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Der Kalifornier

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 317

 

Der Kalifornier.

 

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

In Kalifornien.

Karl Merker ging mit seinen schlendrigen, schlaffen Schritten, die Hände tief in die Taschen seiner abgeschabten wildledernen Beinkleider vergraben, in dem großen, graugetünchten Zimmer auf und ab. Den Kopf hielt er tief gesenkt, die Augen auf den gescheuerten Fußboden gerichtet.

Dann blieb er mit einem Male vor Ruben Galvester stehen, hob den Kopf ein wenig und schaute den gerissensten Kaufmann von Sakramento mit seinen matten, etwas traurigen Augen fragend an.

Ruben Galvester kämmte sich mit den wohlgepflegten Fingern seiner Rechten den grauen, dünnen Vollbart. Er lächelte ein wenig überlegen und richtete sich noch höher an dem Fensterkreuz auf, an das er sich mit dem Rücken angelehnt hatte. Er war sehr groß und mager. In Sakramento nannte man ihn auf der Börse nur den „Skelett Ruben“. Dies wohl weniger seiner Hagerkeit wegen, als vielmehr weil er „Skelette machte“, wie man im gesegneten Weizenlande Kalifornien die Halsabschneider nennt, die nach schlechten Ernten die Farmbesitzer langsam durch enorme Zinsen abwürgen.

Ruben Galvester lächelte überlegen.

„Weiß der Teufel, Mann, – wenn ich nicht schon von Ihnen gehört hätte, ich würde wahrhaftig denken, es mit einem sehr, sehr harmlosen Sterblichen zu tun zu haben …! Aber ich bin vor Ihnen gewarnt worden. Sie sind anders, als es den Eindruck macht. – Wozu wollen Sie wissen, ob ich auch jetzt während des Krieges mit Deutschland im Scheckverkehr stehe und …“

Karl Merker unterbrach ihn. Er sprach das Englische mit jenen besonderen Nasallauten, wie die alteingesessenen Kalifornier, deren Blut stark mit dem der hier heimischen Indianerstämme vermischt ist, es zu tun pflegen.

„Wenn ich nicht schon von Ihnen gehört hätte,“ wiederholte er Ruben Galvesters Worte, „so würde ich denken, Sie wären wirklich dumm genug, achtzig Meilen weit mit Eisenbahn und Postkutsche zurückzulegen, ohne den Geruch eines fetten Geschäftes in der Nase zu haben. – Ich hatte Ihnen nur telegraphiert, ich möchte Sie „bald“ sprechen, ohne sonst was zu erwähnen, und Sie kamen nicht „bald“, sondern sofort, ohne zurück zudepeschieren, was denn eigentlich los sei. Mithin ahnen Sie etwas. Haben Sie vielleicht ausspioniert, daß ich mir in Sakramento eine Wohnung gemietet habe und sie mir ausmöblieren lasse – he? Und haben Sie alter Fuchs daraus Ihre Schlüsse gezogen, – he?!“

Ruben Galvester war sechzig Jahre zumeist in Unehren bei Skelett-Geschäften grau geworden. Aber so deutlich hatte er noch nie das Gefühl gehabt, sich einem gleichwertigen oder vielleicht gar stärkeren Gegner gegenüber zu sehen.

Und ausgerechnet dieser äußerlich so schlafmützige Deutsche – ausgerechnet der …!!

Karl Merkers glattrasiertes, braunes Gesicht mit den buschigen Augenbrauen, die die grauen, müden Augen noch tiefer in den Kopf zurückzudrängen schienen, hatte sich unmerklich zu einem Anflug von höhnischem Grinsen verzogen.

Bevor der Farmen-Würger noch etwas erwidern konnte, fuhr er fort:

„Wir könnten zusammen eine große Sache machen, wenn ein Scheck über eine Viertelmillion Dollar, der Ihre Unterschrift trägt, drüben in Deutschland von einer sicheren Bank angenommen wird.“

Galvester zog die spitze Nase wie ein Skunk kraus, der den Bau einer Wühlmaus wittert.

„Viertelmillion – hm – Sie taxieren mich sehr gering ein. Die Deutsche Bank zahlt für Ruben Galvester täglich das Fünffache, wenn’s sein muß.“

„Auch jetzt, wo die Vereinigten Staaten so neutral gegenüber Deutschland sind, daß es hier im Lande überall wie in einer englischen Riesenmunitionsfabrik aussieht?“

„Auch jetzt – so wahr ich vor fünfundvierzig Jahren noch reisender Zahnarzt gewesen bin!“

„Gut. Dann her mit einem Scheck über die Viertelmillion. Der Advokat Skorfs ist seit gestern hier und wetzt schon die Feder zum Aufsetzen des Kaufvertrages.“

Ruben Galvesters kleine Augen wurden starr, die Nase noch krauser.

„Ihre Farm?“ fragte er kurz.

Der Deutschamerikaner nickte.

„Ich habe zehn Jahre hier geschuftet. Nun will ich mich ausruhen, nach Sakramento ziehen und den Rentier spielen. Daher auch die Wohnung.“

„Dacht’ ich’s doch! – Aber – wozu der Scheck für Deutschland? Begreif’ ich nicht!“

„Glaub’s gern! – Habe drüben Schulden hinterlassen, als ich vor dreizehn Jahren über den großen Teich kam, – Riesenschulden. Mit Zinsen sind’s jetzt genau 250000 Dollar geworden. Und die müssen bezahlt werden.“ Der Kalifornier log wie ein Künstler.

„Müssen …?!“

„Ja – nach deutschen Begriffen! Eher könnte ich mein sonstiges Geld nicht in Ruhe verbrauchen.“

Ruben Galvester zog den breiten Mund nach unten.

„Also nicht „müssen“!“

„Nach Euren Begriffen nicht! – Doch genug davon. Soll ich Skorfs rufen?“

„180000 Dollar,“ sagte Galvester zögernd.

Da zog Karl Merker seine Brieftasche hervor und reichte Skelett-Ruben dreihundert Dollar in Papier.

„Reisekosten und Zeitversäumnis,“ meinte er, riß ein Fenster auf und brüllte einem auf dem Hofe herumlungernden Neger zu:

„Anspannen den Wagen für Master Galvester!“

Galvester begann zu fluchen.

„Ihr seid. – Ihr seid …“ Aber er fand so schnell keine passende Bezeichnung.

Der Deutschamerikaner stampfte schon wieder schwer in der Stube auf und ab, die Hände in den Taschen.

Galvester fluchte wieder und warf ihm dann die dreihundert Dollar zusammengeknüllt vor die Füße, ging zur Tür und brüllte nun seinerseits: „Skorfs soll kommen …!!“

Karl Merker verzog den harten Mund wieder zu einem Grinsen.

Und am nächsten Nachmittag schon verließ er die Tabberey-Farm, die ihn in zehn Jahren zum Millionär gemacht hatte. Der Abschied wurde ihm nicht schwer. Wenigstens merkte man ihm nichts an. Gefühlsäußerungen hatte noch niemand an ihm wahrgenommen.

In Sakramento bezog er die neue Wohnung. Das war am 27. Januar 1917, gerade am Geburtstag des deutschen Kaisers, den das größte Hetzblatt Kaliforniens, der „San Franzisko Standard“, nie anders als den Hunnenkaiser titulierte.

Noch an demselben Tage mietete Karl Merker eine Wirtschafterin, zwei Diener, kaufte ein Auto und ließ sich als Mitglied in den angloamerikanischen Klub aufnehmen – als erster Deutschamerikaner. Advokat Skorfs führte ihn dort ein. Die Empfehlung genügte. Und bis Mitternacht saß Karl Merker im Spielzimmer am Pokertisch, verlor kleine tausend Dollar und … schimpfte auf Deutschland – genau wie seine Mitspieler. Als er heimging, war er offenbar schwer angetrunken, hatte sich seinen neuen Frackanzug mit Whisky über und über begossen und den neuen Seidenhut total zerbeult.

Am Morgen fand der Nachtpolizist Nr. 202 in einer Gasse des verrufensten Viertels von Sakramento hinter einem Zaun einen zerbrochenen Schirm mit Silberkrücke, einen zerbeulten Seidenhut mit den Buchstaben „K. M.“ im Futter und eine große Blutlache.

Mittags gab es bereits Extrablätter. „Geheimnisvolles Verbrechen an einem Millionär!“ oder ähnlich lauteten die Überschriften.

Abends hatte der angloamerikanische Klub schon fünfhundert Dollar Belohnung für die Auffindung der Leiche seines ermordeten Mitgliedes Karl Merker ausgesetzt.

Aber auch die fünfhundert Dollar brachten den Toten nicht zum Vorschein.

Am 1. Februar wurde Skorfs als Abwesenheitspfleger für Merker vom Gericht eingesetzt. Sofort durchwühlte der Anwalt die vorhandenen Papiere. Nirgends ein Fingerzeig, wo der Verschwundene sein Vermögen deponiert hatte. An Bargeld war nur gerade so viel vorhanden, um den Hausstand einen Monat weiterführen zu können.

Skorfs und Skelett-Ruben trafen sich am 2. Februar abends im Klub.

Der Advokat hatte das Extrablatt mit der Ankündigung des deutschen uneingeschränkten U-Bootkrieges in der Hand.

„Was sagen Sie dazu, Galvester?! Deutschland muß wahrhaftig vernichtet werden – für immer! Die Munitionsaktien in New York sind um 60 gefallen.“

„Es ist meine einzige Hoffnung,“ erwiderte Ruben Galvester ernst.

„Sind Sie plötzlich übergeschnappt?!“

„Nein – nur klüger wie Ihr alle zusammen.“ Er faßte Skorfs am Rockknopf und zog ihn in eine Ecke. „Vorgestern mittag hat der portugiesische Dampfer „Donna Isabella“ Galveston verlassen und mit einer Ladung Weizen, hundert Geschützen, 200000 Granaten und dreißig Lastautos, – alles für Lissabon bestimmt. An Bord befanden sich auch einige zwanzig Passagiere. Darunter ein sehr alter, würdiger Vollblutamerikaner namens Teddy Worbster. Meine Agenten in Galveston sollten alle Passagiere von in diesen Tagen auslaufenden Dampfern heimlich knipsen. – Hier ist Teddy Worbsters vergrößertes Bild. – Finden Sie eine Ähnlichkeit heraus?“

„Verdammt – der Ermordete – er könnte es sein!“

„Er ist’s! Seine Spur führte nach Galveston. Schon am 23. Januar mittags hatten meine Leute dies festgestellt. Ich werde stets schnell bedient. Das gehört zum Geschäft. Kostet viel Geld, bringt sich aber ein. Der Scheck für Deutschland hatte mich argwöhnisch gemacht. – Nun ist Merker nach Europa unterwegs. Ich hoffe auf den Torpedo eines deutschen U-Bootes, die im übrigen die Pest holen soll. Ersäuft Master Teddy Worbster, so habe ich seine Farm umsonst. Den Scheck frißt vielleicht ein Hai oder wischt sich damit … das Maul.“

Skorfs staunte.

„Sie hätten Advokat werden sollen, Galvester!“

„Für den Beruf ist selbst mein Gewissen zu zart. – Aber halten Sie reinen Mund über die Sache, Skorfs! Kommt die „Donna Isabella“ nicht in Lissabon an – und dazu ist seit gestern sehr begründete Aussicht vorhanden, so zahle ich Ihnen fünftausend Dollar extra außer dem Betrag für den Kaufvertrag der Farm.“

„Und die Gegenleistung?“

„Sie sind Abwesenheitspfleger. Ihnen liegt es ob, nach den deutschen Verwandten Merkers nötigenfalls zu forschen. Diese Nachforschungen müssen ergebnislos bleiben.“

„Ich verstehe. Sonst hilft auch der scheckfressende Haifisch nichts. Die Verwandten könnten den Kaufpreis für die Farm nochmals einfordern. – Hm – da sind fünftausend Dollar etwas wenig. Sagen wir: fünfundzwanzigtausend Dollar.“

„Abgemacht.“

Die beiden Ehrenmänner drückten sich die Hände.

Dann sagte Skelett-Ruben:

„Die „Donna Isabella“ hat zum Glück keine Funksprucheinrichtung. Sonst wüßte sie jetzt schon etwas von dem uneingeschränkten U-Bootkrieg. Hoffentlich begegnet sie keinem Schiff, das sie warnt. Das ist meine einzige Sorge.“

Skorfs grinste sehr zuversichtlich.

„Der Kurs nach Lissabon ist wenig befahren. Wer borgt Portugal was?! Kein Mensch! Und ohne Kredit heutzutage kein Schiffsverkehr! – Kommen Sie, Galvester, trinken wir einen auf das deutsche U-Boot, das der portugiesischen Dame eine mit Schießbaumwolle gefüllte Zigarre in die Bordwand jagt …“

 

2. Kapitel.

Der Rattenkasten.

Daß die „Donna Isabella“ die portugiesische Flagge führte, war höchst überflüssig. So verwahrlost wie sie konnte höchstens noch ein italienischer Dampfer sein.

Wenn trotzdem einundzwanzig Passagiere, darunter acht Amerikaner, sieben Engländer, vier Portugiesen und zwei Spanier, diesen jämmerlichen Schlingerkahn zur Überfahrt nach Europa sich ausgesucht hatten, so lag dies nur daran, daß die Route nach Lissabon als recht sicher vor jeder U-Bootgefahr galt.

An demselben Abend, als Skorfs und Galvester auf eine glückliche Versenkung der „Donna Isabella“ in der Annahme tranken, die „deutschen Piraten“ würden nach dem 1. Februar jedes Schiff innerhalb der Sperrzone torpedieren, ohne vorher der Besatzung Gelegenheit zum Verlassen des dem Untergang geweihten Fahrzeuges zu geben, kam der Schiffsarzt die Treppe zur Brücke emporgeklettert und gesellte sich zu dem kleinen schwarzhaarigen Kapitän Alkosta, der die zweifelhafte Ehre hatte, Führer des portugiesischen Schlingerkahnes zu sein.

„Kapitän, die Geschichte mit dem alten Teddy Worbster gefällt mir nicht,“ begann er geheimnisvoll. „Ich wette, der Mann ist ein verkleideter Deutscher oder Österreicher.“

Alkosta spukte mit großer Fertigkeit in den nächsten Ventilator und erwiderte:

„Und wenn schon? Was macht das aus?“

Doktor Tissaro hob entsetzt beide Arme gen Himmel.

„Was das ausmacht …?! – Ein Feind – ein Feind …?! Ist das noch nichts?!“

„Betrachten Sie wirklich den Krieg von solchen Gesichtspunkten!“ Das klang sehr überlegen. „Ich bin jedem Deutschen z. B. besonders dankbar. Hätten wir nicht Krieg, so würde ich nie den Batzen Geld verdient haben, den ich jetzt sicher in Galvester in einer Bank untergebracht habe. Nicht etwa in der Heimat. Dort sind mir die Verhältnisse doch zu … zu unklar. Am Kriege aber sind die Deutschen, in zweiter Linie Österreich schuld. Also bin ich ihnen gegenüber zu einer gewissen Dankbarkeit verpflichtet. – Außerdem – Worbster ist ein älterer Mann, der kaum mehr für den Kriegsdienst in Betracht kommt.“

„So?! Älterer Mann?! Meinen Sie?! – Na, ich bin anderer Ansicht. Ich behaupte, er trägt eine Verkleidung. Weshalb liegt er denn schon seit der Abfahrt von Galvester krank in seiner Kabine, he?! – Doch nur, damit er sich nicht bei hellem Tageslicht zu zeigen braucht …! Und – ein Amerikaner will er sein?! Mit dieser Aussprache des Englischen?! – Unsinn!!“

Alkosta blieb stehen.

„Tissaro – vielleicht ist der Mann reich?!“ Er kniff ein Auge bedeutungsvoll zu.

Der Doktor verstand sofort.

„Also auch daraus läßt sich ein Kriegsgeschäft machen?“ fragte er.

„Natürlich! Nur muß es lohnend sein! Sonst läßt man besser die Finger davon! – Doch – kommen Sie! Fühlen wir dem Herrn etwas auf den Zahn. Sehen wir, wieviel ihm seine Freiheit wert ist.“

Master Teddy Worbster lag in seinem schmalen Kojenbett und hatte soeben mit einem Stiefel nach einer Ratte geworfen, die besonders frech war und auf den Stuhl zu gelangen suchte, auf dem das Brett mit den Resten des Abendessens stand.

An der Decke brannte trübe eine einzige, infolge Fliegenschmutzes halb erblindete Glühbirne.

Als der Kapitän und der Schiffsarzt eintraten, begann der angebliche Kranke sofort kräftig zu schimpfen.

„Ich habe das Passagiergeld für eine alleinige Kabine bezahlt! Nicht für ein Rattenloch! Dieser Dampfer ist ein ganz gemeiner Rattenkasten. Fahren Sie damit nach einem deutschen Hafen, und Sie machen mit dem Verkauf der langschwänzigen Tiere ein glänzendes Lebensmittelgeschäft. Fleisch ist knapp in Deutschland! Verstanden, Kapitän?!“

Alkosta überhörte den Witz. Dafür hörte er desto besser nun ebenfalls deutlich heraus, daß der alte Teddy Worbster das Englische wirklich sehr merkwürdig aussprach.

Doktor Tissaro gedachte jetzt die weiteren Verhandlungen mit Worbster an sich zu reißen und begann sehr kurz angebunden:

„Ich halte Sie für einen Simulanten! Sie sind nicht krank! Ich werde Sie sofort einmal genau untersuchen.“

Er beugte sich über den angeblichen Amerikaner und schaute ihm scharf ins Gesicht. Dann tat er, als wolle er ihm die Rechte flach auf die Stirn legen, wie um festzustellen, ob der Kopf des Patienten sehr heiß sei.

Plötzlich hielt er mit einem triumphierenden: „Da haben wir’s!“ eine graue, tadellos gearbeitete Perücke in der Hand.

Alkosta drängte den Schiffsarzt sehr rücksichtslos beiseite.

„Alles weitere überlassen Sie gefälligst mir, Tissaro! Ich habe in diesen Dingen schon einige Erfahrung.“ Darauf wandte er sich an Worbster, dessen Schädel einen ganz kurzen, dichten, schwarzen Haarwuchs zeigte.

„Sie sind Deutscher, leugnen Sie nicht. Es hat keinen Zweck.“

Der so Entlarvte nickte, ergeben in sein Schicksal, traurig mit dem Kopf.

„Das ist verständig von Ihnen, Mann! So gefallen Sie mir. – Also: Wer sind Sie nun eigentlich?“

„Ein Deutschamerikaner namens Karl Merker. Seit fünf Jahren bin ich amerikanischer Bürger. Jetzt treibt mich die Sehnsucht in die deutsche Heimat zurück.“

„Hm – und haben Sie’s zu etwas gebracht da drüben in den Vereinigten Staaten?“

„Ich hatte mein gutes Auskommen.“

„Ersparnisse – he, – wie steht’s damit?“

„Nicht bedeutend. Aber etwas ist es doch – etwas …“

„So so! – Wie alt?“

„Neununddreißig.“

„Also noch wehrpflichtig und -fähig. – Die Sache steht faul für Sie, Master Merker, – oberfaul! Sie werden in Portugal interniert werden.“

Die Unterhaltung war bisher in englischer Sprache geführt worden.

Jetzt mischte sich Doktor Tissaro wieder ein. Er radebrechte das Deutsche einigermaßen und wollte mit seinen Sprachkenntnissen protzen.

„Ja – interniert Sie werden in Portugal bei uns, Herr Merker, ganz bestimmt – oder – sicher ganz –; ich weiß nicht genau, wie man sagt auf Deutsch.“

Worbster-Merker sah den Schiffsarzt daraufhin recht verständnislos an und erwiderte schließlich abermals auf Englisch:

„Ich ergebe mich in mein Schicksal.“

Die Antwort paßte so ziemlich auf alles.

Dann fuhr er leiser fort:

„Ich will gerne die Hälfte meiner Ersparnisse …“

Aber Kapitän Alkosta ließ ihn den Satz nicht beenden.

„Wie – Sie wagen es, Portugiesen bestechen zu wollen …?! Das ist – das ist …!!“ Er schnappte, scheinbar in höchster Aufregung, nach Luft wie der bekannte Fisch auf dem Trockenen, vollendete dann aber – auffallend schnell sich beruhigend: „Das ist beinahe eine Frechheit! Aber eigentlich tun Sie uns leid. Wir erkennen Ihren Patriotismus an. Gerade dafür hat jeder Portugiese Verständnis! – Hm, wenn Sie – wollen sagen – fünftausend Dollar für die Kirche des Heiligen José in Lissabon stiften würden, könnte vielleicht …“

„Fünftausend – fünftausend …!!“ jammerte Worbster–Merker. „Das sind ja beinahe meine ganzen Ersparnisse! Haben Sie Erbarmen, meine Herren, – – dreitausend will ich gern zahlen.“

„Gut. Für den frommen Zweck genügen schließlich auch dreitausend,“ meinte der Kapitän. Er war sehr zufrieden. So schnell hatte sich noch keiner der von ihm an Bord der „Donna Isabella“ entlarvten Feinde schröpfen lassen.

Worbster-Merker trug sein Geld in einem großen Lederbeutel an einer Schnur um den Hals und zahlte in guten amerikanischen Noten.

Dann sagte Alkosta:

„Gut. Wir werden alles tun, um Ihnen weiterzuhelfen. Aber den Amerikaner spielen Sie lieber nicht mehr – zu Ihrer eigenen Sicherheit, falls so ein verd… englischer Kreuzer uns anhalten sollte. – Als was kann ich Sie sonst ausgeben? Welche Sprache sprechen Sie geläufig?“

„Spanisch. Ich habe auch Ausweispapiere bei mir, die auf denselben Señor Benito Armoro, Kaufmann aus Madrid, lauten, der die Überfahrt bezahlt, aber seine Kabine leer gelassen hat, tadellose Papiere, darunter einen Paß, der genau meine Personalbeschreibung enthält.“

„Sehr günstig!“ erklärte der Kapitän etwas erstaunt. „Also sind Sie in der Passagierliste sozusagen mit zwei Namen vertreten.“

Der neu auferstandene Benito Armoro nickte wieder und entfernte jetzt auch den falschen grauen Vollbart.

„Bei allen Heiligen!“ rief der Doktor da, „Sie sehen wahrhaftig wie ein echter Spanier aus! – Nun – den Kranken werden Sie ja weiterspielen müssen. Aber im übrigen sorgen wir schon dafür, daß Sie durchkommen. Nur dürfte es …“

Alkosta ärgerte sich, daß der Doktor sich hier derart vordrängte.

„Das alles ist meine Sache!“ unterbrach er ihn. „Kommen Sie, Tissaro, es darf nicht auffallen, daß wir hier so lange bei Señor Armoro weilen.“

Sie begaben sich in die Kajüte des Kapitäns.

„Teilen wir das Lösegeld,“ meinte Alkosta und schob dem Schiffsarzt tausend Dollar hin.

„Sie haben merkwürdige Begriffe von Teilen,“ brummte der Doktor. „Ich war es doch, der die ganze Sache in Fluß gebracht hat. Und nun erhalte ich ein Drittel des Raubes!!“

„Die Heiligen mögen Ihnen Ihre Begriffsstutzigkeit bewahren, Tissaro! Ich sage: wir teilen! Der dritte im Bunde ist die Kirche des Heiligen José, die doch auch nicht leer ausgehen darf. Mein Gewissen würde mir keine Ruhe lassen, wenn ich … Na – jedenfalls: ich habe ehrlich geteilt!“

„Er ist doch der größere Schuft von uns beiden,“ dachte der Doktor, steckte die Banknoten in die Tasche und … war überzeugt, daß die Kirche in Lissabon auch nicht einen Dollar von dem Geld sehen würde.

Er ging darauf in den sogenannten Salon hinab, den einzigen Gesellschaftsraum, den es auf dem veralteten Dampfer für die Passagiere gab.

Kaum war er eingetreten, als aus einer Ecke ein wahnsinniges Kreischen aus weiblichen Kehlen ertönte.

Dort hatte die Gattin des amerikanischen Generalkonsulats aus Lissabon, die eben von einem Besuche bei ihren Eltern in New Orleans zurückkehrte, mit ihren beiden Töchtern und der Erzieherin um einen runden Tisch gesessen und sich von Master Tom Wisterley, einem kalifornischen Getreidekönig Schauermärchen über Schiffsversenkungen durch deutsche U-Boote erzählen lassen.

Das jüngste Fräulein Knoxer, Edith mit Namen, war es gewesen, die die beiden Ratten unter dem Tisch zuerst entdeckt hatte.

Mit einem gellenden Schrei „Zwei Ratten!!“ und einem Satz, der einer Akrobatin alle Ehre gemacht hätte, war sie auf den Sitz ihres verstaubten Plüschsessels gesprungen und setzte hier oben ihr Angstgeheul fort, indem sie mit ihren dürren Backfischbeinen, die ein gutes Stück unter dem halblangen Kleide hervorlugten, einen wahren Indianertanz aufführte, als ob die langschwänzigen Tyrannen der „Donna Isabella“ schon nach ihren nur andeutungsweise vorhandenen Waden schnappten.

Frau Knoxer und Alice, die ältere Tochter, hatten kaum das Wort „Ratten“ gehört, als sie mit derselben Geschwindigkeit hochschossen, auf ihre Sessel sprangen und, dem Beispiel Ediths folgend, gleichfalls den reichlich angesammelten Staub aus den Polstern trampelten.

Nur Helene Webster, die Erzieherin, war sitzen geblieben, hatte blitzschnell einen schweren Porzellanaschenbecher vom Tische genommen und ihn nach den Ratten geschleudert. Der Aschenbecher ging in Scherben, die frechen Nager verschwanden unter einem Wandsofa, und … Helene Webster lachte – lachte, daß ihr ein paar Tränen über die Wangen kullerten.

Tom Wisterley tat gar nichts. Er hatte die Hände in die Beinkleidertaschen seines blauen Jackenanzuges vergraben, schaute erst mit leiser Bewunderung auf die geistesgegenwärtige Erzieherin und dann kopfschüttelnd auf die drei Knoxers, die erst aufhörten vor Angst zu kreischen, als er gelassen sagte:

„Die Ratten sind längst weg.“

„Aber sie können wiederkommen,“ jammerte die Frau Generalkonsul, unter deren einhundertundachtzig Pfund die Sprungfedern des Sessels bei jeder Bewegung leise mitkreischten.

Jetzt begannen die anwesenden Herren eine allgemeine Jagd nach dem geschwänzten Ungeziefer. Man fand unter dem Wandsofa auch etwas: Das Loch in der Wand, durch das die Ratten sich in den nebenan liegenden Speisesaal – falls dieser häßliche, niedrige Raum einen so hochtönenden Namen verdiente! – geflüchtet hatten.

Frau Knoxers Aufregung verwandelte sich jetzt, nachdem die „furchtbare Gefahr“ vorüber war, in grimme Wut gegen Helene Webster, die sich eben verstohlen die vor Lachen tränenfeuchten Wangen mit einem Tüchlein abtupfte.

Die freie, stolze Amerikanerin wurde urplötzlich zu einer reinen Megäre[1] und enthüllte so eine Seite ihres Charakters, die die arme Erzieherin schon längst kannte, die Tom Wisterley aber völlig neu war.

„Sie unverschämte Person, – Sie hergelaufene Gassenprinzessin, Sie haben es gewagt, mich auszulachen …!! Augenblicklich gehen Sie in Ihre Kabine – augen – – blicklich!! Ich kündige Ihnen hiermit zum … zum …“ sie überlegte – „zum ersten März, ja, – zum ersten März! Und ein Zeugnis sollen Sie bekommen, daß kein Sträfling Sie mehr ansieht, – Sie … Sie … undankbares Geschöpf!“

Helene Webster hatte schon manche Demütigung in den drei Monaten erfahren, die sie bei Frau Knoxer in Dienst stand. Sie wußte längst, daß dieses eitle Weib mit der oberflächlichen Bildung und dem kalten, berechnenden Herzen sie heimlich beneidete und haßte, weil dieser angeblichen „Dame“ verblühtes Gesicht neben ihrer eigenartigen, blonden Schönheit noch mehr verlor, weil Frau Knoxer sich von Helene Webster auch längst durchschaut sah, besonders was die kurzen Kleider der beiden Töchter anbetraf, die noch möglichst jugendlich wirken sollten, um der Mutter die Jahre nicht nachrechnen zu können.

Helene hatte bisher alles schweigend erduldet, hatte nur ihr großes Ziel fest im Auge gehabt. Und dieses Ziel lag drüben in Europa, in Deutschland, der Heimat ihrer Mutter.

Das jedoch, was dieses herausgeputzte Weib ihr soeben geboten hatte an rohen Schimpfworten und erniedrigender Behandlung, übertraf alles bisher Dagewesene.

Leichenblaß erhob Helene Webster sich und sagte mit zitternder Stimme:

„Ich verbitte mir ein solches Benehmen, Frau Knoxer. Ich betrachte mich von diesem Augenblick an als nicht mehr zu Ihnen gehörig.“

 

3. Kapitel.

Tom Wisterley.

Frau Knoxer lachte höhnisch auf.

„Haben Sie so etwas schon gehört, meine Damen und Herren! So etwas von Frechheit …! Ich bin so starr über die Unverfrorenheit dieser Person, daß mir die Worte fehlen, um …“

Die vornehme Frau Generalkonsul mit den Brillanten beladenen Fingern wurde hier von einer Stimme unterbrochen, die bisher jeder der Passagiere als das Muster von Gelangweiltheit und träger Gelassenheit eingeschätzt hatte.

Daß diese Stimme aber auch hart, kurz und schneidend wie der Hieb eines Schwertes sein konnte, bewies sie jetzt.

Tom Wisterley hatte seine nachlässige Haltung beibehalten. Nur in seine von einer großen Hornbrille mit runden Gläsern bewaffneten Augen war ein anderer Ausdruck getreten. Verächtlich, drohend und selbstbewußt schaute er Frau Knoxer an, während er laut und für alle Anwesenden deutlich vernehmbar sagte:

„Davon merkt man nichts, daß Ihnen die Worte fehlen! Im Gegenteil. Sie reden zu viel! Fräulein Webster ist von Ihnen in unerhörter Weise beleidigt worden und hat ein gutes Recht, Ihnen zu kündigen, und zwar auf der Stelle. Die Frechheit und Unverfrorenheit lag ganz auf Ihrer Seite, als Sie eine junge Dame hier öffentlich in einer Weise bloßstellten, als seien Sie im Hafenviertel von Galveston unter Negern, Mulatten und ähnlichem Gesindel aufgewachsen. Fräulein Webster steht jetzt unter meinem Schutz, und ich würde weder Ihnen noch sonst jemandem raten, ihr irgendwie zu nahe zu treten.“

Bei den letzten Worten hob der schlanke Mann, der bisher so zusammengesunken dagestanden, die zur Faust geballte Rechte, sich zu seiner ganzen Länge aufrichtend, hoch in die Luft, so daß Frau Knoxer mit einem Angstschrei hinter den Tisch flüchtete.

Da sauste die Faust auch schon herab, schmetterte auf den Rand des Tisches nieder und schlug ein recht großes Stück aus der Holzplatte heraus.

Dann verbeugte Tom Wisterley sich vor Helene Webster, reichte ihr den Arm und führte sie an Deck.

Frau Knoxer fand ihre Fassung wieder.

„Und keiner der Herren tritt für mich ein, keiner?!“ kreischte sie. „Ich, die Frau des Generalkonsuls in Lissabon, muß mich hier im einer Weise von diesem rohen Patron abkanzeln lassen, als sei ich ein Niggerweib …?!“

Der hagere Korrespondent Shorfkroot von der „New Orleans Post“ der sich an die französische Front begeben wollte, trat vor, besichtigte den übel zugerichteten Tisch und erklärte:

„Von dem Fausthieb hätte ein Ochse vierzehn Tage Kopfschmerzen gehabt, ein Mensch freilich gar keine mehr, denn er wäre auf dem Fleck ausgelöscht gewesen.“

„Feiglinge!“ sagte Frau Knoxer sehr deutlich. Und zu ihren Töchtern gewandt:

„Kommt. Ich bin heute zum letztenmal hier im Salon gewesen.“ – –

Oben auf Deck hatte Tom Wisterley die blonde Erzieherin unter Wind hinter den Brückenaufbau geführt.

Es war eine sternklare Nacht, und die „Donna Isabella“ stampfte bei der ruhigen See nicht allzu stark.

„Miß Webster,“ sagte Tom einfach, „falls jemand Sie belästigen sollte, so werden Sie bitte sofort recht deutlich und berufen Sie sich auf die Faust, die Tischplatten zerschlägt. Verstanden?!“

Helene richtete ihre dunklen Augen voller Dankbarkeit auf Tom Wisterleys braunes, wie aus Stein ausgemeißeltes Gesicht, das ihr jetzt plötzlich so ganz anders als bisher erschien. Sie hatte eben erkannt, daß dieser träge, müde Ausdruck in seinen Zügen wie ein Vorhang war, der sein eigentliches Wesen verdeckte. Jetzt erst sah sie, wie lebendig diese grauen, unter den starken, buschigen Brauen liegenden Augen aufsprühen, wie dieser von einem etwas struppigen, dichten Schnurrbart halb verdeckte Mund sich zusammen mit der brutale Energie verratenden Kinnpartie zu einem Bilde drohender Warnung vereinigen konnte …

„Master Wisterley, ich weiß nicht, wie ich es an Ihnen gutmachen soll, daß Sie …“ Ihre Stimme hatte vor innerer Bewegung gebebt, ihre Hand sich ihm entgegengestreckt, um die seine kräftig und ehrlich zu drücken.

Den begonnenen Satz vollendete sie nicht. Rauh unterbrach Tom Wisterley sie.

„Unsinn – keine Redensarten, Miß Webster! Wäre ja noch schöner gewesen, wenn ich zu den Keiftönen dieses herausgeputzten alten Dudelsackes geschwiegen hätte! Dazu gehörte die richtige Begleitung! Wir beide haben hier auf diesem verdammten, schmierigen Rattenkasten schon zweimal ganz hübsch miteinander geplaudert. Und da sollte ich Sie im Stich lassen, wenn’s Ihnen an die Ehre ging! Da kennen Sie Tom Wisterley – hm, ja – Tom Wisterley schlecht!“

Obwohl das alles so polternd, fast unliebenswürdig klang, hörte sie doch den wahren Unterton heraus.

„Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Master Wisterley,“ meinte sie mit einem feinen Lächeln. „Sie zu durchschauen, ist schwer. Wozu nur geben Sie sich so anders, als Sie in Wirklichkeit sind?!“

„Ich bin so! Ich bin kein Schauspieler. In meiner Natur mag etwas Zwiespältiges liegen, schon möglich. Mag sein, daß ich’s mir vor Jahren mal angewöhnt habe, eine Maske ständig zu tragen. Schließlich ist sie aber mit mir so fest verwachsen, daß sie ein Teil von mir selbst geworden ist. Man nimmt manche Eigenheiten an, wenn man ein Jahrzehnt in einer halben Wildnis haust und nur ans Geld zusammenscharren denkt, morgens mit dem Gedanken an große Geschäfte in Weizen aufwacht und abends sich ärgert, daß man nicht vier Dollar mehr für die Tonne herausgeschlagen hat.“

Helene Webster schaute ihn fragend, ganz ernst geworden, an:

„Wie – das hätten Sie wirklich getan?! Das kann ich nicht glauben! Sie sind nicht der Mensch, der lediglich …“

Sein hartes Auflachen unterbrach sie.

„Meinen Sie? Nicht der Mensch, der …!! – Ich verstehe, was Sie sagen wollen. – Doch, was reden wir immer von mir! Ich bin keine so interessante Persönlichkeit, um Stoff für ein Gespräch abzugeben. – – Es wird kühl. Gehen Sie schlafen, Miß Webster! Morgen sprechen wir mal von Ihnen. – Gute Nacht!“

Sie reichte ihm zögernd die Hand. Sie wäre noch gern geblieben.

Schlaff lagen seine Finger in den ihren. Er schaute sie zer streut an, als denke er bereits an etwas ganz anderes.

Da ließ sie ihn allein. Ihre Kabine befand sich neben der des angeblichen Teddy Worbster. Gegenüber waren die beiden durch eine Tür miteinander verbundenen Räume Frau Knoxers und der beiden ewigen Backfische.

Helene wollte morgen recht früh aufstehen. Sie wußte, daß Tom Wisterley stets um sechs schon an Deck war. Dieser Mann zog sie seltsam an, stieß sie anderseits aber auch ab. Diese klug verschleierte, brutale Kraftnatur gab ihr zu viele Rätsel auf.

Sie schrieb schnell einen Zettel für die Kajütwärterin, damit diese sie um halb sechs Uhr wecke, öffnete dann die Tür nochmals und … stand unerwartet Tom Wisterley gegenüber, der anscheinend eben aus der Nachbarkabine des kranken, bisher unsichtbar gebliebenen Master Worbster gekommen war.

Er blieb einen Augenblick stehen.

„Sie sollten doch längst schlafen!“ brummte er und ging weiter.

Frau Knoxers Kabinentür schob sich eine Handbreit auf.

„So – also deshalb spielt er Ihren Beschützer!“ rief die Frau Konsul mit vor Hohn strahlendem Gesicht Helene zu. „Deshalb …!!“

Dann schlug ihre Tür knallend zu. – –

Sechs Tage leidlich guten Wetters folgten. Helene Webster und Tom Wisterley waren häufig zusammen. Aber eigentlich blieben sie sich trotzdem fremd. Sie merkte, daß er es vermied, über seine persönlichen Verhältnisse zu sprechen. Und sie selbst hatte guten Grund dasselbe zu tun. Ihre Unterhaltung bekam dadurch etwas Unfreies. Es gab bei beiden eine Schranke, vor der das offene Wort halt machte. Aber diese beiden Menschen waren schließlich aufeinander angewiesen, und so fanden sie sich immer wieder zusammen. Die übrigen Passagiere hielten sich von ihnen fern. Frau Knoxer hatte erzählt, was sie an jenem Abend, als die Rattensuche im Salon stattfand, in dem Kabinengang beobachtet hatte. Sehr vorsichtig war sie natürlich beim Ausspritzen des Giftes gewesen, damit kein Tropfen ihr selbst schaden konnte. Aber man verstand sie trotzdem, entrüstete sich sehr und … beneidete Tom Wisterley, der der blonden Schönheit offenbar so nahestand. Wenigstens taten es die männlichen Passagiere.

Inzwischen hatte Kapitän Alkosta längst bei der Mittagstafel die kuriose Geschichte zum besten gegeben, daß ihm mit dem kranken Master Teddy Worbster ein ganz unglaublicher Irrtum passiert sei. Dieser sei nämlich gar nicht der Worbster, der die Überfahrt bezahlt habe, sondern ein Spanier namens Benito Armoro, der gleichfalls eine Passagierkarte gelöst habe.

Alkosta log hierbei so vortrefflich, daß alle die Sache sehr harmlos und komisch fanden.

„Die „Donna Isabella“ näherte sich bereits dem Festland von Europa. Das Meer war merkwürdig einsam, obwohl man sich jetzt nach achtzehntägiger Fahrt bereits östlich der Azoren befand.

Der Kapitän ließ nunmehr ständig scharf Ausguck halten. Man konnte ja nicht wissen …! Vielleicht lief man so einem verd… deutschen U-Boot gerade in den Weg!

Von Sperrzone und uneingeschränktem U-Bootkrieg ahnte Alkosta noch immer nichts. Und dabei befand sich die „Donna Isabella“ heute am 20. Februar schon mitten in dem gefährlichen Gebiet.

Gegen elf Uhr vormittags meldete der Mann im Ausguck gerade voraus im Kurse der „Donna Isabella“ einen anderen großen Dampfer. Eine Viertelstunde später war man dem fremden Schiffe, das sehr tief im Wasser lag, bis auf eine Seemeile nahe gekommen.

Helene Webster und Tom Wisterley standen an der Backbordreling des Oberdecks und musterten abwechselnd mit Hilfe seines gutem Glase den Dampfer da vorn, hinter dem eben drei mit Menschen dicht besetzte Boote aufgetaucht waren.

„Merkwürdig!“ meinte Tom Wisterley. „Ich wette eine ganze Weizenernte einer großen Farm gegen einen zerrissenen Strumpf: der Dampfer da will sehen, wie’s auf dem Meeresgrunde aussieht!“

Die drei Boote gaben mit Flaggen und Tüchern allerlei Signale.

Oben auf der Kommandobrücke der portugiesischen „Donna“ sagte Alkosta zu seinem Steuermann:

„Der fremde Kahn sinkt. Hol’s der Teufel! Die heilige Agathe verzeihe mir den Fluch! Aber wir kriegen die ganze Bande aus den drei Booten da als nicht zahlende Fresser an Bord …! Bedanke mich für die Ehre, Schiffbrüchige aufzunehmen …!!“

„Na – dann nehmen wir sie eben nicht auf,“ meinte der Steuermann grinsend. „Wir ziehen unsern Lappen hinten ein und laufen ihnen in großem Bogen weg. Sehr einfach!“

Die edlen Nachkommen des berühmten Seefahrers Vasco da Gama waren schnell einig. Die Flagge verschwand, und die „Donna Isabella“ änderte plötzlich ihren Kurs.

„Will etwa der Schuft von Alkosta die Boote ihrem Schicksal überlassen?!“ rief Tom Wisterley aufgeregt. „Unser Dampfer beschreibt einen Bogen, Miß Webster … Das geschieht nicht ohne Grund.“

Helene antwortete nicht, packte vielmehr mit hartem Griff den Arm des neben ihr stehenden Mannes und deutete mit der anderen Hand nach vorwärts …

„Da – da – wahrhaftig – ein U-Boot!! Sehen Sie nur, Master Wisterley, – sehen Sie nur …!!“

Das eben aufgetauchte U-Boot lief in voller Fahrt vor dem Rattenkasten her, hielt nicht etwa auf ihn zu. Die Entfernung betrug vielleicht eintausendfünfhundert Meter. Jetzt erschienen Gestalten an Deck, zwei Geschütze waren im Handumdrehen bereit gemacht. –

Alkosta ließ oben auf der Brücke das Glas nicht von den Augen. Er war bleich, sehr bleich. Der sinkende fremde Dampfer hatte eine deutliche Erklärung gefunden.

„Jetzt kommen wir an die Reihe, Tissaro!“ sagte er dumpf zu dem Doktor, der eben keuchend neben ihm erschienen war. „Es ist einer von den neuen deutschen U-Kreuzern … Da, jetzt wendet er … Die Kerle haben ihre großen Ballerbüchsen schon auf uns eingerichtet! Arme „Donna Isabella“! Dein Stündlein hat geschlagen …!“

 

4. Kapitel.

„Nehmen Sie mich mit, Landsmann!“

Ein noch sehr jugendlicher Leutnant zur See und zwei Matrosen waren fünf Minuten später an Bord des Portugiesen, ließen sich die Schiffspapiere zeigen und öffneten Alkosta darüber die Augen, daß in Deutschlands Seekriegsführung mit dem 1. Februar 1917 eine entschiedene Wendung zum Schlechteren – für seine Feinde – eingetreten sei.

Der junge Leutnant war sehr kurz angebunden.

„Alle Boote zu Wasser!“ befahl er dem Kapitän, der kaum wußte, wo ihm der Kopf stand, und jetzt händeringend erklärte, das ginge nicht, die Boote seien wahrscheinlich sämtlich leck, da sie seit zwei Jahren mit Ausnahme der Jolle unbenutzt in den Davits hingen.

„Nette Schweinerei!“ fuhr der deutsche Offizier Alkosta mit Fug und Recht an. „So etwas ist auch nur bei Euch Portugiesen oder bei einem Italiener möglich!“

Trotz des Kapitäns Bedenken wurden die Boote zu Wasser gebracht. Zwei waren leidlich dicht.

Inzwischen rannten Passagiere, Matrosen und Heizer wild durcheinander, schleppten ihre wertvollste Habe an Deck und schimpften heimlich mit ebenso heimlich geballten Fäusten auf die „Deutschen Piraten“.

Tom Wisterley und Helene Webster hatten als einzige ihren Platz an der Backbordreling nicht verlassen.

Die junge Frau folgte hierbei nur dem Beispiel ihres Beschützers, der mit größter Gelassenheit sich den Trubel ringsum ansah, die Fäuste wieder in den Beinkleidertaschen hatte und den jungen deutschen Offizier, der eine durchaus nicht mehr salonfähige Uniform trug, hin und wieder mit beinahe freudigen Blicken musterte.

„Haben Sie denn gar nichts mitzunehmen?“ fragte Helene jetzt unruhig, da sie von der allgemeinen Nervosität bereits angesteckt war.

„Doch! – Aber das hat noch Zeit,“ meinte Tom maulfaul.

Dann fuhr er fort: „Suchen Sie aber zusammen, was Sie für sich brauchen, Miß Webster. Doch höchstens ein kleines Bündel. Die Frau Generalkonsul muß verrückt sein, daß sie jetzt auch noch ihre Riesenhutschachtel angeschleppt bringt. Was die sich wohl so denkt! In den beiden Booten haben gerade nur die Menschen Platz, aber kein einziger Koffer oder dergleichen.“

Helene eilte davon.

Tom Wisterley aber ging auf den jungen Leutnant zu, lüftete die blaue Sportmütze, verbeugte sich und sagte in etwas gebrochenem Deutsch:

„Gestatten, daß ich mich vorstelle: Karl von Merker, Deutscher von Geburt, jetzt zwar amerikanischer Bürger, aber auf der Fahrt nach Deutschland unterwegs.“

Der Offizier musterte Wisterley-Merker mißtrauisch. Und etwas zögernd nannte er seinen eigenen Namen und fügte hinzu:

„Haben Sie Papiere, die sicheren Aufschluß über Ihre Person geben?“

Karl von Merker nickte, riß das Futter aus seiner Sportmütze heraus und reichte dem Leutnant einige Urkunden, – recht vergilbte Blätter. Dieser überflog dieselben, schien seine Zweifel aber noch immer nicht ganz überwunden zu haben.

Da nahm der Deutschamerikaner plötzlich die Hornbrille ab, zerbrach sie und zeigte dem Offizier, daß die Sehlinsen nur Fensterglas waren. Die Brille flog über Bord. Ihr folgte der falsche, struppige Schnurrbart.

„Tom Wisterley ist nun verschwunden,“ erklärte Merker mit einem Anflug von Lächeln. „Die Brille und die Haarquaste unter der Nase waren nötig, da der waschechte Amerikaner, auf dessen tadellose Ausweispapiere ich reiste, diese Besonderheiten in seiner Personalbeschreibung aufwies. Weshalb ich Tom Wisterley werden mußte und wie ich die amerikanischen Detektive des alten Spitzbuben Ruben Galvester hinters Licht geführt habe, ist eine längere Geschichte. Jedenfalls bitte ich, mich als Deutschen auf dem U-Boot aufzunehmen, damit ich, nachdem jetzt die Maske gefallen ist, sicher in die deutsche Heimat gelange.“

Der junge Leutnant reichte dem Landsmanne die Hand.

„Ich begrüße Sie herzlich, Herr von Merker. Die Entscheidung über Ihre Bitte liegt jedoch nicht bei mir. Ich werde meinem Kommandanten das Nötige signalisieren.“

Dieser kam selbst herüber. Nicht nur Merkers wegen, sondern um sich die 8,5 Zentimeter-Geschütze anzusehen, die die „Donna Isabella“ unter anderem als Fracht geladen hatte.

Kapitänleutnant Kraft war bald überzeugt, in Karl von Merker einen der zahlreichen Deutschamerikaner vor sich zu sehen, in denen der Krieg eine große Sehnsucht nach dem alten Vaterlande geweckt hatte und die es mit tausend Armen an die Stätten ihrer Kindheitstage zurückzog. –

Er zeigte sich äußerst zuvorkommend, versprach, Merker als lieben Gast an Bord seines U-Bootes unterzubringen und fragte, ob es auf der „Donna Isabella“ vielleicht noch andere Passagiere gäbe, die sich in ähnlicher Lage befänden wie der ehemalige kalifornische Weizenfarmbesitzer.

Merker deutete mit den Augen auf Helene Webster, die eben auf die beiden Herren zukam, und sagte schnell:

„Ich glaube ja, Herr Kapitänleutnant. Diese Dame da.“

Die Erzieherin, von Merker mit dem U-Bootkommandanten bekannt gemacht, schaute mit großen Augen ihren plötzlich so verwandelten Beschützer ein.

„Sie … Sie sehen ja plötzlich so verändert aus, Master Wisterley,“ sagte sie unsicher auf Englisch.

Der Kalifornier machte mit der Hand drei Kreuze in die Luft und erwiderte mit seiner staunenswerten Ruhe:

„Friede seiner Asche! Tom Wisterley ist hier an Bord plötzlich verstorben, um sofort in der Gestalt eines gewissen Karl von Merker seine Auferstehung zu feiern. Und dieser Merker bin ich, Fräulein Webster.“

Er hatte sich der deutschen Sprache bedient.

Da flog es wie ein Leuchten über Helenes zartes Gesicht.

„Oh – so hat mich meine Menschenkenntnis diesmal vollständig im Stiche gelassen – vollständig! Ich hielt Sie für einen waschechten Yankee – wahrhaftig! Desto mehr freue ich mich jetzt! Sie hören ja, wie gut ich das Deutsche beherrsche. Meine Mutter stammte aus dem Rheinland, und von ihr habe ich es gelernt, dieses Land zu lieben, das ich noch nie gesehen habe und das jetzt nach dem Tode der Eltern, meine neue Heimat werden soll …!“

Der Kalifornier nickte gelassen.

„Hab’ ich längst geahnt, Fräulein Webster, – längst! Besinnen Sie sich mal: am zweiten Tage unserer Seereise lasen Sie im Salon den „Galveston Kicker“, dessen neueste Nummer kurz vor der Abfahrt an Bord gekommen war. Da stand wieder auf der ersten Seite einer der bekannten widerlichen Schmähartikel gegen die Hunnen, Barbaren, Kindermörder usw. drin. Sie ballten den eklen Wisch, als sie einige Zeilen gelesen hatten, zusammen und murmelten in der Empörung auf Deutsch: „Käufliches Gelichter!“ vor sich hin. Das genügte mir. Und nachher, als wir uns besser kennen lernten, fand ich es sehr schmerzhaft, wie wir beide unsere persönlichen Verhältnisse in der Unterhaltung stets umgingen – wie die Katzen den heißen Brei …!“

Helene lachte heiter. Dieses Lachen hatte etwas so Frohes, Offenes an sich, daß jeder, der es hörte, sofort den Eindruck gewann, einen Charakter ohne Falsch vor sich zu haben.

Kapitänleutnant Kraft hatte als aufmerksamer Zuhörer dieser Wechselrede gelauscht.

Jetzt mischte er sich ein.

„Gnädiges Fräulein, angenehm ist der Aufenthalt für eine Dame auf einem U-Boot gerade nicht. Aber wenn Sie fürlieb nehmen wollen mit dem, was wir Ihnen an – Bequemlichkeiten kann ich kaum sagen – also an Unbequemlichkeiten bieten können, so lade ich Sie höflichst ein, die Reise nach Deutschland in meinem Unterwasserkahn mitzumachen. Freilich – es werden wohl noch vierzehn Tage vergehen, ehe wir daheim sind, – falls wir überhaupt heimkommen, – aber …“

Helene Webster ließ ihn nicht ausreden, streckte ihm die Hand hin und sagte:

„Nehmen Sie mich mit, Landsmann! Ich bitte Sie herzlich darum. An Bord der „Donna Isabella“ bin ich in die Acht erklärt – vollständig! Warum, weiß ich nicht! Und mit diesen Leuten kann ich nicht in dem engen Rettungsboot zusammen sein. Ich würde Höllenqualen ausstehen.“

Die beiden Boote stießen von dem Portugiesen ab. Frau Knoxer sah Helene neben Merker und dem Kapitänleutnant oben an der Reling stehen. Und giftig sagte sie zu dem Korrespondenten Shorfkroot:

„Meine frühere Erzieherin hat würdige Gesellschaft gefunden …!!“ –

Fünf Minuten später riß ein Torpedo des U-Bootes die „Donna Isabella“ in zwei Teile. Der andere Dampfer, ein Getreideschiff aus Südamerika, war längst in den Fluten verschwunden.

Dann spannte sich das U-Boot vor die fünf dicht besetzten Rettungsboote der beiden versenkten Schiffe und schleppte sie auf die portugiesische Küste zu.

Die See lag ruhig da. Aber trotz der Windstille und des klaren Himmels, von dem die Sonne freundlich herab schien, war es erstaunlich kühl.

Gut eingehüllt in einen warm gefütterten Offiziersmantel saß Helene Webster mit Kapitänleutnant Kraft und Karl von Merker hinter dem Turm des U-Kreuzers und lauschte der Erzählung des „toten Tom Wisterley“, der in seiner ihm eigenen trockenen Art schilderte, wie und weshalb er auf der „Donna Isabella“ als Tom Wisterley gereist war.

„Mein Geld hatte ich schon vor dem Verkauf der Farm flüssig gemacht und mir auch genau überlegt, wie ich meine Flucht nach der alten Heimat bewerkstelligen wollte. Ich sage „Flucht“! Etwas anderes konnte es ja nicht werden. Keine harmlose Reise, oh nein! Dazu standen und stehen wir Deutschamerikaner in den Staaten zu sehr unter englischer Kontrolle. – Tatsache – Kontrolle! Man traut uns nicht! Mit Recht! Viele sind während des Krieges mit ihrem Gelde nach der deutschen Heimat zurückgekehrt, weit mehr aber noch haben die Sache ungeschickt angefangen, sind zurückgehalten worden und werden nun noch schärfer als früher überwacht.“

Merker sog an seiner Zigarre, bis sie wieder ordentlich brannte, und fuhr fort:

„Das nennt man Neutralität!! Amerikanische Behörden halfen den Engländern bei dieser Kontrolle über die „unsicheren Elemente“ …!! Nun – da mußte man eben schlauer sein als das englische Pack! Und ich war’s.“

Er schilderte nun seinen Einzug in Sakramento, seine Aufnahme im dortigen Deutschenfresser-Klub und seine „Ermordung“.

„Daß die „Donna Isabella“ – ein Dampfer ohne funkentelegraphische Einrichtung, Galveston am 31. Januar verlassen und daß das Schiff weiter keinen Zwischenhafen anlaufen würde, wußte ich. Nach meiner „Ermordung“ erreichte ich gerade noch den Nachtzug über Stockton nach den Südstaaten, traf wohlbehalten in der Verkleidung eines älteren, graubärtigen Herrn, der Ausweispapiere auf den Namen Teddy Worbster besaß, in Galveston ein und hätte mich nun, wenn ich dumm gewesen wäre, sicher gefühlt. Der bereits erwähnte Ruben Galvester, der Käufer meiner Farm, ist nun ein Mensch, wie ihn nur das Dollarland hervorbringt: Genie, Schuft und Detektiv in einer Person. Von ihm fürchtete ich, daß er den Schwindel mit dem Mord am ersten durchschauen und als guter neutraler Yankee alle Hebel in Bewegung setzen könnte, um mir noch im letzten Augenblick einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ich war daher auch nicht leichtsinnig, sondern im Gegenteil so vorsichtig wie möglich. In Galveston besorgte ich mir zunächst – für Geld ist drüben alles zu haben! – neue Ausweispapiere und einen Paß auf den Namen eines Master Tom Wisterley. Keine gefälschten, oh nein! Ganz echte, die mich jedoch später zwangen, mir den Tintenwischer unter die Nase zu kleben und die Fensterglasbrille aufzusetzen, da der echte Wisterley in dem Passe diese Merkzeichen besaß. Dann machte ich mich in den Hafenkneipen auf die Jagd nach einem zuverlässigen Manne, der für ein paar tausend Dollar käuflich war. Ich fand einen Spanier namens Benito Armoro, der die „Donna Isabella“ ebenfalls zur Heimfahrt nach Madrid benutzen wollte. Mit ihm traf ich sehr genaue Vereinbarungen, die der Señor denn auch tadellos eingehalten hat. Als ich am Tage der Abreise an Bord des alten Rattenkastens ging, bemerkte ich, daß ein paar verkleidete Individuen sich am Kai herumdrückten und jeden heimlich photographierten, der den Dampfer betrat. Ich wußte sofort Bescheid. Das war Rubens, des Farmenwürgers, Werk. Er mußte meine Spur bis Galveston verfolgt haben, hatte Privatdetektive in Bewegung gesetzt, und war bemüht festzustellen, ob ich die „Donna Isabella“ zur Überfahrt benutzen würde. Ich glaubte auch seine weiteren Absichten zu kennen. Er wollte mich wahrscheinlich bei der Landung in Lissabon von den portugiesischen Behörden als spionageverdächtig oder dergleichen verhaften lassen, da ich ja verkleidet und als Teddy Worbster gereist war. Auf amerikanischem Boden konnte er ja nichts mehr gegen mich unternehmen. Dazu war es zu spät. Aber eine Kabeldepesche nach Lissabon hätte auch das Nötige bewirkt.“

Merker warf den Rest seiner Zigarre über Bord.

„Mit ähnlichen Schwierigkeiten hatte ich wie gesagt gerechnet, deshalb auch die Papiere für Tom Wisterley mir besorgt und unter diesem Namen eine zweite Kabine auf dem alten, schmierigen Schlingerkahn belegt, die natürlich unbenutzt geblieben wäre, wenn eben nicht Ruben Galvesters Beauftragte mir am Kai die Überzeugung durch ihre Momentapparate beigebracht hätten, daß es ratsam war, die schön ausgeklügelte Komödie nunmehr aufzuführen. Und diese spielte sich folgendermaßen ab. – Ahnen Sie schon etwas, Fräulein Webster?“

„Keinen Schimmer!“ meinte sie kopfschüttelnd.

Und auch Kapitänleutnant Kraft erklärte, das müsse wohl ein echt amerikanischer Trick gewesen sein. Er könne sich nicht zusammenreimen, wie die Geschichte befingert worden sei.

„Höchst einfach! Sowohl jener Spanier Benito Armoro, als auch Master Teddy Worbster, also ich, und schließlich auch Tom Wisterley, der nur im Notfalle in Erscheinung treten sollte, hatten ihre Kabinen durch dritte Personen bei einem Agenten bestellt, waren also der Besatzung des Rattenkastens gänzlich fremd, – bei Tom Wisterley weiter kein Wunder, denn der existierte ja eigentlich noch gar nicht. Auf unseren Fahrscheinen war die Kabinennummer vermerkt. Und den Fahrschein Wisterleys hatte ich als zweiten zusätzlich in der Tasche. – Verabredungsgemäß kamen der Spanier und ich recht spät an Bord. Ich, als Teddy Worbster verkleidet, ging sofort in seine Kabine, das heißt in die, die er als Benito Armoro bezahlt hatte, also in die ihm von Rechts wegen gehörige. Kein Mensch kümmerte sich in der Aufregung der Abfahrt um uns. Wurde doch erst im letzten Augenblick die „Donna Isabella“ noch mit der eigentlichen „neutralen“ Ladung, Geschützen und Munition vollgestopft, wobei sogar die beiden Kabinenwärter halfen. Ich erklärte dem Spanier, daß der Mummenschanz nun beginnen müsse. Er legte also die Verkleidung an, die ich bis dahin getragen hatte: graue Perücke, grauen Bart, – und siedelte sofort in meine Kabine, das heißt die Teddy Worbsters über, während ich mich zu Tom Wisterley zurechtfrisierte und dessen Kabine bezog.

Wir fuhren ab. Worbster-Armoro spielte von vornherein den Kranken und blieb in der Koje liegen. Er hatte zu seinen Schauspielerkünsten bei hellem Tageslicht kein rechtes Zutrauen. Tom Wisterley – das heißt ich – mit Tintenwischer und Brille war jedoch frech genug, sich überall frei zu bewegen. Benito Armoro aber, der Spanier, hatte wohl die Abfahrzeit versäumt und war nicht erschienen. Seine Kabine blieb leer, worüber sich der wackere Kapitän Alkosta keineswegs ärgerte. Gab es doch so einen Esser weniger an Bord. Ich dachte mir das Ende der Komödie nun so: Ruben Galvester hat nach Lissabon per Kabeldraht das Eintreffen eines verkleideten grauhaarigen Herren gemeldet, den man sich doch etwas genauer ansehen möge. Die „Donna Isabella“ kommt in Lissabon an, Teddy Worbster alias Armoro wird eingelocht, muß aber als Spanier, der sich gut ausweisen kann, trotz der Maskerade bald wieder freigelassen werden, nachdem er den Behörden in Lissabon ein hübsches Märchen, das ich ihm eingetrichtert hatte, zur Erklärung des falschen Namens usw. aufgebunden hat. Inzwischen ist Tom Wisterley, also ich, über alle Berge.“

Karl von Merker zündete sich eine frische Zigarre an und erzählte dann weiter:

„Es kam anders, ganz anders. Der Schiffsarzt des Rattenkastens schöpfte Verdacht, holte den Kapitän, und diese beiden Ehrenmänner … entlarvten dann schon am siebenten Tage unserer Reise den falschen Teddy Worbster, der eingestand, Deutscher zu sein, worauf er sich durch Zahlung von dreitausend Dollar jedoch sehr schnell die beiden geschäftstüchtigen Portugiesen zu Freunden machte und ihnen vorschlug, sich als Spanier … namens Benito Armoro auszugeben, um in Lissabon sicher an Land zu kommen. Der Kapitän und der Schiffsarzt fielen so etwas auf den Rücken, als hier mit einemmal der Name des Spaniers genannt wurde, dessen Kabine unbesetzt geblieben war, fragten aber nichts weiter. Die dreitausend Dollar hatten ihre zarten Gewissen eben total beruhigt. Kurz und gut – alles kam anders, als ich es mir vorgestellt hatte, – eigentlich besser! Armoro sitzt jetzt da hinten im Rettungsboot und wird unbelästigt in Portugal landen, die Ratten der schmierigen „Donna Isabella“ sind sämtlich ersoffen und … ich befinde mich vergnügt auf einem Stück deutscher Heimat – auf einem deutschen U-Boot. So, das ist meine Geschichte.“

„Glänzend, großartig!“ lachte der Kapitänleutnant. „Herr von Merker – Sie sind ein Genie! Der Gedanke mit den drei Kabinen war geradezu … patentfähig!“

„Genie?!“ brummte der Kalifornier. „Na – übertreiben Sie nicht zu sehr! Ich habe in meinem Leben schon ganz andere Gedanken gehabt und glücklich durchgeführt, ohne mich für ein Genie zu halten!“

 

5. Kapitel.

In Berlin.

Der alte Herr Friedrich Heribert Adolf von Merker hatte in etwas singendem Tonfall das Tischgebet gesprochen.

Kaum war das lang gedehnte „Amen“ verklungen, als Fräulein Astrid von Merker sich auch schon mit einem ziemlich hörbaren Krach in den bereits etwas wackligen Mahagonistuhl fallen ließ, der gegen diese Nichtachtung seiner Altersschwäche mit einem lauten Ächzen Protest erhob.

Der Major a. D. runzelte mißbilligend die buschigen weißen Brauen, nahm selbst sehr langsam und würdig Platz und sagte zu Astrid in seiner herrischen Art:

„Ich habe dich wegen dieser Unsitte, auf so unfeine Manier sich niederzulassen, bereits wiederholt verwarnt. Ich verbitte mir derartige Ungezogenheiten. Überhaupt …“

„Aber Adolf …!“ suchte die Majorin einzulenken, die eben die Teller mit einer sehr dünnen Mehlsuppe füllte. Sie sah eines jener Gewitter heraufziehen, die ihrem Gatten in der Hauptsache nur dazu dienten, seiner schlechten Laune und Unzufriedenheit Luft zu machen.

„Unterbrich mich nicht, liebe Malwine,“ entgegnete der alte, weißköpfige Herr, der mit seinem frisch geröteten Gesicht und der geraden Haltung noch recht stattlich aussah. „Ich habe wahrhaftig Grund, mit Astrid einmal streng ins Gericht zu gehen. Heute ist sie wieder zwölf Minuten zu spät nach Hause gekommen. Der Weg von … von dem Geschäft“ – dieses Wort wollte ihm offenbar nicht recht über die Lippen – „bis in unsere Wohnung läßt sich bequem in zweiundzwanzig Minuten zurücklegen, ganz bequem, wie ich dreimal selbst ausprobiert habe. Eine Verspätung von drei bis vier Minuten lasse ich hingehen. Aber zwölf – zwölf …!! Das ist … Das ist …!“

Es war eine der vielen Eigentümlichkeiten des alten Herrn, in der Erregung gerade den Hauptsatz nicht zu beenden und sozusagen den Trumpf unausgespielt zu lassen. Leider besaß er diese Eigenart in ähnlicher Weise auch bei seinem sonstigen Tun. Zu allem hatte er stets einen großen Anlauf genommen, hatte vor jeder Sache viel Wesens gemacht, und schließlich dann doch nie die Energie gefunden, die eingesetzte Kraft auch zum Schluß richtig auszunutzen. Das hatte ihm schon in seiner militärischen Laufbahn und später auch als Revisor der Landesversicherungsanstalt, als sog. „Klebekartenmajor“, wie er unter den Beamten der Provinzialregierung genannt wurde, sehr geschadet. Hinzu kam noch eine kleinliche Pedanterie, eine grenzenlose Starrköpfigkeit, die er freilich „Überzeugungstreue“ nannte, und manches andere, um sein Dasein zu einem Dornenpfade zu gestalten, den leider seine Familie stets mit wandeln mußte.

Astrid Merker, blond, mittelgroß wie die Mutter, aber in ihrem feinen Antlitz die anziehendsten Teile der Gesichter ihrer Eltern vereinigend, löffelte inzwischen ihre Suppe aus. In der Art, wie sie das tat, drückte sich deutlich eine gewisse Gelangweiltheit aus, als ob sie durchaus zeigen wollte, daß ihr das „Unwetter“ höchst gleichgültig sei.

Dem Major entging das nicht. Er verlangte von den Seinen als alter Soldat ein dauerndes, respektvolles „Strammstehen“, und Frau Malwine und die ältere Tochter Gerda kamen diesem Streben nach äußerlicher Autorität schon des lieben Friedens wegen gern nach. Anders Astrid, die ein stark ausgeprägtes Selbständigkeitsgefühl besaß, – und auch guten Grund hatte, sich nicht allzusehr „ducken“ zu lassen.

Herr von Merker schaute jetzt seine Jüngste durchdringend an.

„Ich bitte mir aus, daß du zuhörst, wenn ich etwas sage,“ erklärte er mit erhobener Stimme.

Astrid reichte der Mutter, die mit ängstlichem Gesicht dasaß, den leeren Teller und bat, ihn frisch zu füllen.

„Bei dieser Kälte hat man einen für Kriegszeiten höchst unangebrachten Appetit,“ meinte sie. Und zu ihrem Vater gewandt:

„Ich höre zu, Papa. Ich kann beides gleichzeitig: essen und zuhören!“

Da fuhr der alte Herr halb von seinem Stuhle hoch:

„Das ist die Sprache der Aufsässigkeit gegen das elterliche Erziehungsrecht!“ donnerte er. „Diesen Ton verbitte ich mir. Sonst … sonst …“

„Aber Adolf!“ sagte die Majorin leise.

„Ich rede … ich!! Verstanden! – Es muß einmal gründlich Gericht gehalten werden, gründlich!! Die zwölf Minuten Verspätung sind nur der Anfang …! – – Astrid, hast du dich in den letzten drei Tagen, vorgestern, gestern und heute, von einem Herrn nach Hause – besser bis in die Nähe unseres Hauses begleiten lassen und ist darauf die Verspätung zurückzuführen? Du weißt, wen ich meine, – jenen anmaßenden Menschen, der trotz seiner Militäruntauglichkeit ein Auftreten hat, als sei er … als sei er …“

Die weiten anderen Merkerschen Damen, Frau Malwine und die Älteste, horchten auf. Die Sache wurde interessant. Offenbar hatte der gestrenge Papa wieder so ein wenig spioniert …

Astrid stellte den gefüllten Teller vor sich hin, legte den silbernen, abgenutzten Eßlöffel mit dem Wappen derer von Merker auf das gläserne Messerbänkchen und schaute den Haustyrannen der Familie mit ihren großen, grauen Augen ruhig an. Eine ganz feine Röte war ihr ins Gesicht gestiegen, gerade genügend, um ihr Gesicht dadurch noch reizvoller erscheinen zu lassen.

Dann erwiderte sie gelassen:

„Ja, Herr Meier hat mich heimbegleitet. Auch das ist richtig, daß er sich mir mittags stets in den letzten Tagen anschloß.“

Des Majors weiße Brauen bildeten jetzt über den Augen eine geschlossene Linie, so stark zog er die Stirn in drohende Falten.

Schon öffnete er den Mund, um einen vernichtenden Blitzstrahl von Worten auf seine Tochter zu schleudern, als diese ebenso gelassen fortfuhr:

„Ich denke, wir schieben diese Aussprache bis nach Tisch auf, Papa. Wenn man sich die bescheidenen Kriegsmahlzeiten auch noch durch erregte Szenen verschlechtert, bleibt davon nur ein recht bitterer Nachgeschmack übrig.“

Der Major hob die Faust, um sie auf die Tischplatte herabzuschmettern. Er war blaurot im Gesicht geworden, und die Schläfenadern schwollen in beängstigender Weise an.

In solchen Augenblicken gab es für die arme Frau Malwine, deren rissige, verarbeitete Hände für ihren Fleiß und ihre wirtschaftliche Tüchtigkeit sprachen, nur ein Radikalmittel zur Besänftigung des erregten Gatten, – ein Mittel, das sie freilich nicht zu oft anwenden durfte, da es sonst nichts mehr half, genau wie ein Medikament, an das der Körper sich gewöhnt.

„Adolf – Deine Arterienverkalkung …!“ rief sie, sehr geschickt die aufs höchste Beunruhigte spielend.

Der Major sank förmlich in sich zusammen. Und es schoß ihm durch den Kopf, daß er gestern wieder Nasenbluten gehabt hatte. Und das sollte ein schlechtes Zeichen sein …!

Hastig griff er nach dem vor seinem Teller stehenden Glase Wasser, stürzte die Hälfte des Inhalts hinunter, trocknete sich mit der vielfach gestopften Serviette, in deren einer Ecke das Wappen der Merker in gelber Seide prangte, umständlich die Lippen und sagte dann:

„Gut – nach Tisch! Aber glatte Rechnung wird heute gemacht! Ich will doch mal sehen, wer hier zu kommandieren hat …! Ich lasse mit mir nicht spaßen, und wenn mir selbst … selbst …“

„Die Suppe wird kalt, Adolf,“ meinte Frau Malwine.

Der Major warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, beugte sich dann aber doch über seinen Teller und begann zu essen.

Als zweiten Gang gab es graue Erbsen mit einer süßsauren Tunke, ein echt ostpreußisches Gericht, das den alten Herrn etwas versöhnlicher stimmte. Weckte es doch in ihm allerlei Erinnerungen an vergangene Zeiten. Während seiner Dienstzeit hatte er ja in Ostpreußen in Garnison gestanden, zuletzt als Bataillonskommandeur in Königsberg, bis man ihm einen deutlichen Wink gegeben, daß für eine weitere Beförderung seine Fähigkeiten doch nicht genügten. Gerade damals waren die beiden Jungen vom Kadettenkorps als Fahnenjunker bei demselben bescheidenen Infanterieregiment in einem posenschen Nest eingetreten und begannen gehörig Geld zu kosten. Die Pension war knapp, Vermögen nicht vorhanden, und deshalb mußte der Major a. D. einem alten Bekannten sehr dankbar sein, der ihn als Versicherungskartenrevisor in Berlin unterbrachte, wo der „Klebemajor“ den Kreis Teltow bereiste und das Nötige dazuverdiente, um seine beiden Spätlinge, die Mädels, anständig erziehen und kleiden zu können, ebenso aber auch seiner besonderen Vorliebe, dem Briefmarkensammeln, frönen zu können. Erst kurz vor dem Kriege hatte er sich dann, als die Mädels genug zum Haushalt beisteuern konnten, ganz zur Ruhe gesetzt. –

Die Mahlzeit war vorüber. Stehend wurde wieder ein Tischgebet gesprochen, und dann ging der Major wie immer in sein sogenanntes Herrenzimmer hinüber, das je nach Bedarf auch Salon oder Musikzimmer genannt wurde, wenigstens entfernten Bekannten gegenüber, mit denen man nicht näher verkehrte und die daher nicht wissen konnten, daß Merkers sich mit einer Dreizimmerwohnung im Hinterhause begnügen mußten.

Astrid folgte dem Vater unaufgefordert. Auch Frau Malwine schloß sich an.

Gerda aber, groß und schlank wie der Major, schaute den dreien nach und seufzte leise.

Sie war zwei Jahre älter als Astrid, aber eine stille insichgekehrte Natur, die es nie gewagt hätte, dem Vater im geringsten zu widersprechen. Sie konnte sich auch äußerlich nicht mit der Jüngeren messen, obwohl ihr längliches, feines Gesicht mit der leicht gebogenen Nase, den frischen Lippen und den dunklen Augen ohne Zweifel sehr vornehm wirkte.

Der Seufzer, den Gerda ausstieß, galt nicht etwa der Schwester, die jetzt vor dem Vater sicherlich ein recht strenges Verhör zu bestehen hatte. Nein – sie beneidete die Jüngere. Das war’s. Und fühlte heute wieder jene Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich besonders auf ihr mangelndes Selbständigkeitsgefühl bezog.

Ja – wenn sie so gewesen wäre wie Astrid! Die würde schon ihr Ziel erreichen, die würde auch dem Vater Trotz bieten und der Stimme ihres Herzens folgen …!

Und Gerda von Merker dachte an den bescheidenen Oberlehrer Dr. Müller …

Wieder seufzte sie und begann dann den Tisch abzuräumen.

Drüben im Herrenzimmer, vor dessen breitem Fenster etwas schräg der Schreibtisch des Majors stand, während ein Pianino und eine Plüschgarnitur, an die längste Wand geklemmt, zur Not die Bezeichnung Salon und Musikzimmer rechtfertigten, hatte der Major inzwischen, nachdem er Frau und Tochter mit einer einladenden Handbewegung die Sessel zum Platznehmen angewiesen, sich eine Zigarre angezündet und dann eine langsame Promenade durch das Zimmer begonnen.

Man merkte, daß er angestrengt nachdachte. Jetzt blieb er vor Astrid stehen und fragte mit erhobener Stimme:

„Gedenkst Du eigentlich diesen freundschaftlichen Verkehr mit jenem Herrn Meier noch weiter fortzusetzen? Und – wohin soll das alles führen?! Ich verlange eine kurze, bestimmte Antwort.“

„Wahrscheinlich zu einer Verlobung, Papa.“

Der Major hatte eben die Zigarre durch ein paar schnelle Züge wieder in Brand setzen wollen. Aber der halb erhobene Arm sank ihm schlaff herunter.

„Das – das wagst du mir zu sagen!“ donnerte er. „Mir – deinem Vater!! Verlobung …?!! Und meine Zustimmung – danach fragst du gar nicht …!! Ich finde das so unerhört, daß ich wirklich …“

„Du hattest ja eine kurze Antwort verlangt, Papa,“ meinte Astrid, indem sie sich bequemer im Sessel zurechtsetzte. „Im übrigen: Willst du durchaus, daß wir alte Jungfern bleiben?“

Diese letzte Bemerkung kam dem alten Herrn sehr gelegen.

„Alte Jungfern!! Welch’ ein plebejischer Ausdruck! Ihr könntet spielend leicht gute Partien machen, wenn ihr nur auf euren Vater hören wolltet, der mit seinen reichen Lebenserfahrungen jedenfalls am besten weiß, was euch frommt. Meinst du nicht auch, liebe Malwine?“

Die Majorin nickte eifrig. Bei sich aber dachte sie: Mein guter Alter hat wieder eine neue Eigenschaft an sich entdeckt, von der wir anderen bisher noch nichts gemerkt haben: reiche Lebenserfahrungen!! – Und dabei steht er dem praktischen Leben da draußen wie ein unmündiges, eigensinniges Kind gegenüber!

Astrid lächelte ein ganz klein wenig.

„Ich weiß, worauf du anspielst, Papa. Auf deinen Freund, den Oberleutnant von Helberti. Den hast du mir zugedacht. Das habe ich schon lange herausgefühlt. – Ist Helberti nicht 46 Jahre oder da so herum alt?“

Der Major vertrug nun nichts so schlecht, als auch nur die geringste ironische Redewendung. Astrid hatte ihn wahrhaftig nicht reizen wollen. Im Gegenteil – sie wollte die Aussprache mehr auf einen versöhnlichen Ton bringen.

Der Erfolg war jedoch ein recht nachteiliger für die ganze weitere Erörterung.

Der alte Herr Adolf von Merker wurde wieder blaurot im Gesicht.

„Wie – du wagst es, mich zu verhöhnen,“ sagte er nicht übermäßig laut, aber dafür mit schneidender Schärfe. „Ungeratenes Kind …!! Ist das der Dank dafür, daß ich jahrelang für euch eine Stellung bekleidet habe, die sich mit meinem Standesbewußtsein kaum vertrug, in der ich tausend kleine Demütigungen hinnehmen mußte und die mich geradezu … geradezu …“

Er holte hörbar Atem, ohne den Satz zu beenden. Der Trumpf blieb eben wieder unausgespielt. Dann fuhr er fort, und mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter und dröhnender:

„Wagst du noch ein einziges Mal, dich von diesem … Meier heimbegleiten zu lassen, kommst du noch ein einziges Mal nach Geschäftsschluß auch nur fünf Minuten zu spät nach Hause, so kannst du gewiß sein, daß ich vergesse, eine erwachsene Tochter vor mir zu haben …“

Er hatte die Hand wie zu einer Ohrfeige erhoben und führte nun einen Lufthieb aus, der Astrid angeben sollte, was ihr bevorstand, falls sie sich nicht fügte.

Die jüngste Merker war bleich geworden. Ihre Lippen bildeten eine schmale Linie, so fest preßte sie sie zusammen. Mit einem Mal stand sie auf den Füßen. Auch ihre Selbstbeherrschung hatte ihre Grenzen. Ihr Temperament ging mit ihr durch.

„So – also schlagen willst du mich – schlagen …?!“ sagte sie ganz heiser und an jedem Wort förmlich würgend. „Hast du vergessen, Papa, daß du durch eine Ohrfeige schon ein Kind verloren hast …?! Übersiehst du, daß ich in vier Tagen volljährig werde und dann tun und lassen kann, was ich will?! – Heute schon sage ich dir, ich habe Karls Charakter, den du in die Fremde jagtest, der verschollen ist, verdorben vielleicht, verkommen … Ich lasse mich nicht knechten! Jede elterliche Gewalt, jede väterliche Autorität, die übertrieben wird, ist eine kurzsichtige Verkennung der Tatsache, daß Kinder auch einmal zu selbstständigen Menschen heranwachsen. Ich will frei sein, ich bin keine Sklavin, und so, wie du mir eben mit körperlicher Züchtigung gedroht hast, ebenso erkläre ich dir heute: Wenn du mir nicht die Freiheit läßt, die ich als ein Mädchen, das auf eigenen Füßen steht, und reichlich ihr Auskommen durch eigene Arbeit hat, beanspruchen kann, gehe ich am Tage meiner Volljährigkeit aus dem Hause!“

Frau Malwine, die bisher mit gerungenen Händen und tränenverschleierten Augen dagesessen hatte, sprang jetzt auf und trat zwischen Vater und Tochter. Dachte sie doch nicht anders, als daß ihr Gatte sich so weit vergessen würde, jetzt sofort zuzuschlagen.

Aber der Major rührte sich nicht. Seine trotz der zweiundsechzig Jahre ungebeugte Gestalt war bei der Erwähnung des verschollenen Sohnes plötzlich in sich zusammengesunken.

Vor seinen Blicken war eine Szene aufgetaucht, die er nie vergessen würde, nie …

Das waren nun zwölf Jahre her … zwölf Jahre! Damals war sein Ältester vor ihn hingetreten und hatte ihm erklärt, daß er den bunten Rock ausziehen wolle, daß er ein armes, einfaches Mädchen liebe und sich einem bürgerlichen Beruf zuzuwenden gedenke, um schneller heiraten zu können. Und in dem Wortwechsel, der dann zwischen den beiden Männern entstand, hatte der Major sich nicht mehr beherrschen können und dem Sohne einen Schlag ins Gesicht versetzt … Acht Tage später war Karl von Merker, der seinen Abschied eingereicht hatte, verschwunden. Wo er geblieben, wußte niemand. Das Mädchen, daß er geliebt, hatte er aufgegeben, ihr geschrieben, daß er sich entehrt fühle und sie freigebe. Nach einem Jahre war sie eines anderen Weib. Sie hatte den schmucken Offizier schnell vergessen, der jetzt nichts weiter mehr war als jeder beliebige Bürgerliche, der die Heimat aus irgendwelchen Gründen verläßt …

An das alles dachte der alte Herr, als Astrid ihm, ihrer Sinne nicht mehr ganz mächtig, wie eine harte Anklage den Namen des ältesten Bruders zugerufen hatte. Mochte er auch vor sich selbst nie eingestehen, daß er seinem Ältesten gegenüber ein starkes Schuldbewußtsein empfinde. In Wirklichkeit war es doch so, zumal er auch den zweiten Sohn durch eine Heirat mit einer Tochter eines „bürgerlichen Emporkömmlings“, wie er den Kommerzienrat Seidelmann stets bezeichnete, so gut wie verloren hatte.

Und dieses unsichere Gefühl der Schuld, nie zugegeben, und doch vorhanden, bewirkte jetzt auch, daß er sich Astrid gegenüber so weit mäßigte, als ihm dies überhaupt möglich war.

„Du willst mein Haus verlassen! Nun gut – ich lege dir nichts in den Weg. Im Gegenteil, ich wünsche es! Ich habe eingesehen, daß wir nebeneinander in diesen Räumen nicht mehr leben können. Du bist stets die Ursache zu erregten Aussprachen gewesen – du allein! Geh, sei frei! Aber wage es nicht, dann nochmals die Schwelle dieser Wohnung zu übertreten! Ich will den Rest meiner Tage in Ruhe genießen.“

Das sagte er mit einer Stimme, aus der geradezu eherne Starrköpfigkeit herausklang. Sein ausgestreckter Arm wies nach der Tür.

„Geh!“ wiederholte er schneidend.

Frau Malwine schluchzte laut auf.

„Adolf, ich flehe dich an …“

„Ich verbitte mir deine Einmischung,“ unterbrach er sie streng. „Ich weiß, was ich tue …“

Astrid umarmte die Mutter und flüsterte ihr dabei etwas zu.

Dann schritt sie zur Tür, aufgerichtet – sicher.

In der Küche erzählte sie der Älteren das Vorgefallene, ganz leidenschaftslos, mit einem Gefühl der Befreiung.

Gerda traten Tränen in die Augen.

„Und du willst wirklich fort?“ fragte sie ungläubig. Ihre ganze Zaghaftigkeit lag in diesen Worten, ihre Angst vor dem Vater, ihr volles Zurückweichen vor jeder eigenen Willensbetätigung.

Astrid reckte die Arme hoch wie in einer Sehnsucht, mit der sie die ganze Welt umfangen wollte.

„Fort? Natürlich! War das vielleicht ein Leben, das ich hier führte? Nein – das war ein Kerker, nichts weiter, das war ein ewiges Bevormundetwerden, ein ewiges Ringen um jeden freieren Gedanken …! Ich habe das satt. – Außerdem, Papa wird dann vielleicht auch einsehen lernen, wie weit er mit seinen Anschauungen über väterliche Autorität und Kindespflichten kommt – vielleicht! Ich habe sehr wohl gemerkt, daß die Erwähnung unseres armen Bruders ihn wie ein böser Hieb traf, der alte Wunden zum Schmerzen brachte. Ich hoffe, er selbst wird mich einmal zurückholen.“

 

6. Kapitel.

Egon Meier.

Karl von Merker kam vom Berliner Polizeipräsidium, wo ihm auf seine Eingabe hin heute eröffnet worden war, daß ihm sowohl die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zuerkannt als auch gestattet sei, den Namen Thomas Wisterley bei der beabsichtigten Gründung einer Munitionsfabrik unter Anerkennung seiner besonderen Gründe zu führen.

So war denn Tom Wisterley, der doch damals an Bord der „Donna Isabella“ endgültig „gestorben“ sein sollte, aufs neue auferstanden.

Vierzehn Tage weilte der Kalifornier nun bereits in Berlin. Er hatte diese Zeit gehörig ausgenutzt. Als seine Einstellung in die deutsche Armee, obwohl er früher deutscher Offizier gewesen, abgelehnt worden war, da die militärische Untersuchung eine Anlage zur Herzerweiterung, die bei körperlichen Anstrengungen leicht gefährlich werden konnte, ergab, hatte er sich entschlossen, dem Vaterlande auf andere Weise zu nützen. Er, der geschäftsgewandte, drüben in hartem Daseinskampf genügend erprobte Mann gedachte eine Munitionsfabrik größten Stiles zu errichten, die, mit geringstem eigenen Nutzen arbeitend, die Kämpfer an der Front auch noch in der Weise unterstützen wollte, daß der Reinverdienst Wohltätigkeitsanstalten für die Feldgrauen zufloß.

Dieser Plan des patriotischen Deutschamerikaners, der mit seinen Millionen lediglich aus Liebe zur alten Heimat nach Deutschland herübergekommen war, fand bei den Behörden das weitgehendste Entgegenkommen. Gerade in dieser Zeit, wo Amerikas Beitritt zu der auf die Vernichtung Deutschlands ausgehenden Völkervereinigung die Augen der ganzen Welt auf das Verhalten der Millionen von Deutschen in den Vereinigten Staaten gelenkt hatte, ergriffen die Zeitungen mit Eifer die Gelegenheit, um diesen kalifornischen Millionär Tom Wisterley als ein rührendes Beispiel von Anhänglichkeit an das deutsche Vaterland hinzustellen.

Der Kalifornier bildete so in Berlin für Tage das allgemeine Gespräch. Unzählige Leute drängten sich an ihn heran, um ihm ihre Arbeitskraft anzubieten, solche, die nur von den besten Absichten geleitet wurden, aber auch viele, die bei dieser Gelegenheit so etwas im Trüben zu fischen hofften.

Letztere kamen jedoch schlecht auf ihre Rechnung. Vor den kühlen Augen Tom Wisterleys bestand auch nicht der gewandteste Glücksritter. Dieser Kalifornier hatte eine Art, jemanden auf Herz und Nieren zu prüfen, der gegenüber auch die größte Verschlagenheit und Rednergabe nichts halfen.

In seiner Wohnung in der Augsburger Straße im Westen Berlins wurde das Vorzimmer nie leer. Seine Sekretärin hatte täglich Stöße von Briefen durchzusehen, von denen die meisten nachher von Tom Wisterleys Hand mitten durchgerissen in den Papierkorb wanderten.

Die Auswahl, die er an Mitarbeitern für sein großes Werk traf, entsprach in keiner Weise deutschen kaufmännischen Gepflogenheiten. Zeugnisse oder Empfehlungen waren für ihn durchaus nicht maßgebend, vielmehr nur die Persönlichkeit des Bewerbers selbst. Er mußte eine seltene Menschenkenntnis besitzen, dieser in seiner Ruhe durch nichts zu erschütternde Mann, der niemandem schmeichelte, dessen Rede kein überflüssiges Wort kannte und der von einer an Grobheit grenzenden Ehrlichkeit war. –

Wisterley war sehr zufrieden, daß die Behörde ihm auch seine Bitte um Führung seines angenommenen amerikanischen Namens gestattet hatte. Bisher war es ihm vollständig geglückt, seine Herkunft zu verheimlichen. Niemand, mit Ausnahme der Beamten, die er notwendig hatte ins Vertrauen ziehen müssen, wußte, wie er eigentlich hieß.

Auf dem Alexanderplatz vor dem Polizeipräsidium nahm er jetzt ein Auto auf Grund seiner Erlaubniskarte zur ständigen Kraftwagenbenurtzung und ließ sich nach Hause fahren. Diese Zeit, wo der Benz sich durch die Straßen der Reichshauptstadt hindurchwand, diente ihm zur Erledigung eiliger Briefentwürfe, die er in sein Notizbuch eintrug.

Der Satz „Zeit ist Geld“ stand ihm als Leitsatz über seinem Tun und Lassen. Keine freie Minute ließ er unbenutzt. Er lebte nur seinem großzügigen Plane und dessen Durchführung.

In seiner Sechszimmerwohnung angelangt, von deren Räumen fünf als Bureaus eingerichtet waren, betrat er denjenigen, in dem seine Sekretärin arbeitete.

Diese tippte gerade mit der Schreibmaschine eine große Zeitungsannonce, die noch vor Redaktionsschluß mittags an die Berliner Blätter verschickt werden sollte.

Über Thomas Wisterleys ernstes Gesicht flog ein frohes Lächeln, als er nun seiner Vertrauten die Hand zum Gruß hinstreckte.

„Tag, Astrid. – Es ist alles besser gegangen, als ich dachte. Man hilft mir an den amtlichen Stellen in anerkennenswerter Weise.“

Er berichtete kurz das Ergebnis seines Besuches auf dem Polizeipräsidium.

„Die Gefahr, daß die Unsrigen zu früh erfahren, wer der Kalifornier eigentlich ist, besteht nun nicht mehr,“ sagte er zum Schluß.

Thomas Wisterley alias Karl von Merker war mit seiner Schwester auf eine durchaus jeder Romantik entbehrenden Weise zusammengekommen.

Kaum in Berlin eingetroffen, hatte er eine Auskunftei mit eingehenden Nachforschungen nach den näheren Verhältnissen der Familie des Majors a. D. Adolf von Merker beauftragt. Zwei Tage später wußte er, daß die Seinen in bescheidensten Verhältnissen lebten, daß seine jüngste Schwester, mit den Eltern offenbar zerfallen, vor drei Tagen sich in einem Damenpensionat in der Augsburger Straße eingemietet habe und im übrigen bei einer großen Automobilfabrik in deren Berliner Zweigniederlassung als Korrespondentin seit Jahren tätig war.

Er hatte dann Astrid aufgesucht und sich ihr zu erkennen gegeben, nachdem er weiter festgestellt hatte, daß sie aus dem Holze geschnitzt war, das er liebte.

Das Wiedersehen zwischen den Geschwistern war überaus herzlich gewesen, obwohl Astrid sich auf den um so viele Jahre älteren Bruder kaum mehr besann. Seinen Vorschlag, bei ihm Sekretärin zu werden, also einen Posten zu bekleiden, für den er nur eine durchaus vertrauenswürdige Persönlichkeit gebrauchen konnte, nahm sie mit Freuden an, wurde auch sofort von der Autofirma auf ihren Wunsch entlassen, wobei Herr Meier, der Berliner Vertreter der Fabrik, das seine tat, freilich ohne zu ahnen, daß Fräulein von Merker in die Dienste eines Merker trat.

Leicht war es ja Herrn Meier nicht geworden, Astrids Bitte zu unterstützen. Er hätte sie lieber in seinen eigenen Bureaus behalten. Hier sprach in der Hauptsache die Angst mit, das äußerlich so anziehende, außerdem auch so begabte junge Mädchen könne vielleicht auf diesen kalifornischen Junggesellen, der über schwere Millionen verfügte, einen ähnlichen Eindruck machen wie auf Herrn Meier selbst. Und Meier verfügte keineswegs über Millionen, sondern nur über sein anständiges Gehalt und einige sonstige brauchbare Eigenschaften.

Die Geschwister hatten sich heute morgen nur flüchtig gesprochen. Astrid war daher auch noch nicht dazu gekommen, dem Bruder, mit dem sie in Gegenwart dritter natürlich stets sehr förmlich verkehrte, von dem gestrigen abendlichen Besuch der Mutter bei ihr zu erzählen.

Sie holte dies jetzt nach, da sie mit Recht annahm, den Bruder würden die neuesten Vorgänge in der Familie aus bestimmten Gründen sehr interessieren.

„Mama war sehr unglücklich und sehr aufgeregt,“ berichtete sie. „Denke dir, lieber Karl, der Papa hat, ohne einem von uns etwas davon zu sagen, seine Briefmarkensammlung … versetzt, nur um dem Schwindler Karpfer, der vor vier Tagen mit seiner so hohe Monatsdividenden zahlenden Einkaufsgenossenschaft entlarvt wurde, ebenfalls dreitausend Mark opfern zu können. Das Geld ist natürlich verloren, und Papa fehlt jede Möglichkeit, seine Sammlung wieder auszulösen. Er ist natürlich vollkommen gebrochen. Nicht nur wegen der fehlgeschlagenen Spekulation überhaupt, sondern am meisten wegen des Verlustes seiner geliebten Briefmarken, die seit Jahren seine einzige Freude ausmachen und für die wir uns leider manche Einschränkung haben auferlegen müssen. Er selbst wollte dies nie anerkennen, meinte stets, Briefmarken sein die beste Kapitalanlage, da sie von Jahr zu Jahr wertvoller würden. Er hat jetzt allen Ernstes in Erwägung gezogen, sich irgendwo wieder um eine Anstellung zu bemühen. – „Ich muß eine Tätigkeit haben, die mich den Tag über beschäftigt. Sonst werde ich verrückt“ hat er zur Mutter wiederholt gesagt. Und ich redete ihm natürlich zu, sich um einen Posten zu bewerben, da es mit dem guten Papa jetzt daheim gar nicht mehr zum Aushalten ist. Ich kenne ihn ja und kann mir vorstellen, in welcher Laune er sein mag, zumal der Briefmarkenhändler, bei dem er die Sammlung beliehen hat, in den Vertrag eine Klausel eingefügt hat, nach der der Händler jeder Zeit bei einem besonders günstigen Angebot auf Papas Sammlung diese veräußern darf unter der Bindung, daß der Vater den überschießenden Betrag des Erlöses erhält, selbstverständlich nach Abzug einer Provision. Mithin wird Papa auch kaum die Möglichkeit gegeben sein, etwa durch Ratenzahlungen seine Schuld zu tilgen.“

Dann blieb er vor ihr stehen.

„Hör’ mal, Schwesterlein, darüber waren wir uns ja gleich beim ersten Wiedersehen einig, daß wir mit dem Vater eine Radikalkur vornehmen müssen, um ihn endlich zur Vernunft zu bringen.“

Und dann entwickelte er Astrid ausführlich einen Plan, wie dies unter Ausnutzung der jetzigen Umstände am besten geschehen könne.

Das junge Mädchen pflichtete ihm bei, daß die Gelegenheit, den Major gründlich zur Einsicht seiner unberechtigten Autoritätsgelüste zu bringen, selten günstig sei.

Ernst und ganz erfüllt von dem Gedanken, vielleicht eine neue, bessere Zeit ungetrübten Familienglückes für die Ihrigen vorzubereiten, verabredeten sie genau alle Einzelheiten.

Bisher wußte nur Astrid etwas von der Rückkehr des verschollenen Bruders. Das sollte auf Karl von Merkers Wunsch auch so bleiben.

„Der Papa darf nachher der Mutter nicht den Vorwurf machen können, daß sie mit im Komplott gewesen ist,“ sagte er.

Astrid gab ihm recht. –

Dann begannen sie über geschäftliche Dinge zu reden. Im Laufe dieser Besprechung schnitt der Kalifornier auch die Frage der Besetzung der Stelle eines technischen Direktors des neuen Werkes an, für die in dem Vorort Schmargendorf bereits das Gebäude einer jetzt außer Betrieb befindlichen Schokoladenfabrik gemietet, ebenso die nötigen Maschinen und vieles andere bestellt war.

„Die bisherigen Bewerber gefallen mir nicht,“ meinte Karl von Merker. „Es mögen ja ganz tüchtige Leute darunter sein, aber ihnen allen fehlt so der große Zug, das Smarte, wie man drüben in Amerika sagt. Ein Mann, mit dem ich zusammenarbeiten kann, muß mit allen Hunden gehetzt, dabei aber doch ein anständiger Charakter sein. Und beide Eigenschaften vereinigen sich schwer in einer Person.“

Astrid dachte sofort an Egon Meier, den Vertreter der Automobilfabrik. Der würde dem Bruder vielleicht zusagen.

Aber – ihn empfehlen mochte sie nicht. Ihr bescheidenes Herzensgeheimnis hatte sie vor dem Bruder ängstlich verborgen, hatte auch mit keiner Silbe erwähnt, daß Egon Meier eigentlich die Schuld daran trug, daß sie das Elternhaus verlassen hatte. Karl war der Ansicht, eine allgemeine Aussprache über das Recht persönlicher Freiheit mit nachfolgendem „Krach“ sei die Veranlassung für Astrid gewesen, sich von den Ihrigen zu trennen.

Der Bruder kam auch bald auf anderes zu sprechen, diktierte ihr verschiedene Briefe und war wieder ganz Geschäftsmann – ganz, so, wie nur er es sein konnte, der in Kalifornien eine so harte Schule durchgemacht hatte.

Um ein halb eins war für den Vormittag Bureauschluß.

Astrid war bereits zum Fortgehen angezogen, als ihr noch etwas einfiel.

„Du, Bruderherz, – entschuldige schon, – ich habe da morgens beim Öffnen der Post auch einen an dich gerichteten Privatbrief deiner Reisegefährtin Helene Webster aufgeschnitten und teilweise gelesen. Hier ist er. Ich hatte ihn absichtlich beiseite gelegt.“

Karl von Merker schaute auf.

„Ah – Helene Webster! Läßt sie also wirklich mal etwas von sich hören! Ich glaubte schon, sie hätte mich ganz vergessen. Nicht einmal ihr Eintreffen bei ihren Verwandten in Düsseldorf hat sie mir mitgeteilt. – – So, du willst gehen, Schwesterlein. Auf Wiedersehen, wackere Sekretärin!“

Der Kalifornier war allein. Mit einer ihm sonst fremden Hast griff er nach Helene Websters Brief. Zwei eng beschriebene Bogen waren es. Schon wollte er zu lesen beginnen, als er ihn mit einer unwilligen Handbewegung auf die Tischplatte zurückwarf, aufsprang und an das Fenster trat.

Regungslos starrte er eine Weile auf das Leben und Treiben in der Augsburger Straße hinab. Um seinen Mund lag dabei ein ironisches Lächeln. Und im leisen Selbstgespräch murmelte er vor sich hin.

„Sei kein Narr, alter Junge …! Du bist den Vierzigern nahe … und sie einundzwanzig …! – Sie wird sich hüten, an so einen mürrischen, groben Patron zu denken, wie du es bist …!! – Unsinn, daß mein Herz schneller schlägt, sobald ich an sie erinnert werde … Fort mit den Gedanken …!! Sie lenken mich nur von der Arbeit ab. Erst morgen früh will ich ihren Brief lesen. Die Dummheiten werde ich mir schon austreiben …!!“

Und er ging zum Tisch zurück, schob die beiden Bogen in den Umschlag zurück und steckte diesen in die Tasche. – –

Inzwischen hatte Egon Meier an der Ecke Nürnberger Straße Astrid angesprochen. Langsam schritten sie nebeneinander her, eifrig plaudernd.

Der Diplomingenieur Egon Meier war äußerlich der Typ eines vollkommenen Lebemannes. Wohl bemerkt: Lebemann, nicht Dandy oder Geck, – trotz seines stets bis ins kleinste tadellosen und modernen Anzuges. Aber gerade in der Kleidung wußte er stets mit seinem Gefühl die Grenze zwischen unaufdringlicher Vornehmheit und der Talmi-Eleganz des Modejünglings sehr genau einzuhalten. Und er konnte es sich mit seiner schlanken Figur, dem sicheren Auftreten, den etwas nachlässigen, abgerundeten Bewegungen und dem frischen energischen Gesicht schon leisten, durch seinen Anzug so ein ganz klein wenig aufzufallen.

Jedenfalls waren es zwei junge, gut zu einander passende Menschenkinder, die jetzt in einsamere Straßenzüge einbogen, um ungestört zu sein.

Kein Wort von Liebe war bisher zwischen Astrid und dem Ingenieur gesprochen, obwohl sie sich bereits länger als ein Jahr kannten, das heißt zusammen in den Bureauräumen der Berliner Niederlassung der großen Autofirma gearbeitet hatten. Und doch wußten beide, wie es um sie stand.

Astrid hatte sehr wohl gemerkt, daß der flotte Egon Meier langsam sich förmlich „umkrempelte“, nachdem er sie kennen gelernt hatte. Früher ein Junggeselle, der sein Leben sorglos und heiter genoß, wurde seine Daseinsführung allmählich eine ganz andere. Und er verhehlte dies Astrid auch nicht, ohne jemals damit in ungeschickter Weise zu prahlen. Nein, nur so nebenbei erwähnte er dies und das, um seiner stillen Liebe zu zeigen, daß er jetzt ein bestimmtes Ziel vor Augen habe und deshalb mit vielen seiner bisherigen Gewohnheiten gründlich aufgeräumt habe.

Astrid verstand ihn sehr wohl. Auch bei ihr dauerte es nicht allzulange, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß der Ingenieur ihr nicht gleichgültig war. Und es gab Stunden, wo ihr heißes Herz sich nur mit Mühe zur Ruhe zwingen ließ, wo die Gegenwart Egons, seine Stimme, sein frohes, selbstbewußtes Lachen sie seltsam erregte, wo sie seinen bescheiden werbenden Blicken fast angstvoll auswich und doch am liebsten diesem prächtigen Menschen zugerufen hätte: „Ich liebe dich – ich bin dein – ganz dein …“

Aber in solchen Augenblicken erstand sofort wieder vor ihren Blicken das strenge Bild des Vaters, der gerade wegen der Dürftigkeit seiner Verhältnisse sich in der krampfhaften Angst, noch tiefer hinabzusteigen, zu der so verachteten Plebs, fester denn je an die altüberlieferten Anschauungen anklammerte und sein bißchen Adelsstolz wie einen Hemmschuh gegen das weitere Abwärtsgleiten benutzte. –

Meier – Meier …!! Nie hätte Adolf von Merker, so wie Astrid ihn kannte, seine Einwilligung zu einer Verlobung mit einem Manne dieses Namens gegeben. Es sei denn, daß das Wörtchen „von“ davor gestanden hätte.

Und diese Aussichtslosigkeit der Erfüllung geheimer Herzenswünsche hatte Astrid Egon sehr fein zu verstehen gegeben, hatte, so schwer es ihr auch fiel, den Ton zwischen ihnen ganz auf Kameradschaft gestimmt. Aber eine gewisse Vertraulichkeit war doch zwischen ihnen entstanden, und manche Bemerkung des schlagfertigen, witzigen Ingenieurs deutete darauf hin, daß er noch lange nicht die Hoffnung aufgegeben habe, der Herr Major könnte eines Tages über einen gewissen Meier auch anders denken lernen.

Seit Astrid bei dem Kalifornier Sekretärin war, hatte freilich die sonst meist glänzende Laune Egon Meiers eine sehr auffällige Verschlechterung erfahren. Er war damals, als seine Korrespondentin bat, die weit besser bezahlte Stelle bei Tom Wisterley sofort antreten zu dürfen, nicht selbstsüchtig genug gewesen, dies zu vereiteln. Aber seine Großmut gereute ihn jetzt schon. Die Eifersucht quälte ihn, und daher atmete er jetzt förmlich erleichtert auf, als Astrid ihn darauf aufmerksam machte, daß die Stelle des technischen Direktors noch immer unbesetzt sei und er doch einmal versuchen solle, diesen Posten zu erhalten.

„Freilich“, fügte Astrid hinzu, „Herr Wisterley stellt recht hohe Ansprüche, die eigentlich nicht ganz einfach zu erfüllen sind.“

Sie setzte ihm dann näher auseinander, was der Kalifornier von seinem zukünftigen Direktor verlange.

„Ich verstehe – ich verstehe!“ meinte Egon Meier, plötzlich wieder geradezu strahlend vor Heiterkeit und Unternehmungslust. „Mit einem Wort, er will so einen „ganz Ausgekochten“ haben, wie die Berliner sagen, einen, der womöglich noch mehr „smart“ ist als er selbst. Nun, ich glaube, ich kann ihm mit diesem Artikel dienen. Und mir ist soeben ein glänzender Gedanke gekommen, wie ich ihm beweisen kann, daß nur ich allein der Mann bin, den er sucht.“

 

7. Kapitel.

Von Briefmarken, einem Stammhalter und einer Reisegefährtin.

„Lieber Adolf, ich finde hier soeben in der Zeitung eine Anzeige, in der für eine Munitionsfabrik Herren von tadellosem Ruf und militärischer Vorbildung für Vertrauensposten gesucht werden. Das wäre vielleicht etwas für dich.“

Über dem Tisch im Eßzimmer bei Merkers brannte die Gaslampe leise singend. Der Major, Frau Malwine und Gerda saßen daran, mit der Abendzeitung beschäftigt, aus der der Major besonders wichtige Stellen vorzulesen pflegte.

Frau Malwine reichte ihrem Manne das Blatt. Sie war gespannt, ob es ihr gelingen würde, was Astrid ihr in der Küche mit den Worten vorgeschlagen hatte: „Papa kommt dort bei dem Kalifornier sicher an. Du brauchst ihm ja nicht gerade zu sagen, daß auch ich jetzt dort beschäftigt bin. Mag er weiter in dem Glauben belassen bleiben, daß noch Herr Egon Meier als Schwiegersohn im Hintergrunde wie ein Gespenst steht, das heißt, daß ich noch über Autoverkäufe korrespondiere.“

Der Major war sofort Feuer und Flamme, sehr zu seiner Gattin stiller Genugtuung.

„Gleich morgen vormittag stelle ich mich vor,“ erklärte er.

Draußen schellte die Flurglocke. Gerda, die öffnen gegangen war, kam mit einem Briefe für den Vater und einem zweiten für die Mutter zurück.

„Die Briefträgerin war’s,“ sagte sie und legte die Postsachen auf den Tisch vor den Platz des Majors hin. Das verlangte dieser. Er kontrollierte den Briefwechsel der Seinen ganz genau und hielt es für sein gutes Recht, auch nicht an ihn gerichtete Schreiben zu öffnen.

„Ah – von dem Briefmarkenhändler Bremerstein,“ sagte er gespannt und schnitt hastig den einen Umschlag auf.

Er las und las … Seine buschigen weißen Brauen bildeten wieder die bekannte Linie.

„Meine Sammlung ist verkauft …!! Ah – so eine, so eine … – Für sechstausend Mark …!! Sechstausend Mark!! Da seht Ihr, was für einen Wert sie gehabt hat …!! Meine schöne Sammlung, mein einziger Trost …!“ Ganz gebrochen war der alte Herr, und durch seine grollende Stimme zitterte der Schmerz über den endgültigen Verlust seines kostspieligen Steckenpferdes wehmütig hindurch.

Die Majorin sah die Sache von einer ganz anderen Seite an.

„Lieber Adolf, dann bekämst du also doch noch Geld ausgezahlt. Sie war nur mit dreitausend Mark beliehen, und …“

„Geld – Geld! Was nützt das?! Meine Sammlung ist hin! Ja – zweitausendfünfhundert Mark stehen mir noch zu, teilt Bremerstein mir mit,“ unterbrach er sie heftig. –

Plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf.

„Zweitausendfünfhundert Mark – hm, – und wenn ich mir nun noch monatlich vielleicht einhundertundfünfzig Mark verdiene, dann könnte ich mir sofort eine neue anlegen – wenigstens den Anfang damit machen …“ Er sprach die Sätze leise vor sich hin, ganz gefangengenommen von diesem neuen Gedanken.

Dann sah er Bremersteins Brief nochmals durch.

„Merkwürdig, – der Käufer hat seinen Namen nicht genannt, nur bar bezahlt und die drei dicken Bände der Sammlung gleich mitgenommen, schreibt Bremerstein. Überhaupt, um ganz ehrlich zu sein, sechstausend Mark ist die Sammlung eigentlich nicht wert. Wirklich nicht. Nun – geschehen ist geschehen.“

Er öffnete jetzt den an seine Frau gerichteten Brief.

„Sieh da, unsere reiche Schwiegertochter läßt mal wieder was von sich hören, die geborene Seidelmann.“

„Aber Adolf – weshalb immer diese Spitzen! Es ist doch die Frau unseres Sohnes, und wenn zwischen uns nicht das rechte Verhältnis besteht, so tragen wir daran wohl die Hauptschuld.“

„Wie – wir?! Noch schöner!“ ereiferte sich der Major. „Vergiß nicht, daß dieser … dieser Kommerzienrat mir seiner Zeit eine laufende Unterstützung angeboten hat, daß er … daß er …“

„Lieber Adolf, das Angebot ging von Heinz aus, unserem Sohne,“ berichtigte die Majorin ihn zaghaft.

„Aber Seidelmannsches Geld war’s, das wir annehmen sollten!! Nun – meinen Antwortbrief damals werden sie sich wohl nicht hinter den Spiegel gesteckt haben, diese … diese … Protzenbande!“

„… Adolf …!!!“

„Verzeih’ – die „Protzenbande“ nehme ich zurück. Das war eine Entgleisung meinerseits.“

Er überflog den Brief. Plötzlich sagte er:

„Gerda, hole mir mal eine Zigarre.“

Die Älteste wußte schon Bescheid. Es sollte etwas verhandelt werden, was sie nach des Papas etwas stark vorsintflutlicher Ansicht nicht hören durfte. Aber die Mutter erzählte es ihr nachher doch. Das war immer so.

„Malwine“, begann der Major sehr feierlich, als Gerda verschwunden war, „– Malwine – denke dir: Am Stamm der Merker ist ein neues Reis entsprossen. Heinz ist glücklicher Vater eines strammen Jungen geworden.“ Seine Stimme zitterte ein wenig, und um seinen strengen Mund arbeitete es wie mühsam unterdrückte Rührung.

„Schon vor vier Tagen ist das freudige Ereignis eingetreten,“ fuhr er fort. „Traude hat es uns aber durchaus selbst in einem Brief mitteilen wollen, ebenso wie auch unserem Heinz, der da unten in Rumänien steht und daher die Nachricht noch eine Woche später als wir erhalten dürfte.“ –

„Ein Sohn – ein Merker!“ wiederholte er leise. „Das söhnt mich mit vielem aus. Ich werde gleich an Traude einen Glückwunsch schicken, auch einen Brief, und Gerda soll die Flasche Wein kalt stellen, die in meinem Bücherschrank steht. Darauf müssen wir anstoßen. Das verlangt schon unbedingt …“

„Aber Adolf – es ist doch nur Kochmosel, – und er ist so sauer!“

„Sauer macht lustig! – So, nun werde ich Gerda rufen.“

Gerda teilte er die große Nachricht dann mit den Worten mit:

„Gott hat dem Geschlechte derer von Merker einen Stammhalter beschert, liebes Kind. Traude schreibt es uns hier.“

„Traude?“ fragte die Älteste erstaunt. Und mit einigem Recht.

„Wer wohl sonst?! Ich denke, ich habe nur die eine Schwiegertochter. – Und nun raus mit der Flasche Mosel in die Küche unter die Wasserleitung!“

Frau Malwine lächelte glücklich. – Er selbst wollte den Glückwunschbrief aufsetzen – er selbst! Das war die Versöhnung – endlich – endlich! Wenn nun doch auch mit Astrid alles ins Gleiche käme …!!

* * *

Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr.

Major von Merker betritt die Bureauräume der neuen Munitionsfabrik Germania in der Augsburger Straße. Zunächst ein Vorzimmer, in dem drei junge Mädchen sitzen vor ebenso neuen Schreibtischen, wie das ganze Unternehmen selbst es ist.

Die eine junge Dame geht den vornehm aussehenden alten Herrn anmelden. Alles wickelt sich glatt ab. Aber den Kalifornier selbst bekommt Merker nicht zu sehen. Tom Wisterley läßt sich entschuldigen. Er könne den Herrn Major nicht empfangen. Er sei zu beschäftigt. –

Der Angestellte, der dies meldet, füllt nun auch das Vertragsformular aus. Adolf von Merker verpflichtet sich darin, gegen ein Gehalt von monatlich dreihundert Mark die Abnahme der fertigen Munition durch die Militärbehörden zu überwachen und die Eingänge an Rohmaterial zusammen mit einem Fachkundigen zu übernehmen. Kündigung beiderseits ist vor einem Vierteljahr ausgeschlossen.

Dem Major schwindelt der Kopf. – Dreihundert Mark …!! Darauf hatte er nie zu hoffen gewagt. Nie!

Er unterschreibt den Vertrag mit seiner steilen großen Handschrift.

„Dienstantritt also morgen, Herr Major. Für den laufenden Monat wird das volle Gehalt gezahlt,“ sagt der Angestellte.

In demselben Augenblick tritt durch die nur angelehnte Tür von dem nächsten Zimmer her ein junges, schlankes, auffallend schönes Mädchen ein.

Der Major zuckt zusammen.

„Guten Tag, Papa,“ sagt Astrid und streckt ihm die Hand ohne jede Verlegenheit hin. „Herr Wisterley läßt sich dir nochmals empfehlen und bittet dich, morgen früh neun Uhr an seiner Stelle ins Kriegsministerium, Abteilung 14, Zimmer 29, zu gehen. Hier diese Papiere enthalten alle Angaben darüber, was dort zu erledigen ist.“

„Du hier, Astrid?“ stottert der Major ganz fassungslos. „Bist du denn jetzt …“

„So, weißt du das nicht? – Aber natürlich weißt du es. Du hast es nur vergessen.“ Sie wirft einen bezeichnenden Blick auf das umsitzende Schreibpersonal. „Willst du nicht einen Augenblick in mein Zimmer kommen?“

Er folgt ihr halb wie im Traum – eigentlich gegen seinen Willen.

Jetzt sind sie allein.

„Ich bin nämlich Herrn Wisterleys Privatsekretärin,“ sagt sie mit einer einladenden Handbewegung nach einem Klubsessel hin. „Habe ich’s hier nicht sehr gemütlich, Papa? Das Zimmer ist für ein Bureau doch recht hübsch eingerichtet.“

Adolf von Merker war nur daheim Tyrann. Hier in dieser fremden Umgebung fühlte er sich unsicher. Und dazu kam noch das Bewußtsein, mit seiner Jüngsten jetzt in demselben „Laden“ – früher hatte er jedes kaufmännische Unternehmen so bezeichnet! – angestellt zu sein …!!

Ob er wollte oder nicht – er mußte notgedrungen auf den Unterhaltungston eingehen, den Astrid angeschlagen hatte.

So entwickelte sich denn ein kurzes Gespräch, bei dem kein uneingeweihter Dritter herausgemerkt hätte, daß hier ein Vater seiner Tochter gegenübersaß, die er halb aus dem Hause gejagt hatte.

Schließlich fand Adolf von Merker aber doch so weit die Fassung wieder, daß er sich mit einem Male sehr förmlich erhob und sich verabschiedete.

„Oh, willst Du schon gehen, Papa?“ meinte Astrid bedauernd. „Nun – jedenfalls grüße die Mutter und Gerda recht herzlich. Wir werden uns ja jetzt wohl häufiger sehen. Ich freue mich schon darauf. Wie nett für uns beide, daß wir hier zusammen zum Wohle des Vaterlandes tätig sind, – denn Munitionserzeugung ist ja jetzt das Wichtigste.“

Adolf von Merker stieg die Treppe hinab. Ärger und daneben noch ein anderes Gefühl erfüllten seinen harten Kopf. Ein anderes Gefühl …, so etwas wie Stolz auf dieses Mädel, das da in den Bureaus mit solcher Sicherheit auftrat und das auch ihn völlig überrumpelt hatte. Eine Art hatte diese Astrid – alle Achtung – da steckte ein Charakter dahinter! – Das sagte sich der alte Herr, obwohl er bei dieser Begegnung eigentlich so etwas der … Blamierte war. –

Tom Wisterley hatte sich selbst noch eine weitere „Strafe“ für das dumme Herzklopfen auferlegt und Helene Websters Brief nicht am Morgen, sondern eben erst geöffnet, als ihm der Herr Major von Merker gemeldet wurde.

Als jetzt Astrid das neben dem ihren gelegene Arbeitszimmer des Chefs der neuen Firma betrat, fand sie den Bruder in einer recht gereizten Stimmung vor.

Sie sagte bei ihrem Eintritt scherzend: „Herr Wisterley, der Herr Major ist soeben gegangen,“ fand für diese Bemerkung bei ihm aber keinerlei Verständnis, mußte sich vielmehr gefallen lassen, daß er ziemlich kurz erwiderte:

„Gehen Sie an Ihre Arbeit, Fräulein! Ich will jetzt nicht gestört sein!“

Und dieses „Sie“ und diese Aufforderung war bei ihm kein Scherz. Schon einige Male hatte er Astrid gegenüber sehr den Chef herausgekehrt, wie er überhaupt bisweilen beinahe grob und sehr förmlich sein konnte, ganz wie seine Laune war.

Aber heute ließ Astrid sich dadurch nicht beirren, ging auf ihn zu, gab ihm einen Kuß und setzte sich lachend auf seinen Schoß.

„Ungehobelter Kalifornier, nimm etwas mehr Europas übertünchte Höflichkeit an!“ sagte sie, ihm einen leisen Backenstreich versetzend. „Mich erschreckst Du nicht durch diesen Brummbärton. Ich habe bereits herausgefühlt, welcher Art das Herz ist, das da unter dieser Weste schlägt …“

Er mußte nun doch lächeln. Aber es war etwas Gequältes darin, wie er die Lippen verzog.

„Hör’ mal, Schwesterlein, mir ist da eine sehr unangenehme Geschichte passiert,“ meinte er zögernd und leicht verlegen. „Ich erhielt doch gestern einen Brief von meiner Reisegefährtin. Aus … aus Zerstreutheit dachte ich eben erst an ihn. Nun steht darin verschiedenes, was eine Drahtantwort erfordert hätte. – Ich will dir doch lieber alles genauer erzählen. Also, Fräulein Webster schreibt mir, daß sie durch den Empfang, den die Verwandten ihrer Mutter ihr in Düsseldorf bereiteten, so sehr enttäuscht worden ist, daß sie schleunigst von dort wieder fort wolle, um den Leuten nicht länger zur Last zu fallen. Ich soll ihr nun umgehend – verstanden, umgehend! – mitteilen, ob ich ihr nicht eine gute Anstellung besorgen könnte, am liebsten als Erzieherin, wenn es sein müßte, aber auch als Verkäuferin oder dergleichen. Sie wird sich nun ausgerechnet haben, wann ihr Brief spätestens in meinen Händen sein müßte, wird heute schon eine Antwort erwartet haben und vielleicht annehmen, ich wolle mich nicht weiter um sie kümmern. Vielleicht ist sie gar schon aus Düsseldorf fort, um allein irgendwo ihr Glück zu versuchen. Ihre neue Adresse wird sie mir dann schwerlich mitteilen. – Die Sache ist mir wie gesagt sehr peinlich. Depeschiere ich jetzt, so kann das Telegramm bei den jetzigen Verhältnissen, wenn es das Pech will, einen ganzen Tag unterwegs sein. Ich habe eben kostbare vierundzwanzig Stunden verloren.“

„So telephoniere doch. Wenn die Verwandten nicht Telephon haben, – dessen Nummer könnte man auf der Auskunftstelle in Düsseldorf erfahren, sofern sie an das Fernsprechnetz angeschlossen sind –, so brauchst Du nur ein Düsseldorfer Eilboteninstitut zu beauftragen, dies und das an Fräulein Webster bestellen zu lassen.“

„Glänzend, – Schwesterlein, glänzend! Wird gemacht.“

Er schob sie sanft von seinen Knien herunter und nahm den Fernsprecher, der auf seinem Schreibtisch stand, zur Hand.

„Ich finde,“ sagte Astrid mit einem spitzbübischen Lächeln, „daß du kolossal besorgt um Helene Webster bist, Bruderherz – kolossal!“

„Unsinn! Ich weiß wohl, woran du denkst! Vergiß nicht, daß ich ungefähr achtzehn Jahre älter bin als sie. Und – wer wird mich nehmen, – mich?!“

Astrid lachte hell auf.

„Jedes Mädel, das wie du das Herz auf dem rechten Fleck hat, falls du nur so etwas dich bemühst, deine Hinterwäldler-Rauhbeinigkeit abzulegen. Bei unserem lieben Papa ist’s das Streben nach Autorität, bei dir die Verachtung jeglicher Rücksichtnahme auf die Erfordernisse einer verfeinerten Umgangsart, die eine durchgreifende Kur erfordern.“

Damit verließ sie das Zimmer.

 

8. Kapitel.

Ein Befähigungsnachweis.

Verließ es, um nach einer Viertelstunde zurückzukehren.

„Na, Herr Wisterley, wie steht’s mit dem Telephonanschluß?“ fragte sie gespannt.

Karl von Merker strahlte. Aber als Astrid fein lächelnd ihm mit dem Finger drohte, wurde er grob.

„Laß den Blödsinn, verstanden!! – Ich habe sie gesprochen und ihr sehr kurz mitgeteilt, daß … daß sie bei mir hier als … zweite Privatsekretärin eintreten kann, habe ihr auch nahegelegt, die Stellung sofort zu übernehmen.“

„Haben die Verwandten Fräulein Websters also wirklich Telephon!“ meinte Astrid so nebenbei. „Das erleichterte die Nachrichtenübermittlung allerdings wohl wesentlich. – Welche Nummer?“

Er schaute auf den Notizblock.

„823,“ erwiderte er und fuhr fort: „Ich muß jetzt in die Fabrik, Astrid. In einer Stunde bin ich wieder da. Dies für den Fall, daß wichtige Besucher kommen.“

Kaum war er zum Hause hinaus, als die jüngste Merker nach Düsseldorf, Nummer 823, Fernsprechanschluß verlangte.

Zehn Minuten dauerte es, bis sie Helene Webster am anderen Ende des Drahtes hatte.

„Hier Astrid von Merker, Schwester von Karl von Merker, alias Tom Wisterley.“

„Sehr erfreut. Wünscht Ihr Herr Bruder mich noch zu sprechen?“

„Nein. Das weniger. Der ist in der Fabrik. Aber Fräulein Webster, Sie könnten mir leicht helfen, Karl so etwas zu kultivieren. Sie kennen ihn ja. Ein guter Mensch, nur von dem Wahn befangen, daß er es nicht nötig habe, sich so etwas an verfeinerte Lebensart wieder zu gewöhnen. – War er vorhin am Telephon sehr liebenswürdig zu Ihnen?“

„Liebenswürdig? – Das hielt sich sehr damit! Eigentlich bot er mir den Posten bei sich in einer Weise an, daß ich am liebsten den Hörer weg gehängt hätte.“

„Aha! Da haben wir’s! Und hier verging er beinahe vor Angst, Sie könnten schon zu lange auf seine Antwort gewartet haben. – Wie gesagt – wollen Sie mir helfen, ihn zu bessern? Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

Das Gespräch dauerte noch eine geraume Weile. Sein Ergebnis befriedigte Astrid sehr.

„Warte, Brüderlein, dir will ich beweisen, daß auch ich „smart“ bin!!“ dachte sie und ging zurück an ihre Arbeit.

Pünktlich nach einer Stunde war der Kalifornier wieder in seinem Arbeitszimmer.

„Was Neues?“ fragte er seine Sekretärin.

„Leider,“ meinte Astrid.

„Leider?“

„Ja – Fräulein Webster hat nämlich eben wieder angeläutet.“

„Helene? – – Fräulein Webster?“ verbesserte er sich schnell.

„Allerdings. Sie läßt Dir sagen, daß sie aus der kurz angebundenen Art, wie du ihr die Stellung bei dir angeboten hast, nachträglich die Überzeugung erlangt habe, sie hätte sich wohl zu aufdringlich gezeigt und zu stark sich auf eure Reisebekanntschaft berufen. Deshalb lehne sie auch den Posten hier ab. – Sie läßt dich nochmals grüßen und wird dich nicht weiter behelligen. – Natürlich wollte ich sie versöhnen. Aber es gelang mir nicht. Sie teilte mir noch mit, daß sie nach München wolle, wo sie als Modell für blonde Frauenköpfe ihr Brot zu verdienen hoffe. Jetzt sitzt sie bereits im Zuge. Sie telephonierte vom Bahnhof aus.“

Karl von Merker sank in den Schreibtischsessel. Sein Gesicht war ganz verzerrt.

„Modell!! – Modell?! – Das Frauenzimmer ist verrückt!! – Ich sage ja, – das kommt davon, wenn man sich nur ein wenig mit Weibern einläßt! Empfindlich ist die Bande – empfindlich!! Aber von Helene – von Helene Webster hätte ich das doch nicht gedacht! Na – meinetwegen mag sie in drei Teufels Namen Modell werden! Eine solche Idee!! Für eine junge Dame!! Unglaublich!! – – Im übrigen, Astrid, woher wußte denn Helene … die Webster meine hiesige Telephonnummer?“

Astrid bekam einen sehr roten Kopf. Ihrem Bruder entging das jedoch.

In demselben Augenblick klopfte es.

Auf des Kaliforniers „Herein“ erschien ein Angestellter und meldete einen Herrn Meier … „In sehr dringender Angelegenheit.“

„Meier – vielversprechender Name,“ brummte Tom Wisterley. „Soll eintreten.“

Dann wandte er sich Astrid zu.

„Woher also die Telephonnummer?“

„Auf dieselbe Weise herausgekriegt, wie ich es dir vorschlug, mein Lieber,“ erwiderte Astrid ruhig.

Da trat Egon Meier ein. Er hatte noch gerade dieses „mein Lieber“ gehört. Das traf ihn wie ein Peitschenhieb.

Enttäuschung, Eifersucht, Empörung lagen in dem Blick, den er Astrid zuwarf, die schnell an ihm vorbei zum Zimmer hinausschlüpfte.

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sich so weit gesammelt hatte, um mit Tom Wisterley die Unterredung beginnen zu können.

In diesen Sekunden hatte er blitzschnell sich überlegt, ob es jetzt überhaupt noch einen Zweck habe, sich um die Direktorstelle zu bemühen. Nur Astrids wegen hatte er sich dies ja vorgenommen. Er wollte sich eben eine Stellung schaffen, die auch dem adelsstolzen Major genügen mußte. – Und nun hatte er hier soeben den unwiderleglichen Beweis erhalten, daß Astrid eine ganz gefährliche falsche Schlange war! „Mein Lieber!“ das sagte genug! Also so stand sie schon mit dem Kalifornier! Natürlich! Dessen Millionen, die lockten! – Aber weshalb in aller Welt hatte sie ihm dann so deutliche Fingerzeige gegeben, wie er es anstellen müsse, um den Direktorposten zu erhalten! Unbegreiflich! Liebte sie etwa doch ihn und wollte so nur Tom Wisterleys Millionen sich sichern? Dahinter mußte er unbedingt kommen, unbedingt!!

Also vorwärts! Nun kam es darauf an zu beweisen, daß er dem Kalifornier mindestens an „Ausgekochtheit“ gewachsen war …!

Er machte Tom Wisterley eine knappe Verbeugung, legte seinen steifen Filzhut auf den nächsten Aktenbock, rückte sich einen Klubsessel neben den Schreibtisch und setzte sich – alles mit der größten Selbstverständlichkeit.

Dann sagte er:

„Bitte, nehmen Sie auch Platz, Herr, – ich bin es nicht gewöhnt, im Stehen zu sprechen.“

Karl von Merker war doch etwas überrascht. Hier in Deutschland hätte er nie und nimmer erwartet, daß sich jemand auf diese Weise bei ihm einführte.

Trotzdem ließ er sich, ohne sein Erstaunen zu verraten, in seinem Schreibtischsessel nieder.

„Sie wünschen?“ fragte er dann kurz.

„Hunderttausend Mark,“ erwiderte Egon Meier ebenso kurz.

„Erklären Sie sich genauer!“

„Selbstverständlich!“

Und Meier erhob sich, ging erst zu der einen, dann zu der zweiten Tür des Zimmers, öffnete sie schnell, schaute hinaus in die Nebenräume und setzte sich wieder.

„Ihr Personal ist neu. Es können neugierige Naturen darunter sein, Herr.“

Wisterley nickte nur.

„Also hunderttausend Mark,“ fuhr Egon Meier fort. „Als Schweigegeld. Ich könnte auch das Doppelte verlangen. So viel ist die Geschichte mindestens wert.“

„Herr, Sie sind entweder verrückt oder …“

„… oder wissen wirklich etwas, das so viel wert ist,“ vollendete Meier gelassen, zog seine Zigarrentasche hervor und zündete sich eine fast schwarze Importe mit Leidbinde an.

Wisterley-Merkers braunes, wie aus Leder gegerbtes Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an.

„Lassen Sie Ihre Mätzchen,“ meinte er. „Bei mir verfängt das nicht.“

„Glaube ich gern – wenn es sich um Mätzchen handelt. Hier liegt die Sache aber anders. Jeder Mensch hat sozusagen ein paar Rostflecke auf seiner Innenseite, hauptsächlich für ihn selbst bemerkbar, manchmal aber auch für andere. Einer dieser Rostflecke bei Ihnen ist seit sechs Tagen das Malling-Patent.“

Meier hatte den Kalifornier scharf beobachtet. – Wahrhaftig – der war leicht zusammengezuckt, sagte aber sofort achselzuckend:

„Ist das ein Patent, wie man Schwätzer wie Sie zu vernünftigen Leuten umformt?!“

„Entschuldigen Sie vielmals – ich habe mich ungenau ausgedrückt,“ sagte Meier ebenso ironisch. „Es ist kein Patent, sollte aber eigentlich eins werden. Alle Patente können jetzt im Kriege, falls sie irgendwie die Interessen der Wehrmacht Deutschlands berühren, bekanntlich von den Militärbehörden sozusagen beschlagnahmt werden. Der Erfinder Malling mit seinem neuen Verfahren zur schnelleren Herstellung von Granaten wollte nun aus seiner Idee mehr Kapital schlagen, als das Kriegsministerium ihm gezahlt hätte. Das Nähere wissen Sie besser als ich. – Bin ich also verrückt oder nicht?“

Tom Wisterley war aufgesprungen.

„Wie haben Sie Kenntnis von dieser Sache erhalten?“ fuhr er Egon Meier an. „Heraus mit der Sprache! Wie ist es möglich, daß …“

„Einem hellen Kopf ist alles möglich. – Setzen Sie sich wieder. Es ist mir ungemütlich, wenn ich derartige Besprechungen nicht in Ruhe erledigen kann.“

Wisterley-Merker setzte sich. Aber seine Stirn lag in Falten. Er dachte eine Weile nach.

„Also hunderttausend Mark?“ fragte er dann geschäftsmäßig.

„Nein,“ erwiderte Meier, indem er dem Wort ein paar tadellose Rauchringe folgen ließ.

„Zweimal hunderttausend?“

„Auch nicht. Ich habe mir die Sache anders überlegt.“

Und ehe noch Wisterley recht zur Besinnung kam, hatte Egon Merker schon seinen Hut ergriffen und war zur Tür hinaus.

Karl von Merker stieß einen Fluch aus, der einem englischen Schiffskapitän alle Ehre gemacht hätte, riß die Tür auf und rief Astrid zu:

„Lassen Sie den Herrn sofort zurückholen, der eben hier durchkam.“

Vier Minuten vergingen. Dann brachte Astrid von Egon Meier folgenden Bescheid: Er hätte jetzt keine Zeit. Herr Wisterley erledigte für seinen Geschmack derartige Sachen zu langsam. Er würde brieflich Nachricht geben.

Karl von Merker begann im Zimmer auf und ab zu laufen.

„Was hat’s denn gegeben, Karl?“ fragte Astrid leise. – Sie wunderte sich, daß es Egon Meier wirklich gelungen war, ihren Bruder so in Harnisch zu bringen. Der Ingenieur hatte ihr ja in keiner Weise mitgeteilt, wie er Tom Wisterley zu überzeugen gedenke, daß er allein der rechte Mann für den Direktorposten sei.

„Gegeben – gegeben?! – Dieser Meier ist ein ganz gemeiner Erpresser, der mich gehörig schröpfen wird. – Jetzt gehen Sie aber, Fräulein! Ich habe zu tun!“

„Jawohl, Herr Chef!“

Sie machte ihm einen tiefen Hofknicks und verschwand.

 

9. Kapitel.

Als noch ein Müller auftauchte …

Egon Meier war, nachdem er Wisterley verlassen hatte, mit der Straßenbahn nach dem Zentrum Berlins gefahren und hier in der Französischen Straße in einem alten Hause drei Treppen hochgestiegen. An der Flurtür rechts hing eine Visitenkarte: Ernst Malling, Ingenieur.

Malling war daheim. Er bewohnte hier zwei elegante Zimmer.

„Mahlzeit, Malling, wie geht’s Ihnen? – Natürlich vorzüglich! – Wie – Sie wollen das bestreiten? – Na also. – Woher ich das weiß? – Sollen Sie gleich hören. Vor einem halben Jahre erzählten Sie mir gelegentlich, daß Sie an einer neuen Art von Drehbank arbeiteten, die Granaten doppelt so schnell als bisher glätten solle. Als ich vorgestern wegen des Ersatzrades für gummibereifte Autoräder bei Ihnen war, lagen oben in Ihrem Papierkorb – Spion bin ich nicht, ich habe den Papierkorb wirklich nicht durchwühlt! – drei Briefumschläge mit dem Aufdruck der neuen Munitionsfabrik Germania. Unwillkürlich vereinigte ich da die Granatendrehbank und die Germania. Na – und mit dieser sehr losen und sehr unsicheren Vereinigung im Kopf bin ich heute bei dem Kalifornier gewesen und weiß nun, daß Sie geradezu in Geld schwimmen müssen.“

Dann erzählte er Malling, einem verwachsenen unscheinbaren Menschen mit sehr geistvollem Gesicht die Vorgeschichte seines heutigen Besuches bei Tom Wisterley.

„Ich denke natürlich gar nicht daran, Geld von ihm zu erpressen,“ fuhr er schließlich fort. „Aber nachdem er mir selbst auf meine geschickte Anzapfung hin durch sein ganzes Verhalten verraten hat, daß ich das Richtige vermutet habe, – eben daß Sie ihm Ihre Erfindung angeboten haben und er sie Ihnen abgekauft hat, um schneller liefern zu können als andere Fabriken, werde ich meine Kenntnis natürlich weiter in der Weise ausnutzen, daß ich ihm noch heute schriftlich mitteile, was mein Besuch bei ihm eigentlich bezweckte. Im übrigen gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, lieber Malling, daß ich schweigen werde wie das Grab. Ich nehme an, Wisterley wird Sie sehr bald anklingeln und zu sich bitten, um über mich mit Ihnen zu beratschlagen. Tun Sie mir nun den Gefallen und seien Sie bis heute Abend acht Uhr telephonisch oder sonst wie unerreichbar. Sonst verderben Sie mir den ganzen Spaß.“

Da klopfte es. Mallings Wirtin erschien und meldete Herrn Thomas Wisterley.

„Aha,“ sagte Egon Meier. „Dann können wir die Sache auch mündlich gleich mit ihm in Ordnung bringen. Er hat jetzt lange genug gezappelt und sich beunruhigt.“ – –

Am Nachmittag desselben Tages rief Wisterley die eben erschienene Astrid in sein Arbeitszimmer und erklärte ihr, der Posten des technischen Direktors sei nun besetzt worden.

„Du kennst den Herrn im übrigen. Es ist der hiesige Vertreter der Automobilfabrik, bei der du früher Korrespondentin warst. Egon Meier heißt er. Dem Manne ist es gelungen, mich „einzuwickeln“ – mich!! Das hat mir imponiert. Die näheren Umstände muß ich dir leider vorenthalten. Sie sind Geschäftsgeheimnis. Meier hofft den Vertrag mit seiner Firma sofort lösen zu können und will schon übermorgen bei uns eintreten.“

Astrid entgegnete nichts weiter. Sie war heute nicht gerade in bester Stimmung. Egon Meier hatte mittags zum ersten Male seit langer Zeit sie nicht an der Ecke Nürnberger Straße erwartet, sie dann auch nicht nachmittags zu treffen versucht. Jetzt fühlte sie erst so recht, wie sehr er ihr fehlte, wenn sie ihn einmal nicht sehen und sprechen konnte. Freilich – um sechs Uhr war ja Bureauschluß. Vielleicht begegnete sie ihm dann – vielleicht … –

Diese Hoffnung trog. Egon Meier ließ sich nicht blicken. Und niedergedrückt wie seit langem nicht wanderte Astrid nach dem Pensionat, wo sie ein recht hübsch eingerichtetes Zimmer bewohnte.

Zu ihrer Überraschung fand sie hier die ältere Schwester vor – mit verweinten Augen, die Gerda durch einen dichten Schleier zu verdecken suchte.

Die Begrüßung zwischen den sowohl äußerlich als auch dem Charakter nach so verschiedenen Geschwistern war überaus herzlich. Astrid, die die Ältere stets schon so etwas gegen die Tyrannengelüste des Vaters in Schutz genommen hatte, ahnte sofort, daß es daheim wieder einmal eine erregte Szene gegeben haben mußte, bei der die sanfte Gerda wie immer schlecht abgeschnitten hatte.

Und so war es auch.

Gerda, die in einem großen Warenhause in der Buchhalterei eine gutbezahlte Stellung bekleidete, hatte durch Zufall vor einem halben Jahre die Bekanntschaft eines Oberlehrers gemacht, der sie, ähnlich wie Egon Meier und Astrid, zuweilen nach Geschäftsschluß ein Stück begleitet und offenbar ebenso ernste Absichten wie der Ingenieur hatte.

Ein Spiel des launischen Schicksals wollte es, daß der Oberlehrer Müller hieß – ausgerechnet Müller, und daß der gestrenge Herr Major bisher nichts von dieser still im Verborgenen blühenden Liebe gemerkt hatte. Gerda traute er es eben nicht zu, heimlich hinter seinem Rücken Herrenbekanntschaften anzuknüpfen. – Und nun war die Bombe heute Mittag ganz plötzlich geplatzt … Adolf von Merker hatte das Pärchen auf der Straße getroffen, war auf den Oberlehrer Doktor Müller wie ein Stoßvogel zugeschossen und hatte ihn in einer Weise zur Rede gestellt, daß ein kleiner Straßenauflauf entstand und selbst der dicke Geduldsfaden des sonst sehr bescheidenen Jugendbildners riß, wodurch die Szene nicht gerade angenehmer wurde. Jedenfalls trennten sich die Parteien schließlich mit hochroten Köpfen. Der Major nahm die weinende Gerda unter den Arm, während Doktor Müller sich bebend vor Wut nach der anderen Straßenseite entfernte.

„Natürlich ist nun alles aus zwischen uns,“ jammerte die Ältere, in Tränen ausbrechend. „Fritz wird sich von mir lossagen, nachdem der Vater ihn so schwer beleidigt hat. Und dabei sind wir doch bereits heimlich verlobt und … und haben uns auch schon dreimal geküßt.“

„Sieh einer an! Das ist nun unsere stille Älteste!! Geküßt sogar! Schau schau!!“ Astrid lächelte übermütig.

„Bitte, nimm die Sache doch nicht von der scherzhaften Seite!“ klagte Gerda. „Mein Gott – was tue ich nur! Ich liebe ihn doch so … Und einen Auftritt hatte es noch daheim gegeben – einen Auftritt, gar nicht zu schildern! – Meier und Müller …!! Die Namen waren für Papa wie das bekannte rote Tuch für den Stier!!“

„Kann ich mir denken!“ Astrid umschlang die Schwester zärtlich und fuhr fort: „Kopf hoch! Glaube mir – es wird noch alles gut werden, wenn du auf mich hörst. Du mußt nun endlich auch mal zeigen, daß du weißt, was du willst! Und daher wirst du morgen gleichfalls von Hause fortziehen, nachdem du heute abend unser liebes Mütterlein beruhigt und ihr von mir folgendes ausgerichtet hast: Es wird demnächst, und zwar in der nächsten Woche an Papas Geburtstag, einige Überraschungen freudigster Art für den Vater geben, der bis dahin wohl eingesehen haben dürfte, daß seine Auffassung von elterlicher Autorität nicht ganz die richtige ist. – Mama kann sich ganz bestimmt darauf verlassen, daß all diese Widerwärtigkeiten sich in eitel Freude und Wonne auflösen werden. Du selbst aber schreibst jetzt gleich deinem Doktor Müller, daß du aus dem heutigen Verhalten Papas ihm gegenüber die einzig mögliche Folgerung gezogen hättest, und vorläufig hier zu mir übergesiedelt wärst, – eben bis der Vater zur Vernunft gebracht ist. Dein lieber Fritz wird dies als untrüglichsten Beweis deiner großen Liebe hinnehmen, – na, und alles weitere überlasse Herrn Tom Wisterley und mir!“

„Wisterley – was hat der damit zu tun? Hast du etwa Egon Meier …“

„… den Laufpaß geben? – Ach nein, Gerda, ich für meinen Teil denke gar nicht daran! Aber lassen wir gerade dieses Thema …! – Ich freue mich schon auf den Augenblick, wo Papa den neuen Direktor der Fabrik Germania – eben Egon Meier – gegenübertritt! Was aber Wisterley anbetrifft, so bin ich mit ihm dick Freund, so dick, daß wir uns zuweilen duzen. Das ist so amerikanische Mode …!!“

„Wenn du nur nicht immer alles, was du sagst, mit Scherzen spicken wolltest. Ich finde das Leben so schrecklich ernst und ohne Sonnenschein,“ meinte die Ältere seufzend.

„Ohne Sonnenschein?! Na – ich bitte doch sehr …!! Und Fritz Müllers Küsse …!! Rechnest du die unter die Hagelschauer, weil sie … so dicht fallen …?“ – –

* * *

Für die Majorin folgten jetzt schwere Tage.

Adolf von Merker wandelte daheim umher wie eine geladene Gewitterwolke – nur daheim! So lange er seinen täglichen Dienst bei der Germania versah, mußte er schon auf die drohend zusammengezogenen Brauen und die bissigen Bemerkungen über „ungeratene Kinder“, „Undankbarkeit“ und die „aufrührerische moderne Zeit“ verzichten.

In den Bureaus der im Entstehen begriffenen Fabrik wehte ein Wind, der alle Stimmungen, ob gute oder schlechte, hinwegfegte. Ein sehr frischer Wind. Dort mußte jeder seine Schuldigkeit bis zum Äußersten tun. Alle persönlichen Interessen traten zurück. Gute Gehälter gab’s, aber es wurde auch viel verlangt, von jedem einzelnen! In den Bureaustunden war es stets, als ob ein allgemeiner Wetteifer die Angestellten erfaßt hatte, noch mehr zu schaffen, als nötig war. Eine gewisse arbeitsfreudige Nervosität packte alle ohne Ausnahme, wenn man stündlich die deutlichsten Beweise dafür erhielt, wie jede Kleinigkeit hier von der praktischen Seite angefaßt, wie keine überflüssige Zeile geschrieben wurde und der Chef und der technische Direktor sich selbst am wenigsten schonten.

Der Chef …! Der war allen ein wahrer Halbgott. Selten zu sehen, da er viel auswärts zu tun hatte. Und doch fühlte man stets seinen kritischen Blick, hörte man stets seine scharfe Stimme, die mit seltener Gerechtigkeit Lob und Tadel zu verteilen pflegte.

Eine unsichtbare Peitsche schien dauernd über allen diesen Menschen zu schweben, weniger zum Zuschlagen erhoben als zum warnenden Zeichen steten Beobachtetseins. – –

Zehn Tage arbeitete der Major nun bereits bei der Germania, und doch hatte er den Chef noch nicht ein einziges Mal persönlich gesprochen, nur zweimal flüchtig gesehen, ganz flüchtig. Das kränkte den alten Herrn. Man war doch schließlich hier nicht ein gewöhnlicher Schreiber, sondern Leiter der Abnahmeabteilung, die auf demselben Flur in den Räumen der leeren Nebenwohnung zusammen mit anderen neu eingerichteten Bureaus untergebracht war. Gewiß, durch den Fernsprecher gab es täglich zwischen den beiden Herren allerlei zu erledigen – aber nur durch den Fernsprecher, durch den jedes Zimmer mit dem Privatkontor des Chefs verbunden war.

Anders verhielt es sich – zunächst nicht gerade zur Freude des Majors – mit dem Direktor Egon Meier und mit Astrid. Die beiden sah und sprach der alte Herr täglich.

Das erste Zusammentreffen Adolf von Merkers mit dem „anmaßenden Menschen, diesem Meier“ hätte einem in die näheren Verhältnisse nicht weiter eingeweihten Beobachter kaum Gelegenheit zu besonderen Schlüssen auf die Art der früheren Bekanntschaft der beiden Herren gegeben.

Egon Meier hatte etwas mit dem Major zu besprechen, war zum ersten Mal in dessen Arbeitszimmer gekommen, verbeugte sich flüchtig und sagte dann eilig:

„Wir kennen uns ja bereits von Ansehen, Herr Major. Ich bin der neue Direktor der Germania.“ Das war alles gewesen. Dann kam sofort das Geschäftliche.

Und doch, wie schwer war es dem alten Soldaten geworden, seine unangenehme Überraschung zu verbergen! Wie unendlich schwer! Und wie peinlich für ihn, hier jetzt einen Mann sozusagen als Vorgesetzten zu haben, der sich angemaßt hatte, zu einer geborenen „von Merker“ seine bürgerlichen Augen zu erheben!

Nun – der Major sah bald ein, daß in diesem Meier doch etwas mehr steckte, als sein Sammelname vermuten ließ. Ebenso wie er täglich seine Jüngste mit ganz anderen Augen zu betrachten lernte, passierte ihm dies auch mit dem einstigen Verehrer Astrids, dem einstigen …! Denn als er Astrid gleich nach diesem ersten Besuche des neuen Direktors gefragt hatte und zwar noch recht bissigen Tones, ob nicht bald auch Gerda mit ihrem Dr. Müller hier als Angestellte der Germania auftauchen würde, da war ihm von seiner Jüngsten sehr ernst – fast zu ernst und traurig erwidert worden:

„Mach Dir keine Sorgen in dieser Beziehung mehr, Papa! Zwischen mir und Herrn Meier ist … ist alles aus.“

Ihre Stimme hatte sehr merklich gezittert, als sie das sagte. –

Alles aus …! – Ja, so war es wirklich …! Nie wieder hatte Egon Meier sie an der Ecke Nürnberger Straße erwartet seit jener Begegnung in Tom Wisterleys Arbeitszimmer. Auch sonst zeigte er sich ihr gegenüber von einer so kühl höflichen Zurückhaltung, daß er offenbar einen triftigen Grund für dieses völlig veränderte Benehmen haben mußte.

Umsonst grübelte Astrid darüber nach, wodurch sie ihn verletzt haben könnte. Zu stolz, ihn hiernach zu fragen, wurde sie ihm gegenüber noch kühler und förmlicher, als dies den Umständen nach nötig gewesen wäre. Dabei verzehrte sie sich vor Gram und Herzeleid, spielte jeden Tag während der Dienststunden diese traurige Komödie, tat, als sei ihr der neue Direktor der gleichgültigste Mensch von der Welt und … verging in Wahrheit vor Sehnsucht nach dem einen Manne, der für sie die Zukunft bedeutet und für den sie mehr als einmal den Herrschergelüsten des Vaters Trotz geboten hatte.

Und Egon Meier selbst? – Ihm erging es noch schlimmer als Astrid. Bald hatte er festgestellt, daß zwischen dem jungen, schönen Weibe, das er schon völlig als seinen Besitz betrachtete, und Tom Wisterley tatsächlich ein starker Grad von Vertraulichkeit bestand. – Astrid war ihm ein vollkommenes Rätsel. Er suchte sich einzureden, daß er sie, die doch nur nach des Kaliforniers Millionen angelte, verachte. Aber diese Selbsttäuschung gelang ihm nicht. Immer wieder drängte sich ihm die Frage auf: Weshalb hat sie gewollt, daß gerade du den Direktorposten bekommen solltest, weshalb half sie dir, Tom Wisterley zu bestimmen, daß seine Wahl gerade auf dich fiel …?!

Alle Qualen der Eifersucht kostete er durch – alle! Wie oft war er nahe daran, eine Aussprache mit ihr herbeizuführen. Aber er fürchtete die letzte Entscheidung. Noch lebte ja in einem stillen Winkel seines Herzens die Hoffnung, daß sie sich ihm wieder zuwenden könne, obwohl ihr Benehmen dieses wage Hoffen wenig kräftigte.

So gingen die Tage hin, und der Geburtstag des Majors rückte näher und näher, an dem, wie Astrid durch Gerda der Mutter hatte versprechen lassen, alle Widerwärtigkeiten in lauter Sonnenschein sich auflösen würden.

 

10. Kapitel.

Geburtstagsüberraschungen.

Tom Wisterley hatte ein Berliner Detektivinstitut mit Nachforschungen nach dem Verbleib Helene Websters beauftragt. Deren Verwandte in Düsseldorf behaupteten, sie sei nach Berlin gefahren. Das konnte nicht sein. Sie hatte ja selbst München als ihr Reiseziel angegeben. Und so wurde in der bayrischen Hauptstadt gesucht. Das Ergebnis war die Feststellung, daß Helene in München jedenfalls unter ihrem richtigen Namen nicht leben konnte.

Der Kalifornier gab große Summen für diese Ermittlungen aus. Selbst ihm wurde es nicht leicht, die Gedanken an seine verschwundene Reisegefährtin so weit zu bannen, daß er dadurch nicht in der Riesenarbeit gestört wurde, die jetzt auf seinen Schultern lastete.

Er wurde zusehends magerer. Die Stimmungen wechselten bei ihm wie Aprilwetter. Astrid merkte, wie er litt. Er hatte ihr zu verheimlichen gesucht, daß drei Detektive nach Helene Webster forschten, daß er letztens sogar Anzeigen in allen großen Blättern eingerückt hatte, um sie dazu zu bewegen, ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Täglich nahm Astrid jetzt jede Gelegenheit wahr ihn daran zu erinnern, daß man die Selbstherrlichkeit, ein berechtigtes Bewußtsein des Wertes der eigenen Persönlichkeit, nicht so weit übertreiben dürfe, sich einen besonderen Umgangston abzugewöhnen, der feinfühlige Menschen verletzen mußte.

Es war eine harte Kur. Aber sie half. Karl von Merker war jetzt überzeugt, daß er allein daran die Schuld trage, wenn Helene Webster im Kampf ums Dasein unterlag, unterging. Reue und Gewissensbisse quälten ihn. Als wohltuende Ablenkung empfand er daher die vielfachen Vorbereitungen für den Geburtstag des Majors, an dem „Tom Wisterley“ diesen fremden Namen endgültig für alle Zeiten ablegen wollte.

Der große Tag war da. Alles war zwischen Astrid und Karl bis ins einzelne genau verabredet worden. Der Kalifornier begnügte sich noch immer mit dem einen Zimmer als Wohn- und Schlafraum, das hinter seinem Arbeitszimmer lag. Diese beiden Räume sollten der Schauplatz der geplanten Überraschungen werden.

Es war vormittags zehn Uhr. Astrid betrat das Privatkontor des Chefs, einige Briefe in der Hand. Erst erledigten die beiden die Morgenpost. Dann sagte Astrid, indem sie sich dicht vor den Bruder hinstellte:

„Soeben habe ich Mama und Gerda in dein Wohnzimmer gebracht. Es wurde mir nicht leicht, die beiden so weit vorzubereiten, daß sie ungefähr ahnen, welches Wiedersehen ihnen bevorsteht. Bevor du nun aber zu ihnen hineingehst, mußt du noch eine Dame empfangen, die dir Grüße von … Helene Webster zu überbringen hat. – Bleib’ sitzen Brüderlein! – Ja, von Helene Webster! Hm – vielleicht ist sie es auch selbst, die … – Du sollst sitzen bleiben und mich erst anhören, Karl! Es wird nicht lange dauern. Also …: Helene wohnt seit zwölf Tagen in demselben Pensionat wie ich. Wir sind längst Freundinnen geworden. Ich war es, die Helene damals dazu überredete, scheinbar sich völlig von dir loszusagen. Ich wollte es dir erleichtern, dir über deinen Herzenszustand klar zu werden und das erreichen, was mir auch geglückt ist: der freie, selbstbewußte kalifornische Farmer sollte seine kleinen Unarten ablegen. – So, und nun frage du selbst Helene Webster, ob sie der Ansicht ist, daß ein Altersunterschied von knapp achtzehn Jahren ein unüberwindliches Hindernis für eine glückliche Ehe ist.“

Und lachend verschwand sie im Nebenzimmer, nahm dort jemand, dessen Gesicht mit tiefer Glut bedeckt war, bei der Hand und schob dieses schlanke, blonde Geschöpf durch die Tür hindurch, die sie schnell wieder zudrückte.

Und doch hörte sie noch wie einen jubelnden Erlösungsschrei ein einziges Wort …: „Helene …!!“ – –

* * *

Herr Adolf von Merker saß in seinem Arbeitszimmer und schaute ziemlich trübselig vor sich hin.

Morgens hatte ihm Frau Malwine zum Geburtstag gratuliert und ihm als Geschenk zwei blühende Blumentöpfe, zwei schwarzseidene Krawatten und einen neuen Regenschirm überreicht. Von Gerda und Astrid waren sehr herzliche Briefe gekommen, von der Schwiegertochter aber ein Paket, das ebenfalls auf der Geburtstagsecke des Kaffeetisches aufgebaut war. Es enthielt zwei Kisten „Friedenszigarren“ und ein Bild des Stammhalters der Familie derer von Merker.

Trotzdem war der Major heute recht unzufrieden mit der ganzen Welt und besonders mit sich selbst. Gerade jetzt dachte er daran, daß er nun bereits drei von seinen Kindern aus dem Hause getrieben hatte. Gewiß – die beiden Mädels, die er täglich mehr daheim vermißte, würden wohl zurückkehren, wenn … wenn er den ersten Schritt zur endgültigen Aussöhnung tat. Aber – konnte er das denn als Vater?! Vergab er sich damit nicht etwas …?! Und – wie sollte er wohl überhaupt die ganze dumme Geschichte wieder einzurenken suchen?!

Er seufzte. – Da schrillte das Telephon auf seinem Schreibtisch.

Ah – wieder mal der stolze Herr Chef, der ihm geflissentlich aus dem Wege zu gehen schien.

„Hier Major von Merker.“

„Bitte kommen Sie doch sofort in mein Privatkontor, Herr Major. Es gibt etwas sehr Dringendes zu erledigen, das ich persönlich mit Ihnen besprechen möchte.“

„Ich bin sofort da, Herr Wisterley.“

So – also heute würde er nun endlich einmal diesem Kalifornier gegenübertreten – endlich! Nun – er würde recht zurückhaltend sein, den Herrn merken lassen, daß … daß … – Er brachte den Satz auch in Gedanken nicht fertig.

Astrid saß in ihrem Zimmer an der Schreibmaschine, als Adolf von Merker eintrat. Sie erhob sich schnell, umarmte den Vater und wünschte ihm Glück und Segen für das neue Lebensjahr.

„Du hättest auch wohl selbst zu mir herüberkommen können,“ knurrte er mit verdächtig feuchten Augen. – Teufel noch mal – ihm war heute wahrhaftig ganz rührselig zumute.

„Gewiß, Papa, – ich hätte können,“ lächelte sie. „Aber das wäre gegen das Programm gewesen.“

„Programm?! Was heißt das, Astrid?“

Sie beantwortete diese Frage nicht, sondern sagte, indem sie ihn wieder umschlang:

„Papa, hast du eigentlich mal mit der Möglichkeit gerechnet, daß Karl wieder auftauchen könnte …?“

Die Augen des alten Herrn weiteten sich. Blitzschnell überlegte er … – „Programm“ …, und jetzt diese Frage …!!

Er packte fast rauh ihren Arm.

Da kam sie ihm schnell zuvor.

„Nachher, Papa, – nachher kannst du fragen, so viel du willst. Jetzt erwartet uns der Chef.“

Und schon hatte sie die Tür geöffnet und sagte sehr feierlich:

„Bitte, Herr Major!“

Der alte Herr überschritt die Schwelle, prallte aber förmlich zurück …

Mit einem schnellen Blick hatte er das Zimmer überflogen …

Das war ja eine reine Versammlung hier …! – Seine Augen blieben, nachdem sie nochmals den Mitteltisch gestreift hatten, auf dem, umgeben von einem Kranze blühender Blumen, seine – wahrhaftig! – seine drei Briefmarkenalben lagen, jetzt auf seiner Gattin haften, die Arm in Arm mit dem Chef der neuen Fabrik dastand …

Plötzlich glitt ein heller Freudenschein über des Majors Gesicht … Nun verstand er Astrids Frage, nun erkannte der den Verschollenen, Totgeglaubten wieder …

„Karl … Karl … mein Junge …, mein lieber Junge …!!“

Unter Schluchzen kamen ihm die Worte nur schwer über die Lippen.

Und jetzt fielen die beiden Männer sich in die Arme, beide tief erschüttert …

Dem Major versagten die alten Beine den Dienst. Und liebevoll führte ihn der wiedergefundene, älteste Merker zum nächsten Sessel hin, um den sich schnell ein Kreis gerührter Menschen bildete, denen allen Tränen in den Augen glänzten.

Karl hielt noch immer die Hand des Vaters in der seinen. Jetzt streckte er die andere nach Helene Webster aus.

„Papa, ich komme nicht allein, – ich bringe dir eine Tochter mit … Hier meine Braut …“

Helene erhielt ein Kuß auf die Stirn.

Da hatte der Major auch schon neben seiner Gerda den Oberlehrer Müller erspäht, winkte ihn heran und reichte ihm die Hand.

„Werden Sie glücklich mit meinem Kinde, Doktor,“ sagte er mit zitternder Stimme.

Astrid allein stand etwas abseits – mit wehem Herzen.

Doch auch sie sollte nicht leer ausgehen … Dafür sorgte der Kalifornier, der ihr jetzt mit strahlendem Lächeln, das sein fast zu energisches Gesicht wunderbar verschönte, zurief:

„Schwesterlein – glaubst du wirklich, ich hätte nicht gemerkt, wer dich bis vor nicht allzulanger Zeit immer getreulich heimbegleitete …?! – Geh’ doch mal in mein Wohnzimmer. Vielleicht hat dir dort jemand, den ich heute vor kaum fünf Minuten so etwas über unsere Verwandtschaft aufgeklärt habe, einiges abzubitten …“

Aber Astrid hatte es nicht nötig, den frohen Kreis zu verlassen.

Egon Meier war in die nur angelehnt gewesene Tür getreten.

Mit einer richtigen Armensündermiene streckte er Astrid beide Hände entgegen.

Sie zauderte, – aber nur, weil sie sich vor all den erwartungsvoll auf sie gerichteten Blicke schämte …

Da rief der Major, und seine Stimme war hell und klar wie zu seiner besten Zeit als Soldat:

„Vorwärts, Astrid, – vorwärts! Ein allerletztes Mal spiele ich jetzt den gestrengen Vater. Küßt euch, damit wir das Vierteldutzendbrautpaare voll bekommen! – Ich befehle es …!!“

 

 

Anmerkungen:

  1. Megäre = Megaira; eine der Erinnyen, der griechischen Rachegöttinen.