese Ihre Stellung bei Goteins sogar Vorteile.“

Marx erhob sich, machte dem Doktor eine linkische Verbeugung und sagte:

„War mir ein Vergnügen, mein Herr!“

Dann verließ er das Lokal. Dem Kellner hatte er schon vorhin seine Zeche bezahlt. –

Er ging bis zur nächsten Haltestelle der Elektrischen und wartete dort auf einen Wagen, der dem Zentrum der Millionenstadt zufuhr. Seine Augen behielten jedoch unablässig den Eingang des Pschorr-Bräus unter Kontrolle. Er wollte eben feststellen, ob irgend jemand ihm nachschlich. Dann kam die Straßenbahn, und Herr Marx schwang sich auf den Hinterperron[1] des Anhängers. Niemand folgte ihm. Mit dieser beruhigenden Überzeugung brachte ihn die Elektrische bis zum Potsdamer Platz. Hier wohnte Alexander Marx in einem der ältesten Häuser in der Nähe der Brücke. An einer Tür der zweiten Etage war ein großes Porzellanschild befestigt:

Jakob Marx, Agenturen

Darunter hing, ganz unauffällig, ein kleines Schild mit der Aufschrift

Alexander Marx, Privatdetektiv

Und dieser Alexander Marx öffnete jetzt mit einem Schnepper die Flurtür und verschwand in dem ersten Zimmer zur rechten Hand, einem großen, zweifenstrigen, sehr gediegen als Herrenzimmer eingerichteten Raum. – –

Vater und Sohn hausten hier gemeinsam in einer Fünfzimmerwohnung. Die Wirtschaft führte ihnen die verwachsene Rosalie, Alexanders älteste Schwester. Für den Sohn hatte diese Wohnung den großen Vorzug, daß es sehr schwer war sein Gehen und Kommen zu kontrollieren, da das Agenturgeschäft des alten Marx viele Leute den ganzen Tag über zu diesem führte und da der Sohn meist nur in einer Verkleidung sich außerhalb des Hauses zeigte, so daß niemand wissen konnte, ob er nicht als ganz harmloser Sterblicher bei dem Agenten etwas zu tun hatte. –

Zwei Stunden später klingelte ein junger, blasser Mensch, der einen Kneifer trug und einen recht spärlichen blonden Schnurrbart besaß, bei der Witwe Lange. Diese kam selbst öffnen. Der Blasse stellte sich als Kandidat der Theologie Johannes Müller vor und fragte, ob ein Zimmer frei sei. Es müsse aber sehr ruhig und … billig sein. Er arbeite zum Examen, und deshalb dürfe er nicht durch all zu viel Klavierspiel oder ähnliches gestört werden.

Frau Lange, dürr und reizlos wie eine Hopfenstange, witterte hier sofort einen idealen Mieter. Sie würde nun also die leichtsinnige Person, die Urusowska, noch heute sehr nachdrücklich zum Ausziehen auffordern, falls dem bescheidenen Theologen deren einfenstriges Zimmer zusagte.

Und dies war der Fall. Johannes Müller mietete gleich für zwei Monate und wollte am nächsten Mittag seinen Koffer schicken, zahlte auch zehn Mark an, betonte aber, daß Frau Lange sein neues Heim tüchtig lüften müßte, da ihm der Patschuligeruch zuwider sei. Dann schob er wieder ab, kehrte aber nochmals zurück, weil er seinen Schirm hatte stehen lassen. „Ich bin ein ganz klein wenig zerstreut,“ sagte er treuherzig in entschuldigendem Tone. –

Am Abend wußten schon sämtliche Mieter der Frau Lange, daß ein sehr feiner, anständiger Herr in das Zimmer dieser leichtfertigen Person, der Studentin, einziehe. Und auf diese Weise erfuhr auch Herbert Mikla von der redseligen Witwe, unter welch’ solider „Firma“ Alexander Marx seine Tätigkeit begonnen hatte. – –

Als der Doktor an demselben Nachmittag gegen vier Uhr – inzwischen hatte er noch zwei Privatstunden für 1,50 Mark erledigt – sein Zimmer betrat, lag auf dem alten Mahagonischreibtisch am Fenster ein Brief, auf dessen Umschlag Herbert Mikla sofort die überlangen Buchstaben des Barons erkannte.

Der Majoratsherr schrieb – natürlich absichtlich! – daß er sehr bedauere, die einstige Bekanntschaft mit dem früheren Korpsbruder nicht weiter fortführen zu können, da inzwischen Dinge zu seiner Kenntnis gelangt seien, die … und so weiter.

Mikla lächelte kaum merklich, zerriß den Brief in kleine Stücke und warf diese in den Papierkorb. –

Am folgenden Tage begab er sich dann zu dem Geheimrat. Der zeigte sich diesmal recht liebenswürdig. Daß der Doktor seine Wohnung in der Augsburger Straße beibehalten wollte, kam ihm ganz gelegen. Jedenfalls waren sie schnell einig, und so sollte der neue Hauslehrer denn schon am 15. des Monats seine Tätigkeit aufnehmen.

Am dritten Tage nach dem Einzug des Theologiekandidaten bei Frau Lange sollte der Doktor dann auch diesen neuen Hausgenossen auf ganz unverfängliche Art kennen lernen. Bisher war er Herrn Johannes Müller nur zweimal im Flur begegnet, hatte aber weiter keine Notiz von ihm genommen – ganz der Verabredung gemäß. Neugierig, was leicht begreifen war, hatte er dabei den angeblichen Theologen gemustert. Dieser besaß allerdings mit dem blonden Herrn aus dem Pschorr-Bräu nicht die geringste Ähnlichkeit, und Mikla mußte sich eingestehen, daß er Alexander Marx in dieser vorzüglich durchgeführten Maske, bei der sogar ein schwarzer, etwas abgetragener Bratenrock und ein schwarzer Schlips zu einem ganz niedrigen Kragen nicht fehlten, niemals erkannt hätte. Allerdings – den wirklichen Alexander hatte er ja noch nicht zu Gesicht bekommen, und er konnte sich daher auch kein Bild von seinem wahren Aussehen machen. –

Der Doktor stand abends bei Frau Lange in der Küche und ließ sich von ihr auf dem Gaskocher zwei Spiegeleier zubereiten, als Johannes Müller eintrat, dem Privatlehrer eine Verbeugung machte und sich vorstellte. Sie unterhielten sich eine Weile, und Mikla kam hierbei aus dem Staunen kaum heraus. Marx mußte ein glänzender Schauspieler sein. Er markierte den etwas unbeholfenen, weltfremden Theologiekandidaten geradezu in der Vollendung. Zum Schluß fragt er dann den Doktor, ob dieser vielleicht ein Konversationslexikon besäße. Er möchte unter „Jerusalem“ etwas nachschlagen. Mikla bejahte und bat Herrn Müller, mit auf sein Zimmer zu kommen. Hier schob dieser ihm einen Zettel in die Hand und flüsterte ihm leise zu: „Sofort verbrennen nachher!“

Darauf nahm er den dicken Band unter den Arm, bedankte sich wortreich und verschwand.

Da kam auch schon Frau Lange mit dem Teller herein, auf dem die beiden Spiegeleier sehr appetitlich lagen. Die Witwe war vielleicht vierzig Jahre alt und mit ihrem mageren, verkniffenen Vogelgesicht und dem eingefrorenen Lächeln um den reichlich breiten Mund keine sehr sympathische Erscheinung. Aber ihre peinliche Sauberkeit und ihre beinahe mütterliche Fürsorge für ihre Mieter ließen dieses wenig ansprechende Äußere schnell vergessen. Kinder besaß sie nicht, und, da sie ohne jede Bedienung wirtschaftete, war sie von früh bis spät auf den Beinen.

Jetzt stellte sie dem Doktor auf dem Mitteltisch vor dem Sofa alles nötige zum Abendbrot zurecht. Dabei erging sie sich in allerhand Lobsprüchen über den Herrn Kandidaten.

„Das wäre so ein Verkehr für Sie, Herr Doktor,“ meinte sie. „Mit Reichtümern ist der Müller auch nicht gesegnet. Es paßt bei Ihnen beiden alles gut zusammen: Fleiß, Solidität und Sparsamkeit!“ –

Herbert Mikla war froh, als Frau Lange nach einer Weile wieder verschwand. Er dachte doch nur fortgesetzt an den Zettel, auf dessen Inhalt er leicht begreiflicherweise sehr gespannt war. Nachher las er ihn dann sofort durch. Marx-Müller schrieb im Depeschenstil folgendes:

„Die Mieter der Lange sämtlich, soweit bisher festgestellt, ganz harmlos. Habe sie in den letzten Tagen nacheinander beobachtet. Bleibe trotzdem dabei, daß hier ein Spion vorhanden. Rate größte Vorsicht an. Mündlich hier im Hause nie über unsere Sache sprechen. Schriftlicher Verkehr auf folgende Weise: Werde der Lange sagen, daß Sie mir gestattet haben, Ihr Lexikon zu benutzen. Daher Zettel für mich unter den Rücken des Bandes mit den Buchstaben K schieben. Zettel von mir im Band mit M ebendort. Zettel stets sofort verbrennen, Asche zerreiben. Alle Briefe, die Sie erhalten, sauber aufschneiden und mit den Umschlägen aufbewahren. Will feststellen, ob hier geöffnet vielleicht werden. Bei notwendiger eiliger Nachricht an mich mir Zettel bringen. Dies aber nur im Ausnahmefall. Müssen sehr vorsichtig sein. Niemandem trauen. Glaube bestimmt jetzt nach reiflichem Nachdenken, daß hinter dieser ganzen Angelegenheit mehr steckt, als es den Anschein hat.“

Mikla prägte sich die in dieser Benachrichtigung enthaltenen Anweisungen genau ein und vernichtete den Zettel dann auf die angegebene Art, und die Asche streute er zum Fenster hinaus.

 

4. Kapitel.

Die erste gemeinsame Mittagsmahlzeit bei Goteins verlief für den Doktor trotz der ablehnenden Kälte der Geheimrätin, die den Erzieher ihrer Söhne so etwas als besseren Dienstboten behandelte, recht anregend. Traude unterhielt sich mit ihm in zwangloser Weise, und auch der Geheimrat, der seiner Gattin bisweilen einen streng verweisenden Blick wegen ihrer fast verletzenden Unnahbarkeit dem neuen Hauslehrer gegenüber zuwarf, tat alles, um die erste leichte Befangenheit Miklas zu zerstreuen. Dieser, von Hause aus tadellos erzogen und auch später als Korpsstudent daran gewöhnt, sich in den besten Kreisen zu bewegen, gewann auch schnell seine gesellschaftliche Sicherheit wieder und gab sogar dann der Geheimrätin auf sehr feine Weise zu verstehen, daß er sich hier als in jeder Beziehung völlig gleichberechtigt erachte.

Nach Tisch unternahm er mit den beiden Knaben, von denen Fritz fünfzehn und Erich vierzehn Jahre zählte einen Spaziergang durch den Grunewald. Traude, die den Doktor gern einmal allein gesprochen hätte, um ihn genauer kennenzulernen, wollte sich den dreien anschließen, wurde jedoch von ihrer Mutter ziemlich kurz darauf aufmerksam gemacht, daß nachmittags Anprobe bei der Schneiderin sei.

Dann fügte die Geheimrätin nachher noch kurz hinzu: „Ich möchte dich überhaupt bitten, liebes Kind, dem Hauslehrer möglichst zurückhaltend zu begegnen. Mir gefällt der keineswegs. Derartige halb gescheiterte Existenzen werden leicht anmaßend. Ich glaube auch kaum, daß mein Vater mit dieser Wahl eines Erziehers für seine Enkel sehr einverstanden sein wird.“

Gotein griff jetzt den letzten Satz aus den spitzen Bemerkungen seiner Frau heraus und sagte kühl:

„Wer meine Söhne erzieht, ist lediglich meine Sache und geht deinen Vater wohl kaum etwas an. Im übrigen wünsche ich,“ – und dieses „ich“ hob er sehr kräftig hervor – „daß Herr Dr. Mikla hier so behandelt wird, wie es ihm als einem gebildeten Menschen von tadellosen Umgangsformen zukommt. Halb gescheiterte Existenzen gibt es in vielen Familien, liebe Auguste.“

In der geborenen von Redlitz kochte es. –

Welch eine Taktlosigkeit von ihrem Gatten sie daran zu erinnern, daß ihr jüngster Bruder vor zehn Jahren hatte den bunten Rock schleunigst ausziehen und nach Amerika gehen müssen – als völlig gescheiterte Existenz! Und dies alles wegen eines Hauslehrers, der vielleicht ein Dieb war … –

Die Geheimrätin lachte böse auf. Und dann murmelte sie ein Wort vor sich hin, das wie „Plebejer!“ klang und vielleicht ihrem Manne galt …

Herbert Mikla befand sich gerade abends auf dem Heimwege, als ihm vor der Haustür in der Augsburger Straße der Theologiekandidat begegnete.

„Kommen Sie mit ein Stück spazieren,“ meinte Johannes Müller, der trotz des klaren Wetters mit einem altehrwürdigen Schirm bewaffnet war. „Ich habe dieses Zusammentreffen mit Ihnen absichtlich herbeigeführt. Wir müssen so allerlei besprechen. Außerdem will ich die Probe aufs Exempel machen. Vielleicht warnt man auch mich vor Ihnen, wenn ich mich mehr an Sie anschließe. – Wandern wir also nach dem Tiergarten.“

Müller schritt in leicht vornübergebeugter Haltung neben Mikla her. Er hinkte ein wenig auf dem linken Fuß. Der blonde Herr damals im Pschorr hatte ganz gesunde Beine gehabt. –

Als der Doktor über diese merkwürdige Beobachtung eine Bemerkung machte, lächelte Marx-Müller fein.

„Gehört zur Maske,“ meinte er kurz, blieb stehen und zündete sich eine Zigarre an. Dann gingen sie weiter.

„Sehen Sie, Ihre Angelegenheit ist doch weit komplizierter, als ich anfänglich dachte, Herr Doktor,“ begann er nun. „Bisher habe ich noch nicht den geringsten Erfolg aufzuweisen. Dies zeigt so recht, wie verschlagen Ihre Feinde sind, wie vorsichtig sie zu Werke gehen und – wie sehr sie darauf achtgeben, daß sie das bleiben, was sie bisher waren: Gespenster, die nicht zu fassen sind! Ich werde nachher noch einige Bemerkungen an diese Tatsache knüpfen. – Zunächst will ich Ihnen einen Überblick über meine Arbeitsmethode geben. Daß ich unsere Hausgenossen, besser gesagt, unsere Mituntermieter der Frau Lange, gleich zu Anfang meiner Tätigkeit auf Herz und Nieren geprüft habe, teilte ich Ihnen schon auf dem Zettel mit. Bei diesem steten Beobachten, das ich auch in der vergangenen Woche noch fortgesetzt habe, ist leider gar nichts herausgekommen. Die Leute sind sämtlich die Harmlosigkeit selbst, waren ja auch insofern mit Ausnahme des alten Schauspielers Gallblum kaum von Bedeutung, als sie meist erst einige Monate bei der Lange wohnen. Nur Gallblum ist ungefähr zu derselben Zeit wie Sie dort eingezogen, nicht wahr?“

„Zwei Wochen später,“ erklärte der Doktor.

„Gut. Dieser Schauspieler, der eigentlich nur Chorist ist, käme so hauptsächlich in Betracht. Ich habe ihm denn auch die liebevollste Aufmerksamkeit geschenkt, aber nur festgestellt, daß er sich gern von allen möglichen Leuten freihalten läßt und regelmäßig um zwei Uhr nachts mit der nötigen Bettschwere heimkehrt. Auch er scheidet für uns völlig aus. Es bleibt also nur noch Frau Amanda Lange selbst übrig. Trauen Sie es der zu, daß Sie, vielleicht von anderen bestochen, Sie beobachtet, aushorcht – kurz, die Spionin spielt?“

Herbert Mikla lachte herzlich auf.

„Ausgeschlossen – ganz ausgeschlossen!“

„Der Ansicht bin ich auch. Ich tue nie eine Arbeit halb und deswegen habe ich mich auch unserer Wirtin an die Fersen geheftet. Sie verkehrt ausschließlich mit ihrer Schwester, die in der Nürnberger Straße Nr. 19 wohnt und ebenfalls möbliert vermietet – nur in eleganterem Stil. Dorthin geht unsere Frau Lange bisweilen nach dem Abendessen, wenn für sie der Feierabend beginnt. Wir wären sie wohl gleichfalls als letzte von der Liste der Verdächtigen streifen müssen – leider, denn in puncto Hausspionage sind wir mithin mit unserer Weisheit zu Ende. Trotz alledem, ich lasse nicht locker, da ich noch immer überzeugt bin, daß einer aus dieser Liste doch der Richtige ist! Vorläufig freilich ist auf keinen Erfolg zu rechnen. Wir müssen eben zu einer List greifen.“

Und Marx-Müller setzte dem Doktor nun eingehend auseinander, wie er den Spion zu fangen gedenke. Dann fuhr er fort:

„Auch Ihnen bin ich, natürlich in einer anderen Verkleidung, die ich in meiner Wohnung in der Potsdamer Straße anlegte, häufig nachgeschlichen um festzustellen, ob Ihnen jemand folgte. Resultat negativ! Und dabei verstehe ich mich auf diese Art Jagd ganz vorzüglich, ohne mich selbst loben zu wollen. – Ich komme jetzt wieder auf das zurück, was ich zu Anfang meiner Ausführungen sagte. Die Leute, die zusammen diese Gespensterfaust bilden, gehen mit ganz außerordentlicher Vorsicht und Schlauheit zu Werke, scheuen sicher keine Mühe und auch keine Kosten, um ihre Pläne, ihre Anschläge, ihr ganzes Tun und Treiben zu verheimlichen. Hieraus schon geht hervor, daß sie ein Ziel verfolgen, das nicht lediglich darin bestehen kann, Ihnen Ungelegenheiten zu bereiten. Nein – deswegen würde man nicht einen solchen, tadellos arbeitenden Apparat in Bewegung setzen. Es muß sich also um Zwecke handeln, die uns noch unklar, nichtsdestoweniger aber recht weitgehende sind. Und dahinter zu kommen, dieses Ziel aufzuhellen, ist unsere schwere Aufgabe.

Erzählen Sie mir jetzt also ganz ausführlich alles aus ihrer Familien- und Lebensgeschichte, was Sie wissen. Lassen Sie auch nicht die geringste Kleinigkeit aus. Insbesondere lege ich Wert auf den Prozeß Ihres Vaters, da ich das Gefühl habe, als ob auch dabei schon dieselben dunklen Kräfte an der Arbeit gewesen sind, die jetzt gegen sie arbeiten.“

Die beiden Herren waren inzwischen in den Tiergarten gelangt und schritten der Siegesallee zu. Herbert Mikla erzählte, und Marx streute hier und da eine Frage ein.

Nachdem der Doktor zu Ende gekommen war, schritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann sagte Alexander Marx nachdenklich:

„Lassen Sie mich einiges wiederholen, was mir wichtig erscheint. Ich will sehen, ob ich alles recht verstanden habe. – Vor fünfzehn Jahren wanderte der jüngere Bruder Ihres Vaters namens Bernhard Mikla nach Brasilien aus. Sechs Jahre lang kam regelmäßig Nachricht von ihm. Plötzlich hörten seine Briefe auf, und Ihr Vater, der allerhand Erkundigungen nach ihm einzog, mußte ihn endlich für tot halten. Die letzte Nachricht von Bernhard Mikla stammte aus dem Städtchen Racuna in Ecuador, wo er eine kleine Farm besaß. – Ihr Vater hat an Ihnen gegenüber vor seiner Abreise nach Amerika die Absicht geäußert, vielleicht an Ort und Stelle Nachforschungen nach dem Verschollenen anzustellen. Er schrieb Ihnen zuletzt aus Quito, und betonte, daß er noch keinerlei Spur von Ihrem Onkel gefunden habe. Dieser Brief war fünf Monate nach seiner Abreise von Bremen abgeschickt. Dann erhielten sie auch von ihm kein Lebenszeichen mehr. Sie wandten sich daher an das deutsche Konsulat in Quito, und dieses teilte Ihnen später mit, daß ihr Vater nach Santa Prenella weitergereist sei, wo er eine Stellung als Ingenieur bei einem Bergwerk annehmen wollte, dort auch eingetroffen, bald aber wieder verschwunden sei. – Das stimmt doch alles, nicht wahr?“

„Sogar ganz genau. Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Müller.“ –

Darauf kehrten sie noch in eines der Kaffees „An den Zelten“ ein, tranken ein paar Schoppen Bier und waren gegen halb elf Uhr wieder zu Hause. Jedenfalls erfuhr der Doktor jetzt noch, daß Baron von Gaulen tatsächlich nach Ostpreußen gefahren war, ihn noch herzlich grüßen lasse und demnächst wieder nach Berlin zurückkehren wolle, sobald er auf seinen Besitzungen etwas nach dem Rechten gesehen habe.

* * *

Am nächsten Abend war bei Goteins Gesellschaft, – dreißig Personen, zumeist Finanzgrößen mit ihren Damen und nur einige Junggesellen, darunter der Gesandte von Ecuador mit seinem gelbbraunen Mulattengesicht und den unzähligen Orden, der ständiger Gast bei dem Geheimrat war und heute zwei Landsleute, die Brüder Ribeira dort eingeführt hatte, die nahe Verwandte des Präsidenten Oronta der Republik Ecuador waren und von denen der eine als Nachfolger seines Oheims schon jetzt galt.

Auch Dr. Mikla befand sich unter den Gästen, spielte aber eine ziemlich klägliche Rolle in diesem Kreise, da er niemanden kannte und seine Stellung als Hauslehrer auch niemanden zu verpflichten schien, sich mit ihm näher zu beschäftigen. Nur Traude Gotein vergaß ihren Schützling nicht und widmete sich ihm auffallend viel, – vielleicht absichtlich, um ihre Mutter so ein klein wenig zu ärgern, die auf verschiedene Fragen, wer der schlanke, gutaussehende Herr sei, stets erwidert hatte: „Nur unser neuer Hauslehrer!“ –

Die Geheimrätin hatte zu ihrem kostbaren Kleide, das sie bei ihrer mageren, aber sehr vorteilhaft hier und da gepolsterten Figur jünger erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war, eine prächtige Perlenkette angelegt, ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes, deren Wert einige fünfzigtausend Mark betrug. Nach Tisch, als man sich über die strahlend erhellten Räume verteilte, kam das Gespräch anscheinend zufällig auf Perlen, Perlenfischerei und die bedenkliche Neigung von Perlenschmuck, zuweilen seinen milden Glanz einzubüßen und damit jeden Wert zu verlieren.

Irgendjemand erzählte die Geschichte von dem berühmten Perlenkollier der Herzogin von Alençon, der Schwester der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Die Herzogin kam bekanntlich bei dem furchtbaren Basarbrand in Paris um, und die durch das Feuer arg beschädigten Perlen ihrer Schwester ließ die Kaiserin dann bei Korfu in das Meer versenken, da sie nach dem Urteil eines Fachmannes nur auf diese Weise ihren alten Schmelz zurückerhalten könnten. Nur Elisabeth und ein alter, ihr sehr ergebener Diener kannten die Stelle, wo die in ein siebartiges Kästchen eingeschlossenen Perlen lagen. Als die Kaiserin dann in Genf ermordet wurde, starb auch zufällig an demselben Tage ihr vertrauter Diener. Niemand wußte daher, wo die Perlen der Herzogin zu suchen seien. Und noch heute liegt der Schmuck irgendwo auf dem Grunde des Adriatischen Meeres. –[2]

Zum großen Kummer der Geheimrätin war nun auch eine der Perlen ihres Halsbandes vor einiger Zeit ohne jede äußere Ursache erblindet. Sie nahm daher jetzt das Kollier ab, und dieses wanderte von Hand zu Hand. Jeder wollte die tote Perle ganz aus nächster Nähe in Augenschein nehmen. Als das Halsband dann nach einer Stunde in die Hände der Besitzerin zurückkehrte, wollte das mit Diamanten besetzte kleine Schloß nicht mehr halten. Der elastische Teil der Schiebers war abgebrochen.

„Nun, dann muß ich den Schmuck morgen zum Juwelier schicken,“ meinte die Geheimrätin gleichgültig und legte das Kollier vorläufig in eine reichgeschnitzte, kleine Truhe, die auf einem Tischchen stand und in der Photographien aufbewahrt wurden.

Eine halbe Stunde nachher wollte Frau Gotein dann schnell einmal in ihr Ankleidezimmer eilen, um frischen Puder aufzulegen. Dabei konnte sie auch gleich die kostbare Perlenkette mitnehmen und wegschließen. Doch als sie den Deckel der Truhe aufhob, war das Kollier verschwunden. Und schon zehn Minuten später bestand kein Zweifel mehr, daß es gestohlen sein mußte.

Diese fatale Sache ließ sich vor den Gästen kaum geheim halten. Die Gemütlichkeit war gestört, und schon wollte man allgemein aufbrechen, als einer der anwesenden älteren Herren laut erklärte, die Polizei müsse sofort geholt werden. Niemand dürfe die Wohnung verlassen, bevor sich nicht jeder habe durchsuchen lassen.

„Bedenken Sie, meine Herrschaften, es handelt sich hier um einen sehr kostbaren Schmuck!“ meinte der Betreffende. „Und wir sind es uns selbst schuldig, jeden Verdacht, einer von uns könnte hier als Langfinger in Frage kommen, von vornherein so zerstreuen.“

Gotein wollte hiervon jedoch nichts wissen. Doch sämtliche Anwesende pflichteten dem alten Herrn bei, und so wurde denn an die nächste Polizeiwache telephoniert, die auch in zehn Minuten zwei Kriminalbeamte zu dem Geheimrat schickte.

Inzwischen war festgestellt worden, daß die Gäste nicht mehr vollzählig waren. Kommerzienrat Dellinger hatte mit Frau und Tochter kurz vor Entdeckung des Diebstahles das Haus verlassen, da die Herrschaften am nächsten Tag abends nach Nizza abreisen und nicht zu spät heute aufbleiben wollten. Auch Herbert Mikla war, nachdem er sich bei Gotein wegen starker Kopfschmerzen entschuldigt hatte, heimlich gegangen und zwar wenige Minuten vor dem Aufbruch Dellingers.

Die Durchsuchung durch die beiden Beamten lohnte natürlich nur eine ganz oberflächliche sein und verlief, wie vorauszusehen, ergebnislos. Nach wenigen Minuten waren die Räume leer, und es blieben nur die Kriminalschutzleute mit den Familienmitgliedern und der Dienerschaft zurück. Letztere mußte sich jetzt sehr genau visitieren lassen, ebenso durchstöberten die Beamten die ganze Wohnung. Das nahm gut zwei Stunden in Anspruch. Inzwischen saß das Ehepaar mit Traude im kleinen Salon zumeist schweigend da.

Frau Gotein war zunächst sehr aufgeregt gewesen, ließ sich dann aber von ihrem Mann durch die Zusicherung, er würde ihr den Verlust nötigenfalls durch ein ebenso kostbares Kollier ersetzen, schnell beruhigen. Der Geheimrat vertrug nun einmal erregte Weiber nicht, besonders nicht seine Frau, die in solchen Momenten keineswegs vorteilhaft aussah. –

Nun kehrten die Beamten in den Salon zurück.

Kriminalwachtmeister Mühldorf, dem man den früheren Gardefeldwebel noch in Ton und Haltung etwas anmerkte, stellte allerlei Fragen, erkundigte sich besonders nach den Dienstboten, wie lange diese im Hause und ob sie zuverlässig seien.

Der Geheimrat, der immer wieder ein Gähnen unterdrücken mußte, erklärte sehr bestimmt, jeder Verdacht in dieser Richtung sei sinnlos, da man sowohl die Köchin als auch die beiden Stubenmädchen und den Diener länger als zehn Jahre im Dienst habe.

Da mischte sich Frau Gotein ein, die schon längst auf die Gelegenheit gewartet hatte, einen inzwischen in ihr aufgestiegenen Argwohn der richtigen Adresse gegenüber zu äußern.

„Wir haben da vor kurzem einen neuen Hauslehrer angestellt, der hinsichtlich seiner Vergangenheit …“

Weiter kam sie nicht.

Der Geheimrat war aufgesprungen.

„Ich möchte dich doch dringend bitten, Dr. Mikla aus dem Spiel zu lassen!“ schnitt er ihr entrüstet jedes fernere Wort ab. –

Aber dieses Eintreten für den Erzieher seiner Söhne konnte den einmal ins Rollen gekommenen Stein nicht mehr aufhalten. Nach einigem erregten Hin- und Herreden wurde der Wachtmeister Mühldorf sehr dienstlich.

„Wenn wir eine Untersuchung begonnen haben, Herr Geheimrat, so muß Ihrerseits alles geschehen, was zur Aufklärung dieses Falles beitragen kann,“ sagte er recht eindringlichen Tones. „Ob Sie den Herrn für unschuldig halten, ist Ihre Sache. Ich bin jedoch dazu verpflichtet, weitere Fragen über dessen Person zu stellen. Also bitte – wie verhält es sich mit der Vergangenheit dieses Doktors?“ – –

Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Mühldorf notierte sich Verschiedenes, fragte auch allerhand und verabschiedete sich dann. –

Inzwischen war es drei Uhr morgens geworden. Eifrig sich unterhaltend, schritten die beiden Beamten durch die nächtlich stillen Straßen. Mühldorf wußte nicht recht, ob er nicht diesen Dr. Mikla jetzt sofort besuchten und ihm etwas auf den Zahn fühlen solle. Schließlich gab er diesen Gedanken aber auf.

 

5. Kapitel.

Herbert Mikla hielt seinen beiden Schülern gerade einen Vortrag über den Beginn der Freiheitskriege. Aber er war heute nicht recht bei der Sache. Als er morgens gegen acht Uhr zu Goteins gekommen war, hatten ihn die Knaben sofort mit der Nachricht empfangen, was gestern Nacht vorgefallen war. Und die Gedanken an das gestohlenen Perlenkollier ließen ihn nun nicht los. Ohne rechte Begeisterung erzählte er von der Bildung der Freischaren, von Lützow, Körner und den anderen jungen Helden, die zuerst gegen den Weltbedrücker blank gezogen hatten.

Dann klopfte es. Die Uhr im Schulzimmer schlug eben zehn.

Es war der Diener, der Mikla mitteilte, der Herr Geheimrat lasse ihn in sein Arbeitszimmer bitten.

Auf dem Flur begegnete der Doktor Traude Gotein, blieb stehen und wünschte ihr einen guten Morgen.

Sie behielt seine Hand länger als sonst in der ihren und flüsterte ihm hastig zu:

„Behalten Sie den Kopf hoch, Herr Doktor! Ihnen steht recht Unangenehmes bevor. Und – nehmen Sie die herzliche Versicherung mit auf diesen schweren Weg, daß ich nie den Glauben an Sie verlieren werde.“

Ehe er noch etwas fragen konnte, huschte sie davon.

Ganz betäubt starrte er ihr nach. –

Was sollte das eben? Was bedeuteten diese Worte …?! –

Dann fiel ihm das gestohlenen Perlenhalsband ein. Und wie ein Stöhnen kam es aus seiner Kehle. Sollte … sollte etwa er als Täter verdächtig sein …?! Das war ja unmöglich! Und doch …! –

Er dachte mit förmlichem Entsetzen an die dunklen Gespenster, die seinen Weg stetig umlagerten …

Ganz mechanisch schritt er weiter, kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen. Die Furcht fraß ihm am Herzen und lähmte ihn förmlich, die Furcht vor dem Unsichtbaren, daß sein Verhängnis war … –

In dem Zimmer des Geheimrates befanden sich außer diesem noch zwei dem Doktor unbekannte Herren. Gotein saß vor seinem Schreibtisch in dem halb zurückgedrehten Stuhl. Als Herbert Mikla eintrat und seine Verbeugung machte, waren drei Augenpaare durchbohren auf sein Gesicht gerichtet. Und dieses Gesicht sah fahl und ängstlich aus, und der Blick war scheu wie der eines geprügelten Hundes.

Der Geheimrat hatte zur Begrüßung kaum merklich den Kopf geneigt.

„Herr Doktor, der Herr Kriminalkommissar Loebius wünscht Sie zu sprechen,“ sagt er dann und deutete auf den einen der beiden Beamten hin, einen kleinen, untersetzten Mann mit einem rosigen, vollen Gesicht, das glattrasiert wie das eines Schauspielers war.

Mikla begann plötzlich der Boden unter den Füßen zu schwanken. Unwillkürlich stützte er sich mit der Linken auf den neben ihm stehenden Klubsessel. Jeder Blutstropfen war ihm aus dem Gesicht gewichen.

„So sieht ein reines Gewissen nicht aus!“ dachte der Geheimrat. Und Loebius und der Wachtmeister Mühldorf hatten ähnliche Gedanken.

Dann begann der Kommissar mit seiner etwas heiser klingenden Stimme:

„Herr Doktor, ich würde Ihnen in Ihrem eigenen Interesse raten, hier sofort ein offenes Geständnis abzulegen. Das dürfte Ihnen bei der späteren Gerichtsverhandlung nur von Vorteil sein. – Wollen Sie also zugeben, daß Sie gestern Nacht das Perlenhalsband der Frau Geheimrat gestohlenen und mit nach Hause genommen haben?“

Inzwischen hatte Herbert Mikla sich einigermaßen gefaßt. Bei dieser so unverblümt ausgesprochenen Anschuldigung schlug seine Stimmung nun ganz plötzlich um. Schon einmal war diese wilde, ohnmächtige Wut in diesem selben Zimmer über ihn gekommen, – damals, als er sich Gotein als Bewerber für die Erzieherstelle vorstellte. Nun fühlte er wieder denselben Groll, dieselbe verzweifelte Verbitterung in sich aufsteigen. Eine Blutwelle schoß ihm in die Wangen, seine Finger krampften sich zusammen und in seinen Augen flammte ein drohendes Licht.

„Nichts gebe ich zu – nichts!“ schrie er fast überlaut. „Wie können Sie es wagen, mir derartige Verdächtigungen ins Gesicht zu schleudern …! Bin ich denn ein Lump, daß sie …“

Der kleine Kommissar war einen Schritt näher an ihn herangetreten, wobei er den Arm wie warnend erhob.

Mikla vollendete den Satz nicht. Dafür sagte Loebius jetzt kopfschüttelnd und beinahe freundlich:

„Wozu leugnen Sie? – Sein Sie doch vernünftig, Herr Doktor. Vielleicht haben Sie unter der Einwirkung eines unwiderstehlichen Zwanges gehandelt. – Sie sind ja schon überführt. Vor einer Stunde haben wir bei Ihnen eine Durchsuchung abgehalten. Gewiß – es war sehr schlau von Ihnen, die Perlenkette unten im Saum Ihres im Flur hängenden Wintermantels zu verstecken – zwischen Futter und Stoff! Da hätten wir in Ihrem Zimmer lange suchen können. Aber mit solchen Dingen wissen wir Bescheid. – Sehen Sie – da liegt die Kette.“

Er nahm vom Mitteltisch eine Zeitung weg, die er vorhin über den Schmuck gedeckt hatte.

Herbert Mikla stierte mit vorquellenden Augen auf die herrlichen, matt schimmernden Perlen. Dann kam es wie ein Gurgeln aus seiner Kehle, und eine Stimme, die mit der seinen nicht die geringste Ähnlichkeit mehr hatte, stieß die Worte hervor …:

„Ich bin … unschuldig …! Die unsichtbare Faust …“

Dann knickte er in einem plötzlichen Schwächeanfall zusammen Loebius fing ihn noch rechtzeitig auf und ließ ihn in den Sessel gleiten –

Eine volle Stunde später brachte man den Doktor in einem Auto nach dem Polizeigefängnis. Er hatte sich von der Ohnmachtsanwandlung auffallend schnell wieder erholt. In stumpfer Gleichgültigkeit ließ er alles über sich ergehen und sprach kein Wort. –

Als er in Begleitung der beiden Beamten die Wohnung verließ, öffnete sich die Tür nach dem Damensalon, und die Geheimrätin schaute den dreien mit fest aufeinander gepressten Lippen nach. Ihr Gesichtsausdruck war hochmütig kalt wie immer. Nur in ihren Augen leuchtete es wie heimlicher Triumph.

Dann ging sie zu ihrem Gatten hinüber.

Gotein saß noch immer vor seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt. Als seine Frau eintrat, hob er kaum den Blick.

„Nun müssen wir uns wieder nach einem neuen Hauslehrer umsehen,“ meinte sie, vor ihm stehen bleibend.

Er antwortete nicht.

Mit einem ironischen Lächeln, in das sich viel Schadenfreude mischte, schaute sie auf ihn herab. Dann fragte sie, nur um ihn zum Sprechen zu veranlassen:

„Woran denkst du eigentlich?“

„An die anonymen Briefe, die ich des Doktors wegen erhalten habe,“ erwiderte er sinnend.

“Ja – siehst du, hättest du dich rechtzeitig warnen lassen, so wäre uns diese ganze Aufregung erspart geblieben,“ meinte sie eifrig.

„Du verstehst mich falsch,“ entgegnete er schroff und richtete sich auf. „Ich habe dringend zu tun …“

Sie verstand den Wink und rauschte in ihrem langen, seidenen Morgenrock wortlos hinaus.

* * *

Herr Johannes Müller lag noch im Bett, als die beiden Kriminalbeamten bei Frau Lange erschienen. An der erregten Stimme der Vermieterin aber merkte er, daß irgendetwas besonderes passiert sein müsse. So kleidete er sich denn schnell notdürftig an und trat in den Flur der Wohnung hinaus. Schräg gegenüber seiner Tür lag jenes Zimmers Herbert Miklas. Kaum hatte Frau Lange ihn erblickt – sie stand gerade vor der Küche, als sie auch schon auf ihn zuschoß.

„Kriminalpolizei!!“ flüsterte sie und deutete auf des Doktors Zimmertür.

Der angebliche Theologe hob mit gut gespieltem Entsetzen beide Hände.

„Wirklich?! – Was mag denn nur vorgefallen sein?“

Die Witwe zog die mageren Schultern hoch.

„Keine Ahnung, Herr Kandidat, – keine Ahnung!“

Johannes Müller schaute sie traurig an.

„Sollte Dr. Mikla wirklich vom rechten Pfade abgewichen sein? – Ich kann es kaum glauben! Freilich – nur Gott vermag dem Menschen auf dem Grund des Herzens zu lesen, er allein weiß, welch geheime Schwächen unsere Seele birgt.“

Frau Lange nickte eifrig.

„Sehr richtig, Herr Kandidat. Und – ohne Grund kommen einem die Polizisten doch kaum auf den Hals.“

Johannes Müller horchte dauernd nach Miklas Tür hin. Er hörte die Beamten sprechen, hin und her gehen, Möbel rücken, Schubladen kreischend herausziehen. –

Ohne Frage also eine Haussuchung. –

Was konnte nur geschehen sein? Darüber mußte er sich unbedingt sofort Aufschluß verschaffen. Und deshalb ließ er Frau Lange nicht fort, sondern schwatzte weiter mit ihr.

Endlich öffnete sich drüben die Tür, und der Wachtmeister Mühldorf erschien auf der Schwelle, warf dem angeblichen Theologen einen prüfenden Blick zu und fragte dann die Witwe:

„Befinden sich alle Sachen des Dr. Mikla in diesem Zimmer?“

Frau Lange schaute den Beamten unsicher an. Sie schien dessen Frage nicht gleich zu verstehen.

Dann erwiderte sie jedoch diensteifrig:

„Einen Koffer und einen Korb hat er oben auf dem Boden stehen. Und … und da ist sein Wintermantel. Den sollte ich heute einmotten und wegpacken, da er ihn doch erst wieder nach Monaten trägt.“

Der Kriminalbeamte trat vor und begann den an einem kurzen Kleiderbügel hängenden Mantel mit den Händen zu betasten. Dann stieß er plötzlich einen leisen Pfiff aus, bückte sich und hielt mit einem Mal eine lange Perlenkette in der Hand, mit der er nun schleunigst wieder im Zimmer verschwand.

„Was soll das nun wieder bedeuten, Herr Kandidat?“ meinte Frau Lange, die Hände ganz verzweifelt auf die flache Brust drückend.

Und Johannes Müller erwiderte mit einem Blick nach der Decke hin:

„Liebe Frau Lange – wie soll ich das wissen! Von solchen Dingen verstehe ich nichts.“

„Ja, ja, Herr Kandidat, – natürlich verstehen Sie davon nichts! – Aber, hörten Sie, wie der Polizist durch die Zähne pfiff. Das sollte doch wohl heißen: Halt, ich hab’s! – Ob die etwa gerade nach diesem Schmuck gesucht haben?“

Der Theologe zuckte die Achseln. Dann meinte er zögernd:

„Ob ich mal hingehe und frage?“

„Tun Sie’s – tun Sie’s! Mehr wie grob werden können die Ihnen gegenüber ja nicht.“

Und so schritt Johannes Müller auf seinen Pantoffeln und den hochgeklappten Kragen seiner Hausjacke vorn zuhaltend, kühn auf die Tür zu und klopfte an.

Mühldorf öffnete.

„Sie wünschen?“

„Ach – ich bin so etwas bekannt mit Dr. Mikla. Ich wohne auch hier. Mein Name ist Müller, Johannes Müller, Kandidat der Theologie. Und da – da wollte ich mich nur erkundigen, ob … ob …“

Er spielte seine Rolle so vorzüglich, daß der Wachtmeister diesem stotternden, ängstlichen Bibelstudenten gegenüber zugänglicher war, als er dies sonst zu sein pflegte.

„Na, Herr Müller, treten Sie mal näher,“ sagte er mit gutmütigem Lächeln. „Vielleicht haben wir Sie auch noch dieses oder jenes zu fragen.“

Kriminalkommissar Loebius saß gerade vor Miklas Schreibtisch und kramte in den Schubladen des Aufsatzes herum.

Mühldorf besorgte die Vorstellung des Kandidaten. Und dann erfuhr dieser wirklich, worum es sich handelte. Jetzt, wo der Schmuck gefunden war, brauchte man ja aus der Sache weiter kein Geheimnis zu machen.

Die Beamten wollten von Johannes Müller noch allerlei über die Lebensweise des Doktors wissen, und der Kandidat gab auch Auskunft, so gut er konnte. Dann wurde er wieder höflich hinausgeschickt.

Mühldorf lachte hinter ihm her.

„Das ist mal ein harmloses Gemüt!!“ meinte er spottend.

* * *

Draußen empfing Frau Lange den Kandidaten mit einem leisen: „Na, wie steht’s?“

Und Johannes Müller hob die Arme wie beschwörend gen Himmel und sagte nur:

„In welchen Abgrund habe ich da eben geblickt! Und mit dem Menschen bin ich zusammen spazieren gegangen – vorgestern Abend! – Jetzt muß ich mich aber fertig anziehen. Kaffee, Frau Lange! Stellen Sie das Brett nur auf die Schwelle. Ich nehme mir’s dann herein.“

Damit verschwand er in seinem Zimmer, –

Bereits nach zwanzig Minuten befand er sich auf dem nächsten Postamt und schickte eine Depesche an den Baron von Gaulen ab.

„Sofort kommen. Lage sehr kritisch. Johannes Müller.“

Hierauf begab er sich in seine Wohnung in der Potsdamer Straße. Ganz erregt trat er in das große Zimmer ein, das der alte Marx sich als Kontor eingerichtet hatte.

„Morgen, Vater! – Mein Fall wird interessant. Denk’ dir, was ich soeben erlebt habe.“

Der Agent, der mit seinem stark ergrauten, spitz geschnittenen Vollbart und dem faltigen, klugen Gesicht einen sehr sympathischen Eindruck machte, ließ sich alles genau erzählen.

Dann fragte er, den Sohn erwartungsvoll anblickend:

„Was gedenkst du zu tun, Alexander?“

„In der Hauptsache muß ich ja erstmal zusehen, wie sich die Dinge weiter entwickeln, das heißt, ob man Mikla verhaften wird. Um aber nicht ganz untätig zu bleiben, werde ich die Brieffalle jetzt in Szene setzen. Ich hätte dies schon gestern tun sollen. Vielleicht wäre ich dann heute bereits klüger …“

Der Alte wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Versprichst du dir wirklich so viel davon?“

„Sehr viel sogar, Vater. Bedenke, daß nur einer der Mieter der Frau Lange das Halsband in den Mantel hineingeschmuggelt haben kann. In der verflossenen Nacht gegen halb ein Uhr ist es gestohlen worden. Und morgens um neun liegt es schon zwischen Futter und Stoff unten in Miklas Mantel. Bedenke weiter, daß der, der es dort hineinpraktizierte, indem er das Futter etwa fünf Zentimeter breit dicht am Saum aufschnitt – nebenbei bemerkt ist der Schnitt mit einer Schere gemacht! – gewust haben muß, daß gerade dieser Wintermantel dem Doktor gehört. Es hängen da noch andere Mäntel im Flur. – Es muß also jemand gewesen sein, der Mikla gut kennt und der jederzeit in der Wohnung aus – und eingehen kann.“

Der Agent schmunzelte.

„Bist wirklich ein heller Kopf, mein Sohn.“

Alexander Marx saß schon vor einem kleinen Tischchen, auf dem eine Schreibmaschine stand. Jetzt spannte er einen großen Briefbogen ein und begann eifrig die Tasten zu bewegen.

Nach einer Weile nahm er das Blatt heraus und reichte es mit feinem Lächeln seinem Vater. Der betrachtete es kopfschüttelnd. Da stand:

Paris, den 20. April 191…

Rswvtuneioaunseillmase … dltnggpsbrhtökdhbuf …

Und so ging es weiter zehn Zeilen durch – alles Buchstaben, die ohne Sinn aneinander gereiht zu sein schienen. Eine Unterschrift fehlte.

„Was soll das, Alexander?“ meinte der Agent. „Ist das eine Geheimschrift?“

„Keine Spur! Aber es soll so aussehen, als ob es eine wäre. – Begreifst du, weshalb?“

„Nein. Hinter deine Schliche kommt man nicht so leicht.“

„Und doch ist die Sache eigentlich sehr einfach. Ich nannte schon vor ein paar Tagen dir gegenüber diese Erfindung „Brieffalle“. Und eine Falle ist es in der Tat. – Wie du weißt, erhielt ich gestern einen Brief von meinem Freund Jakob Schlobitzer aus Paris. Die Adresse auf dem Umschlag ist mit Maschine geschrieben, und die Klappe war schlecht verklebt, so daß ich sie unbeschädigt öffnen konnte. Ich tat dies sehr vorsichtig, da ich schon daran dachte, diesen mit Marke und den nötigen Stempeln versehenen Umschlag für meine Zwecke zu benutzen. Die Adresse werde ich sorgfältig mit Chemikalien entfernen und dafür die des Doktors hinsetzen. In den Umschlag kommt dann dieser Briefbogen hinein, den ich noch besonders präparieren will, damit auf ihm die Fingerabdrücke jeder Person, die ihn in die Hände nimmt, sich – zunächst unsichtbar – abzeichnen. Das spätere Sichtbarmachen der Fingerabdrücke ist sehr einfach, ebenso das eben erwähnte Präparieren, wofür es verschiedene Methoden gibt. Der fertige Brief wandert, nachdem er mit einem besonderen Klebstoff, der beim Erwärmen und Erweichen in Wasserdampf bräunlich wird, wieder verschlossen ist, in den großen gemeinsamen Briefkasten der Frau Lange, und zwar geschieht dies heute gegen Abend, wenn die letzte Postbestellung erfolgt ist. Das weitere stelle ich mir nun so vor: Der Hausspion, der ohne Frage den Briefwechsel des Doktors überwacht und wahrscheinlich alle Briefe heimlich öffnete – durch Halten über Wasserdampf und späteres Neuverkleben und Überglätten der Klappe – und von ihrem Inhalt Kenntnis nimmt, wird gerade diesen Brief, der aus Paris kommt, für wichtig halten. Der Poststempel Paris soll also lediglich die Neugier des Betreffenden reizen. Infolge des von mir benutzten Klebstoffes muß das Öffnen dann sichtbare Spuren hinterlassen. Ich kann nachher also leicht feststellen, ob ein Öffnen stattgefunden hat. – Nun zu dem Briefbogen mit der „Geheimschrift“. Diese wird den Hausspion noch neugieriger machen. Er wird sie genau abschreiben und dabei das Papier notwendig öfters in die Finger nehmen und so ein ganz untrügliches Kennzeichen seiner Personen in Gestalt der Abdrücke hinterlassen. Die Wichtigkeit der Fingerabdrücke kennst du ja. Das feine Muster der Fingerspitzenhaut ist ja bei jedem Menschen verschieden – eine Tatsache, die die Kriminalpolizei aller Länder sich längst zu Nutze gemacht hat. – So, das ist meine Brieffalle, die mich endlich über den Hausspion aufklären soll.“

Wieder wiegte der alte Marx den Kopf zweifelnd hin und her.

„Wie nun, wenn dieser Spion den Brief aber einfach verschwinden läßt?!“ meinte er.

„Das brauche ich kaum zu fürchten. Miklas Feinde werden wissen wollen, was er auf diese geheime Mitteilung hin unternimmt. Und deshalb werden sie den Brief nicht vernichten. – Folgendes ist allerdings möglich. Wird der Doktor verhaftet, so erhält Frau Lange ohne Frage den strengen Befehl von der Kriminalpolizei, alle für Mikla eingehenden Postsachen der Behörde auszuliefern. Auf diese Weise kommt der Brief nachher der Polizei in die Hände. Dort werde ich ihn mir schon für kurze Zeit besorgen. – Erfolgt keine Verhaftung, so liegt die Sache viel einfacher, da der Doktor ihn mir dann zur Verfügung stellen muß.“

„Nun – so rechtes Zutrauen habe ich, ehrlich gestanden, nicht zu dieser Geschichte,“ sagte der Agent nachdenklich. „Besitzen denn alle Untermieter der Frau Lange einen Schlüssel zu dem Briefkasten?“

„Nein, das nicht. Dieser hängt draußen an der Füllung der Flurtür, und der Schlüssel wieder innen neben der Tür an einem Nagel. Jedenfalls kann jeder der „möblierten Herren“ zu jeder Zeit auf diese Weise nachsehen, ob für ihn in dem Briefkasten irgendetwas vorhanden ist. Der Hausspion arbeitet nun ohne Frage so, daß er den Kasten nach der Zeit der einzelnen Postbestellungen revidiert, Miklas Briefe an sich nimmt, öffnet und nachher nach der nächstfolgenden Postbestellung wieder in den Kasten tut, so daß es den Anschein hat, als seien die Briefe für den Doktor erst bei diesem Bestellgange ausgeliefert worden.“

Der Agent lächelte fein.

„Du besitzt viel Phantasie, aber eine Phantasie, die logisch arbeitet, das muß man dir lassen. – So, wie du mir die Tätigkeit dieses Spions schilderst, muß er sie wohl ausüben. Aber bedenke, wie viel Zeit es dem Menschen kostet, ständig so auf der Lauer zu liegen und dem Briefkasten seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Der Betreffende muß ja zu diesem Zweck sehr häuslich leben und darf sich nur immer für kurze Zeit entfernen. – Hm, ob nicht doch die Frau Lange selbst hier ihre Hand im Spiel hat. Sie hätte doch die beste Gelegenheit, sich in dieser Weise zu betätigen.“

„Ganz richtig. Aber da ist zum Beispiel auch noch der Schriftsteller Nogowski, der ebenfalls wie ein Einsiedler lebt. Gewiß – ich habe ihn ja wie alle anderen Untermieter ebenfalls beobachtet. Er scheint ganz harmlos zu sein, – genau so wie Frau Lange, die mir für eine Spionin auch nicht schlau genug ist. Gerade weil ich hier so vollständig im Dunkeln tappte, muß etwas geschehen. – Noch eins! Die Möglichkeit ist ja auch nicht ausgeschlossen, daß der Spion gar nicht bei der Lange, sondern drüben auf dem anderen Flur wohnt, wo eine Frau Schönfeld gleichfalls möbliert vermietet. Ein Briefkastenschlüssel ist ja leicht besorgt, und, wenn der betreffende vorsichtig ist, braucht er kaum zu fürchten abgefaßt zu werden. An die Mieter der Frau Schönfeld habe ich heute erst gedacht, als ich auf dem Wege nach hier mir alles nochmals gründlich durch den Kopf gehen ließ. – So, und jetzt will ich die Brieffalle ganz fertig machen.“

 

6. Kapitel.

Kriminalkommissar Loebius hatte sich Herbert Mikla schon eine Stunde nach dessen Verhaftung zum Verhör vorführen lassen. In dem Dienstzimmer, wo die Vernehmung stattfand, saß nur noch an einem Schreibtisch der Protokollführer, während der Doktor den Kommissar gegenüber an dessen Arbeitstisch hatte Platz nehmen müssen. –

Loebius behandelte selbst den gemeinsten Verbrecher mit milder, beinahe mitleidiger Freundlichkeit. Er erreichte auf diese Weise mehr als alle die Kollegen, die durch Grobheit die Angeschuldigten zu einem Geständnis zu bringen suchten. –

Nachdem Miklas Personalien aufgenommen waren, begann der Kommissar, indem er mit einem langen Bleistift spielend sich auf den linken Handrücken klopfte:

„Nun zur Sache, Herr Doktor! – Bleiben Sie dabei, daß Sie den Schmuck nicht gestohlen haben?“

Herbert Mikla, der recht blaß aussah, aber inzwischen sich geistig für diesen Kampf genügend gerüstet hatte, erwiderte bestimmt:

„Ich bleibe dabei! – Es liegt hier ein Schurkenstreich vor, der darauf abzielt, nicht zu verderben.“

„Haben Sie Beweise dafür?“

„Ja!“

Das klang so sicher, daß Loebius überrascht den Kopf höher hob.

„So? – Bitte, nennen Sie sie mir. Ich bin wirklich gespannt darauf, und es würde mich freuen, wenn Ihre Angelegenheit durch Ihre Angaben ein für Sie günstiges Aussehen erhielte.“

Lebhaft und von dem Wunsche beseelt, den Kriminalkommissar recht eindringlich vor Augen zu führen, daß heimliche Feinde seit langem einen förmlichen Feldzug gegen ihn eröffnet hatten, erzählte Mikla gleich jetzt die Geschichte der letzten Jahre, entwarf ein genaues Bild von all den Verfolgungen, denen er ausgesetzt gewesen war und die auch heute ihn noch bedrohten.

Loebius schüttelte bisweilen etwas ungläubig den Kopf, unterbrach den Doktor aber nicht.

Da dieser jetzt schwieg, sagte er bedächtig:

„Es läßt sich ja leicht feststellen, ob all die Leute, die entweder den Verkehr mit Ihnen abbrachen oder den weiteren Unterricht Ihrer Schüler plötzlich abbestellten, ferner die, bei denen Sie sich umsonst um eine Anstellung bemüht haben, tatsächlich durch anonyme Briefe gewarnt worden sind. Die Namen der hier in Frage kommenden wissen Sie wohl noch?“

„Ja. Außerdem habe ich über diese durchgemachten Enttäuschungen sozusagen Buch geführt. In meinem Schreibtisch werden Sie in der linken Schublade des Aufsatzes ein Heftchen finden …“

„Habe ich schon gefunden,“ unterbrach Loebius ihn. „Ist es dieses Heftchen?“

Dabei entnahm er einem neben ihm stehenden Schränkchen ein Oktavheft mit schwarzem Pappdeckel.

„Ja. Und darin finden Sie alles Nötige, Herr Kommissar.“

Loebius blätterte in dem Büchlein.

„Stimmt. Hier steht’s! – Na, das ist ja eine reiche Sammlung von Namen. Und sogar Daten haben Sie hinzugefügt und kurze Bemerkungen.“ –

Ganz freundlich klang das. Und doch auch wieder so etwas ironisch.

„Sieh – hier steht als letzter der Geheimrat Gotein. Auch den haben Sie eingetragen …! – Hm – und Sie glauben, daß alle diese anonymen Briefe, die Ihnen das Leben schwer machen sollten, mit Maschine geschrieben waren?“

„Von dem größeren Teil der Briefe weiß ich das bestimmt, da man mir es teilweise offen sagte und ich andere vor mir Gewarnte geradezu danach gefragt habe.“

„So, so! – – Gehen wir jetzt zu einem anderen Punkt über. Ich komme auf die Briefe nachher noch einmal zurück. – Ich habe da in Ihrem Schreibtisch unter anderem eine kleine, eiserne Geldkassette gefunden und mitgenommen, um sie hier öffnen zu lassen. – Sie wissen doch, was die Kassette enthält, Herr Doktor?“

Mikla schaute verwirrt zu Boden. Wieder kam die Angst und schnürte ihm das Herz zusammen … Auch das noch …!! Wie sollte er jetzt nur diesen Mann da, der nur freundlich tat und ihn in Wirklichkeit gleichfalls zu verderben trachtete, überzeugen, daß der Inhalt der Kassette gleichfalls nur ein Werk seiner Feinde sei …?!

„Antworten Sie doch, Herr Doktor,“ mahnte Loebius sanft.

Da raffte Herbert Mikla sich auf.

„Natürlich weiß ich, was die Kassette enthält,“ erklärte er befangen. „Es sind fünf Briefumschläge, auf denen ich mit Bleistifte verschiedene Daten notiert habe. In jedem der Umschläge liegen zwei Banknoten zu tausend Mark.“

„Stimmt. Und wie sind Sie zu diesem Gelde als mäßig bezahlter Privatlehrer, der kein Vermögen besitzt, gekommen?“

„Auf eine sehr merkwürdige Weise, Herr Kommissar. Ich fürchte fast, Ihnen wird meine Erklärung ziemlich unglaubwürdig erscheinen. Zum Glück habe ich aber die erste dieser geheimnisvollen Sendungen damals abgeliefert. – Doch ich will der Reihe nach erzählen. – Im März vorigen Jahres fand ich in der Tasche – der linken Außentasche – meines Mantels, als ich abends gegen acht Uhr von einem Spaziergang heimkehrte, einen weißen, zusammengelegten und unverklebten Briefumschlag vor, in dem zu meiner unaussprechlichen Überraschung zwei Tausendmarkscheine lagen – nichts weiter, keine Zeile – nichts! Auch eine Adresse fehlte auf dem Umschlag, der mir nur heimlich die in die Tasche geschoben sein konnte. Bei schärferem Nachdenken besann ich mich dann darauf, daß ich eine Weile in einer dichten Menschenmenge vor einem neudekorierten Schaufenster des Kaufhauses des Westens gestanden hatte. Und da war es mir einen Augenblick so vorgekommen, als ob sich jemand an mich absichtlich dicht herandrängte. Ich beachtete dies aber nicht weiter. – Am nächsten Vormittag ging ich mit dem Briefumschlag auf das zuständige Polizeirevier und wollte dort das Geld abgeben. Man nahm ein Protokoll auf, und ich quittierte über die Ablieferung des Geldes. Der Wachtmeister, der die Sache erledigte, meinte, daß hier offenbar ein Taschendieb mich für einen seiner Genossen gehalten haben müsse und mir das Geld zugesteckt habe, um es vorläufig schnell loszuwerden. – Damit war ich entlassen. Was weiter daraus geworden ist, weiß ich nicht. – Acht Tage später passierte mir dann genau dieselbe Geschichte. Wieder entdeckte ich abends in meiner Manteltasche einen Briefumschlag mit zweitausend Mark darin. Wenn ich nun beim ersten Mal der Vermutung des Polizeiwachtmeisters beigepflichtet hatte, daß hierbei eine Personenverwechslung vorliegen müsse, so sagte mir diese Wiederholung des Vorfalles, wie wenig zutreffend jene Annahme gewesen war. Ich hegte nun die feste Überzeugung, daß die Briefe mit dem Gelde mir absichtlich in die Tasche geschoben wurden. Und mein zweiter Gedanke war, dies ist ein neuer Schurkenstreich deiner Feinde! – Nach ruhiger Überlegung wollte mir aber auch diese Ansicht nicht recht gefallen. Ich konnte nicht ergründen, wozu diese merkwürdige Zustellung der Geldbeträge dienen sollte. Und schließlich beschloß ich abzuwarten, ob die Zukunft nicht den Schlüssel zu diesem Rätsel bringen würde. Das eine stand aber bei mir fest, man hatte mir zu irgend einem Zwecke das Geld zukommen lassen! – Ich notierte also auf dem Umschlag den Tag des Empfanges und legte Geld und Briefumschlag in die Kassette. – Natürlich gab ich nun auf der Straße genau acht, ob ich den nicht erwischen könne, der mir auf diese Weise so beträchtliche Summen aufgezwungen hatte. Auch in Lokalen paßte ich scharf auf – alles vergeblich! Noch weitere vier Umschläge wurden mir in Zwischenräumen von drei Monaten heimlich zugesteckt, der letzte davon vor etwa vier Wochen. – Ich habe das Geld nie angegriffen. Es lag unberührt in der Kassette. Und wenn ich der Polizei die Fortsetzung dieses seltsamen Abenteuers nicht gemeldet habe, so geschah es eben deswegen, weil ich jeden Tag erwartete, vielleicht die Erklärung für diese sonderbaren Zustellungen selbst zu finden oder doch schriftlich oder mündlich mitgeteilt zu erhalten.“

Loebius wollte gerade etwas erwidern, als ein Beamter erschien und den Geheimrat Gotein meldete.

Der Kommissar eilte daraufhin in den Flur hinaus, wo der Geheimrat wartete.

„Sie sind anscheinend gerade beschäftigt,“ begann Gotein, nachdem er dem Beamten die Hand gedrückt hatte. „Ich will Ihre Zeit auch nicht lange in Anspruch nehmen. Wegen des Doktors komme ich. Ich bin bereit, Kaution in jeder gewünschten Höhe zu stellen, damit er baldigst aus der Haft entlassen wird. – Hat er Ihnen von den anonymen Briefen erzählt, die ich erhalten habe? – Sehen Sie, Herr Kommissar, diese Briefe sind es, die mir die Überzeugung geben, daß mein Hauslehrer unschuldig und nur das Opfer eines gemeinen Racheplanes ist.“

Nach längerer Unterhaltung, bei der Loebius aber sorgsam verschwieg, was er selbst von Herbert Mikla halte, sagte er dann:

„Gut, Herr Geheimrat, – eigentlich ist ja nicht zulässig, daß Sie dem Verhör beiwohnen. Ich will aber in diesem besonderen Falle eine Ausnahme machen, da Sie so am besten Gelegenheit haben, sich ein Urteil über den Doktor zu bilden. Vielleicht bestehen Sie nach der Vernehmung nicht mehr darauf, für ihn Kaution zu stellen.“ –

Gotein begrüßte dann den Doktor mit festem Händedruck und setzte sich darauf still als aufmerksamer Beobachter in eine Ecke. –

Loebius ließ den Protokollführer jetzt zunächst die Angaben Miklas zu Papier bringen. Das nahm eine geraume Zeit in Anspruch.

Nun lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, beklopfte mit dem Bleistifte wieder liebevoll seinen Handrücken und sagte gemütlich:

„Die letzten Jahre Ihres Lebens, Herr Doktor, sind wirklich überreich an merkwürdigen Vorfällen. Diese Ereignisse begannen in Königsberg mit dem Bibliothekdiebstahl, änderten dann ihre Form und wurden zu anonymen Briefen und zu geheimnisvollen Geldzuwendungen und enden nun vorläufig mit dieser Perlenkolliergeschichte. – Bevor ich in meinen Ausführungen fortfahre – eine Zwischenfrage. Wenn Sie über das Treiben Ihrer unbekannten Feinde wirklich so verzweifelt waren, wenn Ihnen diese „unsichtbare Faust“, wie Sie Ihre Gegner soeben im Protokoll bezeichnet haben, tatsächlich jede Lebensfreude raubte, weshalb haben Sie sich dann nie hilfesuchend an die Polizei gewandt?“

„Weil ein Mensch, auf dem das Elend eines Freispruches „aus Mangel an Beweisen“ lastet, mit der Polizei nicht gern wieder etwas zu tun hat. Hätte ich die Sache zur Anzeige gebracht, so wäre dabei sicher jene Königsberger Affäre wieder mit allen ihren für mich so demütigenden Einzelheiten ans Tageslicht gezerrt worden. Und das wollte ich nicht. Ich suchte ja nichts anderes als ein schnelles Auslöschen dieser Erinnerungen aus meinem Gedächtnis!“

Wie ein Schrei tiefster Seelenqual waren diese letzten Worte. –

Doch der Kommissar blieb unbewegt.

„Wenn alle Ihre Angaben auf Wahrheit beruhen, Herbert Mikla, so sind Sie als ein Opfer heimtückischer Feinde zu bedauern,“ sagte er etwas lauter als bisher. „Aber ich halte diese Angaben nicht für wahr! Ich halte Sie für einen äußerst raffinierten Menschen, der ein Doppelleben – als Verbrecher und als solider Privatgelehrter, geführt hat! Die anonymen Briefe sind Ihre eigene Erfindung, von Ihnen selbst mit Schreibmaschine geschrieben, da dieser Art Schrift den Absender nicht so leicht verrät, und zu dem Zweck in die Welt gesandt, um, falls Sie einmal abgefaßt werden, wie heute hier, flugs behaupten und beweisen zu können, daß heimliche Widersacher ständig Ihren Lebensweg kreuzen! Und die Geschichte mit den Ihnen angeblich zugesteckten Geldbeträgen, – das ist auch nur alles fein ausgeklügelt, um das Vorhandensein größerer Summen bei Ihnen erklären zu können! Das Geld ist der Erlös Ihrer Diebesbeute, eingewechselt zu Tausendmarkscheinen, nichts weiter! Und daß Sie die ersten zweitausend Mark abgeliefert haben, zeigt so recht, wie schlau Sie sich in jeder Beziehung den Rücken zu decken suchten. Dann stand ja Ihr famoses Abenteuer so recht mit allen Einzelheiten in einem amtlichen Protokolle, auf das Sie im Notfalle hinweisen konnten. Und die zweitausend Mark waren dabei ja nicht einmal für Sie verloren! Sie werden schon gewußt haben, daß sie Ihnen nach einer bestimmten Zeit als Fund wieder ausgehändigt werden müssen! – So denke ich über Sie! Und ich werde Ihnen schon beweisen, daß Sie noch irgendwo eine zweite Wohnung besitzen, daß wahrscheinlich in den Häusern, wo Sie unterrichtet haben, nach einiger Zeit ein Einbruch verübt worden ist, nachdem Sie Gelegenheit gehabt hatten, sich in den Räumen hübsch genau umzuschauen. – Und weiter – wer soll denn wohl den Diebstahl jetzt bei dem Herrn Geheimrat verübt haben, wer?! Wer von dessen Gästen hat ein Interesse daran, Ihnen zu schaden …?! Niemand!! Sie haben all diese Herrschaften gestern erst kennengelernt! – Nein – ein Mensch wie Sie muß endlich unschädlich gemacht werden, und zwar gründlich! Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Ihr geheimnisvolles Doppelleben vollständig aufgedeckt habe! Von einer Haftentlassung gegen Kaution kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Jetzt hat die „unsichtbare Faust“ Sie wirklich gepackt – ich, der alte Loebius, wie micht die „schweren Jungen“ mit heimlicher Scheu nennen.“ –

Etwas atemlos schwieg der Kriminalkommissar jetzt.

Dr. Mikla aber war unter dem Schwall dieser Worte, die so manches Rätselhafte spielend leicht zu erklären schienen, vollständig zusammengeknickt. Wie – wie nur sollte er beweisen, daß er doch die Wahrheit sprach …? Er fand keine Möglichkeit! Gewiß – er hätte hier noch angeben können, daß Alexander Marx jetzt in seinem Interesse tätig sei. Aber – hatte der denn bisher einen Erfolg mit seiner Arbeit gehabt? Nein – nicht den geringsten! Außerdem raunte auch eine innere Stimme Mikla zu, über diesen Punkt zu schweigen.

So saß er denn, trostlos vor sich hinstarrend, wie ein Bild tiefster Niedergeschlagenheit da, die man nur zu leicht als Schuldbewußtsein deuten konnte! Er wußte nichts zu erwidern – nichts, hätte ja auch nur das eine stets wiederholen können: „Ich bin unschuldig …!!“ –

Loebius ließ den Aufseher hereinrufen und den Arrestanten abführen.

Mit tief gesenktem Kopf schlich der Doktor hinaus. –

Ja – die unsichtbare Faust hatte dieses Mal ganz fest zugepackt – ganz fest … – –

Der Kommissar schickte jetzt auch den Protokollführer hinaus. Dann wandte er sich an Gotein.

„Nun, Herr Geheimrat, wie gefiel Ihnen diese Szene?“

Gotein erhob sich schnell. Sein leidenschaftsloses, kühles Gesicht war noch um einiges steinerner geworden.

„Ich bleibe bei meiner Ansicht, Herr Kriminalkommissar,“ sagte er kurz. „Und ich werde versuchen, diesem Unglücklichen zu helfen. – Guten Morgen.“

Er reichte Loebius die Hand, verbeugte sich und ging.

Und der Kommissar knurrte hinter ihm drein:

„Da sieht man, welch’ tadelloser Schauspieler dieser Doktor ist … Sogar diesen gerissenen Geschäftsmann hat er vollständig „eingewickelt“ …!!“

 

7. Kapitel.

Als Marx sich nachmittags gegen fünf Uhr nur von einem Händler auf der Tauentzienstraße eine Abendzeitung kaufte, stand die Geschichte von dem Diebstahl bei dem Geheimen Kommerzienrat G., Kurfürstendamm, bereits ganz ausführlich unter Lokales, und zum Schluß die Bemerkung, daß der Dieb in der Person des Hauslehrers Dr. M. schon ermittelt und verhaftet sei. –

Jetzt, wo Marx durch die Zeitung die Gewißheit erlangt hatte, wie grausam das Schicksal mit dem bedauernswerten Privatlehrer umgesprungen war, wollte er auch keine Minute länger zögern, um den Stein endlich ins Rollen zu bringen. Er schaute nach der Uhr und überzeugte sich, daß es erst ein Viertel sechs war. Gegen halb sechs kam gewöhnlich der Briefträger mit der vorletzten Bestellung. Mithin konnte Marx den vorbereiteten Brief ganz gut jetzt gleich loswerden.

Bis zur Augsburger Straße war es nicht weit, und als Marx nun vor dem Hause Nr. 66 anlangte, sah er den Postboten gerade aus dem drittnächsten in das Nebenhaus gehen.

Zehn Minuten später lag der Brief aus Paris mit einigen anderen in dem Kasten, und Marx verließ nun wieder das Haus und schritt dem Kurfürstendamm zu, wo er ein Café aufsuchte und nun nochmals in Ruhe den Bericht über den Diebstahl durchlas.

Der Kellner in dem zumeist von der Lebewelt bevorzugten Lokal behandelte diesen Gast, dessen Anzug so vorsintflutlichen aussah und den er sofort mit menschenkundigem Blick auf besseren Schulmeister oder Pfarramtskandidaten einschätzte, sehr von oben herab, bis der so bescheiden aussehende Gast ihn einmal, als er auf einen Zuruf nicht sofort erschien, recht grob anfauchte.

Marx lächelte über das verdutzte Gesicht des Kellners vergnügt vor sich hin, zahlte und begab sich wieder nach der Augsburger Straße. Inzwischen waren etwa eineinhalb Stunden vergangen. Als er den Briefkasten aufschloß, war nur noch ein einziger Brief darin – der aus „Paris“ an Dr. Mikla.

Marx sah sofort, daß die Ränder der Verschlußklappe bräunlich verfärbt waren. Sein chemisches Klebemittel hatte gewirkt. Der Brief war, während er im Café gesessen hatte, geöffnet worden.

Schnell schob er ihn in die Tasche, verschloß den Briefkasten wieder, hing den Schlüssel innen an den Nagel und klopfte bei Frau Lange an, die neben der Küche das kleine Mädchenzimmer bewohnte. Aber die Witwe war nicht zu Hause.

Nachdem Marx, um ganz sicher zu gehen, noch im Flur laut nach ihr gerufen hatte, ging er in die Küche und setzte in einem kleinen Tiegel etwas Wasser auf den Gasherd. Als sich Dampf entwickelte, hielt er den Brief mit der Rückseite dicht darüber. In kurzer Zeit war dann der Klebstoff weich geworden, und Marx konnte die Klappe leicht aufschlagen.

Nun schloß er sich in sein Zimmer ein und begann die Untersuchung des Briefbogens. Er hielt diesen schräg gegen das Fenster und bemerkte sobald einige Flecken auf dem Papier, die sich allerdings nur schwach als matte Stellen hervorhoben. Über diese Stellen wischte er vorsichtig mit der mit ganz feinem Graphitpulver geschwärzten Spitze des Zeigefingers hin. Sofort zeichneten sich allerlei Muster in dunkleren Linien ab, es waren die Fingerabdrücke desjenigen, der den Brief heimlich geöffnet und dabei nicht geahnt hatte, daß das besonders präparierte Papiere für ihn zum Verräter werden mußte.

Im ganzen brachte Marx auf diese Weise zwölf Fingerabdrücke zum Vorschein, vier auf der Vorder- und acht auf der Rückseite. Am interessantesten waren die Abdrücke auf der Rückseite. Sie rührten ohne Frage von den Zeige- und Mittelfingern beider Hände her, während die Hautmuster auf der Vorderseite sicherlich von den Daumen stammten. Der Spion hatte den Bogen eben mit beiden Händen zweimal für längere Zeit festgehalten und dabei die Ring- und kleinen Finger an die Handfläche angeklemmt, so daß nur die übrigen drei Finger Abdrücke ergeben konnten. –

Ganz deutlich war zu erkennen, daß der Spion am Zeigefinger der rechten Hand eine ziemlich breite, eingefallene Narbe haben mußte, da hier das Muster ein längliches Loch aufwies, das heißt das Papier hatte hier nichts von dem Graphitpulver angenommen. –

Die Untersuchung des Briefbogens hatte kaum fünf Minuten in An–spruch genommen. Jetzt machte Marx sich an die Arbeit, die Muster der Fingerspitzen auf ein großes Stück weißes Papier zu übertragen. Hierzu bediente er sich einer Lupe, um die feinen Linien genauer unterscheiden und in ihren Biegungen und Verästelungen haarscharf vergrößern zu können. Da es sich im ganzen um nur sechs Fingerspitzenbilder handelte, war Marx in knapp zwanzig Minuten damit fertig. Schnell verschloß er den Umschlag nun wieder, nachdem er mit einem Gummi die Graphitspuren wegradiert hatte. Um den Klebstoff schneller zu trocknen, nahm er aus einem großen Photographienrahmen das Glas heraus, legte den Brief mit der Rückseite darauf und auf den Brief wieder ein schweres Buch. Dann hielt er die Glasplatte über ein brennendes Licht und erreicht auf diese Weise, daß die Klappe schnell und ohne Falten zu werfen, antrocknete.

Gleich darauf lag der Brief aus „Paris“ wieder draußen im Kasten. Alexander Marx triumphierte. Glatter hätte sich diese Sache ja auch kaum ereignen können.

Wieder begab er sich in die Küche. Frau Lange war noch immer nicht zurückgekehrt. Diese Gelegenheit mußte Marx wahrnehmen. Sein Jagdeifer war erwacht, und er gedachte nun sofort Frau Lange auf Herz und Nieren zu prüfen. Fingerabdrücke von ihr würde er an irgend einem Küchengerät schon entdecken.

Er schaute sich um. Da stand auf dem Herd ein sauber geputzter Messingtiegel. Sauber sah es hier ja überhaupt aus. Die Witwe litt beinahe schon etwas an der Reinemachewut.

Diesen Tiegel betrachtete Marx sehr eingehend, ging damit zum Fenster, hielt ihn wie vorhin das Papier schräg gegen das Licht, drehte ihn langsam und … stutzte plötzlich, brachte die Augen noch dichter an das Metall und eilte dann mit dem gelbglänzenden Kochgeschirr in sein Zimmer, wo er mit der Lupe eine bestimmte Stelle an der Außenseite dicht unter dem Rande sehr genau in Augenschein nahm. Schließlich holte er noch die vorhin angefertigten kleinen Zeichnungen herbei und verglich darauf die Vergrößerung des Abdrucks des rechten Zeigefingers des Spions mit dem Fleck, den Frau Langes Hand auf dem blankgeputzten Tiegel wohl beim Wegstellen desselben zurückgelassen hatte. –

Alexander Marx stieß einen ganz leisen Pfiff aus.

Er hatte den Spion, besser die Spionin, gefunden. Es war Frau Lange selbst, – die harmlose, diensteifrige, scheuerwütige und redselige Frau Lange … –

Jeder Zweifel war hier ausgeschlossen. Dieselbe Narbe, die Marx auf dem rechten Zeigefingerabdruck des Briefbogens festgestellt hatte, fand sich in dem Fingerspitzenmuster auf dem Messingtiegel wieder, und auch sonst stimmten die verschlungenen Linien ganz genau überein.

* * *

Goteins saßen gerade im Speisezimmer beim Abendbrot, als der Diener auf dem silbernen Tablett dem Geheimrat einen geschlossenen Brief ohne Adresse überbrachte.

„Ein Herr bittet den gnädigen Herrn sprechen zu dürfen,“ bestellte er.

„Wie – zu dieser Stunde?! – Merkwürdig!“ – Und er riß den Umschlag auf. Darin lag eine mit Tinte ausgeschriebene Visitenkarte

Alexander Marx

Privatdetektiv

bittet um eine Unterredung in Sachen Dr. M. und um Verheimlichung seines Berufes gegen jedermann

Das „jedermann“ war unterstrichen. –

Der Geheimrat erhob sich rasch.

„Führen Sie den Herrn in mein Zimmer,“ befahl er dem Diener.

„Entschuldigt mich bitte. Die Sache hat Eile,“ wandte er sich dann an die Seinen. „Eine dringende geschäftliche Besprechung.“

Er legte die Serviette auf den Tisch, trank noch einen Schluck Mosel mit Selter und verließ das Speisezimmer. –

Der Diener hatte drüben im Herrenzimmer alle Flammen des Kronleuchters eingeschaltet und die Vorhänge zugezogen.

Als der Geheimrat eintrat, erhob sich Marx aus dem Klubsessel und verbeugte sich.

„Ich bitte sehr um Verzeihung, daß ich zu so wenig passender Zeit störe, Herr Geheimrat. Aber …“

Gotein hatte mit einem einzigen Blick den Besucher prüfend gemustert. Jetzt schnitt er alle weiteren Entschuldigungen durch eine Handbewegung ab und rief dem Diener, der eben lautlos das Zimmer verlassen wollte, zu, er solle dem Herrn Hut und Paletot abnehmen. – Dann waren sie allein.

Gotein setzte sich neben den Detektiv in die andere Ecke des hohen Ledersofas. So hatte dieser es gewünscht.

„Auf die Weise können wir ziemlich leise sprechen,“ hatte Alexander erklärt. „Weshalb dies ganz angebracht ist, werden Sie bald begreifen, Herr Geheimrat.“

Kein Wunder, daß Gotein der Fortsetzung dieser Unterredung mit ziemlicher Spannung entgegensah.

Dann begann Marx:

„Bevor ich mit meinem Anliegen mich offen an Sie wende, muß ich die Bitte aussprechen, mir aufrichtig zu erklären, ob Sie Dr. Mikla für schuldig halten, Herr Geheimrat.“

„Nein,“ erwiderte Gotein mit Überzeugung. „Ich habe heute sogar schon versucht, seine Freilassung gegen eine Kaution, die ich in jeder beliebigen Höhe hinterlegen wollte, zu erwirken – leider vergeblich.“

„Sehr gut. Unter diesen Umständen darf ich mich Ihnen also rückhaltlos anvertrauen.“

Dann berichtete er alles, was ihm wichtig erschien, erzählte, daß Baron von Gaulen ihn mit den Nachforschungen im Interesse Miklas betraut, in welcher Weise er seine Tätigkeit begonnen und welchen Erfolg er endlich heute Abend durch die Brieffalle errungen habe.

Als er nun eine Pause machte, erhob sich Gotein, bat um einen Augenblick Entschuldigung und klingelte nach dem Diener.

„Was trinken Sie, – Rotwein, Mosel, Burgunder?“ fragte er. „Ich denke, bei einem guten Tropfen verhandelt es sich angenehmer.“

Diese Liebenswürdigkeit war Marx mehr wert als eine wortreiche Anerkennung seiner bisherigen Leistungen. –

Bei einer vorzüglichen Zigarre und einem Glase weißen Burgunders wurde die Unterredung fortgesetzt.

Marx ließ sich nun von Gotein ganz eingehend die Ereignisse des vergangenen Abends schildern, streute eine Unmenge Fragen ein und schrieb sich die Namen sämtlicher Gäste nebst den Adressen, soweit diese dem Geheimrat bekannt waren, auf. Nur drei Adressen fehlten, die des Regierungsassessors v. Linsing und der Brüder Ribeira.

„Die Visitenkarten dieser Herren dürften im Salon in der Schale liegen,“ meinte der Geheimrat. „Soll ich sie holen?“

„Wenn ich bitten dürfte …“

Als Gotein nach wenigen Minuten mit den Karten zurückkehrte, sah Marx sich die Adressen mit offenbarer Spannung an, machte dann aber ein etwas enttäuschtes Gesicht, sagte jedoch nichts, sondern schrieb die Adressen ebenfalls in sein Notizbuch ein.

Dann wandte er sich wieder an den Geheimrat und fragte, ob dieser ihm vielleicht angeben könne, wer gestern Abend nach aufgehobener Tafel das Gespräch auf Perlen und deren Neigung zum Erlöschen gebracht habe.

Gotein vermochte hierüber keine Auskunft zu geben.

„Ich war im Speisezimmer, als dieses Thema behandelt wurde,“ erklärte er. „Aber meine Frau und meine Tochter können Ihnen vielleicht diese Frage beantworten.“

Marx blickte unschlüssig vor sich hin.

„Ihre Frau Gemahlin möchte ich lieber aus dem Spiel lassen,“ meinte er dann. „Sie haben mir ja selbst gesagt, Herr Geheimrat, daß Ihre Gattin es war, die die Polizei auf Dr. Mikla aufmerksam machte. Sie scheint ihn also nicht gerade sehr zu schätzen.“

„Stimmt! – Und deshalb wollen Sie vorsichtig sein und sie nicht mit ins Vertrauen ziehen. Vielleicht ist das ganz richtig. – Aber meine Tochter, bei der liegt die Sache anders. Soll ich sie mal herholen?“

„Hm – dürfte das nicht auffallen? Wird Ihre Frau Gemahlin dadurch nicht zu allerlei Fragen veranlaßt werden, die zu beantworten …“

„Keine Sorge! Im Damensalon tagt jetzt gerade seit neun Uhr der Vorstand des Vereins „Frauenhilfe, Sektion VI“. Meine Gattin ist also beschäftigt, und Traude dürfte in ihrem Zimmer sein.“ –

Traude Gotein nahm in einem Klubsessel Platz, wurde von ihrem Vater sehr nachdrücklich auf die Notwendigkeit strengster Verschwiegenheit – auch der Mutter gegenüber – aufmerksam gemacht und wußte dann eine ganze Menge wertvolle Einzelheiten zu berichten, um die die Polizei sich bisher nicht im geringsten gekümmert hatte.

Zum Schluß fragte Marx gar noch, ob er vielleicht das Perlenhalsband einmal sehen könne, das inzwischen von der Polizei der Geheimrätin wieder übergeben worden war.

Gotein stand schnell auf. „Ich habe es hier in meinem Schreibtisch eingeschlossen, da ich es morgen früh zu unserem Juwelier zur Reparatur des Schlosses mitnehmen wollte.“ –

Marx holte eine Lupe hervor und betrachtete die Bruchteile an dem goldenen Schieber sehr eingehend. Dann reichte er Gotein den Schmuck zurück:

„Ich weiß genug,“ meinte er. „Der elastische Schieberteil ist mit Gewalt abgebrochen worden – natürlich zu dem Zweck, damit Ihre Gattin die Perlenkette nicht wieder anlegen sollte.“ –

Der Geheimrat und Traude hätten gern noch erfahren, ob Marx nun eigentlich schon gegen eine bestimmte Person einen Verdacht hege. Dieser aber hüllte sich in Schweigen.

„Vielleicht kann ich morgen schon dieses ganze Komplott aufdecken – vielleicht …!“ sagte er achselzuckend. „Heute hier Vermutungen aussprechen, die noch völlig unbegründet in der Luft schweben, hieße den Neid der Götter heraufbeschwören. Ich bin in dieser Beziehung abergläubische.“

Und liebenswürdig lächelnd empfahl er sich.

 

8. Kapitel.

Kurz vor zehn Uhr war es, als Alexander Marx das Haus des Geheimrates verließ. In seiner Wohnung in der Potsdamer Straße, wo er sich schnell wieder in den Theologen Johannes Müller verwandelte, fand er eine Depesche des Barons vor. Dieser wollte am nächsten Morgen mit dem D-Zug von Königsberg in der Reichshauptstadt eintreffen.

Marx war dann kurz vor elf wieder in der Augsburger Straße. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, klopfte er bei dem Schriftsteller Nogowski an, einem älteren Manne, der trotz seiner guten Einnahmen sehr sparsam und ganz zurückgezogen lebte. Er bat ihn um einen Briefbogen mit Umschlag, da er einen eiligen Brief zu schreiben und selbst kein passendes Papier mehr vorrätig habe.

Sie kamen ins Plaudern, und ganz unverfänglich fragte Marx dann mit einer scherzhaften Bemerkung über die Alkoholliebhaberei des Schauspielers Gallblum, ob dieser nicht erst so gegen sechs Uhr nach Hause gekommen sei.

Der Schriftsteller erklärte, Johannes Müller tue dem Komödianten Unrecht. Gallblum sei stets Punkt zwei Uhr morgens zu Hause, und wenn der Herr Kandidat vielleicht heute morgen durch das Läuten der Flurglocke aufgewacht sei, so stimme das schon, aber nicht hinsichtlich der Stunde, da bereits um vier Uhr irgend jemand für kurze Zeit zu Frau Lange gekommen sei, wie er genau gehört habe.

Dann verabschiedete Müller sich mit einer wehmütigen Bemerkung über die Verderbtheit der Welt im allgemeinen und die traurigen Folgen der Trunksucht im besonderen. –

Am nächsten Morgen holte Johannes Müller den Baron von der Bahn ab. Die beiden Herren setzten sich nachher in eine stille Ecke des Wartesaales zweiter Klasse, wo Marx kurz über die Ereignisse der letzten Tage Bericht erstattete und dann Gaulen aufforderte zu versuchen, ob er in dem Pensionat der Schwester der Frau Lange nicht unterkommen könne.

„Ich bin nämlich überzeugt,“ meinte er, „daß dort jemand wohnt, der mit der Witwe Lange unter einer Decke steckt. Möglich ist es ja auch, daß deren Schwester, eine geschiedene Frau Gartbring, die weitere Vermittlung zwischen Miklas Feinden und der Lange besorgt. – Wenn Ihnen das Anmeldebuch vorgelegt wird, Herr Baron, so sehen Sie bitte nach, ob in der Pension vielleicht eine Person aus Südamerika wohnt. Der schenken Sie dann Ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie wissen ja nun, aus welchem Grunde.“

Eine halbe Stunde später hatte Gaulen in dem Pensionat Gartbring die vorgestern gerade freigewordenen beiden besten Zimmer vorläufig für acht Tage gemietet. Nachdem er sich von dem Reisestaub gründlich gereinigt hatte, bestellte er ein recht üppiges Frühstück.

Als das Mädchen dann das Bestellte dem Baron auf dem sauber gedeckten Tisch aufbaute, brachte sie auch gleich das Anmeldebuch mit herein.

Gaulen aß mit großem Appetit und blätterte dabei das Buch durch. Aber er fand zunächst nur ein paar Engländer und Franzosen. Immer weiter schlug er zurück. Doch sein Suchen nach einer Person aus Südamerika blieb vergeblich. Freilich trug die erste Eintragung in das Anmeldebuch ein nur ein halbes Jahr zurückliegendes Datum.

Er überlegte, ob er sich nicht auch die bereits gefüllten Anmeldebücher geben lassen solle. Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Das wäre vielleicht aufgefallen. Er wollte sein Glück auf andere Weise versuchen. –

Als das Mädchen den Tisch abräumte, reichte er ihm ein Fünfmarkstück.

„Hier – holen Sie mir doch bitte mal schnell eine Schachtel Zigaretten – Manoli zu 8 Pfg. das Stück. Die gibt es in jedem Tabakladen. Den Rest des Geldes können Sie behalten.“ –

Nachher ließ er sich mit dem auf diese Weise so etwas geköderten Stubenmädchen in ein Gespräch ein.

„Ich sehe aus dem Anmeldebuch, daß bei Ihnen auch häufig Ausländer absteigen. Wohl alles nur Touristen, die Berlin sich ansehen wollen, nicht wahr?“

„Oh nein, Herr Baron, – keineswegs. Mademoiselle Margieux, die französische Lehrerin, wohnt zum Beispiel schon ein ganzes Jahr hier. Und Frau Ribeira sogar noch länger.“

Gaulen zuckte leicht zusammen. Dann sagte er aber gleichmütig, indem er sein Monokel zu putzen begann:

„Ribeira …?! Das klingt ja so … so spanisch oder südamerikanisch.“

„Herr Baron haben ganz recht vermutet. Die Dame ist wirklich aus Südamerika.“

Gaulen lachte. „Also eine ganz internationale Gesellschaft hier. Da wird man als biederer Ostpreuße wohl gar nicht für voll angesehen – wie?!“

„Aber Herr Baron …! Deutsch bleibt deutsch! Ich stamme doch auch aus Westpreußen – aus Konitz.“

„Sieh da – dann sind wir ja Nachbarprovinzler!“ –

Jedenfalls ahnte das Mädchen nicht im entferntesten, daß man sie soeben ausgehorcht und daß der Baron sich vorgenommen hatte, ihr bei der Abreise ein recht reichliches Trinkgeld zukommen zu lassen. – –

Etwa zu derselben Zeit, als es Gaulen bei dem Namen „Ribeira“ wie ein leichter elektrischer Schlag durchzuckte, stand Herr Johannes Müller auf der hinteren Plattform einer Elektrischen, die vom Kurfürstendamm nach der Potsdamer Straße fuhr, und sog nachdenklich an einer längst ausgegangenen Zigarre. Er fühlte sich beunruhigt, und die Ursache dieser bei ihm nicht gerade häufigen Stimmung war ein alter, graubärtiger, sehr unscheinbar gekleideter Mann mit einer großen blauen Brille vor den Augen, der ihm gegenüber neben der ins Innere des Wagens führenden Tür lehnte. Der Alte hatte einen länglichen mit schwarzem Glanzleder benagelten und vielfach abgeschabten Kasten an einem Riemen wie eine Briefträgertasche über der Schulter hängen und sah wie einer jener Hausierer aus, die in den Lokalen Streichhölzer feilbieten und eigentlich doch nur Bettler sind.

Schon vorgestern war Marx diesem Menschen begegnet, das konnte kaum ein Zufall sein. Und als der Alte vorhin gleich nach ihm die Elektrische bestiegen hatte, nachdem er an der Haltestelle vor dem Kaufhaus des Westens ebenfalls wartend auf und ab gegangen war, da glaubte Marx seiner Sache sicher zu sein. Der Hausierer war ein Spion, der ihn beobachtete!

Verstohlen musterte er den Alten. Der Bart und die Runzeln im Gesicht waren ohne Zweifel echt. Nur lag in dem Gesicht ein etwas, das zu der Person eines Hausierers nicht recht paßte. Ein Zug durchgeistigten Leides neben einer gewissen vornehmen Würde. –

Marx wollte doch, wie es seine Absicht gewesen, in der Potsdamer Straße aussteigen. Dann würde es sich ja herausstellen, ob der Alte versuchte, ihm weiter auf den Fersen zu bleiben. Als die Elektrische hielt, entstand auf der Plattform ein Gedränge, da mehrere rücksichtslose neue Fahrgäste aufsprangen, ohne die anderen erst aussteigen zu lassen. Hierbei wurde Marx-Müller einmal ganz gehörig gegen eine Ecke des Hausierers Kastens gedrängt. Dann beseitigte der Schaffner durch ein paar Kraftworte die Stockung, und Marx gelangte glücklich auf den Bürgersteig.

Unwillkürlich rieb er sich die schmerzende Hüfte. Die Kastenecke hatte ihm doch einen ganz netten Puff versetzt. Da berührte seine Hand bei dieser halben Massage etwas, das ein Stück aus der Tasche seines schlichten Sommermantels herausragte – ein Papier. Und die Tasche war vorher doch leer gewesen – ganz leer …!

Es war eine Zeitung, mehrfach zusammengelegt. Und als er sie nun neugierig auseinanderschlug, fiel ihm sofort eine dick mit Rotstift umrandete Stelle in die Augen und ein ebenfalls rot unterstrichener Name … „Ribeira“.

Im Augenblick hatte er die Notiz überflogen. Dann lief er auch schon einem unbesetzten Auto entgegen. Daß der Hausierer nicht mit ausgestiegen war, darauf hatte er genau achtgegeben. Vielleicht fand er ihn noch. Nur der Alte konnte ihm ja die Zeitung zu einem bestimmten Zweck in die Tasche geschoben haben. Davon war er jetzt überzeugt.

In kurzer Zeit holte der Kraftwagen die Elektrische ein. Marx gab sich alle Mühe, den Hausierer zu entdecken. Doch der war spurlos verschwunden. Da ging Marx nicht gerade in bester Laune zu Fuß zurück. Als er sein Haus in der Potsdamer Straße betrat und langsam, in Gedanken versunken, die Treppe emporstieg, ahnte er nicht, daß der alte, graubärtige Mann auf der anderen Straßenseite in einem Flur stand und ihm aufmerksam nachblickte. –

Alexander Marx hatte sich in sein Zimmer begeben und las nun nochmals in Ruhe die rot umrandete Zeitungsnotiz durch. Vorher aber sah er sich die Zeitung selbst genauer an. Es war eine Nummer des in Caracas erscheinenden „Deutscher Kurier für die südamerikanischen Nordstaaten“ vom 16. März 19… –. Das Blatt war mithin über ein Jahr alt. –

Die Notiz lautete:

Der geheimnisvolle Tod unseres in kurzer Zeit zu so fabelhaftem Reichtum gelangten deutschen Landsmannes Iklara, des Entdeckers der Puarda-Gold- und Quecksilberminen, dürfte sich zu einer großen Sensationsaffäre aufbauschen. Wie wir aus ganz bestimmter Quelle hören, hat die geschiedene Frau Bernhard Iklaras, bekanntlich eine geborene Ribeira und eine Nichte des Präsidenten der Republik Ecuador, jetzt plötzlich das Ehescheidungsurteil angefochten, obwohl der Sachverhalt doch mehr wie klar war. Natürlich gelüstet es die etwas allzu lebenslustige Dame nach den Millionen ihres früheren Gatten, die jetzt in den Besitz eines unerwartet hier aufgetauchten Bruders des wahrscheinlich Ermordeten übergegangen sind. Es sollte uns nicht wundern, wenn die sicher der Bestechung leicht zugänglichen Behörden Columbiens der Nichte des Präsidenten der Nachbarrepublik im weitestgehendem Maße entgegenkämen. Jedenfalls dürfte unter diesen Umständen zwischen der noch immer schönen Frau Ribeira, der ihre beiden Brüder zur Seite stehen, und dem jetzigen Besitzer der Puarda-Minen ein Kampf bis aufs Messer entbrennen, bei dem wir Deutschen wieder einmal werden beobachten können, auf welchem Tiefstand sich die Rechtspflege in diesen armen, von Parteikämpfen und Günstlingswirtschaft völlig verderbten Republiken befindet.“ –

Als Marx diese Notiz vorhin Straße überflogen hatte, war es ihm gewesen, als ob eine gütige Hand ihm von den Augen eine dunkle Binde fortzog, die ihm bisher den inneren Zusammenhang der merkwürdigen Abenteuer des Doktor Mikla verhüllt hatte. –

Nachdenklich blickte er auf die gedruckten Zeilen hin. Eins war ihm noch nicht klar. Wer konnte nur der alte Hausierer sein, dem er diese Zeitung, diesen die Finsternis plötzlich erhellenden Blitzstrahl, verdankte …?! –

Draußen im Flur schrillte die Glocke des dort angebrachten Telephons.

Baron von Gaulen meldete sich.

„Ich freue mich, daß ich Sie sofort sprechen kann. Wichtige Nachrichten …! In zehn Minuten bin ich bei Ihnen. – Auf Wiedersehen.“ –

Alexander Marx läutete ab und ging dann zu seinem Vater hinüber, der eben einen Besucher abgefertigt hatte und nun allein war.

„Morgen, Vater. – Ich habe dir wieder Neues zu erzählen. Die Ereignisse überstürzten sich jetzt förmlich.“

Dann sprachen sie über die Zeitungsnotiz, und Alexander meinte zum Schluß triumphierend:

„Herbert Mikla dürfte nicht mehr lange in Haft bleiben. Wir wissen jetzt, wer die „unsichtbare Faust“ in Bewegung setzt und lenkt.“

Der Agent strich sich nachsinnend über den wohlgepflegten Spitzbart.

„Hm – ein alter Mann mit blauer Brille – der ist mir doch letztens auch irgendwo aufgefallen …“ sagte er halblaut, wie zu sich selber sprechend. „Wo nur – wo?! – Sollte denn mein Gedächtnis wirklich schon so schwach sein …? – Dann wäre es höchste Zeit, daß ich mich vom Geschäft zurückziehe – höchstens Zeit …!!“

Aber plötzlich erhob er sich jetzt mit fast jugendlicher Elastizität, schritt zum Fenster, blieb dort halb verborgen hinter der Gardine stehen und spähte auf die Straße hinaus.

 

9. Kapitel.

Als der Baron kaum fünf Minuten darauf das Zimmer betrat, traf er Marx nicht allein an. In der einen Sofaecke saß ein alter, graubärtiger Mann, der ihm sofort vorgestellt wurde.

„Die Herren gestatten, daß ich Sie miteinander bekannt mache. Herr Minenbesitzer Mikla aus Puarda, Republik Columbien, – Baron von Gaulen,“ sagte Marx mit einem Lächeln.

Der Majoratsherr zuckte überrascht zusammen.

„Höre ich recht … Herr Mikla?“

Da begann der Alte bereits zu sprechen.

„Ich bin Ihnen zu sehr großem Dank verpflichtet, Herr Baron. Soeben habe ich erfahren, in wie selbstloser Weise Sie sich meines armen Sohnes angenommen haben.“

Er streckte dem Freunde Herberts beide Hände hin, während es in seinen Augen feucht wie von verhaltener Rührung schimmerte. Die entstellende blaue Brille hatte er abgenommen. Und jetzt sah man so recht, wie sehr Vater und Sohn trotz des großen Altersunterschiedes sich ähnlich waren.

Gaulen glaubte zu träumen.

„Sie Herberts Vater …?! – Oh, das freut mich aufrichtig!“

Die beiden Männer drücken sich kräftig die Hände. –

Dann nahmen alle drei wieder Platz, Marx sagte mit leichter Verbeugung zu dem alten Mikla:

„Wenn Sie jetzt beginnen wollten … Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ihr Sohn soll auch nicht eine Minute länger als nötig in den Händen der Polizei bleiben.“

„Es ist eine wildbewegte Geschichte, die Sie hören werden, meine Herren,“ meinte der Minenbesitzer und frühere Oberingenieur bedächtig. „Würde ich alle Einzelheiten genau erzählen, so könnte ich einen ganzen Tag sprechen. Daher will ich mich auf das absolut Notwendige beschränken. – Den Verlauf des Prozesses gegen mich wegen Landesverrats kennen Sie. Nach meiner Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren wanderte ich nach Südamerika aus, verbittert und als gebrochener Mann. Nur Herbert stand damals voll zu mir. Meine Tochter hatte sich von mir losgesagt, meine Bekannten mieden mich. Ich war ja freigesprochen … aus Mangel an Beweisen! Und das ist kein Freispruch! Das ist vielleicht die härtesten Strafe, die einen feinfühligen Menschen treffen kann. – Wo ich mir eine neue Heimat suchte, war ja gleichgültig. Da dachte ich an meinen Bruder Bernhard, der vor langen Jahren in Südamerika verschollen war. Nach ihm wollte ich suchen, weil ich immer noch nicht glauben konnte, daß er wirklich tot sei. Auf diese Weise hatte ich doch wenigstens zunächst ein Ziel vor Augen. Freilich – ich verfügte nur über sehr bescheidene Geldmittel, hoffte aber, als Ingenieur bald eine Anstellung zu finden. –

Die letzte Nachricht von meinem Bruder war aus dem Städtchen Racuna in Ecuador gekommen, in dessen Nähe er eine Farm besaß. Dorthin lenkte ich also zunächst meine Schritte. Racuna ist nun ein elendes Nest von einigen achthundert Einwohnern, liegt mitten in der Wildnis und besitzt nur alle vierzehn Tage Postverbindung mit der nächsten Stadt. Meine Unkenntnis der Landessprache erschwerte mir den Nachforschungen außerordentlich. Schließlich gab ich die Sache auf und kehrte nach Quito zurück, wo ich inzwischen den deutschen Konsul ersucht hatte, mir seine Hilfe angedeihen zu lassen. Aber auch er vermochte nichts zu erfahren, und so sah ich mich denn nach einer Anstellung um, die ich schließlich auch fand und zwar in einem Erzbergwerk in der Nähe des Städtchens Santa Prenella dicht an der brasilianischen Grenze. Vor der Abreise in das Innere schrieb ich Herbert noch aus Quito einen ausführlichen Brief. Unter den Angestellten des Bergwerks befand sich noch ein zweiter deutscher namens Richter, an den ich mich sofort näher anschloß. Eines Tages sprachen wir über die neuen Goldfunde in der Nachbarrepublik Columbien, und dabei erzählte Richter mir von einem Landsmann, der dort vor zwei Jahren als einfacher Goldgräber durch einen Zufall einen gold- und quecksilberhaltigen Bergrücken entdeckt habe und jetzt bereits auf einige zwanzig Millionen Vermögen geschätzt werde, da besonders das edle Metall in der Puarda-Mine in starken, leicht abzubauenden Adern von geradezu märchenhaftem Wert vorkomme. Den Namen dieses Glückspilzes gab er mit Iklara an. Genaueres über dessen Person wußte er nicht. Zwei Tage später brachte er mir dann eine Nummer der in Caracas erscheinenden deutschen Zeitung. Ich merke ihm gleich an, daß er sehr aufgeregt war. Ich hatte ihm erklärt, daß mein seiner Zeit nach Brasilien ausgewanderter Bruder Bernhard verschollen sei, und jetzt zeigt er mir in dem Blatt einen langen Aufsatz, der über die Puarda-Mine handelte. Darin stand unter anderem, daß der Besitzer dieser Mineralschätze mit richtigem Namen Mikla heiße. – Drei Tage später schon hatten Richter und ich unsere Kontrakte mit der Bergwerksgesellschaft gelöst, uns Pferde und Waffen besorgt und den Ritt nach dem neuen entstandenen Städtchen Puardo in Columbien angetreten. Dieses lag in den Ostausläufern der Kordilleren weit ab von jeder Kultur und war nur auf schwierigen Gebirgspfaden zu erreichen. Nach elf Tagen strengem Ritt kamen wir in Puarda an, einer richtigen Minenstadt, deren Häuser wie Pilze aus der Erde herausgewachsen waren und in der ein Leben und Treiben wie auf einem immerwährenden Jahrmarkt herrschte. Schon von weitem war meinem Begleiter und mir ein außerhalb der Stadt gelegenes, größeres Gebäude aufgefallen, das inmitten eines kleinen Wäldchens sich erhob. Ich ahnte, daß ich dort meinen Bruder wiederfinden würde. Und so war es auch. – Bernhard, nur noch eine verwitterte Ruine, erkannte mich sofort, als ich kaum sein Zimmer betreten hatte. Er schloß mich fest in seine Arme und vergoß Tränen der Freude. Gleich am ersten Abend erzählte er mir dann die Geschichte seiner letzten Lebensjahre. – Mit der Farm in Racuna in Ecuador wollte es nicht recht vorwärts gehen. So verkaufte er sie denn und schloß sich einigen Goldsuchern an, die auf gut Glück die Kordilleren durchstreifen wollten. Aber bereits nach einem Monat wurde der Trupp von Indianern überfallen und bis auf meinen Bruder niedergemetzelt. Ihn selbst schleppten die Wilden mit sich in die endlosen Steppen Westbrasiliens, wo er viele Jahre als Gefangener unter ihnen lebte. – Und dann ereignete sich etwas, das wirklich nur als Satyrspiel des Schicksals zu bezeichnen ist. Die Indianer unternahmen einen Beutezug nach Ecuador hinein, und Bernhard mußte sie begleiten. Seine bisherigen Fluchtversuche waren sämtlich fehlgeschlagen. Nun aber sollte ihm doch endlich die Stunde der Befreiung schlagen. Die Indianer stießen überraschend auf eine größere Jagdgesellschaft, die der Präsident von Ecuador ausgerüstet hatte. An dem sich entspinnenden Kampfe beteilige sich in hervorragender Weise auch eine junge Dame, eine Nichte des Präsidenten, und sie war es, die mit sicherer Hand zwei Indianer niederschoß, von denen mein Bruder unfehlbar getötet worden wäre, da die Wilden ihn nicht lebend den Weißen überlassen wollten. – Bernhard, der an dem Goldsucherleben Geschmack gefunden hatte, auch für ein geregeltes Dasein nach den abenteuerlichen Jahren unter den Indianern nicht mehr recht sich eignete, zog bald nach seiner Befreiung abermals in die Berge, dieses Mal aber allein und nur begleitet von zwei starken Hunden, die seine Retterin Juanita Ribeira ihm schenkte, der gegenüber er sich Iklara genannt hatte, da er von den Wilden stets mit diesem Namen angeredet worden war. Dann entdeckte er eines Tages auf columbianischem Gebiet die überaus reichen Gold- und Quecksilberadern. Und das kam so. Er hatte einen Berghasen geschossen, den man im Columbien „Puarda“ nennt, und das schlecht getroffene Tier war in eine Felsspalte gestürzt, in der eine kräftige Quelle entsprang. Bernhard kletterte hinab, um die Jagdbeute zu holen, und … sah auf dem Grunde der Spalte neben dem toten Hasen, bespült von den Wassern der Quelle, überall Goldkörner in allen Größen umherliegen. Als er dann den Abbau der Adern in Angriff nahm, nachdem er das ganze Gebiet in weitem Umfang käuflich erworben und so am besten seine Anrechte gesichert hatte, ist eine Geschichte für sich. Natürlich verbreitete sich die Kunde von der neuen Mine sehr schnell auch in den Nachbarrepubliken. Der Name Iklara war in aller Munde, und so erfuhr auch Juanita Ribeira von dem Glück des Mannes, der ihr sein Leben verdankte. Mit Glücksgütern keineswegs allzu reich gesegnet, dabei eitel, genußsüchtig und gewissenlos, beschloß sie sofort, sich an meinen Bruder heranzudrängen und ihn für sich einzufangen. Dies gelang ihr wirklich, und Bernhard heiratete sie. Doch der Rausch sollte nur zu schnell verfliegen. Bald hatte er sichere Beweise, daß sie ihn betrog. Nun erst gingen ihm die Augen auf, und er erkannte, welche Torheit er begangen hatte. Nach einer furchtbaren Szene, bei der die beiden Brüder Juanitas, Bernhard sogar mit der Waffe in der Hand bedrohten, warf er die ganze Schmarotzergesellschaft zum Hause hinaus und leitete die Scheidungsklage ein, die auch Erfolg hatte. Juanita wurde als allein schuldiger Teil erklärt und mußte sogar den Namen Iklara, den mein Bruder noch immer führte, ablegen. – Wenige Wochen später traf ich dann in Puarda ein. Und wieder einen Monat darauf fanden wir Bernhard eines Tages erschossen in seinem Zimmer auf. Die Kugel war durch das Fenster gegangen und hatte ihn in die Schläfe getroffen, als er gerade abends gegen neun Uhr bei Lampenlicht an seinem Schreibtisch die Bücher in Ordnung brachte. Das Merkwürdige war, daß niemand einen Schuß gehört hatte, obwohl ganz in der Nähe eine Menge Arbeiter mit dem Abladen von Strauchwerk beschäftigt waren. Die tödliche Kugel wurde bei der Sektion gefunden. Sie hat eine seltsame Form, ebenso wie eine zweite, die mir galt, aber ihr Ziel verfehlt. Bei der gerichtlichen Untersuchung kam natürlich nichts heraus. Inzwischen hatte ich, da Bernhard mich zu seinen alleinigen Erben testamentarisch bestimmt hatte, die Mine übernommen. Jetzt überstürzten sich die Ereignisse förmlich. Kurz in der hintereinander wurden drei Mordanschläge auf mich gemacht, denen ich nur entging, weil ich stets die beiden Hunde meines Bruders bei mir hatte. Mein Landsmann Richter riet mir unter diesen Umständen dringend, heimlich für längere Zeit zu verreisen. Ich sah selbst ein, daß er recht hatte und ich in Columbien meines Lebens nicht sicher war. Mittlerweile hatte Juanita Ribeira das Ehescheidungsurteil und dann auch das Testament Bernhards angefochten. Ich merkte, wie ich rings von Feinden umgeben war, die dem Ausländer die Reichtümer des südamerikanischen Bodens nicht gönnten. So gab ich denn Richter umfassende Vollmachten, nahm nahezu eine Million in englischen Wertpapiere mit mir und schiffte mich bei Nacht und Nebel in der nächsten Hafenstadt nach Europa ein. Auf dem französischen Dampfer, den ich benutzte, versuchte ein Mulatte abermals, mich meuchlings zu ermorden. Mit Schrecken wurde mir klar, welch’ weitverzweigtes Komplott bereits gegen mich angestiftet war. Und als ich in London zwei Wochen später aus einem Bankgeschäft heraustrat, wo ich einen Teil meiner Wertpapiere zu Bargeld gemacht hatte, sah ich auf der anderen Straßenseite Alonso Ribeira, den jüngeren der Brüder, hinter einem Wagen versteckt stehen. Ich floh noch an demselben Tage weiter nach Deutschland, wandte alle möglichen Listen an, um die Verfolger von meiner Spur abzulenken. Es gelang mir nicht. In Bremen stand ich abends am geöffneten Fenster meines Hotelzimmers, als dicht an meinem Ohr eine Kugel vorbeizischte und hinter mir in die Tür einschlug. Einen Knall hatte ich nicht gehört. Ich schnitt das Geschoß heraus und behielt es. Anzeige erstattete ich nicht, da ich sonst längere Zeit in Bremen hätte bleiben müssen. Dann sah ich eines Tages Juanita in Berlin auf der Straße wieder, ebenso ihre Brüder. Nur abends ging ich jetzt noch aus, jeden Augenblick einen neuen Mordanschlag befürchtend. Als sich jedoch nichts ereignete, was meinem Mißtrauen neue Nahrung gab, wagte ich mich wieder heraus aus meiner billigen Stube, in der ich nun schon über ein Jahr unter dem Namen Behrend hause. Fast täglich strich ich nun in der Augsburger Straße herum, suchte zu ergründen, ob die Ribeiras etwa gegen meinen Sohn Ernstliches im Schilde führten. Da fielen Sie mir auf, Herr Marx, weil Sie Herbert häufig nachschlichen und weil ich Sie auch die anderen Mieter jener Frau Lange beobachten sah. Bald kannte ich auch Ihre Wohnung hier und Ihren wahren Beruf. Ich glaubte zunächst bestimmt, daß sie mit den Ribeiras unter einer Decke steckten. Nun kam Herberts Verhaftung. Ich las davon in der Zeitung. Wahnsinnige Angst packte mich, daß meine Feinde es fertig bringen könnten, ihn zu verderben. Da wagte ich heute einen entscheidenden Schlag. Ich wollte Sie auf die Probe stellen, ob Sie wirklich im Solde der Ribeiras standen. In letzter Zeit waren in mir in dieser Hinsicht doch verschiedene Bedenken aufgestiegen. Ich steckte Ihnen auf der Elektrischen die Zeitung zu und wollte nun Ihr ferneres Verhalten genau kontrollieren, um daraus meine Schlüsse ziehen zu können. Ich ahnte ja nicht, daß auch Sie schon auf mich aufmerksam geworden waren. Dann standen wir uns gegenüber, dort unten auf der Straße – Auge in Auge. Ich glaubte Ihnen, weil in Ihrem Blick Ehrlichkeit und Mitgefühl lagen. – – So, meine Herren, dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.“

Stumm drückten der Baron und Marx dem alten Herrn die Hand.

„Zeigen Sie mir bitte die beiden Kugeln,“ bat Marx dann.

Der Minenbesitzer trug sie in einem Schächtelchen bei sich, jede sauber in Seidenpapier eingewickelt.

Marx nahm ein Vergrößerungsglas und beschaute sie sich am Fenster sehr eingehend.

„Diese beiden Geschosse stammen aus einem Luftgewehr amerikanischer Herstellungsart,“ erklärte er dann kurz. „Ich habe eine solche Waffe schon einmal in der Hand gehabt.“ –

Und dann fügte er hinzu, indem er das Schächtelchen in die Tasche schob: „Ich glaube, wir werden diese Luftbüchse bei einem der Brüder Ribeira oder vielleicht auch bei Juanita finden. Das würde zur Überführung genügen. – So, meine Herren, und jetzt – auf nach dem Polizeipräsidium. Kommissar Loebius wird heute Überraschungen erleben, wie er sie noch nicht durchgemacht hat. Unterwegs im Auto besprechen wir das Nötige.“

 

10. Kapitel.

Das Dienstzimmer Loebius’ hatte Vormittagssonne. An diesem klaren, fast schon an den Juni gemahnenden warmen Tage ausgangs April flutete der helle Schein des Tagesgestirns gegen die zugezogenen Vorhänge.

Drei Personen saßen in dem Zimmer: der Kommissar, der Protokollführer und Dr. Mikla.

Loebius, der inzwischen über den Doktor Erkundigungen eingezogen und dabei eigentlich nur Gutes vernommen hatte, war in seinem Urteil über den Untersuchungsgefangenen doch wieder schwankend geworden. Er gehörte durchaus nicht zu jener Art von Kriminalbeamten, die jedem Verdächtigen sofort aus Diensteifer mit einer vorgefaßten Meinung entgegentreten. Auch das energische Eintreten Goteins für den Hauslehrer gab ihm sehr zu denken. Der Geheimrat kannte diesen Mikla doch ohne Frage weit besser als er selbst. Und Menschenkenntnis besaßen diese Börsenfürsten doch sämtlich, sogar sehr gute Menschenkenntnis! –

Freilich – da war nun wieder dieser geheimnisvolle Brief … Der schien durchaus nicht harmlos. –

Na, er würde ja sehen, was der Doktor zu diesem Schreiben sagte … –

„Herr Doktor, Ihre Wirtin, die Witwe Lange, hat mir einen Brief übergeben, der für Sie inzwischen eingetroffen war. Das Schreiben kommt aus Paris. Hier ist es. – Bitte, nehmen Sie es nur in Augenschein. – Sie sehen, es handelt sich dabei um eine Mitteilung an Sie in Chiffreschrift. Ich würde Ihnen nun wirklich in Ihrem Interesse raten, ganz ehrlich zu sein. Jede Geheimschrift läßt sich enträtseln. Für diesen Zweck haben wir besondere Angestellte, die darauf eingeübt sind. – Also – von wem ist der Brief?“

„Das weiß ich tatsächlich nicht. Ich stehe mit niemandem in Paris im Briefwechsel – eigentlich überhaupt mit niemandem in der ganzen Welt!“ sagt Mikla mit einiger Bitterkeit. „Übrigens halte ich dieses Schreiben lediglich für einen neuen Angriff meiner Widersacher, Herr Kommissar. Mir scheint zum Beispiel, daß die Adresse auf dem Umschlag erst eine andere gewesen ist. Die alte hat man wegradiert, und eine neue mit Maschine darüber geschrieben.“

„Sehr richtig beobachtet. Das ist mir auch schon aufgefallen! – Hm, ja – eine schlimme Sache, dieser ganze Diebstahl, Herr Doktor. Ich möchte Ihnen doch auch nicht gerade gern Unrecht tun. Sie machen einen so grundsoliden Eindruck …, wirklich! – Können Sie mir denn gar nichts angeben, was uns auf die Spur Ihrer Feinde führen könnte …?“

Mikla wollte antworten. Da klopfte es. Ein Beamter erschien und überreichte Loebius eine Visitenkarte:

Alexander Marx, Privatdetektiv

Sehr eilig! Ich bringe die Aufklärung im Falle Gotein-Mikla

Ungläubig starrte der Kommissar auf das weiße Papptäfelchen, das so kurz so außerordentlich viel versprach.

„Bitte – der Herr mag eintreten.“

Dem Namen nach kannte Loebius diesen Detektiv schon. Er wußte, daß Marx sich nie auf faule Geschichten einließ. So empfing er ihn denn sehr liebenswürdig und runzelte nur etwas die Stirn, als Marx, nachdem er ihn begrüßt hatte, gleich mit größter Selbstverständlichkeit dem Doktor die Hand reichte und sagte:

„Das trifft sich sehr gut, daß Sie gerade hier sind, mein lieber Herr Doktor. Alle Not hat nun ein Ende! Die Stunde der Befreiung ist da!“

„Gestatten Sie, Herr Marx,“ meinte Loebius dienstlich. „Eine Unterhaltung mit …“

„… einem Unschuldigen, dem Sie gleich selbst zu seiner Freilassung gratulieren werden, ist wohl weiter kein Verbrechen. – Doch Sie gestatten, daß ich Platz nehme. – So, und nun will ich Ihnen mitteilen, wer das Perlenkollier entwendet und wer es dann in den Wintermantel hineinpraktiziert hat. – Unter den Gästen des Geheimrats Gotein befanden sich an jenem Abend auch zwei Südamerikaner, zwei Brüder Ribeira, Angehörige der Republik Ecuador. Alonso Ribeira war es, der das Gespräch auf Perlen brachte. Sein Bruder Antonio wieder ließ sich über das Erblinden von Perlen aus, nachdem er ohne Zweifel gesehen hatte, daß in der Halskette der Geheimrätin eine Perle glanzlos war. So erreichten sie es, daß das Kollier von Hand zu Hand wanderte, und einer von ihnen so Gelegenheit hatte, den elastischen Teil des Schiebers abzubrechen, so daß Frau Gotein den Schmuck nicht wieder umlegen konnte. Sie rechneten darauf, daß die Geheimrätin das beschädigte Halsband nicht gleich wieder wegschließen würde, und diese Vermutung traf ja auch zu. Dann stahl es einer der Brüder aus der Truhe und verbarg es so gut an seinem Körper, daß es nachher bei der allerdings nur flüchtigen Durchsuchung nicht gefunden wurde. Nachher begab er gibt sich in das Pensionat Gartbring in der Nürnberger Straße, ließ hier seine Schwester, die dort wohnende Frau Juanita Ribeira, geschiedene Mikla – letzteres betone ich besonders! – wecken, und diese eilte nun mit dem Kollier zu Doktor Miklas Wirtin, die die Helfershelferin der Ribeiras ist, und ließ durch diese den Schmuck in dem Mantel unterbringen. – So oder doch ungefähr so muß sich die Sache abgespielt haben.“

„Und die Beweise für diese Annahme?“ fragte Loebius gespannt.

„Erstens die Aussage des Fräulein Traude Gotein. Sie wird bekunden, daß die Brüder Ribeira das Perlenthema anschnitten und sehr geschickt soweit fortsetzten, bis Frau Gotein die Perlenkette abnahm und herumreichte. – Ferner mein eigenes Zeugnis, das sich hauptsächlich um jenen Brief drehen wird, den Sie da vor sich liegen haben, Herr Kommissar. Der Brief ist nämlich meine eigene Erfindung – eine Brieffalle! Doch das muß ich Ihnen genauer erklären.“

Und er tat’s, – so ausführlich, so überzeugend, daß Loebius, als der Detektiv mit seinem Bericht über diesen Teil seiner erfolgreichen Tätigkeit fertig war, anerkennen ausrief:

„Wer hätte das geahnt!! Das haben sie glänzend gemacht, Herr Marx!“

„Oh – es kommt noch besser! – Baron von Gaulen, der Freund Doktor Miklas, der mich mit all diesen Nachforschungen beauftragt hat, wohnt jetzt in der Pension Gartbring. Daher wissen wir, daß auch Juanita Ribeira dort seit einem Jahre etwa haust. Und dorthin hat auch Frau Lange die schnell angefertigte Abschrift des famosen Geheimschreibens gebracht, das den Ribeiras sicher noch jetzt böses Kopfzerbrechen bereitet, da selbst der geschickteste Gelehrte es nicht zu enträtseln vermag.“

Marx machte eine kleine Pause.

„So – und nun soll Ihnen ein anderer Herr erzählen, weshalb die Ribeiras den armen Doktor in so hartnäckiger Weise verfolgt haben und wer Herbert Mikla die Briefumschläge mit dem Gelde zugesteckt hat. Dieser Herr ist kein anderer als der Vater unseres Doktors. Und Baron von Gaulen wartet draußen ebenfalls.“ –

Vater und Sohn lagen sich in den Armen. Loebius’ wurden die Augen feucht, und Marx und Gaulen betrachteten eingehend eine an der Wand hängende Karte von Europa. –

Dann gab der Minenbesitzer seine Aussagen zu Protokoll, kurz und knapp, nur das Wichtigste herausgreifend. Auch eine Menge Papiere legte er vor, die seine Person genügend legitimierten.

Nun war der letzte Satz zu Papier gebracht, und das ganze wurde verlesen.

„Ein Roman ist’s, ein ganzer Roman!“ meinte der Kommissar, erhob sich dann und reichte Herbert Mikla und dessen Vater die Hand.

„Ich gratuliere herzlichst, meine Herren! – Ihnen, Herr Doktor, habe ich viel abzubitten, – irren ist menschlich!“ –

Loebius schickte jetzt nach seinem Vorgesetzten, dem Polizeirat Borchard. Es folgte eine kurze Beratung, die damit endete, daß sofort Kriminalbeamte ausgesandt wurden, die die Ribeiras, Frau Lange und deren Schwester verhaften sollten. –

Herbert Mikla war frei und alle vier – Vater, Sohn, der Majoratsbesitzer und Marx, begaben sich in ein Weinrestaurant, um den Sieg gebührend zu feiern. Darauf hatte Gaulen bestanden.

Bis fünf Uhr nachmittags saßen sie hier zusammen. Dann trennte man sich vorläufig.

Marx und der Baron fuhren im Auto nach der Pension Gartbring. Der Detektiv wollte zusehen, ob Juanita bereits hinter Schloß und Riegel saß.

Sie trafen gerade zur rechten Zeit ein. Frau Ribeira war soeben erst nach Hause gekommen, und gleich darauf erschienen drei Beamte, die sie und Frau Gartbring verhafteten und dann sofort bei der verführerischen Juanita Haussuchung abhielten.

Marx, der einen der Kriminalschutzleute persönlich kannte, half hierbei.

Bleich, aber gefaßt sah das schöne Weib zu, wie ihre Koffer, Schränke und Schubladen durchwühlt wurden.

Marx prüfte eben durch Anheben das Gewicht eines leeren Riesenrohrplattenkoffers, dessen Inhalt jetzt auf dem Teppich lag. Da sah er, wie Juanitas Augen sich in leisem Schreck etwas weiteten und ihr Blick starr wurde.

Der Koffer kam ihm außerdem auch etwa schwer vor. Ohne sich zu überhasten, nahm er nun einen Stock und begannen die äußere und innere Höhe des Riesenmöbels abzumessen.

Plötzlich fuhr das Weib wie eine wildgewordene Katze auf ihn los und suchte ihn von dem Koffer fortzudrängen. Aber etwas unsanft drückte man sie wieder auf ihren Stuhl zurück. –

Der Koffer hatte einen doppelten Boden. Und in diesem acht Zentimeter hohen Versteck fand man in Tücher gewickelt … eine amerikanische Windbüchse von jener Konstruktion, deren Durchschlagskraft hinter einem gewöhnlichen Gewehr kaum zurücksteht. –

Juanita Ribeira sah mit einem Mal ganz alt und verfallen aus. Ihre Widerstandskraft war gebrochen, und ihre feige Seele suchte nachher durch ein offenes, ihre Brüder schwer belastendes Geständnis zu retten, was zu retten war.

Alles kam nun an den Tag, – daß die Ribeiras alle aus Columbien von Herberts Vater an den Doktor abgeschickten Briefe hatten verschwinden lassen, daß Alfonso Bernhard Mikla ermordet und die Anschläge auf dessen Erben veranlaßt, ebenso wie er auch die Nachstellungen gegen Herbert eingeleitet hatte, um diesen … zum Selbstmord zu treiben. Bei alledem waren die Brüder mit einer Raffiniertheit vorgegangen, die sie zu besonders gefährlichen Verbrechern stempelte. Geld war es gewesen, durch daß sie die Kreaturen gewannen, die ihnen bei diesem feinen Ränkespiel halfen, wie die Lange, deren Schwester und noch andere Personen, denen leider nachher vor Gericht nicht viel anzuhaben war.

Dafür erging es aber den drei Ribeiras desto übler. Sie wanderten für lange Jahre ins Zuchthaus.

Alexander Marx hatte noch nie einen so einträglichen Fall unter seinen geschickten Händen gehabt wie diesen. Die Belohnung, die Herberts Vater ihm zukommen ließ, war fürstlich. Er hatte sie ja auch verdient. –

Der alte Mikla wollte von Südamerika nicht mehr wissen. Er verkaufte die Puarda-Minen an eine deutsche Gesellschaft unter der Bedingung, daß sein Vertrauter und Landsmann Richter Generaldirektor blieb.

Mit Herberts Hauslehrertätigkeit war es nun natürlich vorbei. Trotzdem verkehrte er weiter in dem Haus der Goteins.

Jeder Makel war jetzt von ihm genommen. Und aus Traude und ihm wurde wenige Monate später ein glückliches Brautpaar.

Alle, die unter der „unsichtbaren Faust“ mitgelitten und von ihr in ein wildbewegtes, geheimnisvolles Drama mit hineinverwickelt waren, konnten mit dem Ausgang dieser halben Gespenster-Tragödie voll zufrieden sein – nur einer nicht: Herberts Vater. Seine Hoffnung, daß der Landesverratsprozeß, der ihn seiner Zeit so schwer getroffen und aus der Heimat vertrieben hatte, vielleicht auch neu aufgegriffen und völlig geklärt werden würde, erfüllte sich nicht. Aber er kam auch darüber hinweg.

Das Glück seines Sohnes, den die Liebe neuen Frohsinn und heiteren Lebensmut geschenkt hatte, entschädigte ihn reichlich für diese Enttäuschung.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hintere Freitreppe.
  2. Siehe hierzu auch die Erzählung Die Geschichte zweier Perlenschnüre von W. K.