Sie sind hier

Die Vorsehung von Büskow

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 323

 

Die Vorsehung von Büskow.

 

Roman von

W. K. Abel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

Vom neuen Assessor und anderen Leuten.

„Herr Zugführer, bitte weisen Sie mir einen Platz in einem anderen Abteil an. Die … die Herrschaften belästigen mich fortgesetzt.“

Und bei dem Wort „Belästigen“, das Hella unmerklich betonte, blickte sie nach der halb offenen Tür des Wagens 3. Klasse hin, aus dem sie soeben unter Mitnahme ihres Handgepäcks geflüchtet war.

Der Zugführer schaute das junge Mädchen von oben bis unten prüfend an. Er war ein älterer Mann mit einem gemütlichen Gesicht, im dem die Augen stets etwas feucht schimmerten. Daran war nur die Eisenbahnverwaltung schuld, die die Züge auf dieser Nebenstrecke auf jeder Station längere Zeit halten ließ, so daß es gerade für ein Glas Bier oder einen Dänischen langte, zumal sich auch stets Reisende fanden, die eine schwache Seele zu verführen suchten.

Die Prüfung fiel zu Hellas Gunsten aus.

„Fräulein sind wohl Berlinerin, was? Man hört’s an der Sprache,“ meinte der Zugführer gemütlich.

Hella lächelte ein wenig. Und wenn sie lächelte, war’s stets, als liefe Sonnenschein über ihr feines Gesichtchen hin, der sich auch erwärmend ihrer Umgebung mitteilte.

„So?! Berlinere ich denn wirklich so stark, daß die Leute hier in Westpreußen mir die Spreeathenerin gleich anmerken?“ fragte sie, die Bestürzte spielend.

„Pah – die Westpreußen …!! Ich bin nämlich schonmal in Berlin geboren worden, Fräulein, – det macht’s! Aber kommen Sie! Die Dritte ist überall gleich voll. Und so eine Dame wie Sie gehört ohnehin wo anders hin. In einem Nichtraucher Zweiter sind noch Plätze frei.“

„Ich danke Ihnen sehr, Herr Zugführer.“ Und Hella kletterte vergnügt in das neue Abteil hinein, schaute flüchtig über die Insassen, drei Damen und einen Herrn, hinweg, und legte ihre Sachen dann letzterem gegenüber in das Netz, sich damit das Besitzrecht an dem leeren Fensterplatz sichernd.

Gleich darauf setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

Hella lehnte sich aufatmend in die Polster zurück, nachdem sie ihren kleinen Reisehut abgenommen und gleichfalls weggestaut hatte.

Sie merkte sehr wohl, daß die drei Damen sie unausgesetzt mit ziemlicher Unverfrorenheit musterten, kümmerte sich aber nicht weiter darum, dachte nur so ein ganz klein wenig geringschätzig „Kleinstädter“, nahm ihren Roman vor und begann zu lesen.

Auf der anderen Fensterseite des Abteils kam jetzt das Gespräch wieder in Fluß.

„Sie können es mir glauben, liebe Frau Amtsrichter, – der neue Assessor ist wirklich der Sohn eines Fleischers,“ sagte die Frau Gymnasialprofessor Marholz mit Nachdruck. „Mein Mann hat bei der letzten Schöffengerichtssitzung die Personalakten durch die Liebenswürdigkeit des Geheimrats einsehen dürfen. – Fleischers Sohn …!! Ja, ja, auch in den Juristenstand drängen sich jetzt so allerlei Elemente ein, die ihm nicht gerade zur Zierde gereichen.“

Frau Amtsrichter Knittel wurde etwas verlegen. Ihr Mann war auch nur der Sohn eines Kaufmanns, der dort unten in Schlesien ein Kolonialwarengeschäft mit Bierstube besaß. Trotzdem erklärte sie nunmehr, die Stupsnase höher reckend, es sei wahrhaftig eine Schande, daß sogar die Juristen immer mehr aus den „unteren Volksklassen“ sich ergänzten. Und fügte hinzu, um der Professorsgattin auch einen Hieb zu geben:

„In Oberlehrerkreisen hat man sich ja schon an diese moderne Erscheinung gewöhnt. Aber bei der Justiz empfindet man jeden einzelnen derartigen Fall beinahe noch als persönliche Kränkung.“

Frau Marholz warf der unscheinbaren „lieben Freundin“ einen Blick zu, der alles andere als Zuneigung enthielt. Sie war eine bereits recht rundliche Dame, herausgeputzt wie eine Theaterprinzessin und auch ebenso stark gepudert. Die Finger hatte sie mit einer Unmenge von Ringen besteckt, von denen die meisten nach einem in Büskow umgehenden Gerücht aus einem Berliner Achtmark-Basar stammen sollten.

Die Person des neuen Assessors, der am 1. Mai in dem Städtchen eintreffen sollte, das auch Hellas Reiseziel war, blieb noch über drei Stationen der Gegenstand der Unterhaltung zwischen den drei Büskower Damen, die gemeinsam zu Toiletten-Einkäufen in Danzig gewesen waren und sich jetzt auf der Heimfahrt befanden.

Hella konnte es gar nicht fassen, daß die drei so vorlaut und so zwanglos in Gegenwart von Fremden ein derartiges Gespräch führten. Längst hatte sie es aufgegeben, ihre Lektüre fortzusetzen. Nur zum Schein drehte sie von Zeit zu Zeit eine Seite um. Sie machte sich keinerlei Gewissensbedenken daraus, diese ihrer Auffassung nach höchst taktlose Unterhaltung zu belauschen, da diese ja so deutlich zu verstehen war, daß jeder in dem Abteil Anwesende notwendig jedes Wort mitanhören mußte.

Nicht ohne Grund interessierte sie sich für die drei Damen, ihre Anschauungen, ihre ganze Art sich zu geben. Hella war seit ihrer Kindheit kaum aus Berlin herausgekommen. Und nun mußte sie notgedrungen ihr geliebtes Berlin für längere Zeit mit Büskow, Stadt von viertausend Einwohnern, drei Kirchen, einer Synagoge, Sitz eines Amtsgerichts und eines Landratsamtes, vertauschen. Da war es ihr nicht zu verargen, wenn sie den Versuch machte, die Wesensart von Leuten zu studieren, mit denen sie vielleicht Jahre lang zusammenzuleben gezwungen war.

Über zwei von den Büskower Damen hatte sie ihr Urteil bereits abgeschlossen. Die Frau Professor Marholz war mit der Charakteristik: Eitel, stolz, beschränkt – abgetan. Schwieriger lag der Fall bei der Frau Amtsrichter. Die schien auch ihre guten Seiten zu haben. Jedenfalls war sie ganz schlagfertig. Nebenbei aber eine so unbedeutende Erscheinung, daß Hella zunächst nicht begreifen konnte, wie ein Mann dieses reizlose Geschöpf sich hatte zur Lebensgefährtin erwählen können, bis sie dann aus einer Bemerkung heraushörte, daß der Vater dieser Dame Landgerichtspräsident war. Nun reimte sie sich zusammen: Vernunftsehe von Seiten des Herrn Amtsrichters, um die Herkunft auszugleichen und schneller Karriere zu machen.

Die dritte Dame verhielt sich bei diesem Gespräch recht zurückhaltend. Wenn sie eine Bemerkung einstreute, war es stets nur ein völlig unpersönlicher Satz, der niemanden verletzten konnte, aber auch keinen Schluß auf den Charakter dieser Frau zuließ, die von den beiden anderen stets mit einer gewissen vertraulichen Herablassung behandelt und nur beim Namen, ohne jeden Titel, genannt wurde.

Frau Winkler war dabei ohne Frage eine Erscheinung, die auch in der Großstadt aufgefallen wäre. Schlank, voll, tadellos angezogen, sogar mit einer gewissen raffinierten Einfachheit, wie sie sich nur Damen von Geschmack zu leisten pflegen, besaß sie ein raffiniertes Gesicht mit ein Paar dunklen Augen, die wohl auch zuweilen vor Leidenschaft sprühend aufleuchten konnten, wenn sie auch zumeist – aus Klugheit, Selbstbeherrschung oder Angewohnheit, wer wollte das so schnell entscheiden?! – von den langen Wimpern halb verdeckt waren und einen Ausdruck bescheidener Zurückhaltung zeigten.

Hella hatte hin und wieder unauffällig die drei Damen sich angesehen, die die Fremde gar nicht mehr beachteten. Bald konnte sie so feststellen, daß diese Frau Winkler offenbar im geheimen sich über das Geschwätz ihrer beiden Nachbarinnen lustig machte, worauf etwas wie ein ironisches Lächeln hindeutete, das mitunter blitzschnell um ihre Mundwinkel flog. Jedenfalls war sie in gewisser Weise eine Sphinxnatur, schwer zu durchschauen, weltklug und voller Temperament, das sie jedoch schlau zu zügeln wußte.

Der Herr, der Hella gegenübersaß, schien für die Unterhaltung der drei Damen nicht das geringste Interesse zu haben. Er hatte den Kragen seines karierten, langen Reisemantels hochgeschlagen und das Kinn tief auf die Brust gesenkt, dabei auch seine weiche Mütze bis zur halben Nase herabgezogen, und regte sich kaum. Ob er schlief oder zu schlafen versuchte, ließ sich schwer sagen. Eine Brille mit dunklen, runden Gläsern verdeckte seine Augen, und was man sonst noch von dem Gesicht sah, war zu wenig, um daraus einen Schluß auf Schlafen oder Wachsein ziehen zu können. Nur daß dieser Herr einen dunkelblonden Bart trug, war noch zu erkennen. Seine Kleidung, nicht minder die Reisetasche aus Krokodilleder oben im Netz und ein Schirm und Stock mit schweren silbernen Krücken von kunstvoller Arbeit verrieten aber mit ziemlicher Sicherheit eine bestimmte Wohlhabenheit.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Zwei Stationen vor Büskow, dem Endpunkt dieser Nebenstrecke, wurde die Lampe angezündet.

Der Fremde regte sich noch immer kaum.

Auf der letzten Station gab es einen längeren Aufenthalt. Eine Anzahl mit Baumstämmen beladener Güterwagen wurden an den Zug angehängt. Dann erschien ein Beamter mit einer Dienstmütze auf dem Kopf, ein magerer, kleiner Mann, der einen Nickelkneifer auf der fettglänzenden Nase trug.

„Bitte die Fahrkarten.“ Barsch wie ein Befehl klang das.

Hella schoß das Blut in die Wangen. Sie besaß ja nur eine Fahrkarte dritter Klasse, und nun war sie gezwungen, dem Kontrolleur langatmige Erklärungen abzugeben, weshalb sie die höhere Wagenklasse benutzte.

Ihre Angst war nicht umsonst gewesen. Fast unhöflich forschte der Beamte sie aus. Als sie erklärte, der Zugführer habe ihr diesen Platz angewiesen, polterte jener sofort los:

„Natürlich, der Wilutzki hat sich wieder durch ein Trinkgeld zu dieser Ungehörigkeit verleiten lassen. In der dritten Klasse ist Platz genug. Steigen Sie sofort aus.“

Hella flutete vor Beschämung das Blut ins Gesicht. Schon wollte sie selbst den Beamten wegen der unpassenden Art seines Vorgehens zurechtweisen, als der Fremde sich einmischte, ohne jedoch seine zusammengesunkene Haltung aufzugeben.

„Sie scheinen nicht recht zu wissen, wie man mit reisendem Publikum umgeht,“ sagte er jetzt ruhig. „Diesen Unteroffizierston lassen Sie gefälligst unterwegs. Die Dame hier wird eine Fahrkarte nachlösen. Damit ist die Sache erledigt.“

Der Kontrolleur schnappte nach Luft.

„Herr – Herr – wie können Sie es wagen, einem Königlich …“

„Schließen Sie die Tür. Der Aprilabend ist für meine Augen zu kühl,“ unterbrach der Fremde ihn gelassen. „Falls Sie noch Neigung haben, sich mit mir auseinanderzusetzen, kann dies auf dem Bahnhof in Büskow geschehen. Verstanden?!“ Und in diesem letzten Wort lag eine solche Schärfe, daß der Beamte die Abteiltür brummend zuschlug und verschwand.

Die drei Damen auf der anderen Seite hatten den Vorgang mit Spannung beobachtet. Jetzt sagte Frau Professor Marholz recht vernehmlich:

„Nächstens wird man erster Klasse fahren müssen, um unter seinesgleichen zu sein.“

Und die Frau Amtsrichter nickte: „Ganz recht, liebe Frau Professor. Die Kontrolle muß noch schärfer sein.“

Worauf aus der Fensterecke des Fremden eine gelassene Stimme zu Hella sagte:

„Sie gestatten, meine Gnädige, daß ich Ihnen in Büskow eine Zuschlagskarte von hier bis Büskow löse. Nur dazu sind Sie nämlich verpflichtet.“

Hella war dem Fremden von Herzen dankbar, daß er durch seine Bemerkung weitere taktlose Äußerungen der beiden Mitreisenden unmöglich gemacht hatte.

„Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, mein Herr,“ erklärte sie jetzt leicht verwirrt, „daß Sie den Kontrolleur derart in seine Schranken zurückgewiesen haben. Ich hätte am liebsten Lust, mich über den Mann …“

Der Fremde machte eine leichte Verbeugung nach Hella hin, gleichzeitig aber auch eine abwehrende Handbewegung.

„Oh, bitte, meine Gnädige, sparen Sie die Worte. Nicht jeder, der eine Fahrkarte Zweiter zu lösen in der Lage ist, gehört auch hierher. Und mancher, der Vierter fährt, verdiente einen Luxuszug.“

Dann lehnte er sich wieder zurück und senkte das Kinn tief in den Mantelkragen, hierdurch andeutend, daß die Sache für ihn erledigt sei.

Auf der Gegenseite der Büskower herrschte eine ganze Weile verlegenes Schweigen. Nur Frau Winkler lächelte vor sich hin. Sie freute sich, daß ihre beiden Nachbarinnen die Bemerkung des fremden Herrn ruhig hatten einstecken müssen.

Zehn Minuten später hielt der Zug auf der Endstation. Kaum ruckten die Wagen zum letztenmal unter den angezogenen Bremsen zusammen, als die Tür des Abteils auch schon aufgerissen wurde und ein älterer Mann mit glattrasiertem Gesicht auf das Trittbrett kletterte, leicht den steifen schwarzen Filzhut lüftete und dabei den Fremden fragend anschaute.

Dieser rief dem Manne ein paar Worte in einer fremden Sprache zu, worauf der Glattrasierte wieder verschwand.

Auf dem Bahnsteig vor dem Abteil fand dann eine lärmende Begrüßung der Frau Professor und der Frau Amtsrichter durch ihre Männer statt.

Professor Warholz half auch Frau Winkler beim Aussteigen.

„Ihr Gatte konnte leider nicht mitkommen,“ krähte er mit seiner heiseren Stimme. „Er wurde vor einer halben Stunde vom Stammtisch weg nach Adlig-Damischken geholt, wo eine Pferdemama Familienzuwachs erwartet.“

Marholz lachte schallend, so gut fand er seinen eigenen Witz mit der Pferdemama. Und Amtsrichter Knittel ergänzte ahnungsvoll – ohne jede Nebenabsicht:

„Er hat jetzt überhaupt in Adlig-Damischken viel Praxis. Frau von Schönermark scheint dem Doktor Rethel aus Neueck als Stallarzt – denn Hausarzt kann man bei einem Veterinär schlecht sagen – gekündigt zu haben.“

Hella hatte eben ihre Sachen aus dem Netz genommen und jedes Wort mitangehört. Jetzt bemerkte sie, wie das frische Gesicht Frau Winklers, das von der elektrischen Bogenlampe des Bahnhofs hell beschienen wurde, jede Spur von Farbe verlor, wie die dunklen Augen sich weiteten und der Mund sich fest zusammenpreßte. Da ging ihr eine Ahnung auf, daß zwischen dem Tierarzt Winkler und jener Frau von Schönermark vielleicht nicht alles so war, wie es sein sollte.

Die fünf Büskower draußen auf dem Bahnsteig setzten sich jetzt in Bewegung.

Da verließ auch Hella das Abteil, indem sie dem Fremden ein freundliches „Guten Abend“ spendete.

Daß Sie noch die Zuschlagskarte nachzulösen hatte, vergaß sie, zumal sofort ein Kutscher mit einer Livree mit silbernen Wappenknöpfen auf sie zutrat und fragte:

„Fräulein von Gersheim?“

„Ja. Das bin ich,“ nickte Hella.

„Der Herr Landrat hat für das gnädige Fräulein den Wagen geschickt. Dort stehen unsere Rappen. Steigen das gnädige Fräulein nur ein. Dürfte ich um den Gepäckschein bitten?“

Hella fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Wenn Markstedts sie so empfingen, war ja alle Aussicht dazu vorhanden, daß sie sie auch sonst nicht bloß als bezahlte Erzieherin behandelten.

Und so hielt sie denn frohgestimmt am 26. April ihren Einzug in das landrätliche Haus.

 

2. Kapitel.

Hotel „Zur Stadt Hamburg“.

Vier Tage später brachte derselbe Abendzug einen anderen neuen Ankömmling nach Büskow, einen jüngeren, mit unauffälliger Vornehmheit gekleideten Herrn, der dann auf dem Bahnsteig dem Hausdiener des Hotels „Zur Stadt Hamburg“ sein Handgepäck übergab und fragte, ob das telephonisch bestellte Zimmer für ihn bereitgehalten werde.

„Ich bin der neue Assessor – Assessor Doktor Schattler,“ fügte er hinzu.

Der Hausdiener riß die goldbetreßte Mütze ab.

„Jawohl, Herr Assessor, – Zimmer Nr. 12, mit Aussicht auf den Marktplatz. Und das Bad ist auch schon fertig. Wollen der Herr Assessor bitte unseren Hotelwagen benutzen. Dort – der große gelbe, das ist er.“

Und in Gedanken fügte er hinzu: „Also das ist der Fleischersohn, der es bis zum Assessor gebracht hat?! Nun – ansehn tut’s ihm niemand mehr. Sieht recht schneidig aus. Das muß man ihm lassen.“

Ganz Büskow wußte eben bereits über die Herkunft des „Neuen“ Bescheid. Dafür hatten schon die Damen der Honoratioren und der Stammtisch der Studierten in dem Hotel „Zur Stadt Hamburg“ gesorgt, zwei Zwangsinnungen, die die jüngsten Nachrichten schneller und gründlicher unter die Menge brachten als eine öffentliche Bekanntmachung dies getan hätte.

Assessor Schattler war jedoch der Abend zu schön, um sich in den Marterkasten von Hotelwagen einpferchen zu lassen.

Er wolle zu Fuß gehen, erklärte er dem Hausdiener. Dieser möge nur dafür sorgen, daß sein Gepäck gleich mitkäme. Im übrigen würde es wohl nicht allzu schwierig sein, sich bis zum Hotel durchzufragen.

Dann nahm er noch seinen Spazierstock aus dem Schirmfutteral heraus, faßte leicht an den Hut und schritt die Straße entlang auf die Chaussee zu, die zwischen einer Anzahl von Schneidemühlen, Kohlenlagerplätzen und kleinen Villen auf die Stadt zuführte und mit ihren zwei Reihen alter Linden bei diesem sternenklaren Himmel schon von weitem zu erkennen war.

Heinz Schattler war etwas über Mittelgröße, schlank, hielt sich sehr aufrecht und hatte eine Art sich zu bewegen, die bei aller Ruhe und Abgerundetheit einem Menschenkenner sofort verriet, daß in dem jungen Juristen eine gehörige Summe Energie und gesundes Selbstbewußtsein steckte. Sein schmales, mageres Gesicht war auffällig gebräunt, als habe er sich soeben längere Zeit in südlichen Ländern aufgehalten. Den Schnurrbart trug er ganz kurz geschnitten, so daß er jünger aussah, als er es in Wirklichkeit war.

Ohne auch nur ein einziges Mal nach dem Wege zu fragen und ohne sonderliches Interesse an den Straßen zu nehmen, die er durchschritt, erreichte er nach einer halben Stunde seine künftige Unterkunft. Inzwischen war der Hotelwagen längst mit zwei anderen Gästen an ihm vorüber gefahren, derart auf dem schlechten Pflaster rumpelnd und ratternd, daß Schattler schwor, dieses Gefährt auch später nie zu benutzen.

Vor dem breiten Hoteleingang mit seinen fünf Steinstufen standen zu beiden Seiten zwei große Oleanderbäume in Kübeln, und daneben waren durch Efeukästen mit grün gestrichenem, hohem Holzgitter zwei von Markisen beschattete Lauben auf dem breiten Bürgersteig eingerichtet worden, in denen an zwei gedeckten Tischen ein paar Herren saßen, deren Unterhaltung beim Nahen des Assessors sofort verstummte. Die hier den warmen Abend genießenden Büskower Bürger konnten dank der über der Hoteltür brennenden großen elektrischen Lampe, die gleichzeitig auch den beiden Lauben genügend Licht spendete, den Neuen scharf auf’s Korn nehmen.

Als er dann im Eingang verschwunden war, sagte in der rechten Laube, wo die nichtstudierten angesehenen Büskower ihren Stammplatz hatten, der Eisenwarenhändler Ring zu dem Kolonialwarenhändler Jeschke:

„Der Assessor macht einen vorzüglichen Eindruck. Ich hatte mir eigentlich ein anderes Bild von ihm gemacht. Unsere Minna hat von der Köchin von Knittels gehört, er soll sechs Jahre Referendar gewesen sein, bevor er Assessor wurde. Man zögerte mit der Ernennung, weil er so bescheidener Herkunft ist und legte es ihm nachher auch nahe, Rechtsanwalt zu werden.“

Jeschke, der stets zwischen den beiden Lagern, Studierten und Nichtstudierten, als reichster Mann der Stadt diplomatisch hin und herpendelte, erwiderte darauf, gestützt auf seine am anderen Stammtisch erlangte Kenntnis:

„Die Geschichte mit den sechs Jahren stimmt. – Eigentlich müßte man zusehen, daß er in die freiwillige Feuerwehr eintritt.“

Jeschke war Kommandeur der Wehr und hatte sich gerade um diese Einrichtung große Verdienste erworben.

In der zweiten Laube wieder hatte der aufsichtsführende Richter des Amtsgerichts Büskow, Geheimer Justizrat Ranke, zu dem Gymnasialdirektor Bermann geäußert:

„Scheint so’n richtiger patenter Berliner zu sein, mein neuer Assessor. Gelbe Schnürstiefel und der sackähnliche Mantel – hm, hm!!“

Der lange, dürre Bermann, der stets trotz des Schwanenhalses Umlegekragen einer Mode von vor zwanzig Jahren trug, zupfte seine Manschetten ein Stück weiter aus den Ärmeln heraus und sagte:

„Daß sie uns den Berliner auch gerade hierher geschickt haben!! Ich denke noch mit Schrecken an den Kandidaten Doktor Sänger, der vor acht Jahren mir für das Probejahr anvertraut war. Sie besinnen sich wohl noch auf ihn, Herr Geheimrat. Der trug seidene Unterwäsche und putzte sich stets die Fingernägel spiegelblank, wie – wie …“ Bermann wollte sagen „wie eine leichtsinnige Frauenperson“, verschluckte den Ausdruck aber und ergänzte: „… wie ein verweichlichter Geck.“

Unten an diesem Honoratiorentisch beugte sich jetzt der Regierungsbaumeister Trappen zu dem neben ihm sitzenden Referendar Horstner hin und flüsterte ihm zu:

„Idioten!! – Assessorlein, du wirst es hier nicht gut haben, fürchte ich!“

Der Referendar schaute ängstlich nach dem Amtsgerichtsrat Ranke hinüber. Trappelt sprach immer so laut. Und wenn der Geheimrat mal eine dieser bissigen Bemerkungen hörte, konnte das einem armen Referendar, der schon einmal in der großen Staatsprüfung durchgefallen war und jetzt hier die Lücken seiner Vorbildung ausgleichen sollte, schwer schaden.

„Vorsicht, Trappelt, Vorsicht!“ gab Horstner leise zurück. „Ranke hat unheimlich gute Ohren …!“

Worauf der junge Regierungsbaumeister, der in Büskow den Neubau des Gymnasiums leitete, laut nach der Mitte des Tisches hin sagte:

„Finden die Herren etwas dabei, wenn man seidene Unterwäsche trägt? Ich muß mich leider auch zu dieser … Sünde bekennen. Wolle ist mir zu unappetitlich. Besonders wenn man sie längere Zeit trägt, ohne zu wechseln.“

Das ging auf Bermann. Der merkte es auch, reckte sich gerade, warf Trappelt über den Rand der goldenen Brille hinweg einen hoheitsvollen Blick zu und erwiderte:

„Die alten Griechen, ebenso das römische Reich sind an Überkultur mit ihren Folgen zugrunde gegangen. Unserem Volke mag das zur Warnung dienen. Bismarck trug stets Wollwäsche, und was unser großer Kanzler, dieser prachtvolle, natürliche Kraftmensch, geleistet hat, wird keiner der jüngeren Generation ihm nachmachen.“

„Das ist richtig, Herr Direktor. Das Deutsche Reich ist ja schon gegründet und in sich gefestigt. Für einen Seidenwäsche benutzenden Staatsmann bleibt also nur noch wenig zu tun übrig.“

Bermann zuckte die Achseln und bestellte bei Fritz, dem Kellnerjungen, den fünften Grog … „Aber etwas kräftiger. Das letzte Glas war Damenbowle!“ – –

* * *

Heinz Schattler saß bereits im Badezimmer des Hotels in der Wanne und spülte den Reisestaub gründlich ab. Dann ging er auf sein Zimmer, seine mangelhafte Toilette unter dem Sackmantel verbergend, kleidete sich an und klingelte nach der Bedienung.

Karl, ein weißhaariger, schon etwas zitteriger Kellner, der bereits im Hotel sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als bedienender Geist gefeiert hatte, trat gleich darauf ein und fragte nach den Wünschen des Gastes.

„Machen Sie beide Fenster auf. Es stinkt hier nach Mottenpulver,“ begann Schattler, der sich gerade vor dem hohen Stehspiegel die Krawatte band. „Dann wünsche ich eine Steppdecke. Unter einem Federbett bin ich nicht zu schlafen gewöhnt. Die Wasserkaraffe hat innen grünlichen Ansatz. Bitte das zu entfernen. – Ist das bestellte Essen fertig?“

„Jawohl“. Das klang recht mürrisch. Und Karl dachte: „Na nu – so’n Fleischersohn …?! Hier in diesem Zimmer hat immer der Herr Regierungspräsident gewohnt. Und der war stets mit allem zufrieden!“

Schattler suchte den wenig günstigen Eindruck der eben gemachten Aufzählungen wieder zu verwischen.

„Im übrigen ist das Zimmer sehr gemütlich. Ich werde vorläufig hier wohnen bleiben, falls ich noch das nebenan liegende als Schlafgemach erhalten kann,“ meinte er freundlich.

Karl spitzte die Ohren. – Geld schien der Assessor zu haben. Das roch also nach guten Trinkgeldern. Und daher änderte er den Ton und versicherte eifrig, das zweite Zimmer könne schon morgen hergerichtet werden, und der Herr Assessors werde sich hier sicher sehr wohl fühlen. Das Essen sei anerkannt vorzüglich.

Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:

„Soll ich für den Herrn Assessor vielleicht am Studierten Stammtisch draußen vor der Tür decken. Der Herr Geheimrat Ranke ist auch gerade anwesend, unser Aufsichtsrichter.“

„Gerade?! Ich denke, mein Vorgesetzter bringt als Junggeselle wohl jeden Abend hier zu. – Wer ist noch unten? Die übliche Nachtrunde, wie? Direktor Bermann, Steuerrat Leichold, Baumeister Trappelt und der Referendar. Stimmt’s?“

Dem weißhaarigen Alten blieb der Mund offen stehen.

„Ja, woher kennen denn Herr Assessor die Herren?“ stotterte er kopfschüttelnd. „Ich denke, Herr Assessor sind hier ganz fremd?“

„Sie sehen, daß dies ein Irrtum ist, mein Lieber. – Beim wievielsten Glase Grog ist denn der Direktor Bermann angelangt? – Es ist jetzt einhalb zehn. Da könnte es das fünfte oder sechste sein.“

Karl trat ganz entsetzt einen Schritt zurück.

„Herr Assessor – beim fünften. – Aber – woher nur …“

Schattler winkte ab.

„Zerbrechen Sie sich nicht unnötig ihren weißen Kopf, und – ich esse vorn im Gastzimmer an dem kleinen Tisch unter der Uhr. Sie können mir die letzten Nummern der Büskower Zeitungen hinlegen.“

Der alte Kellner eilte die Treppe hinab.

„Kleine Tisch unter der Uhr …!! – Und dabei hat er das Gastzimmer noch mit keinem Schritt betreten! Das verstehe ein anderer!!“ murmelte er vor sich hin. – –

Am Stammtisch Nr. 1 läutete Direktor Bermann mit der Tischglocke Sturm. Fritz, der Pikkolo, war gerade in der Küche, und so kam denn Karl angekeucht. Der Direktor bestellte den siebenten Grog und fragte dann:

„Na – was trinkt der Neue, Karl?“

Der Alte gab erschöpfend Auskunft.

„Eigentlich müßte man den Assessor doch zu uns an den Tisch bitten,“ meinte Trappelt zu dem Amtsgerichtsrat.

Ranke streichelte seinen langen, grauen Bart.

„Wenn dem Herrn Kollegen etwas an unserer Gesellschaft liegt, wird er sich schon selbst melden,“ sagte er in seinem breiten, ostpreußischen Dialekt, den abzuschwächen er sich nicht die geringste Mühe gab.

Der Regierungsbaumeister erhob sich. Er war ein breitschultriger Herr mit ein paar mächtigen Durchziehern im Gesicht, vermögend und … verlobt. Die letztere Eigenschaft hatte ihm bei einigen Büskower Familien mit heiratsfähigen Töchtern jede Einladung erspart, worüber er nicht gerade unglücklich war.

„Bringen Sie mir mein Seidel nach, Karl,“ sagte er kurz. „Guten Abend, meine Herren, – ich will den Assessor doch mal fragen, ob er vielleicht auch seidene Unterwäsche trägt. Das wäre dann schon ein Anknüpfungspunkt zwischen uns beiden.“

Bermann trommelte mit den mageren Fingern einen Sturmmarsch auf der Tischdecke.

„Und unser Skat, Trappelt?“ fragte er gereizt.

„Fällt heute zu Ehren des neuen Kranken aus.“

Damit verschwand der junge Baumeister in der Hoteltür.

„Was er nur immer mit „Kranken“ hat …!!“ knurrte der Amtsgerichtsrat. „Was meint er eigentlich, Horstner?“

Der Referendar wurde verlegen.

„Genau kann ich das auch nicht sagen, Herr Geheimrat,“ wich er aus. War es ihm doch schlechterdings unmöglich zu erklären, daß Trappelt das Städtchen stets „Die große Irrenanstalt“ nannte und jeden Büskower als „Kranken“ bezeichnete.

 

3. Kapitel.

Der Mann mit dem Nebenweibchen.

Acht Tage waren vergangen.

Heinz Schattler kam eben vom Gericht. Als er auf der Rathausseite des Marktes den Bürgersteig entlang schritt, schlug die Uhr der nahen Kirche mit ihrem blechernen Ton die Mittagsstunde.

Schon wollte er im Eingang des Hotels verschwinden, als er aus einem Papiergeschäft Hella von Gersheim in Begleitung des Tierarztes Winkler heraustreten sah.

Winkler war der Don Juan von Büskow. Kein bösartiger, nein, aber das Süßholzraspeln lag ihm im Blut. Und die Frauen kamen dem stattlichen Mann entgegen – alle, ohne Ausnahme. Er hatte etwas in seiner Art, das sie wehrlos machte. Vielleicht war’s seine weiche Stimme, vielleicht das lebhafte, dunkle Auge. Jedenfalls richtete er, zum Teil unbeabsichtigt, viel Unheil an. Dabei liebte er seine Frau über alles, liebte und – quälte sie namenlos. Ohne ihr je untreu zu werden, hatte er stets noch ein „Nebenweibchen“, wie er es nannte. Es war Spielerei bei ihm, nichts anderes, nie etwas Ernsthaftes. Aus Eitelkeit, aus der Freude am Triumph über Frauen– und Mädchenherzen ließ er sich auf Liebeleien ein, ohne es je begreifen zu können, daß seine hübsche, frische eigene Gattin sich in ewiger Eifersucht förmlich verzehrte.

Kaum war Hella von Gersheim in Büskow aufgetaucht, als Winkler wie ein Raubvogel das junge Mädchen zu umkreisen begann. Überall lauerte er ihr auf, vernachlässigte sogar seine große Praxis, die ihn bald zum reichen Manne machen mußte. Frau von Schönermark, die lebenslustige Witwe auf Adlig-Damischken, war vergessen. Hella war das neue Nebenweibchen geworden.

Sie ahnte nicht, welchen Ruf Winkler in Büskow und Umgegend genoß. Landrat von Markstedt und seine Gattin, geborene Gräfin Krailingen, waren viel zu vornehm, um sich um das Privatleben eines Tierarztes zu kümmern, selbst wenn dieser, wie dies bei Winkler der Fall war, einst die bunte Mütze und das Band eines Korps getragen hatte. Und wer hätte Hella sonst hier warnen können, wo sie niemanden kannte …?!

Die beiden kamen jetzt in lebhaftem Gespräch an dem Hotel vorüber. Schattler grüßte. Den Tierarzt hatte er am Stammtisch kennen gelernt. Und auch Fräulein von Gersheim war er gelegentlich vorgestellt worden, nachdem er sie bereits auf der Promenade nach dem sogenannten Schützenwalde mit den Markstedtschen Kindern ein paarmal getroffen hatte.

Ihn interessierte diese Erzieherin, der man die gute Herkunft schon äußerlich anmerkte. Selten war ihm ein so anziehendes Frauenantlitz begegnet wie dieses. Im allgemeinen liebte er die Aschblonden nicht. Aber Hellas reiches Haar hatte einen so besonderen Schimmer, daß ihm damals, als er sie zum erstenmal längere Zeit heimlich beobachten konnte, schon der Gedanke gekommen war, wie köstlich es sein müsse, zärtlich mit den Lippen dieses Haar zu berühren und sanft streichelnd mit der Hand darüber hinzufahren. Diese Gedanken hatte er aber ebenso schnell wieder verjagt. Heinz Schattler gehörte nicht zu den Männern von der Sorte Doktor Winklers, die jedes schöne Weib als Freiwild betrachten.

Noch immer stand er jetzt oben auf der Treppe des Hotels und schaute den beiden nach. Er lächelte ein wenig. Ihm war es nicht entgangen, daß die Erzieherin im Vorübergehen ihn mit einem eigentümlich forschenden, suchenden Blick gemustert hatte. Sicherlich zergrübelte sie sich jetzt abermals das schöne Köpfchen, wo sie ihm schon früher begegnet sein mochte. Denselben Blick hatte er ja auch bei ihr wahrgenommen, als er ihr vorgestellt wurde und einige Worte mit ihr wechselte.

Schattler täuschte sich nicht. Hella durchstöberte tatsächlich jetzt ihre Herrenbekanntschaften, ob sich nicht einmal darunter ein Assessor dieses Namens befunden habe. Da kam es ihr denn auch ganz gelegen, daß Dr. Winkler von Schattler zu sprechen begann.

„Kennen Sie diesen Herrn schon?“ fragte der Don Juan mit den Nebenweibchen argwöhnisch, da er fürchtete, der Assessor könnte bei seiner neuesten Liebe irgendwie unbequem werden.

„Ganz flüchtig. Er wurde mir bei Markstedts vorgestellt,“ sagte sie zerstreut.

„Bei Markstedts?!“ Winkler stutzte. Dann fuhr er fort:

„Hat Schattler denn dort Besuch gemacht? – Das wäre eine ziemliche Unverfrorenheit gewesen. Jedes Kind hätte ihm hier sagen können, daß Landrats nur mit den Großgrundbesitzern verkehren und mit der „misera plebs“ von Büskow nichts gemein haben wollen.“

„Doch – er ist dort gewesen und, soweit ich es beurteilen kann, auch sehr liebenswürdig empfangen worden.“

„Wirklich?! – Gnädiges Fräulein, das ist ja hochinteressant. Na – Markstedts ahnen natürlich nicht, daß der Vater des patenten Assessors in Berlin mit der blutigen Fleischerschürze hinter dem Ladentische steht und Leberwurst verkauft.“

„Oh – Sie haben eine scharfe Zunge, Herr Doktor! Im übrigen beurteilen Sie Markstedts aber wohl nicht ganz richtig. Sie scheinen sie für hochmütig zu halten. Ich glaube, da sind Sie im Irrtum.“

„Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus!“ schoß es Winkler durch den Sinn, indem er an Hellas adligen Namen dachte. Laut aber sagte er:

„Über diese Sache möchte ich mich nicht näher auslassen. Was aber Schattler betrifft, so ist der Herr mir reichlich unangenehm, ehrlich eingestanden. Nicht mir allein. Man wird nie so recht klug aus ihm. In allem, was er treibt, findet man die seltsamsten Widersprüche. Dabei kennt er unsere Verhältnisse hier so genau, als lebte er schon jahrelang in Büskow. Manchmal ist es geradezu unheimlich, wie gut er selbst in Dinge eingeweiht ist, die nur einen engeren Kreis etwas angehen.“

Hella hörte gespannt zu.

„Sie schildern diesen Assessor ja beinahe als ein besonderes Wesen, ausgestattet mit übernatürlichen Fähigkeiten,“ suchte sie die Sache ins Scherzhafte zu ziehen.

„Lachen Sie nicht, gnädiges Fräulein! Es gibt bereits Leute hier in Büskow, die Schattler geradezu fürchten, obwohl er doch erst eine Woche hier ist. Sollte die wunderbare Mär noch nicht zu Ihnen gedrungen sein, in welcher Weise das erste Zusammentreffen des Assessors mit unserem aufsichtführenden Richter, dem Geheimrat Ranke, verlief? – Die Geschichte ist verbürgt. Also heute vor acht Tagen meldete sich Schattler dienstlich im Gehrock und Zylinder bei seinem neuen Vorgesetzten im Amtsgericht. Ranke ist nun ein Mann, der mit dem Direktor Bermann zusammen die Liga gegen alle verfeinerte Kultur bildet. Daher schnupperte er auch sehr bald argwöhnisch in der Luft herum und sagte Schattler dann in seiner ostpreußischen Gradheit unverblümt, daß er Wohlgerüche nicht leiden könne und „zur Aufrechterhaltung des Ansehens des Juristenstandes“ den Gebrauch von Parfüms in den Diensträumen verbieten müsse. Worauf der Assessor kühl entgegnet haben soll, er würde bei seinen bisherigen Gewohnheiten bleiben, da er nicht so aufdringlich dufte, daß er andere damit belästige. Worauf wieder der leicht erregbare Geheimrat, der sich überhaupt ja wie ein kleiner Herrgott vorkommt, wie ein gereizter Puter mit zornrotem Gesicht auffuhr und Miene machte, Schattler ganz gehörig anzublasen, wie man zu sagen pflegt. Dieser soll dann aber mit sehr erhobener Stimme seinen Vorgesetzten vor seiner Person gewarnt und hinzufügt haben, daß ihm zu Ohren gekommen sei, Ranke hätte seine – Schattlers – Personalakten Privatpersonen zur Durchsicht überlassen, was dienstlich ganz unzulässig wäre, und zwar hätte der Geheimrat die Akten dem Professor Marholz ausgehändigt. –

Ranke war einem Schlaganfall nahe. Die Sache hat nämlich ihre Richtigkeit. Marholz hat die Personalpapiere durchgesehen, und durch seine Frau ist dann ganz Büskow darüber unterrichtet worden, woher Schattler stammt, was seine Eltern gewesen sind und …“

„Ich weiß, Herr Doktor, ich weiß …!“ unterbrach Hella ihn eifrig, indem sie an die Unterhaltung der drei Damen damals im Eisenbahnzuge dachte.

„So – Sie wissen?! Na – jedenfalls war Ranke jetzt in einer bösen Klemme, mußte sich noch bei Schattler entschuldigen, und – wie die beiden jetzt miteinander stehen, können Sie sich denken! Nach außen hin ist ja alles eitel Sonnenschein, aber im übrigen haßt Ranke wohl den Assessor als den ersten Menschen, der mal über ihn triumphiert hat.“

Die beiden bogen jetzt nach links in die steile Gasse ein, die an dem Postamt vorüber nach dem alten, burgähnlichen Gebäude hinaufführte, in dem das Landratsamt seit einem halben Jahrhundert untergebracht war.

Hella blieb stehen.

„Ich habe noch auf der Post zu tun, Herr Doktor. Besten Dank für Ihre Begleitung. Im übrigen kann ich aus dem, was Sie mir bisher von Herrn Schattler erzählten, nicht gerade entnehmen, daß er etwas Unheimliches an sich hat. Die Geschichte mit dem Herrn Geheimrat, ich meine dessen Indiskretion mit den Personalakten, wird ihm jemand von der Büskower Bürgerschaft mitgeteilt haben.“

Ganz feiner Spott klang durch ihre Worte hindurch.

Winkler vergaß vor Eifer, der Person des Assessors einen gewissen dämonischen Anstrich zu geben, ganz seine gewöhnliche Don Juan-Neigung.

„Oh – da sind Sie doch sehr im Irrtum, meine Gnädige,“ sagte er lebhaft. „So stadtbekannt, wie Sie annehmen, war diese Angelegenheit mit den Personalakten denn doch nicht. Nur die Tatsache, daß Schattler Fleischers Sohn ist, wurde verbreitet. Die meisten Herren des Stammtisches erfuhren jetzt erst, aus welcher völlig glaubwürdigen Quelle Frau Professor Marholz ihre Kenntnis geschöpft hatte. Wir haben schon festgestellt, daß der Assessor von hier aus, ich meine von einem der Eingeweihten, nicht unterrichtet worden sein kann. Außerdem habe ich noch drei andere Fälle bereit, die beweisen, daß Schattler mehr weiß, wie wir alle zusammen – Ihre liebreizende Person ausgenommen. Wenn ich …“

„Die letzte Bemerkung war in der Form verfehlt,“ unterbrach Hella ihn abweisend, da sie jetzt endlich bemerkt hatte, daß Winkler ihr in einer Weise in die Augen sah, die sie geradezu verwirrt machte. „Nochmals – leben Sie wohl …“

„Halt – eine Sekunde noch. Es betrifft Sie selbst, – der eine meiner drei Fälle, meine ich.“

Hella blieb.

„Mich?“ fragte sie gedehnt.

„Jawohl!“ triumphierte Winkler. „Verzeihen Sie, wenn ich jetzt einen Gegenstand berühre, der vielleicht trübe Erinnerungen in Ihnen weckt. Ich brauche wohl nur einen Namen zu nennen: Friedrich Bollermann.“

Hella wechselte jäh die Farbe.

„Und … und … dies … hat Schattler hier etwa öffentlich erzählt?“ stotterte sie.

„Am Stammtisch – also mehr wie öffentlich. Was heute am Stammtisch selbst unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit die Runde macht, weiß am nächsten Tage bereits das älteste Spitalweib.“

Hella schüttelte ganz geistesabwesend den Kopf.

„Ich begreife nicht … Woher kann der Assessor gerade davon Kenntnis erhalten haben?!“ sprach sie wie zu sich selbst vor sich hin. „Nicht einmal Markstedts wissen den Grund, weshalb ich mein Elternhaus verlassen habe.“

„Aber der Assessor weiß ihn, sogar mit allen Einzelheiten. Gestern abend erzählte er ganz ausführlich, daß Ihre Stiefmutter Sie habe …“

Hella hob abwehrend die Hand.

„Schweigen Sie – ich bitte Sie! Ich will nichts davon hören …!“

Tränen blinkten in ihren Augen. Schnell wandte sie sich ab und eilte in das Postgebäude hinein.

Winkler schaute ihr schmunzelnd nach.

„Ein verteufelt hübsches Mädel, wahrhaftig!“ dachte er. „Und Augen hat sie – Augen!! Da leuchtet Temperament heraus, – da kann man mit Recht sagen: Glimmende Funken unter der Asche!“

Langsam schritt er dann dem Markte wieder zu.

 

4. Kapitel.

Von einem Komplott und einem abgesetzten Freier.

Heinz Schattler hatte gute Augen. Ehe er, nachdem Hella und der Tierarzt vorüber waren, sich der Eingangstür des Hotels zuwandte, ließ er den Blick nochmals ohne besondere Absicht über den in hellem Sonnenlicht daliegenden Markt hinschweifen.

Da sah er aus einem der neueren Häuser drüben auf der anderen Seite eine Dame heraustreten, eine Dame mit einem grauen, kecken Hut und weißem Marabustutz.

Den Hut kannte er von gestern her, wo man draußen im Schützenhause mitten im Walde nachmittags an langer Tafel gemeinsam Kaffee getrunken hatte. Es war keine Verabredung gewesen. Alles hatte sich zufällig eingefunden. Das wundervolle Maiwetter war die Verführerin gewesen.

Frau Lucie Winkler schien es sehr eilig zu haben, hinter der alten Kirche zu verschwinden. Schattler ahnte, was diese bedauernswerte Frau aus ihrem Heim auf die Straße getrieben hatte. Wahrscheinlich war sie vom Fenster aus Zeugin gewesen, wie ihr Mann das neue Nebenweibchen ansprach und dann begleitete.

Der Assessor überlegte. – Ob man dieser Frau nicht helfen konnte? Paßte es nicht ganz zu den Vorsätzen, mit denen er in Büskow seinen Einzug gehalten hatte, auch in das Leben dieser zwei Menschen korrigierend einzugreifen?

Dieser augenblicklichen Eingebung folgend schritt er quer über den Markt der Kirche zu, umging sie nach der rechten Seite hin und stand gleich darauf Frau Winkler gegenüber, die mit hochrotem Gesicht vor dem Schaufenster Max Ring anscheinend sehr interessiert die dort ausgestellten Gegenstände musterte.

Es gehörte viel diplomatisches Geschick dazu, einer Dame, die man erst vor vier Tagen kennengelernt hatte, seine Hilfe in einer so delikaten Angelegenheit anzubieten. Aber Heinz Schattler konnte, wenn er nur wollte, jedes Herz im Sturm erobern, konnte Menschen zu Vertrauten gewinnen, deren Lippen anderen gegenüber herb verschlossen blieben.

Langsam ging er neben Frau Lucie her. Ganz allmählich bereitete er sie vor. Erst war sie zerstreut, fast unliebenswürdig. Als er dann aber dem anderen Paare von weitem folgte, als er so ihrer eigenen Absicht entgegenkam, wurde sie aufmerksamer.

„Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich Ihnen kurz den Inhalt eines geistvollen Einakters erzähle, den ich letztens in Berlin sah,“ sagte er jetzt. „In einer im ganzen recht glücklichen Ehe vermag der Mann, eine Erscheinung, die auf Frauen stark wirkt, nicht zu begreifen, daß seine harmlosen Aufmerksamkeiten für andere weibliche Wesen die eigene Gattin dauernd in der ewigen Angst halten mußten, dieser Schmetterling von Ehemann könnte vielleicht eines Tages doch bei seinem Flattern von Blüte zu Blüte eine Blume finden, deren Duft ihm berauschender erschien als der jener schönen Rose, die ganz sein war und zu der er bis jetzt stets nach diesen kurzen Ausflügen reumütig zurückgekehrt war. In ihrer leicht begreiflichen Herzenspein suchte die Frau schließlich bei einem Freunde ihres Mannes Rat und Hilfe. Der Freund, der die Welt und die Menschen kannte, riet ihr, eine kleine Komödie aufzuführen, um den Schmetterlingsgatten für immer zu bessernd. Die beiden begannen dann scheinbar sich ineinander zu … verlieben; weckten bald die Eifersucht des Flatterhaften und erreichten auch durch ein sehr geschicktes Spiel, daß diese Radikalkur wunderbar half.“

Frau Lucie hatte verstanden. Mit tief gesenktem Kopf ging sie weiter. Auch Schattler schwieg und ließ seine Worte langsam wirken. Dann sagte er:

„Natürlich muß dieser Freund ein Ehrenmann sein, gnädige Frau. Eine solche Komödie erheischt gewisse Vertraulichkeiten, die eine Dame nicht jedem zugestehen wird.“

Inzwischen waren sie bis in die Nähe der Post gelang. Da kam Winkler ihnen entgegen, ein Lächeln auf den vollen Lippen, strahlende Fröhlichkeit in den Augen.

Bei dem Anblick seiner Frau und des Assessors stutzte er. Das Lächeln verschwand. Die Begrüßung fiel recht frostig aus.

Frau Lucie war sehr verlegen, sehr ängstlich. Sowohl Winkler als auch dem Assessor entging das nicht. Aber Schattler merkte, daß diese Verlegenheit absichtlich übertrieben wurde. – Sollte etwa Frau Lucie bereits entschlossen sein, den Einakter als Vorbild zu nehmen?

Zu dritt schritt man dem Markte wieder zu. Winkler war erst recht wortkarg, vergaß aber dann bald den leisen Ärger, den er über Schattlers Aufdringlichkeit seiner Frau gegenüber empfunden hatte, und erzählte ganz offen, daß er soeben Hella von Gersheim getroffen und ein Stück nach Hause gebracht habe.

„Ein reizendes Geschöpf,“ meinte Frau Lucie ganz begeistert. „Wir müßten sie eigentlich einladen. Sie soll in künstlerischer Vollendung Klavier spielen, und da könntest du sie auf deiner Violine begleiten, lieber Fritz.“

Der „liebe Fritz“ fiel aus allen Wolken. Was war das? Was bedeutete das …?! Welcher andere Geist war plötzlich in Lucie gefahren …?!

Aber noch mehr gab’s für Winkler, was ihn ganz kopfscheu machte. Als das Ehepaar sich bald darauf von Schattler verabschiedete, sagte die hübsche Frau zu dem Assessor:

„Vergessen Sie mir nicht den Roman zu bringen, bitte! Am besten ist, Sie kommen heute nachmittag zu einer Tasse Kaffee ganz zwanglos zu uns, wenn es Ihnen recht ist. Ich bin Großstädterin, wenn auch nicht gerade Berlinerin, so doch aus Frankfurter am Main, und da huldige ich der Ansicht, daß man von einem Verkehr, der geistige Anregung bieten soll, nur etwas hat, wenn man sich nicht auf steife Abfütterungen beschränkt. – Also auf Wiedersehen, lieber Herr Assessor.“

Schattler tauschte mit Frau Lucie einen Händedruck und einen Blick aus, die beide so vielsagend waren, daß man gegenseitig wußte: Das geheime Bündnis zur Beseitigung der Nebenweibchenkrankheit ist perfekt.

Doktor Winkler schaute dem eleganten Assessor nicht gerade freundlich nach.

„Ich begreife nicht, was du an dem Menschen findest!“ brummte er.

„Geschmacksache,“ lachte sie. „Er ist fabelhaft interessant. So belesen, so vielseitig gebildet. Und bedenke, – die ganze Welt kennt er. Vor zwei Wochen ist er erst aus Indien zurückgekehrt, wo er ein halbes Jahr das Land bereist hat.“

„Behauptet er …!“ knurrte Winkler. „Ob’s wahr ist?! Das braungebrannte Gesicht kann er sich auch in einem billigen Winterkurort der Schweiz geholt haben. – Hm, überhaupt, du wirfst heute so ganz gegen deine Gewohnheit mit Ausdrücken um dich wie ein Backfisch. „Reizendes Geschöpf …“ – „fabelhaft interessant“ …!! Für eine Frau, die vier Jahre verheiratet ist, klingt das ein wenig zu … zu … übertrieben, zu schwärmerisch.“

Heute fiel auch nach dem Mittagessen bei Winklers der übliche Mahlzeitkuß aus.

„Ich habe Kopfschmerzen, Fritz. Außerdem – bei einem so alten Ehepaare, wie wir es sind, wirken derartige Zärtlichkeiten vor der Köchin, die jeden Augenblick eintreten kann, wohl etwas komisch.“ So sagte Frau Lucie und begann mit Männe, dem Teckel, herumzutollen.

Winkler stand wie eine Bildsäule da.

„Kopfschmerzen …?!“ dachte er. „Seine Lucie Kopfschmerzen …?! Und dann machte man mit dem Köter solchen Radau …?!“

Ärgerlich ging er in sein Arbeitszimmer hinüber, steckte sich eine Zigarre an und … wünschte Schattler, diesen Laffen, ins schöne Land, wo der Pfeffer wächst.

Der Assessor saß derweil in der Laube vor dem Hotel zusammen mit dem Geheimrat, dem Baumeister und dem Referendar Horstner beim Mittagessen.

Der alte Ranke lobte den eben aufgetragenen Schlei mit Dilltunke und fügte dann unvermittelt hinzu:

„Ihre grundbuchrichterliche Tätigkeit macht Ihnen wohl keine Schwierigkeiten, Herr Kollege. Ich freue mich, daß Sie schon immer gegen zwölf Uhr mit dem Vormittagsdienst fertig sind.“

Er hatte dabei Schattler angesehenen und ihm leicht zugenickt.

Der Assessor wußte sofort Bescheid. Ranke hatte ihm mit dieser Bemerkung sagen wollen, daß er zu früh das Gerichtsgebäude verlasse. Nun – diese Bevormundung wollte er schon zurückweisen.

„Ich bin ein sehr schneller Arbeiter, Herr Geheimrat,“ meinte er leichthin. „Eigentlich könnte ich schon immer um elf Uhr fort. Und wenn’s erst wärmer wird, lege ich mir die Termine noch mehr zusammen.“

Ranke streichelte seinen Patriarchenbart. Das war stets ein Zeichen schlechter Laune bei ihm. Und tatsächlich – in seinem Innern kochte es. Aber er schwieg. Und gleich nach Tisch brach er auf.

Kaum war er verschwunden, als der Referendar kleinlaut erklärte, die gemeinsame Mittagstafel sei jetzt eigentlich recht ungemütlich geworden.

Trappelt, der Regierungsbaumeister, lachte.

„Lieber Horstner, das klingt ja beinahe wie ein Vorwurf für unseren Assessor! Nein, nein – entschuldigen Sie sich nicht, wir wissen, wie es gemeint war. Gewiß – der Geheimrat ist jetzt mehr denn je ein zusammengerollter Igel und sticht, wo man ihn auch nur angefaßt. Aber diese Stacheln muß man eben übersehen – vollständig, so als trüge er das reinste Friedensengelgewand. Das verlangt die Weltklugheit, ein Artikel, von dem Sie sich freilich noch einen größeren Vorrat zulegen müssen. Gerade Sie dürfen nicht zeigen, daß Sie merken, wie gallig die Laune des Mannes jetzt stets ist, von dem in gewissem Maße Ihre Zukunft abhängt. Stellt Ranke Ihnen nach Ihrer hiesigen auf neun Monate berechneten Dienstzeit ein schlechtes Zeugnis aus, so kann es Ihnen bei dem nochmaligen Versuch, das Assessorexamen zu bestehen, sehr schaden. Sehen Sie, Liebster, Weltklugheit ist ja nichts anderes als die Kunst, so ein wenig Theater zu spielen, zu heucheln, mit doppelter Zunge zu reden. Das muß jeder in diesem irdischen Jammertal. Und anschließend hieran möchte ich Ihnen auch gleich eine Warnung zugehen lassen: Bemühen Sie sich weniger eifrig um die Gunst von Fräulein Alma Marholz. Die Frau Professor ist offenbar sehr wenig erbaut davon, daß Sie dem jungen Dämchen Aufmerksamkeiten erweisen. Ich habe gestern Nachmittag im Schützenwalde eine Bemerkung der Frau Professor aufgeschnappt – sie war für die Frau Amtsrichter Knittel bestimmt –, nach der ich Ihnen nur dringend raten kann, Ihr Herz fest in beide Hände zu nehmen und auf die kleine Alma zu verzichten. Marholz ist Rankes bester Freund, und …, – na, Sie verstehen wohl!“

Der alte Kellner brachte jetzt für Trappelt und Schattler den Kaffee. Der Referendar verzichtete aus Sparsamkeitsgründen auf diesen Nachtisch. Als Karl wieder verschwunden war, sagte Horstner ganz bestürzt:

„Aber bisher haben Marholz mich doch stets bei jeder Gelegenheit eingeladen und mir eigentlich gezeigt, daß sie nichts dagegen hätten, wenn ich …“

Der Baumeister unterbrach ihn.

„Bisher – bisher! Die Verhältnisse haben sich eben geändert! Frau Marholz hofft auf eine sichere Partie für ihre Einzige. Da liegt der Hase im Pfeffer!“ Und Trappelt kniff das eine Auge zu und blinzelte mit dem anderen Schattler vielsagend an.

Der nickte zustimmend.

„Unser Baumeister hat recht. Ich habe auch den Eindruck gewonnen, daß die jugendlich sein wollende gepuderte Mama der jugendlichen, ungepuderten Tochter nach mir angelt. Und – sie fängt das recht geschickt an. Wäre ich nicht so ein ausgekochter Berliner würde ich’s nicht merken. Aber so, – man hat doch seine Erfahrungen auf diesem Gebiet.“

Egon Horstner, eine recht gute Erscheinung mit sehr sympathischem Gesicht, hatte den Kopf tief gesenkt. Seine Wangen brannten in flammender Röte heller Empörung. Dann schaute der die beiden Tischgenossen nacheinander fast wütend an und stieß hervor:

„Aber wie kann eine Mutter nur so handeln … Sie muß doch sehen, daß Alma ihr junges Herz längst an mich verloren hat …! Das heißt doch geradezu ein freventliches Spiel treiben, erst …“

Trappelt hob abwehrend beide Hände.

„Mein Lieber, da berühren Sie einen Gegenstand, der eigentlich mal die Behandlung durch einen großen Philosophen verdient. Nie äußert sich Mutter- und Elternliebe seltsamer, als wenn es um die Verheiratung der Kinder geht. Wie wenige verständige Eltern gibt es, die nicht bloß auf „die gute Partie“ sehen …! Ob die Kinder auch glücklich werden, ist zumeist Nebensache. Der „guten Partie“, daß heißt dem Geldsack, wird der Haupteinfluß eingeräumt. Ein Scheusal von einem Mann oder eine Hexe von Mädchen ist stets willkommen, wenn Geld, viel Geld da ist. Die eigenen Herzenswünsche der Kinder werden als „unreife Schwärmerei“ stets unberücksichtigt gelassen. Wie eine Krankheit überfällt sonst auch ganz verständige Eltern diese Sucht, den Kindern ein goldenes Bett zu sicheren, wenn die verfängliche Zeit gekommen ist. Auch Frau Marholz macht hierbei keine Ausnahme. Der Professor selbst hat ja nicht mitzureden. Wenn der nur wöchentlich seine acht Mark Taschengeld von der wie eine Komödiantin stets herausgeputzten Gattin erhält und an seinen drei Skatabenden noch acht dazuverdient, ist er glücklich. – So, gewarnt sind Sie! Und es sollte mir aufrichtig leid tun, wenn auch Sie, lieber Horstner, etwa schon so … so viel für die kleine Alma empfinden würden, daß ein Verzicht nicht ohne Seelenkämpfe abginge.“

Horstner sprang auf.

„Auf Wiedersehen, meine Herren! Ich muß jetzt allein sein … Jedenfalls danke ich Ihnen für diese Aufklärung, lieber Trappelt.“

Der Regierungsbaumeister blickte ihm kopfschüttelnd nach.

„Armer Kerl! Da geht er hin und singt nicht mehr …! Aber diese eiskalte Dusche für seine aufkeimenden Herzenswünsche war nötig. Horstner nimmt alles so ernst – alles, gerade weil er ein für diese schlechte Welt viel zu gediegener Charakter ist. – Im Vertrauen gesagt, Schattler,“ fügte er hinzu, indem er dem neben ihm Sitzenden leicht die Hand auf die Schulter legte, „es ist nicht Ihre Person allein, die bei Frau Marholz den Ausschlag gab, Almachen unserem Referendar zu entziehen. Ranke hat dem Professor im Vertrauen – hier in Büskow wird alles „im Vertrauen“ gesagt! – mitgeteilt, daß wenig Aussicht für Horstner vorhanden ist, das Examen je zu bestehen. Er ist das erstenmal so mit Pauken und Trompeten durchgerasselt, daß eine Wiederholung dieses Mißerfolges sehr zu fürchten ist. Ranke hat jetzt nach zwei Monaten eben erkannt, wie wenig sich Horstner zum Juristen eignet. Und das ist auch meine Überzeugung. Er ist fraglos ein befähigter Mensch, nur nicht für die Rechtswissenschaften. Praktische Betätigung – das liegt ihm. Die trockene Jurisprudenz niemals!“

 

5. Kapitel.

Der Sherlock Holmes von Büskow.

Der Büskower Polizeiwachtmeister Dreher zeichnete sich durch einen riesigen Schnurrbart und durch eine noch riesigere Grobheit aus. Er war ein findiger Kopf, und es gab Leute, die ihn den Sherlock Holmes von Büskow nannten, eine Schmeichelei, die Dreher stets mit dem Bemerken zurückwies, er sei ein Kriminalist von Fleisch und Blut und keine papierne Phantasiegestalt.

Drei Tage nach dem Zusammenbruch von Egon Horstners Liebeshoffnungen wollte Dreher dem Bürgermeister Stetterheim Vortrag über eine Angelegenheit halten, mit der er sich im geheimen schon einige Zeit beschäftigt hatte.

Stetterheim, ein früherer aktiver Offizier, der sich in Büskow im Laufe von acht Jahren bis zu zwei Zentner Gewicht aufgemästet hatte, lehnte sich in seinen Arbeitssessel zurück, schob die Zigarre zwischen die dicken Lippen und sagte:

„So – nun schießen Sie los, Dreher. Aber – kurz – kurz, – in der Kürze liegt die Würze, und in einem … alten Rheinwein …!“

Der Wachtmeister hatte sein Notizbuch zur Hand genommen und schaute hinein.

„Am 28. April, also vor etwa zwei Wochen, hat sich bei der Witwe Lerkner ein älterer Mann eingemietet, der angeblich als Sommerfrischler hier sich aufhalten will und sich als Rentier Franz Karstke polizeilich gemeldet hat. An demselben Tage trat bei dem Schlossermeister Wilutzki ein Mechaniker ein, der sich Emil Stillke nennt und dessen Papiere in Ordnung waren. Die beiden Leute sind noch hier, doch ihr Verhalten erregte bald die Aufmerksamkeit mehrerer Bürger, die zufällig Gelegenheit hatten, sie heimlich zu beobachten. Ich erhielt einen Wink, mir die zwei doch mal genauer aufs Korn zu nehmen und …“

„Schneller, kürzer, viel kürzer …!!“ fiel ihm Stetterheim ins Wort. „Sie haben also festgestellt, daß …“

„… daß diese Berliner – ihr letzter Wohnsitz war Berlin – sich jeden Abend außerhalb der Stadt treffen, obwohl sie sonst so tun, als kenne einer den anderen nicht. – Und nun kommt die Hauptsache: Der dritte im Bunde ist der neue Assessor!! Auch er hat zweimal an diesen Zusammenkünften teilgenommen, zu denen er sich auf allerlei Umwegen und möglichst vermummt begab.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Stetterheim. „Na – – und weiter?“

„Ja – das wäre vorläufig alles, Herr Bürgermeister. Aber ich wollte vorschlagen, daß mal in Berlin nachgefragt wird, ob die Personalangaben des Rentiers und des Mechanikers stimmen. Und – hm – vielleicht könnte man sich auch nach dem Assessor näher erkundigen. Seit der Geschichte in Stettin, wo ein Betrüger zum Stadtrat gewählt wurde, kann man nicht vorsichtig genug sein.“

„Na, na, Dreher, so schlimm wird’s wohl nicht gleich sein, trotzdem die Sache sehr zu denken gibt. Was treibt denn dieser Rentier sonst? Und auch der Mechaniker?“

„Ersterer angelt bei schönem Wetter den ganzen Tag am Kapellensee mit den alten Herren vom Anglerklub, und der Mechaniker arbeitet seine Zeit bei Wilutzki ab, der mit dem Manne sehr zufrieden ist – sogar außerordentlich.“

„Ja, zum Henker, dann sind die Leute doch eigentlich ganz unverdächtig! Was nun der Assessor mit ihnen zu schaffen haben mag …?! – Sie sind doch sonst für Ihre feine Spürnase bekannt, Dreher. Haben Sie so gar keine Vermutung?“

„Hm, ja, – das schon. Aber aussprechen möchte ich sie nicht gern. Ich will mich nicht auslachen lassen.“

„Unsinn, – heraus damit!“

„Der Sparkassenrendant Meinhold ist auch Angler, Herr Bürgermeister. An den hat sich der Karstke, der Rentier, besonders herangeschmissen. Und in dem Stahlschrank der Sparkasse liegen manchmal Tausende – hm, ja. Und der Karstke ist ein so merkwürdig weitgereister Mann, während der Mechaniker Stillke als Schlosser sicher auch mit Geldschränken umzugehen weiß …!!“

Wieder entfuhr dem Bürgermeister ein „Donnerwetter!“ Und dann fügte er hinzu:

„Sofort wird nach Berlin geschrieben, sofort …!!“

Der dicke Stetterheim hielt es in seinem Amtszimmer nicht lange aus, nachdem der Wachtmeister gegangen war.

Das mußte er doch seiner Klara erzählen, diese Neuigkeit. Die würde schön die Ohren spitzen …!! – Und so begab er sich denn in die in dem ersten Stockwerk des Rathauses gelegene Wohnung hinauf, wo Frau Klara gerade mit der Frau Professor Marholz im Eßzimmer saß und plauderte, falls man diesen harmlosen Ausdruck überhaupt anwenden durfte, wenn die spitzzüngige Professorsgattin mitbeteiligt war.

Stetterheims lebten selten glücklich miteinander. Er hatte seiner Zeit, um bald heiraten zu können, den Dienst quittiert und das arme Mädel, das nicht einmal eine Aussteuer mitbrachte, gegen den Willen seiner ganzen Familie heimgeführt. Erst Gemeindevorsteher in einem kleinen Badeorte an der Ostsee, war er dann nach Büskow gekommen, wo er sich mit allen Leuten vortrefflich zu stellen wußte und auch bewies, daß man mit dem neuen Bürgermeister einen guten Griff getan hatte. – Die beiden Kinder, zwei Knaben, schlugen auch gut ein, so daß es für Stetterheims eigentlich kaum einmal trübe Stunden gab. Sie lebten zumeist ganz für sich, und vergebens suchten Neid und Mißgunst in diese harmonische Ehe Zwist und Streit hineinzutragen.

Nachdem der Bürgermeister die ihm herzlich unsympathische Frau Professor freundlich begrüßt hatte, sagte seine stattliche, hübsche Gattin, die die Tochter eines kinderreichen, aber schülerarmen Musiklehrers war, etwas verlegen:

„Denk’ dir, Männe, ich soll in dem Freilichtspiel mitwirken, welches die Konkordia zum Besten der Büskower Armen im August veranstalten will. Oberlehrer Sperber hat ein Stück geschrieben …“

„… Ein ländliches Schauspiel,“ ergänzte Frau Marholz.

„– Ja – –, also ein Schauspiel, und nun will man mir eine der Hauptrollen anvertrauen.“

Stetterheim hatte sich in einen Schaukelstuhl gesetzt und die Hände über dem runden Bäuchlein gefaltet. Sein Gesicht sah nicht so aus, als ob er über die seiner Gattin zugedachte Ehre sehr entzückt war. Aber ablehnen konnte man nicht gut. Und deshalb sagte er diplomatisch:

„Wenn du gern mitmachen möchtest, Klärchen, – warum nicht?! – Wer sind denn die übrigen Mitwirkenden, gnädige Frau?“

„Das Liebespaar sollen Assessor Schattler und meine Alma geben. Dann wirken noch mit Herr Direktor Bermann – als Bauer, Knittels, Frau Winkler, Referendar Horstner und die Erzieherin von Landrats, Fräulein von Gersheim; letztere ist auf einen deutlichen Wink der geborenen Gräfin Krailingen aufgefordert worden. Damit wären die Damen und Herren, die unserem Kreise angehören, sämtlich genannt. Aus der Bürgerschaft hat man auch noch für Nebenrollen einzelne Personen ausgesucht, damit die Veranstaltung nicht lediglich ein Werk der Honoratioren wird, sondern mehr allgemeinen Charakter gewinnt.“

„So, letzteres freut mich besonders,“ meinte Stetterheim. „Die Leitung des Ganzen hat wohl Oberlehrer Sperber übernommen als Autor des aufzuführenden Stückes?“

Frau Marholz bejahte und verabschiedete sich dann nach einigen weiteren kleinen Bosheiten, ohne die sie nun einmal nicht leben konnte.

„Gräßliches Weib,“ sagte der Bürgermeister, als sie gegangen war. „Merkst du was, Klärchen?! Sie angelt für ihre Alma nach Schattler, dem der Fleischersohn bereits dank seiner tadellosen Manieren und guten Erscheinung vergessen und vergeben ist. – Nein – diese Kleinstädter, diese Bande …!! Und hier soll man nun vielleicht sein Leben beschließen …!!“

Er stöhnte so kläglich auf, daß Frau Klärchen ihm schnell einen Kuß zum Trost gab.

Dann kramte er seine Neuigkeiten aus.

„Was den Assessor angeht, Klärchen, – da habe ich dir noch eine merkwürdige Geschichte zu erzählen.“ Und er wiederholte ziemlich wörtlich, was Wachtmeister Dreher ihm gemeldet hatte.

Als er fertig war, lachte seine Gattin kurz auf.

„Dreher ist verdreht!“ scherzte sie. „Bildet der sich etwa ein, Schattler sei ein verkappter Gentleman-Einbrecher, der es auf die Sparkasse abgesehen hat …?! – Unsinn!! Im übrigen kann ich dir zum Beispiel von diesem Rentier Karstke, der bei der Witwe Lerkner wohnt, heute mit Sicherheit berichten, daß er es gewesen ist, der für die beiden an Scharlach verstorbenen Kinder des Flickschusters Albrecht das ganze Begräbnis bezahlt und Frau Albrecht noch den Hundertmarkschein geschenkt hat, bei dessen Einwechslung die Ärmste in bösen Verdacht geriet. Die Truschinski, unsere Waschfrau, hat es mir erzählt. Und die weiß es von der Albrecht selbst.“

„Nicht möglich?! Aber weshalb hat die Albrecht denn nicht gleich gesagt, wer der Spender des Kassenscheines ist?“

„Weil dieser Rentier Karstke ihr das Versprechen abnahm, ihn auf keinen Fall als den Wohltäter zu nennen.“

„Merkwürdig, Klärchen, sehr merkwürdig! Das Begräbnis der Kinder hat doch auch sicherlich seine hundertfünfzig Mark gekostet …! Der Karstke muß also reich sein, wenigstens nach unseren Begriffen.“

Stetterheim zündete sich jetzt umständlich eine Zigarre an. Dann kam er nochmals auf Schattler zu sprechen.

„Ich fürchte, Winkler wird dem Assessor bald gehörig aufs Dach steigen, falls dieser sein Interesse für die schöne Frau Lucie mit den Sprühaugen nicht etwas mehr vor der Öffentlichkeit verbirgt. Und diesen Feinschmecker, der sofort die Perle von Büskow richtig herausgefunden hat, hofft die Marholz für ihre schüchterne, wenn auch ganz niedliche Tochter zu kapern!! Manchmal ist die Professorin tatsächlich blind, obwohl sie meist zu viel sieht.“

Stetterheim paffte blaue Wolken in die Luft und lächelte ironisch.

Sein Klärchen band sich jetzt eine große Wirtschaftsschürze vor und sagte übermütig:

„Dickerle, gehen wir wieder an die Arbeit. Ich muß in die Küche, und …“

„… ich werde mal zu der Albrecht pilgern,“ vollendete er. „Ich muß von ihr selbst mir erzählen lassen, wie die Sache mit dem Karstke eigentlich zusammenhängt. Auf Wiedersehen, Schatz.“

Noch ein langer Kuß, und dann trennten sie sich.

Als der Bürgermeister über den Marktplatz ging, begegnete er Doktor Winkler.

„Himmel, Doktor, sie machen ja ein Gesicht, als hätten Sie seit Tagen nur saure Gurken gespeist,“ rief Stetterheim, Winkler die Rechte hinstreckend.

„So – finden Sie …?! Man kann doch nicht dauernd lachen. – Morgen – habe keine Zeit …!“

Und weg war er. – Stetterheim pfiff leise durch die Zähne.

„Eifersucht!“ brummte er. „Richtiggehende Eifersucht! Geschieht dem alten Don Juan aber ganz recht! Hat so eine reizende Frau und macht trotzdem stets aufs neue dumme Streiche!“

Winkler ging mit gesenktem Kopf sehr eifrig weiter. Er mußte zu Markstedts auf das Landratsamt. Eines der Kutschpferde hatte Kolik.

Der Weg zu dem abseits auf einem bewaldeten, in einen großen Park umgewandelten Hügel gelegenen alten, massigen Bau führte steil bergan. Es war recht warm heute. Und selbst im Schatten der dickstämmigen Kastanien fühlte Winkler schnell eine Ermüdung, verbunden mit Herzklopfen und Atemnot, die ihn zum erstenmal recht eindringlich daran gemahnte, daß er in die Jahre gekommen war, wo man dem Körper nicht mehr alles zumuten darf.

Seine Laune sank noch um ein paar weitere Grade. Vor dem Altwerden hatte der lebenslustige Mann eine wahre Angst. Nur das nicht – nur nicht merken, wie sich dies und jenes langsam aber stetig am eigenen Leibe änderte, nur nicht verzichten müssen auf das Bewußtsein frischer Kraft, das seinem ganzen Wesen stets so etwas sieghaftes gegeben hatte – besonders Frauen gegenüber.

Da – er schreckte auf.

„Guten Morgen, Herr Doktor. – So in Gedanken …?!“

Dicht an der Parkmauer erhob sich ein Pavillon, um den eine Galerie herumlief. Dort oben stand Hella von Gersheim in einem weißen Hauskleide, ohne Hut, einen großen Strauß Maiglöckchen in der Hand.

Winkler schwenkte seinen Panama. Vergessen war Schattler, vergessen die Kurzatmigkeit, das jagende Herz.

„Morgen, Gnädigste! – Wirklich – der Frühling grüßt mich! Heil dem Hause, in dem er in Ihrer reizenden Person verkörpert, beständig weilt.“

Hella drohte ihm scherzend mit dem Finger.

„Warten Sie, das erzähle ich Ihrer Gattin …! Sie haben doch weit mehr ewigen Sonnenschein daheim als dieses alte, düstere Haus. Ihre Frau ist reizend. Bestellen Sie ihr einen herzlichen Gruß von mir.“

Die Erwähung Lucies wirkte auf Winkler wie ein Guß kalten Wassers. Urplötzlich stand es wieder vor ihm, dieses Gespenst, das ihn nun schon seit Tagen verfolgte …

Lucie war mit einem Schlage so ganz anders geworden – so kühl, so zurückhaltend, so gleichmütig, und … gar nicht mehr eifersüchtig. Ihr drittes Wort war jetzt stets „Schattler – der Assessor“. – „Schattler hat dies gesagt …“ – „der Assessor denkt hierüber so und so …“ – „Schattler meint – urteilt …“, nur immer dieser Laffe mit seinem gebräunten Zigeunergesicht und der nachlässigen Vornehmheit … Es war einfach zum wild werden …!!

„Aber Herr Doktor – Sie starren ja ins Weite, als ob Sie Gespenster sehen!“ rief Hella lachend.

Da nahm er sich zusammen. Fast mürrisch erklärte er, es sehr eilig zu haben, grüßte und schritt weiter.

Beelzebub sollte alle Weiber holen – sein eigenes dazu …!! Nichts als Ärger und Aufregungen bereiteten sie einem …

 

6. Kapitel.

Theaterprobe.

„Fräulein Alma, Sie deklamieren …!! Sie sollen natürlich sprechen …!! So geht das nicht!“

Oberlehrer Sperber, heute bei der ersten Leseprobe seines Stückes noch zappliger als sonst, rang verzweifelt die Hände.

Alma Markholz waren die Tränen nahe. Sie fühlte die Augen aller Anwesenden auf sich gerichtet. Das machte sie unsicher, verlegen.

Die Mitwirkenden saßen in großem Kreise auf Stühlen im Saale des Hotels „Zur Stadt Hamburg“. Durch die fünf hohen, breiten Fenster flutete der Nachmittagssonnenschein in leuchtenden Bahnen hinein. Es roch hier so wenig poetisch nach Staub und kaltem Zigarrenrauch. Schattler hatte vorhin alle Fensterflügel aufreißen wollen. Aber das ging nicht. Zu oft ratterten unten auf dem schlechten Pflaster Wagen vorüber und verschlangen mit ihrem Lärm jedes Wort.

Doktor Sperber, der in der warmen Jahreszeit stets Sandalen trug und solide Beinkleider mit riesigen Kniebeuteln, schob sich die goldene Brille zurecht.

„Fangen wir die Szene noch einmal an!“ kommandierte er scharfen Tones. Er war nebenbei auch Turnlehrer, und die Schüler hatten vor ihm trotz all seiner Eigenheiten einen Riesenrespekt.

Alma wurde ganz blaß vor Angst. Nun sollte die Quälerei also wieder beginnen …! Mein Gott – sie hatte doch nun einmal keine Spur von Talent. Das fühlte sie. Aber die Mutter wollte, daß sie die junge Bauerndirne gab, die schließlich durch den als Sommergast im Dorfe weilenden berühmten jungen Schriftsteller – Schattler – allmählich zur Weltdame erzogen und dann sein Weib wird. Und was die Mutter wünschte, mußte geschehen, mußte, – dagegen gab es keine Auflehnung.

Hilfesuchend irrte ihr Blick jetzt zu Egon Horstner hin. Das war der einzige, der sie verstand. Und wirklich, Horstner nickte ihr aufmunternd zu.

Da nahm sie sich zusammen, hob ihr Rollenbuch dicht an die Augen, um ihr Gesicht vor all den neugierigen Blicken zu verstecken, und las – las. Aber sie merkte selbst, daß sie eben wirklich deklamierte …

Doktor Sperber konnte sehr rücksichtslos sein.

„Halt – halt!“ brüllte er förmlich. „So darf vielleicht die Jungfrau von Orleans ihren großen Monolog hersagen, nicht aber das Mirzel vom Steinerhof ihre Begrüßungsworte für den Sommergast …! – Das geht einfach nicht – und das wird auch nichts!“

Da erhob sich im Hintergrund Frau Professor Marholz, die heute wieder einen ganzen Acht-Mark-Basar bei sich trug, rauschte mit unheilverkündendem Gesicht heran, trat vor Sperber hin und sagte eisig kühl:

„Verschreiben Sie sich eine Berufsschauspielerin, Herr Oberlehrer! Verlangen Sie aber nicht von einer Dilettantin, daß sie gleich bei der Leseprobe es Ihren hohen Ansprüchen recht macht. Alma gibt die Rolle hiermit ab. Komm’, Kind, mir haben hier nichts mehr zu tun.“

Es war eine sehr peinliche Situation. Da mischte sich Schattler ein. Und ihm gelang es, die Sache wieder leidlich einzurenken. Alma tauschte mit Hella von Gersheim, die eine schnippische, eingebildete Großstädterin zu spielen hatte.

Erst wollte Frau Marholz von diesem Tausch nichts wissen. Aber dem Assessor war schwer zu widerstehen, wenn er sich aufs Bitten legte.

„Ich werde mir erlauben, gnädige Frau, die neue Rolle mit Ihrem Fräulein Tochter selbst durchzustudieren. So ein klein wenig verstehe ich von der Kunst der Mimen. Und, glauben Sie mir, verehrteste Frau Professor, – Fräulein Alma wird einen Bombenerfolg erzielen. Dafür werde ich sorgen …!“

Das gab den Ausschlag. „Selbst einstudieren …!“ Das bot Gelegenheit zu häufigem Alleinsein, das war der erste Schritt zur Verlobung. Und in dieser Hoffnung nahm Frau Marholz auch die bittere Pille hin, daß Alma jetzt Egon Horstner zum Partner bekam.

Die Leseprobe wurde fortgesetzt.

Hella deklamierte dann freilich als Mirzel nicht; sie war in jedem Ton das harmlose, vertrauensselige und doch scheue Bauerndirnlein, das dem Autor vorgeschwebt hatte.

Doktor Sperber war selig.

„Großartig – großartig!“ lobte er. Und Schattlers Leistung zensierte er nicht minder begeistert.

Frau Marholz hatte sich wieder neben die Frau Amtsrichter Knittel gesetzt, die erst im zweiten Akt zu tun hatte.

Die beiden Damen waren sich ganz einig darüber, daß Sperber ein richtiger Plebejer sei.

„Ein Benehmen wie ein Hausknecht, aber – ein Kopf wie Goethe,“ meinte die Präsidententochter, für die Goethe der Geist aller Geister war. Dann flüsterte sie noch leiser:

„Haben Sie bemerkt, liebe Frau Professor, wie die Gersheim ihr unnahbarstes Gesicht aufsetzte, als sie Schattler jetzt als Partner hinnehmen mußte? Sie wissen doch: Der Assessor war es ja, der am Stammtisch den Liebesroman der Erzieherin zum Besten gegeben hat. Das verzeiht sie ihm nicht. Doktor Winkler erzählte mir, die Gersheim sei ganz bleich geworden, als er ihr andeutete, was er von ihrer Vergangenheit durch Schattler wisse.“

Daran hatte Frau Marholz nicht gedacht. Richtig – Hella von Gersheim schätzte den Assessor sehr wenig, was sie stets deutlich zum Ausdruck brachte. Dieses Zusammenspiel der beiden war also ganz ungefährlich. Und daß der Referendar nicht auf dumme Gedanken kam, darauf würde sie schon acht geben.

Die Laune der Professorin war plötzlich geradezu glänzend. Als dann noch Alma in der neuen Rolle als verwöhntes Kommerzienratstöchterlein ihre Sache überraschend gut machte, war sie mit allem ausgesöhnt.

Der zweite Akt wurde jetzt vorgenommen. Hella und Schattler waren darin erst im einer späteren Szene beschäftigt.

Der Assessor ahnte nicht, weshalb Hella ihn seit Tagen mit so auffallender Kälte behandelte. Dieser Umschwung war ganz plötzlich eingetreten. Nun wollte er sich Klarheit verschaffen.

Die Erzieherin hatte sich mit dem Rollenheft an eines der Fenster etwas abseits gesetzt, um schnell die Szenen des zweiten Aktes zu überfliegen.

Schattler trat zu ihr.

„Gnädiges Fräulein, gestatten Sie eine Frage …“

Sie blickte auf. Kühl und gleichgültig schaute sie ihn an.

„Bitte …!“ Jetzt war Hella ganz die geborene von Gersheim, Tochter des Obersten a. D. Wie eine Fürstin, die Audienz erteilt, saß sie da.

„Wodurch habe ich mir Ihre Ungnade zugezogen?“

Sie hob leicht die Schultern.

„Ungnade?! Ich denke, wir kennen uns so wenig, Herr Assessor, daß weder von Gnade noch Ungnade die Rede sein kann. Der Dienst der Wohltätigkeit führt uns hier zusammen. Nichts weiter.“

Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund.

„Wir kennen uns so wenig …“ wiederholte er gedehnt. „Gewiß – das mag richtig sein. Aber nicht viel besser kennen Sie die anderen Herren unseres Kreises. Und doch behandeln Sie sie anders, nicht mit dieser förmlichen Zurückhaltung wie mich.“

Unter dem forschenden Blick seiner Augen wurde sie nun doch verwirrt. Das ärgerte Sie. Und daher erwiderte sie schroffer, als es eigentlich beabsichtigt war:

„Wollen Sie mich dieserhalb zur Verantwortung ziehen, Herr Assessor? Fast scheint es so. Nun – ich tue, was ich für gut befinde, – stets! – – Wünschen Sie noch etwas?“

Er verbeugte sich und ging.

Hella versuchte weiterzulesen. Aber sie flog nur mit den Augen über die Worte hin. Ihr Geist war unbeteiligt. –

Wo – wo nur hatte sie schon früher einmal diese Stimme gehört …?! Sie mußte Schattler bereits kennen, – ohne Frage! – Es war ja heute nicht das erstenmal, daß sie hierüber nachgrübelte. – Ja – und weshalb nur mochte er so eigentümlich gelächelt haben …?!

Unwillkürlich blickte sie ihm nach. Da stand er jetzt am nächsten Fenster und … schaute gleichfalls nach ihr hin. In seinen Augen lag es wie ein stummer Vorwurf …

Da wandte sie schnell den Kopf zur Seite, erhob sich und ging zu Frau Marholz und der Frau Amtsrichter hinüber, nahm neben ihnen Platz und begann eine gleichgültige Unterhaltung.

Die Professorin wollte diese gute Gelegenheit, dem für ihre neidische Natur viel zu vornehm aussehenden jungen Mädchen einige Nadelstiche zu versetzen, jedoch nicht vorübergehen lassen und begann ziemlich unvermittelt Hella an jenen Auftritt mit dem Zugkontrolleur im Abteil 2. Klasse zu erinnern, indem sie wortreich erklärte, Hella hätte ihr damals aufrichtig leid getan, und jener Beamte wäre hoffentlich auch von dem fremden Herrn nachher noch der vorgesetzten Dienstbehörde gemeldet worden.

Fräulein von Gersheim merkte sofort, daß sich unter dieser scheinbaren Anteilnahme nichts als Schadenfreude und der Wunsch verbarg, sie fühlen zu lassen, daß man sich auf die junge Reisende mit der Fahrkarte dritter Klasse sehr gut besinne. Um es aber mit diesen beiden gehässigen Damen nicht zu verderben, ging Hella über den für sie recht peinlichen Gegenstand mit ein paar nichtssagenden Redewendungen hinweg.

Wenn sie aber gehofft hatte, auf diese Weise sich am besten gegen weitere Taktlosigkeiten der Frau Marholz zu wehren, so irrte sie sich. Die Professorin, gereizt durch die sichere Art des jungen Mädchens, holte alsbald zum zweiten Streiche aus.

„Sind Sie eigentlich durch eine von Markstedts in Berliner Blättern eingerückte Anzeige zu Ihrer jetzigen Stellung gekommen, Fräulein von Gersheim?“ fragte sie, liebenswürdiges Interesse heuchelnd.

„Nein, gnädige Frau. Meine verstorbene Mutter und die Gräfin Krailingen, die Mutter Frau von Markstedts, waren Jugendfreundinnen. Auf diese Weise bin ich hier nach Büskow gelangt.“

Diese ausweichende Antwort genügte aber Frau Markholz anscheinend nicht.

„Jedenfalls hatten Sie aber doch schon längere Zeit die Absicht, sich Ihr Brot selbst zu verdienen,“ sagte sie, Hella freundlich zunickend. „Ich finde das sehr verständig von Ihnen, besonders da Sie doch eine ganze Menge von Geschwistern haben, die von einer Oberstenpension zu erziehen nicht ganz leicht sein kann. Ist es eigentlich Tatsache, liebes Fräulein von Gersheim, daß, wie man sich hier erzählt, aus einer Heirat mit einem vielfachen Millionär bürgerlicher Herkunft nichts wurde, und daß Sie aus diesem Grunde es vorgezogen haben, Ihr Vaterhaus zu verlassen? – Bitte, betrachten Sie dies nicht als müßige Neugier von meiner Seite. Ich fühle so aufrichtig mit Ihnen mit, kann mir vorstellen, daß gerade Sie sich zu einem solchen Schritt, eine Vernunftehe zu schließen, nicht verstehen konnten.“

Hella war jetzt nahe daran, die Geduld zu verlieren. Wie kam diese lächerlich herausgeputzte, herzlose, alternde Frau dazu, sie derart auszuhorchen …?! Am liebsten hätte sie in einer Weise reagiert, wie es in diesem Falle angebracht gewesen wäre. Aber zur rechten Zeit besann sie sich noch auf Frau von Markstedts Warnung. „Liebe Hella, Sie werden hier in der sogenannten ersten Gesellschaft von Büskow Dinge erleben, die Sie einfach für unmöglich halten. Auch Sie wird man sich als Zielscheibe für kleine Niederträchtigkeiten auswählen, ohne die ein Teil der Büskower Damen nicht bestehen kann. Aber – seien Sie klug und tun Sie, als ob Sie nichts merkten! Sonst sind Sie bei den Honoratioren bald unten durch …!“ besann sich aber auch darauf, daß Schattler es gewesen war, der sie durch seine unmännliche Klatschsucht derart zum Mittelstück einer so peinigenden Neugier gemacht hatte. Schattler trug die Schuld an diesem ihr so widerwärtigen Gespräch – er allein! Wenn er auch nur die Spur von Zartgefühl besessen hätte, so würde er geschwiegen und nicht am Biertisch mit der genauen Kenntnis der Vergangenheit einer jungen Dame sich gebrüstet haben …! – Zartgefühl …?! Wo sollte der Fleischersohn das wohl auch hernehmen?! Das ließ sich nicht eindrillen wie die Wahrung äußerer gesellschaftlicher Formen …!!

Ihr Groll gegen Schattler wuchs sich zu feindseligem Haß aus. Und aus diesem Empfinden heraus erwiderte sie jetzt:

„Herr Assessor Schattler hat die Büskower ganz richtig über meine Person informiert. Ich habe hier bei Markstedts sozusagen Schutz gesucht vor den ständigen Angriffen auf mein Selbstbestimmungsrecht. – Die Damen entschuldigen mich jedoch. Ich glaube, das Stichwort für meine Szene fällt sofort.“

Sie stand auf und setzte sich wieder in den Kreis der Mitwirkenden. Am liebsten hätte sie jetzt Doktor Sperber das Rollenheft zurückgegeben und erklärt, sie müsse aus bestimmten Gründen ihre Zusage zur Teilnahme an der Aufführung zurücknehmen. Aber – hieße das nicht dem Assessor zu viel Ehre antun?! Würde sie nicht bei den Proben die beste Gelegenheit finden, ihn fühlen zu lassen, wie sehr sie in ihm den gemütsrohen Emporkömmling verachte, und ihm zu zeigen, daß seine Person für sie völlig Luft sei …?!

So schwieg sie denn.

Und dann kam der letzte Akt, in dem das inzwischen äußerlich und innerlich veränderte Mirzel in einer wirkungsvollen Szene ihre wahre Herzensneigung entdeckt und dem jungen Schriftsteller in die Arme fliegt.

Schattler las seine Rolle meisterhaft. Ganz von selbst riß er auch seine Partnerin mit fort. Hella vergaß, wen sie vor sich hatte. Das war ja auch nicht der Assessor Schattler – nein, das war der berühmte Romandichter Bert Oppen, der um die „kleine“ Mirzel wirbt …

Erst auf dem Heimwege zum Landratsamt erwachte sie wie aus einem Traum. Noch nie hatte sie aus dem Munde eines Mannes, der über eine so tadellose Erscheinung und über ein so wohlklingendes Organ verfügte, die Sprache der Leidenschaft vernommen, Worte gehört, die an sie selbst gerichtet gewesen waren, noch nie hatte ein Mann ihr Herz vor banger, süßer Erregung schneller schlagen gemacht … Und heute …?! Es waren ja nur Worte, Gesten, die Doktor Sperbers Geist vorgezeichnet hatte, war nur Komödie gewesen, eine Theaterprobe … Und doch …! Wie mächtig hatte das heiße Werben des Mannes, der Herr Oppen hieß und dennoch immer Heinz Schattler blieb, in ihrer Seele noch nie angetastete Saiten zum Klingen gebracht …, wie schwer war es, die Gestalt, die der Autor geschaffen, und den, der sie darstellte, auseinander zu halten …!

Hella lachte plötzlich ärgerlich auf. Fort mit den Gedanken …! – Gut, daß sie beim Auseinandergehen auf Schattlers Verbeugung nur kaum merklich den Kopf geneigt hatte … – –

Arme Hella …

* * *

„Also es bleibt dabei, gnädige Frau, ich studiere mit Ihrem Fräulein Tochter die Rolle ein. Selbstverständlich müssen wir auch gelegentlich den Referendar Horstner als den Partner Fräulein Almas hinzuziehen, damit die beiden sich aufeinander einspielen, wie man zu sagen pflegt.“

„Ist das wirklich nötig, Herr Assessor?“ fragte Frau Marholz, etwas säuerlich lächelnd.

„Warte“, dachte Schattler, „ich will dich schön in deinen mütterlichen Absichten unterstützen und dir zu einem Schwiegersohne verhelfen, wie er für deine Alma paßt …! Du wirst dich wundern …!!“

Laut aber sagte er:

„Aber, gnädige Frau, – das ist wirklich nicht zu umgehen. Im übrigen bin ich doch da, der verhüten wird, daß – – hm, ja – na, Sie verstehen mich wohl …!“ Er lächelte übermütig, und die Professorin war schnell bereit, dieses Lächeln so zu deuten, wie es ihren persönlichen Wünschen entsprach.

Schattler war es dann auch, der den Vorschlag machte, den prachtvollen Maiabend gemeinsam im Garten der „Stadt Hamburg“ zu verbringen, wo es unter alten Linden ein paar schöne, lauschige Plätzchen gab mit ehrwürdigen, verwitterten Tischen und Bänken und wenig gepflegten, aber in ihrer wilden Üppigkeit desto poetischeren Blumenbeeten und Gebüschen.

„In einer Stunde treffen wir uns wieder hier zu einem Picknick. Inzwischen werde ich mit gütiger Unterstützung von Frau Doktor Winkler und Fräulein Marholz alles vorbereiten. Sie werden erstaunt sein, was wir drei in dieser Stunde alles geschaffen haben. Eine italienische Nacht soll sich dagegen verstecken müssen …!!“

Man war begeistert – allgemein. Es sollten noch schnell ein paar weitere Familien benachrichtigt werden, und Schattler wollte Fritz, den Pikkolo, zu diesem Zweck mit einem Zettel herumschicken.

Alles klappte wunderbar. Baumeister Trappelt, der vorn in der Laube am Stammtisch gesessen hatte, mußte ebenfalls mithelfen. Und Egon Horstner tat’s freiwillig. Ihm und Alma Marholz übertrug der Assessor, nachdem der Zerberus von Mama verschwunden war, den Einkauf von Lampions und Lichtern, von Draht und Feuerwerkskörpern.

Wer war froher als das Pärchen, das allem Anschein nach bereits so ziemlich einig war. Überhaupt diese Alma …!! Außerhalb des Bereichs der strengen, mütterlichen Augen war sie wie ausgewechselt. Fast eine kleine Range. Oder – machte dies nur das Glücksgefühl, den Assessor als Verbündeten auf ihrer Seite zu wissen …?!

„Ein himmlischer Mensch!“ sagte sie zu Horstner, als sie nach dem nahen Papiergeschäft wanderten. Nah war ja alles in Büskow.

„Hoffentlich nicht zu himmlisch!!“ meinte der Referendar, den Eifersüchtigen spielend.

Da schaute sie ihn nur strahlend an. Und beim Auswählen der Lampions fanden sich ihre Hände immer wieder in zärtlichem Druck. –

Frau Lucie deckte mit Schattler die Tische unter den Linden. Trappelt setzte im Schankraum die Bowle an. Darin war er Sachverständiger.

„Sie krempeln ganz Büskow um, Herr Assessor,“ meinte Frau Lucie. „Wahrhaftig …!! Und daß Sie es fertig gebracht haben, auch die aus den Bürgerkreisen Mitwirkenden für die Teilnahme an dem improvisierten Abendpicknick heranzuziehen, rechne ich Ihnen hoch an. Die beiden Töchter des Kaufmanns Gutzeit sind feingebildete Mädchen, die bisher nur als Opfer des Kastengeistes abseits stehen mußten.“

„Die Frau Amtsrichter Knittel rümpfte sehr die Nase,“ warf Schattler ein. „Aber sie wird sich daran gewöhnen müssen, auch mal zur Plebs herabzusteigen, wo es sich um ein Anhängsel des großen Wohltätigkeitsfestes handelt. – Was macht übrigens der Herr Gemahl, gnädige Frau?“

„Er geht wie eine schwergeladene Gewitterwolke umher. Ich habe mir jetzt auch mein eigenes Schlafzimmer eingerichtet. Er schnarcht mir plötzlich zu sehr. Meine Nerven vertragen es nicht …“

Tausend Teufelchen sprühten in Frau Lucies Augen.

Bald wurde es dunkel. Der Hausdiener des Hotels hatte die Drähte gespannt. Daran hingen die bunten Papierlaternen wie glühende Kugeln. Maikäfer umschwirrten die Tische, und die alten Linden machten verwunderte Augen. Seit Jahren hatten sie etwas derartiges nicht mehr erlebt.

Allmählich fanden sich die Gäste ein. Trappelt hatte aus der „Herberge zur Heimat“ noch einen Leierkastenmann holen lassen. Der stellte die Musikkapelle vor. Es wurde ein sehr vergnügter Abend.

Aus den Körben tauchten viele leckere Dinge auf, die die Hausfrauen gespendet hatten. Für die Junggesellen sorgte die „Stadt Hamburg“. Um zehn Uhr hatte Doktor Sperber einen kleinen Schwips und ließ Schattler hochleben. Das Feuerwerk wurde über Gebühr bewundert. Und Sperber, diesen eingefleischten Ehefeind, ertappte man dabei, wie er mit Grete Gutzeit abgelegene Pfade wandelte.

Erst nach Mitternacht trennte man sich.

Frau Knittel war versöhnt. Die Bürgerlichen hatten sich tadellos benommen.

„Eigentlich alles recht nette Menschen,“ meinte sie zu der Professorin. Die stimmte eifrig zu und schwamm in Seligkeit. Schattler hatte sich Alma viel gewidmet, Horstner war sehr zurückhaltend gewesen und ihr Mann hatte ihr eben mitgeteilt, daß er dem Direktor und Ranke im Dreimännerskat acht Mark fünfzig Pfennige abgenommen habe. Und dabei gab es keinerlei Unkosten. Schattler hatte erklärt, er feiere heute seinen Geburtstag, der allerdings auf einen anderen Tag falle. Und da müsse man es ihm schon gestatten, die kleinen Vorbereitungen allein zu begleichen.

Am nächsten Tage bezahlte er die Bowlenrechnung und das übrige an die „Stadt Hamburg“, – etwas über hundert Mark. Und die Trinkgelder, die bei ihm nie knapp ausfielen, kamen auch noch hinzu.

 

7. Kapitel.

Die Erziehung zum Weltmanne.

Doktor Winkler und Frau Lucie hatten sich von den übrigen auf dem Marktplatz verabschiedet und schritten ihrem Hause zu.

„War es nicht ein reizender Abend, Fritz?“ meinte sie begeistert. „Schattler ist geradezu ein Genie! Was der alles fertigbringt – einfach glänzend!“

„Wenn du dir nur diese Backfischausdrücke abgewöhnen wolltest!“ brummte er. „Einer Frau in deinen Jahren täte vorsichtigere Wahl der Worte in dieser Beziehung sehr gut!“

„In meinen Jahren?!“ lachte sie übermütig. „Fritz, du wirst alt …! Du bist jetzt immer so mürrisch. Vergiß nicht, daß ich fast ein Jahrzehnt jünger bin als du …! Da hat man noch mehr Freude an harmlosen Vergnügungen. Und diese Freude darfst du mir nicht schmälern.“

Er war bei dem Worte „alt“ leicht zusammengezuckt. Eine würgende Wut stieg ihm in der Kehle hoch. Er hätte diesem Schattler kaltblütig das Genick umdrehen können. Der war an allem schuld.

Plötzlich schlug die Stimmung bei ihm ins Gegenteil um. Gerade als er die Haustür aufschloß und er im Lichte der nahen Laterne sah, wie bildhübsch Lucie heute wieder war. Rasse steckte in diesem Gesicht … Zum erstenmal überkam ihn mit einem Schlage die Angst, daß er sie verlieren könne. Wenn sie Schattler liebte …?! Vorläufig sich selbst noch unbewußt …?! Betrügen würde sie ihn ja nie. Dazu war sie eine viel zu ehrliche Natur. Aber – konnte es nicht geschehen, daß sie eines Tages vor ihn hintrat und ihm offen erklärte, sie müßten sich trennen …?! – Ihm wurde siedend heiß bei diesem Gedanken.

Und als er nachher allein in seinem Arbeitszimmer saß und noch eine Zigarre rauchte, als diese Gedanken ihn nicht verlassen wollten, da sprang er plötzlich auf und ging hinüber in das kleine Damenzimmer, in dem jetzt auch Frau Lucies Bett stand.

Sie saß in ihrem seidenen, hellblauen Morgenrock am Schreibtisch. Als er eintrat, deckte sie schnell ein Löschblatt über einen angefangenen Brief.

Ein häßlicher Verdacht zuckte in ihm auf. Er hatte sich in Ruhe mit ihr aussprechen wollen. Jetzt verlor er jede Selbstbeherrschung.

„An wen schreibst du so mitten in der Nacht?“ preßte er fast keuchend hervor. „Her mit dem Wisch, sage ich dir!“

Sie war aufgestanden. Er wollte sie fortdrängen, packte hart ihren Arm.

„Also roh kannst du auch sein?!“ sagte sie schneidend.

„Auch – auch, – was heißt das?!“ schrie er sie an. „Hast du jetzt vielleicht noch andere Fehler an mir entdeckt …, he?!“

„Jetzt?! – Nein! Deine Fehler kenne ich seit langem.“

Ihre überlegene Ruhe reizte ihn noch mehr. Er schob sie mit Gewalt bei Seite, griff nach dem Brief.

Gierig überflog er die Zeilen. Dann sank ihm der Arm schlaff herab. Er fühlte sich beschämt, gedemütigt.

Der Brief war an Lucies Schneiderin in Danzig gerichtet und handelte von einem neuen Sommerkostüm.

Er wollte sich entschuldigen, haschte nach ihrer Hand.

„Geh!“ sagte sie kalt.

Da schlich er hinaus. Er kannte sie jetzt von einer anderen Seite als früher. Wenn sie ihm da unter Tränen wegen der „Nebenweibchen“ Vorhaltungen gemacht hatte, genügte es stets, daß er sie in seine Arme nahm und scherzte: „Dummerle, du bleibst ja doch mein ein und alles! Wie kann man nur so eifersüchtig sein …!“ Und die Versöhnung war dann immer doppelt schön gewesen.

Eifersuchtsszenen gab es jetzt nicht mehr. Und mit ihrer kühlen Freundlichkeit und Zurückhaltung hatte sie ihm bald einen gewissen Respekt eingeflößt, noch mehr durch die bestimmte Art, in der sie sich ihre persönliche Bewegungsfreiheit sicherte. Nie mehr sagte sie ihm, wenn sie ausging, Besuche machte, Veränderungen im Haushalt vornahm. Die Zinsen ihres eingebrachten Vermögens – sie lebten in Gütertrennung – verwaltete sie jetzt selbst. „Ich will dir diese Mühe ersparen,“ erklärte sie. Damit war die Sache abgetan. Und Zärtlichkeiten – das hatte ganz aufgehört.

Doktor Winkler hatte die Fenster in seinem Arbeitszimmer aufgerissen. Er brauchte frische Luft. Wieder war die Angst gekommen, daß er sie verlieren könne, sie, seine tolle, einzige Lucie. Die Sehnsucht nach ihr trieb ihm das Blut schneller zum Herzen. Und je mehr dieses Sehnen in ihm wuchs, desto ernster ging er mit sich selbst zu Gericht.

War all dieses verliebte Getue mit den anderen Weibern es wirklich wert gewesen, daß dadurch seine Ehe, sein Glück in die Brüche ging …?! Was hatten ihm jetzt all die Nebenweibchen eingebracht, all dies eitle, spielerische Treiben …?! – Er ballte unwillkürlich die Fäuste gegen sich selbst! – Narr, alternder Narr! schalt er sich. So weit hast du es kommen lassen, daß die, deren du so sicher zu sein glaubtest, einem anderen sich zuwendet …!

Dann warf er sich auf den Diwan, hüllte sich in die dunkelgrüne Decke mit der leuchtend roten Rosenstickerei ein. Am ersten Weihnachtsabend in ihrer Ehe hatte Lucie sie ihm geschenkt. Monatelang hatte sie daran gestichelt. – Rote Rosen – Liebe – Glück – Zufriedenheit – alles war dahin.

Ihn fröstelte. Er fühlte sich so einsam, so verlassen.

Und bei alledem konnte er Lucie nicht einmal den Vorwurf machen, daß sie ihn durch ihr Verhalten Schattler gegenüber irgendwie bloßstellte. Das war ja noch das Schlimmste …! Der Assessor war zu allen Damen liebenswürdig, bei allen so recht Hähnchen im Korbe. Und auch wirklich, wenn man ehrlich war, gar kein übler Mensch …

Kurz – es war einfach zum Verrücktwerden! Und Fritz Winklers letzter Gedanke, bevor er endlich einschlief, bestand in einer grollenden Verwünschung aller Weiber – Lucie ausgenommen.

* * *

„Die Berliner Polizei läßt sich Zeit,“ sagte Wachtmeister Dreher eine Woche später zu Bürgermeister Stetterheim. „Ich bin neugierig, welche Auskunft wir erhalten werden. Diese drei Leute werden mir immer rätselhafter.“

Stetterheim zuckte die Achseln.

„Lassen Sie mich mit dem Unsinn in Ruhe, Dreher! Sie wittern üble Düfte, wo es nichts zu schnüffeln gibt. Der Assessor ist ein Prachtkerl, der alte Karstke ein stiller Wohltäter und der Mechaniker Stillke ein fleißiger, nüchterner Mensch.“

Dreher lächelte überlegen.

„Ich wünsche wahrhaftig, Sie behielten recht, Herr Bürgermeister. Aber leider habe ich inzwischen wieder so einiges ermittelt, was für einen durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Assessors unbeeinflußten Beamten recht wichtig ist.“

„Na – dann heraus mit Ihren Neuigkeiten! Aber Sie wissen ja, Dreher, – in der Kürze …“

„… liegt die Würze. Jawohl, Herr Bürgermeister. – Also, der Herr Assessor ist inzwischen wieder dreimal mit den beiden anderen zusammengewesen und zwar abermals hinter der Kirchhofsmauer. Gestern habe ich nun so manches von ihrer Unterhaltung aufgeschnappt. Ich hatte mich in einem Distelgestrüpp in der Nähe verkrochen.“

„Distelgestrüpp?! – Viel Vergnügen!“

„Was tut man nicht alles aus Diensteifer, Herr …“

„Stimmt, bisweilen sogar zu viel des Guten. Aber weiter.“

Dreher machte ein gekränktes Gesicht. Und mit merklich abgekühltem Eifer fuhr er fort:

„Drei Sätze, die Schattler sprach, habe ich mir besonders gut eingeprägt: – „Wir müssen auch den Anschein vermeiden, daß uns größere Geldsummen zur Verfügung stehen. Daher ist bei allem Vorsicht nötig.“ Und … „Ich weiß, daß der Polizeiwachtmeister mir nachspioniert. Das ist mir sehr unbequem. Eine Entdeckung vor der Zeit könnte mich um den ganzen Erfolg bringen.“ Schließlich noch: „Bei der Wohltätigkeitsvorstellung soll die Bombe platzen. Bis dahin müßt ihr schon eure Rollen weiterspielen.“ – Na, was sagen Sie nun, Herr Bürgermeister?!“

Stetterheim sog an seiner Zigarre und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

„Die drei Sätze schreiben Sie mir gleich nachher auf den Zettel. – Noch etwas?“

„Jawohl, Herr Bürgermeister. Bei dem Spediteur Itzigsohn ist schon seit dem 28. April ein Auto, ein großer, sehr eleganter Tourenwagen, eingestellt. Kein anderer als der Mechaniker Stillke hat ihn hingebracht und Itzigsohn gegen Bezahlung eines unverhältnismäßig hohen Lagergeldes zu tiefstem Stillschweigen verpflichtet. Wenn mit diesem Auto mal ein paar Berliner Einbrecher entfliehen, nachdem sie unsere Sparkasse geleert haben, soll es mich gar nicht weiter wundern.“

„Den Itzigsohn holen Sie mir sofort her. – Sind Sie nun fertig?“

„Gleich, Herr Bürgermeister. Ich habe jetzt auch herausbekommen, wer dem Krieschauski die eintausendundachthundert Mark gegeben hat, um die unterschlagene Summe zurückzuerstatten. Sein armes Weib, die ja mit der Albrecht in einem Hause wohnt, hatte von dieser gehört, daß Karstke das Begräbnis der Kinder bezahlt und der Albrecht noch hundert Mark gegeben hat. Da ist sie in ihrer Angst zu dem … angeblichen Rentier gelaufen und … zwei Stunden später hat der ungetreue Kassierer das Geld der landwirtschaftlichen Genossenschaft ausgezahlt und sich dadurch vor der Verhaftung bewahrt.“

„Donnerwetter!“ sagte Stetterheim überrascht. „Gleich eintausendundachthundert Mark! Da werde jemand klug daraus!!“

„Na – so ohne weiteres hat der Karstke die Summe doch nicht springen lassen, Herr Bürgermeister. Er hat sich vorher genau nach Krieschauskis Verhältnissen erkundigt. Und erst als ihm gesagt wurde, daß der Kassierer bisher ganz unbescholten und nur durch die Krankheit seiner drei Kinder und das eigene Lungenleiden so heruntergekommen war, wird er sich wohl zu diesem tiefen Griff in seinen Beutel verstanden haben. Jedenfalls ist es sicher, daß …“

Hier wurde der Wachtmeister durch einen Schreiber unterbrochen, der einen Brief an den Bürgermeister unter „Geheim – Persönlich“ brachte.

Stetterheim sah das Siegel des Berliner Polizeipräsidiums.

„Aha!“ sagte er nur, riß den Umschlag hastig auf und überflog das darin enthaltene Schriftstück.

„Hm!“ machte er nur. Und wandte sich an Dreher:

„Die drei Sätze brauchen Sie mir nicht aufzuschreiben. Und der Itzigsohn wird auch nicht mehr bestellt. Im übrigen nehme ich von heute ab die Ermittlungen gegen Schattler persönlich in die Hand. Sie kümmern sich um die Leute überhaupt nicht mehr, – verstanden?!“

„Jawohl. Aber – dürfte ich vielleicht fragen …“

„Nein – hinausgehen dürfen Sie! Morgen, Dreher!“

Der Wachtmeister schob zögernd ab. So verdutzt wie heute war er lange nicht gewesen.

Stetterheim nahm das Schreiben aus Berlin und ging zu seinem Klärchen nach oben.

„Na – die wird ein Gesicht machen!!“ dachte er schmunzelnd, als er die Treppe emporstieg. „Aber schweigen muß sie, sonst reiße ich ihr die Zunge aus!“

Am Nachmittag suchte der Bürgermeister den Assessor in der „Stadt Hamburg“ auf.

Als er sich nach einer Stunde wieder verabschiedete, begegnete er in der Vorhalle dem Oberlehrer Sperber.

„Wohin, Doktor?“ rief Stetterheim erstaunt. „Ei – ei, Sie überzeugter Kneipenfeind an dieser Stätte und am Tage dazu?!“

Sperber wurde verlegen und beschaute seine Sandalen, durch deren Riemen die soliden grauen Socken hindurchschimmerten.

„Ich bin auf dem Wege zu Schattler,“ sagte er. „Ich will – hm, ja – will ihn um einen Rat bitten.“

„So so! Sie auch?! – Na – gute Verrichtung. Auf Wiedersehen.“

Schattler empfing den Oberlehrer auf das liebenswürdigste.

„Ah – welch’ seltene Freude. Bitte, nehmen Sie Platz. – Zigarre gefällig?“

Sperber wehrte erst ab. Doch dann:

„Sie wissen, ich bin eigentlich Nichtraucher. Heute will ich aber eine Ausnahme machen. – Danke, brennt schon.“

Schattler merkte, daß der Oberlehrer merkwürdig aufgeregt war, so, als ob er etwas Besonderes auf dem Herzen habe.

Die Unterhaltung schleppte sich eine Weile mühsam hin. Sperber war so zerstreut, daß er ganz verkehrte Antworten gab. Endlich nahm er einen beherzten Anlauf und platzte heraus:

„Sie sollen mir ganz ehrlich Ihre Meinung sagen, Schattler, ganz ehrlich. Fünf Wochen proben wir jetzt schon. Haben Sie etwas bemerkt?“

Schattler ahnte, worauf Sperber hinaus wollte. Und, um ihn nicht lange zappeln zu lassen, erwiderte er:

„Wenn Sie mit dem „merken“ auf Ihr Interesse für Fräulein Grete Gutzeit anspielen, so muß ich natürlich mit ja antworten.“

„Also ist es doch aufgefallen. Hm – sehr unangenehm! – Glauben Sie, daß ich mit meinen fünfunddreizig Jahren noch daran denken kann zu heiraten? Und – werde ich mir nicht einen Korb holen? Ich bin ja gerade kein Adonis, und Fräulein Grete ist doch eine Erscheinung, die Ansprüche stellen kann.“

Schattler überlegte.

„Vertragen Sie ein ganz ungeschminktes Wort, Doktor? – Sie nicken eifrig. Gut denn – hören Sie also. Jedes junge Mädchen, selbst wenn es gezwungen ist, die erste beste Versorgungsehe zu schließen, malt sich in seinem Innern ein Bild von dem Zukünftigen zurecht, wie er aussehen müßte, um an seiner Seite sich überall ohne Scheu zeigen zu können. Ich spreche hier nicht von dem Ideal eines heranreifenden Backfisches, sondern von der – wollen sagen – Mindestforderung, die ein Weib in Bezug auf das Äußere eines Freiers stellt. Sie, lieber Doktor, sind nun ein herzensguter Kerl mit einem reichen Innenleben, aber – zu sehr Naturbursche. Sie haben bisher Ihre Person in gewisser Beziehung in dem Glauben vernachlässigt, daß es für einen Mann von gediegener Bildung und gefestigtem Charakter überflüssig sei, viel auf Kleidung und äußere Körperpflege zu achten. Jetzt nun wird Ihnen klar werden, daß eine solche Verachtung von Äußerlichkeiten, die immer einem starken Selbstgefühl entspringt, auch ihre Schattenseiten haben kann. Mit Ihren Sandalen, Ihren grauen Socken, ausgebeutelten Beinkleidern, Umlegekragen, und Touristenhemden, dem sogenannten Franzosenschnurrbart, der langen Künstlermähne und dem ewig gleichen Anzug aus Lodenstoff sind Sie wenig geeignet, die vorhin erwähnte Mindestforderung einer jungen Dame wie Fräulein Grete Gutzeit es ist zu erfüllen. Trotzdem behaupte ich, daß sie Sie liebt. Darauf verstehe ich mich so ein wenig. Aber sie wird Ihnen einen Korb geben, eben weil Sie neben ihr, der stets tadellos Angezogenen, doch zu sehr … auffallen würden. Sie beide als Brautpaar wären unmöglich, wenigstens zur Zeit. Dieses Hindernis, das also lediglich in Ihrer Person liegt, läßt sich nun zum Glück spielend leicht beseitigen. Sie brauchen kein Geck zu werden – aber mit etwas gutem Willen könnten Sie aus sich einen Mann machen, nach dem sich alle Büskower Damen die Finger abschlecken.“

Sperber streckte Schattler jetzt beide Hände hin.

„Sie – Sie sind mein Retter …! Sie haben recht. Mit allem, was Sie mir eben vorhielten. – Aber, werde ich mich nicht lächerlich machen, wenn ich nun plötzlich, nachdem die Büskower an dieses mein Kostüm sich gewöhnt haben, plötzlich mich vollkommen mausere?!“

Schattler klopfte dem Doktor auf die Schulter.

„Natürlich dürfen Sie nicht mit einemmal all das beseitigen, was Sie schon von weitem kennzeichnet, Verehrtester! Die Verwandlung muß allmählich vor sich gehen. Und – wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen mit Rat und Tat hierbei. Mein Berliner Schneider kommt morgen hier nach Büskow, um mich für den Sommer auszustatten. Da können Sie gleich diesen Kleiderkünstler in Anspruch nehmen.“

Sperber blieb der Mund offenstehen.

„Ihr Berliner Schneider kommt hierher …?! Aber – das muß Ihnen doch sehr teuer werden …“

Schattler lachte.

„Er besucht hier noch einen zweiten Kunden, unseren Landrat. Und wenn Sie nun noch einige fünf Anzüge und zwei Mäntel – das werden Sie brauchen – bestellen, so gehen die Unkosten für die Anreise schon in drei Teile.“

Fünf Anzüge …!! – Sperber wirbelte der Kopf. Aber er war mit allem einverstanden. Geld hatte er ja genug, – außer seinem Gehalt noch beinahe ebenso viel Zinsen eines eigenen Vermögens.

Nachher hielt Schattler ihm dann noch einen langen Vortrag über die Kunst, sich gut anzuziehen, über Bartpflege und manches andere.

„Hm,“ meinte Sperber dann ehrlich, „ich bin wirklich schon etwas rückständig gewesen …“

 

8. Kapitel.

Zwei Verliebte.

Bei der nächsten Probe erschien Doktor Sperber bereits in braunen Schnürstiefeln, gebügelten Beinkleidern und einem hohen Stehkragen, der ihm offensichtlich noch recht unbequem war. Auch der Franzosenschnurrbart war stark gestutzt, und statt des langen, nach hinten zurückgestrichenen Kopfhaares trug er einen flott gekämmten Scheitel.

Niemandem konnte diese Veränderung entgehen. Aber nur Frau Professor Marholz war taktlos genug, Sperber dieserhalb anzusprechen und laut ihrer Verwunderung über diesen „auffallenden Verjüngungsprozeß“ Ausdruck zu geben.

Der auf Freiersfüßen wandelnde Oberlehrer hatte inzwischen jedoch schon zu seiner hohen Befriedigung festgestellt, daß er jetzt erst sein wahres Äußere entdeckt habe, und war daher im Bewußtsein, durchaus standesgemäß zu wirken, nicht verlegen.

„Man muß mit der Zeit mitgehen, gnädige Frau,“ meinte er lächelnd. „Und unsere heutige Zeit verlangt mehr Sorgfalt für den äußeren Menschen, als ich es von meiner Studentenzeit her gewöhnt war.“

An einem der Saalfenster stand Grete Gutzeit neben Schattler.

„Was sagen Sie zu dem verwandelten Doktor Sperber, gnädiges Fräulein?“ fragte er, vertraulich ihr zuzwinkernd.

„Das ist ohne Frage Ihr Werk, Herr Assessor,“ erwiderte sie errötend.

„Wie das?! Bin ich Schuhmacher, Schneider und Reisender in einer Person?!“ wich er lachend aus.

„Oh, Sie wissen schon, wie ich’s meine,“ sagte sie ernst. „Wenn Sie Büskow wieder verlassen, wird man Sie sehr vermissen.“

„Äußerst schmeichelhaft. Vorläufig bleibe ich aber noch. Nur Doktor Sperber soll schon nach den großen Ferien wegkommen – nach Danzig glaube ich.“

Er beobachtete sie scharf. Sie zuckte zusammen, wurde blaß, und ihr Blick eilte zu Sperber hin, der noch mit Frau Marholz sprach.

Da beugte sich Schattler näher zu ihr hin und flüsterte:

„Ich habe eben gelogen. Sperber ist nicht versetzt. Ich wollte nur prüfen, wie Sie die Nachricht aufnehmen würden, liebes gnädiges Fräulein, – in Ihrem Interesse. Sperber möchte gern eine gewisse junge Dame fragen, ob sie nichts dagegen hat, ihren Namen mit dem seinen zu vertauschen. Ob er wohl Aussichten hat, daß die Dame einwilligt.“

Heiße Röte färbte jetzt ihre Wangen. Aber sie war ein vernünftiges Mädel und wußte, wie gut Schattler es meinte. Und mit einem spitzbübischen Lächeln erwiderte sie:

„Ich glaube, die Dame wird ja sagen. Vor acht Tagen wäre die Antwort wohl noch anders ausgefallen. Die Dame hält nämlich etwas auf äußere Erscheinung. Und Doktor Sperber … Aber – Sie verstehen mich wohl.“

„Gewiß, gewiß! Derselbe Doktor hat nun bewiesen, daß er – na, sagen wir – daß er kulturfähig ist. Und unter den zarten Händen einer klugen Braut wird er noch weiter sich mausern.“

Hier mußten sie das Gespräch abbrechen. Sperber hatte laut in die Hände geklatscht und gerufen:

„Bitte – der zweite Akt, meine Herrschaften. Aber ohne Rollenbücher! Wir müssen uns daran gewöhnen, sogar ohne Souffleur zu spielen. Auf einer Naturbühne gibt es keinen Zuflüsterer.“

Das Zusammenspiel klappte bereits recht gut. Nur mit Hella von Gersheim war der Doktor in einigen Szenen nicht recht zufrieden. Sie übertrug ihre Abneigung gegen Schattler jetzt auch auf ihre Rolle, konnte sich nicht überwinden, den naiv herzlichen Ton ihm gegenüber anzuschlagen, wie dies die kleine Mirzel tun mußte.

Für die Mitwirkenden war es kein Geheimnis mehr, daß Hella und Schattler „wie Hund und Katze“ standen, – so drückte sich die Professorin wenigstens aus, wenn sie auf diesen Gegenstand zu sprechen kam.

Sperber versuchte alles mögliche, um hier Wandel zu schaffen. So und so oft rief er bei den Proben Hella zu, mehr aus sich herauszugehen, einen wärmeren Ton anzuschlagen. Der Doktor konnte in seinem Eifer als Spielleiter dann recht deutlich werden. Und eines Tages war es sogar so weit gekommen, daß Hella erklärte, sie müsse die Rolle abgeben, der sie sich nicht gewachsen fühle. Wäre Frau Lucie Winkler nicht gewesen, dann hätte man sich nach einer anderen Mirzel umsehen müssen.

Auch heute hatte Sperber allerhand zu tadeln. Er merkte, daß die ganze Aufführung unter dieser schlecht verhehlten Abneigung des Fräulein von Gersheim gegen den Assessor litt.

Hella spielte tatsächlich unlustiger denn je. Vorhin hatte Frau Amtsrichter Knittel, die sie auf dem Wege nach dem Hotel traf, ihr eine lange Geschichte über Lucie Winkler unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit erzählt. Durch die Winklersche Köchin war jetzt doch verschiedenes über das kühle Verhältnis zwischen den Ehegatten weiter verbreitet worden. Und das, was man auf diese Weise erfuhr, wurde ja auch nur zu sehr durch Doktor Winklers auffallend schlechte Laune bestätigt. Es gehörte nicht viel Kombinationstalent dazu, um herauszufinden, wer allein der Störenfried dieser Ehe sein konnte. Und all dies hatte Frau Knittel mit dem Behagen der auf Frau Lucies Schönheit längst neidischen und daher boshaften Natur Hella haarklein berichtet.

„Natürlich spinnt sich zwischen Schattler und der Winkler etwas an,“ hatte sie mit Überzeugung gesagt. „Die beiden sind nur sehr vorsichtig. Trotzdem – wenn man sie scharf beobachtet, merkt man doch eine Vertraulichkeit heraus, die tief blicken läßt. Frau Professor Marholz schwört allerdings auf die Harmlosigkeit der beiden jeden gewünschten Eid. Aus bestimmten Gründen. Sie möchte ihre Alma gern diesem Herrn Assessor aufdrängen, den lächerlicherweise hier alle Welt anhimmelt. Und da will sie einfach blind sein! Aber ihre Schwiegermutterhoffnungen werden nie in Erfüllung gehen. Außerdem, Fräulein von Gersheim, – ganz, ganz im Vertrauen! – Schattler ist alles andere als ein einwandfreier Charakter. Denken Sie, Bürgermeister Stetterheim führt ganz heimlich eine Untersuchung gegen den Assessor und zwei Leute, die sich hier in Büskow aufhalten und Schattlers Freunde sind. Stetterheim mißt der Sache derartige Bedeutung zu, daß er nicht einmal den Wachtmeister Dreher in die Angelegenheit eingeweiht hat. Dreher hat’s dem Kanzlisten Müller erzählt, und der warnte meinen Mann, mit dem Assessor in näheren Verkehr zu treten.“

Hella war wie im Traum neben der mageren, reizlosen Frau Amtsrichter hergegangen. – Frau Lucie und Schattler …!! – Es war, als ob eine rohe Faust ihr armes Herz zusammenpreßte, als sie dieses Unglaubliche hörte. Und in demselben Augenblick zerrissen die Schleier, die sie selbst unbewußt vor ihre Seele gezogen hatte.

Sie liebte Schattler …! Endlich hatte sie über ihre Gefühle Klarheit gewonnen. Aber – wie niederschmetternd war diese Erkenntnis, daß sie in der Torheit ihres Herzens das für Abneigung und Haß gehalten hatte, was … Liebe in Wahrheit hieß, Liebe, die langsam aufgekeimt war und nun ihr ganzes Innere erfüllte. Täglich hatte sie ja an Schattler gedacht, hatte im Zusammenspiel mit ihm stets eine seltsame Erregung gespürt, ihn heimlich beobachtet, – und all das sich als die Folgeerscheinungen einer starken Antipathie gedeutet …! – –

Und nun sollte sie hier die kleine Mirzel spielen, die aus Liebe zu dem berühmten Schriftsteller das Gebirgsdörflein verläßt, um in der Welt draußen alles abzustreifen, was sie des Geliebten unwürdig macht, – nun sollte sie ihm im letzten Akt mit einem Jubelruf in die Arme fliegen als Siegerin in dem schweren Kampf um den von den Frauen so sehr verwöhnten Mann …! – Folterqualen stand sie aus, Höllenpein war ihr der weiche Laut seiner Stimme, seine Augen, die getreu seiner Rolle die kleine Mirzel zärtlich zu streicheln schienen, ein Martyrium diese ganze Komödie, bei der jetzt ihr Herz mitbeteiligt war … – –

Sperber fuchtelte mit den Armen wild herum.

„Liebes Fräulein von Gersheim, – so passen Sie doch auf Ihr Stichwort auf …! Ich bitte Sie – so geht das wirklich nicht weiter! Und – etwas mehr Innigkeit in den Ton …! Ihr Partner gibt Ihnen doch wahrhaftig das beste Beispiel …!“

Hella ließ die Arme schlaff herabsinken.

„Ich habe heute Migräne – entschuldigen Sie mich schon …“

Sie wußte kaum, was sie sprach. Und dann packte sie plötzlich die Angst, daß Schattler merken könnte, wie es um sie stand … Menschenkenntnis besaß er ja ohne Zweifel genug, und noch mehr Erfahrungen mit Frauen …

Dieser Gedanke gab ihr die Kraft, sich aufzuraffen und all ihr Weh zurückzudrängen. Nur ihm nicht zeigen, daß sie seinetwegen litt. Nur ihre wahre Seelenstimmung verbergen …!

Sperber hatte in Rücksicht auf sie die Probe abbrechen wollen. Davon dürfe keine Rede sein, erwiderte sie. Wenn nur einer der Herren ihr vielleicht ein Glas Selter besorgen wolle.

Schattler eilte schon davon. Ausgerechnet Schattler. Dann brachte er ihr das Verlangte. Auch ein Migränepulver war dabei.

Hellas Hände zitterten, als sie das Glas aus der seinen entgegennahm. Ihre Fingerspitzen berührten sich.

Da … in Scherben lag das Glas am Boden. Hella hatte es absichtlich fallen lassen.

„Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Assessor. Es geht mir schon besser …,“ sagte sie mit kühler Freundlichkeit.

Schattler biß sich auf die Lippen. In seinen Augen flammte es einen Moment auf. Und diese Augen begegneten ihrem Blick …

Sie zuckte zusammen … Nie hatte sie geglaubt, daß eines Menschen Auge eines solchen Ausdrucks fähig sei … Das war Empörung gewesen, Empörung über diese herbe Ablehnung seiner Diensteifrigkeit, – aber auch heiße, verlangende Leidenschaft, die mit Vergeltung drohte … –

Die Probe nahm ihren Fortgang. Doktor Sperber hatte keinen Grund mehr, mit Fräulein von Gersheim unzufrieden zu sein. Sie war mit einemmal wie ausgewechselt.

„Bravo – bravo!“ rief Sperber verschiedentlich. „Endlich haben Sie Ihre Rolle richtig erfaßt …!“

Und Hella spielte blutenden Herzens die Mirzel, war jetzt ganz die für den Geliebten zu jedem Opfer bereite kleine Bäuerin …

Als die Probe gegen sieben Uhr abends vorüber war, hängte sich Lucie Winkler in Hellas Arm.

„Kommen Sie, gehen wir zusammen heim,“ sagte sie herzlich. Ihre Zuneigung für Hella war aufrichtig wie der ganze Charakter dieser hübschen Frau.

Fräulein von Gersheim machte sich scheinbar absichtslos frei.

„Ich habe noch Besorgungen zu erledigen, gnädige Frau.“

Lucie schaute sie forschend an. Sie merkte die Veränderung in Hellas Benehmen sofort.

„Gut – dann begleite ich Sie eben. So leicht werden Sie mich nicht los. – Wer hat mich denn bei Ihnen angeschwärzt? – Seien Sie ehrlich …! Es ist doch so! Habe ich recht?“

Hella sagte sich, daß sie die Sache nicht auf die Spitze treiben dürfe.

„Ich lasse mich von anderen nicht beeinflussen. – Ich möchte heute nur allein sein.“

Frau Lucie war verletzt.

„Wie Sie wollen. Vielleicht werden Sie hier aber noch einmal eine aufrichtige Freundin brauchen. Dann wird es Ihnen leid tun, mich derart behandelt zu haben.“

Sie grüßte förmlich und schritt auf Schattler zu, der mit der Professorin und Alma gerade die nächste Privatprobe verabredete und Frau Marholz wortreich erklärte, er hätte doch noch manches an dem Spiel Horstners und Almas auszusetzen, und deshalb wären unbedingt noch ein paar Proben im Marholzschen Hause nötig.

Frau Lucie wollte sich bei Schattler nur nach einem Berliner Theaterkostümgeschäft erkundigen, wo sie ihre Sennerin-Tracht, die sie für die Aufführung brauchte, bestellen könne. Dann verabschiedete sie sich sofort.

Frau Marholz schaute ihr feindselig nach. In letzter Zeit waren ihr doch allerlei Zweifel aufgestiegen, ob sie ihr Ziel bei Schattler erreichen würde. Auch etwas argwöhnisch war sie geworden, was Alma und den Referendar anbetraf. Manchmal wollte es ihr scheinen, als wenn zwischen den beiden irgend ein geheimes Einvernehmen bestünde. Aber sie verwarf diese Gedanken immer wieder. Alma würde es nie wagen, gegen ihren Willen zu handeln. Dazu glaubte sie ihre Tochter doch zu gut zu kennen.

Der Assessor begleitete die Damen noch bis auf die Straße und kehrte dann in seine Wohnung zurück. Er hatte noch immer die beiden Zimmer in der „Stadt Hamburg“ inne.

Doktor Sperber erwartete ihn hier, wie verabredet.

„Ich gratuliere herzlich!“ rief Schattler ihm schon von der Tür aus zu. „Sie können sich getrost den Frack anziehen und bei Papa Gutzeit anhalten gehen.“

Sperber tat einen richtiggehenden Luftsprung, als er dann hörte, daß eine gewisse junge Dame bei der Nachricht, er komme von Büskow weg, jäh die Farbe gewechselt habe, umarmte Schattler und bot ihm das brüderliche Du an.

„Schattler, du bist wirklich eine Seele von einem Menschen …! Du bist die Vorsehung von Büskow! Wärest du hier nicht aufgetaucht, so liefe ich noch mit dem Jägerhemde und den charaktervollen Kniebeuteln herum!“

Dann wurde er ernst.

„Nur, hm – ja –, sag’ mal, konntest du nicht, was Frau Lucie Winkler anbetrifft, etwas – etwas zurückhaltender sein …?! Ganz Büskow weiß, daß die Winklersche Ehe einen bösen Riß bekommen hat. Und du sollst schuld daran sein.“

Schattler warf sich in einen der Plüschsessel. Sein Gesicht war düster, wie der Himmel vor einem Gewitter.

„Es ist mein Schicksal, daß alle Menschen mich verkennen,“ meinte er. „Die einen beurteilen mich zu gut, andere zu schlecht. Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Das Spiel war zu gefährlich.“

„Worauf denn?“ fragte Sperber gespannt.

Schattler winkte mit der Hand ab.

„Forsche nicht. Ich darf dir nicht antworten. Aber sei überzeugt, daß Frau Winkler ihren Mann noch genau so liebt wie vor meiner Erscheinung hier in Büskow. – Immerhin zeigt mir deine Warnung, daß das Spiel sich bedenklich seinem dramatischen Höhepunkt nähert. Frau Lucie wird jetzt die Maske fallen lassen müssen. Ich mache nicht mehr mit – einer anderen wegen, in deren Augen ich nicht als ein Mensch erscheinen will, der in Nachbars Garten Pflaumen stiehlt. Du verstehst mich wohl.“

Sperber schüttelte den Kopf.

„Verstehen – keine Spur! Das Orakel von Delphi mit seinen zweideutigen Antworten ist eine lateinische Venusregel im Vergleich zu dir.“

Schattler sprang auf und rannte im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Sperber stehen.

„Du – ich bin rettungslos verliebt – rettungslos. Und wenn ein Heinz Schattler das von sich sagt, so ist es auch der Fall!“

„Natürlich in Frau Lucie,“ meinte der Doktor seufzend.

„Blech! Frau Lucie …!! – In Hella von Gersheim!“

„Gott steh’ mir bei …!!“ Sperber knickte förmlich zusammen, als habe ihm ein Preisboxer einen Hieb auf den wohlfrisierten Scheitel versetzt. „Na – das ist ja eine nette Geschichte …! Ausgerechnet Hella …!!“

„Ja – ausgerechnet Hella! Das hat mein Herz glänzend gemacht – nicht wahr?! Aber so ein Herz ist eben ein wunderlich Ding, besonders das meine. Ich hätte schon einige Dutzend Male sehr gute Partien – in jeder Beziehung sehr gute – machen können. Ohne die richtige Liebe wollte ich jedoch nicht heiraten. Und nun hat mich hier mein Schicksal ereilt.“

Schattler legte dem neuen Freunde die Hand schwer auf die Schulter.

„Sei mal ganz aufrichtig, Sperber. Du hast doch auch gemerkt, daß Hella mich anders, schlechter behandelt als alle übrigen Herren des Kreises. Weißt du vielleicht, weswegen?“

Der Doktor wurde verlegen.

„Hm, vielleicht! Du hast da mal am Stammtisch, wie ich gehört habe, etwas über Fräulein von Gersheims Vergangenheit erzählt. Marholz, Bermann, Ranke und Knittel waren wohl gerade anwesend. Das hättest du nicht tun sollen. Das paßt so wenig zu dir.“

Schattler fiel es wie Schuppen von den Augen.

„Also das ist’s – das!! Nun begreife ich alles! Aber – in welcher Entstellung muß dieser Vorgang von den betreffenden Herren, denen ich alles unter strengster Diskretion in bester Absicht mitteilte, weitergetratscht worden sein …!! Sonst hätte Hella mir das nie nachtragen können – nie!“

Sperbers Gesicht klärte sich auf.

„Du – wenn die Sache sich anders verhält, als sie zu Ohren Hellas gekommen ist, dann – dann …“

Schattler unterbrach ihn rauh.

„Was weißt du davon? Vorwärts, – und jede Einzelheit ist wichtig! Vergiß das nicht!“

 

9. Kapitel.

Gewitterstimmung.

Die Mahlzeiten wurden bei Winklers jetzt stets unter eisigem Schweigen und sehr hastig eingenommen.

Nach jenem nächtlichen Auftritt, als Winkler seiner Frau gewaltsam den harmlosen Brief fortgenommen hatte, war das Verhältnis zwischen den Eheleuten noch kühler geworden.

Der Doktor, zu stolz, seine Frau nochmals um Verzeihung zu bitten, suchte jetzt in seiner ausgedehnten Praxis, in eifriger Arbeit Trost und Ablenkung. Täglich nahm er sich vor, eine Aussprache mit Lucie herbeizuführen, ihr zu sagen, daß er jetzt eingesehen habe, wie schwer er sie durch seine Eseleien, wie er die Nebenweibchen-Wirtschaft jetzt selbst nannte, verletzt und gekränkt haben müsse. Aber zu dieser Aussprache kam es nie. Winkler quälte die Angst, daß sein Weib ihm bei dieser Gelegenheit vielleicht kalt erklären würde, diese Einsicht bei ihm hätte früher kommen müssen. Nunmehr sei es zu spät. Sie liebe einen anderen …

So ging Tag um Tag vorbei, und Winkler lebte in beständiger Furcht, Lucie könnte es sein, die ihn einmal um eine Unterredung bitten und ihm dann mitteilen würde, sie sei zu dem Entschluß gelangt, sich von ihm für immer zu trennen.

Was der Doktor an Seelenqualen in diesen Wochen durchmachte, wußte nur er selbst. –

Am Tage nach der Probe, bei der Hella zum erstenmal Sperber zu Anerkennung gespielt hatte, saßen Winklers gerade beim Mittagessen, als der Hausdiener der „Stadt Hamburg“ Lucie einen Brief überbrachte, auf den der Assessor sofort Bescheid haben wollte.

Lucie las die eng beschriebenen vier Seiten langsam durch. Der Doktor saß dabei und würgte, ohne es zu merken, trockene Kartoffeln hinunter.

Dann ging Lucie hinaus, um dem Hausdiener eine Antwort für Schattler aufzutragen. Den Brief ließ sie neben ihrem Teller liegen.

Winkler konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ein Griff, und er hielt den Brief in den Händen. In seiner Erregung fiel ihm der Umschlag auf den Teppich. So kam es, daß er nur noch Zeit fand, ein paar Zeilen der letzten Seite zu überfliegen. Dann hörte er schon die Schritte seiner Frau.

Er tat, als habe er den Brief nicht angerührt. Aber seine Hände flatterten …

„… Ich komme also nachmittags gegen fünf Uhr. Sorgen Sie dafür, daß wir allein sind. Ich muß Gewißheit haben …“

Das war es, was er gelesen hatte. –

Natürlich: Lucie wußte ja, daß er jetzt jeden Nachmittag über Land fuhr, um überall die Pferde bei Bauern und Gutsbesitzern gegen Brustseuche zu impfen.

Also ein Stelldichein in seinem Hause …!! –

Rote Nebel schwammen zuweilen vor seinen Augen. Finstere Pläne wälzte er in seinem Herzen, sinnlos vor Eifersucht …

Als er gegen zwei Uhr dann den Wagen bestieg, trug er seinen Revolver bei sich. „Vielleicht gibt es abends drei plötzliche Todesfälle in Büskow“, dachte er mit zuckenden Lippen.

Der Wagen ratterte davon. Frau Lucie saß jetzt an dem zierlichen Schreibtisch in ihrem Damenzimmer und schrieb an Hella von Gersheim, bat diese, heute noch gegen fünf Uhr freundlichst sich bei ihr einfinden zu wollen. „Vielleicht hängt das Lebensglück zweier Menschen davon ab,“ hieß es in dem sehr herzlich gehaltenen Briefe.

Das Schreiben brachte die Köchin dann sofort auf das Landratsamt. Sie kam mit dem Bescheide zurück, Fräulein von Gersheim würde pünktlich da sein.

Lucie atmete auf. – –

Zu derselben Zeit studierte Schattler mit Alma und Egon Horstner wieder einmal deren Rollen durch.

Dies geschah bei gutem Wetter stets im Marholzschen Garten in einer großen Fliederlaube, wo man ganz ungestört war. Bei Regen sollten diese Privatproben im Salon stattfinden. Merkwürdigerweise hatte Schattler aber nie Zeit gehabt, wenn das Wetter die eifrigen Künstler an das Haus gefesselt hatte.

Frau Marholz pflegte ebenso wie ihr Gatte über Mittag ein kleines Schläfchen zu machen. Heute aber hatte sie sich mit Gewalt munter gehalten.

Das Mißtrauen gegen Alma und die beiden Herren wollte sich nicht mehr zum Schweigen bringen lassen. Der Professorin wurde ganz kalt bei dem Gedanken, daß dieser Schattler mit ihr womöglich ein falsches, mit den beiden anderen fein abgekartetes Spiel getrieben haben könne. Hierüber mußte sie sich Klarheit verschaffen. Und deshalb schlich sie jetzt, nachdem die drei etwa vor einer Viertelstunde mit der Probe begonnen hatten, in den Garten hinaus, ging neben der Mauer zwischen dem Spalierobst entlang und näherte sich von rückwärts der Fliederlaube.

Plötzlich stutzte sie. –

Wahrhaftig, dort mitten auf dem Hauptwege nach dem Hause saß Schattler in einem Liegestuhl, rauchte und las Zeitung. Hin und wieder schaute er den Weg entlang – wie ein Posten, der Wache hält, dachte Frau Marholz, die bereits das Allerschlimmste ahnte.

Unten nun konnte sie zwischen den Fliederbüschen auch sehen, was Alma und Horstner trieben.

Die Professorin wurde ganz käsig im Gesicht und schnappte nach Luft, als drücke ihr jemand die Kehle zu.

Alma – ihre unschuldige, gehorsame Alma saß auf Horstners Schoß und küßte diesen Menschen soeben …

Wie eine Furie raste sie nun um die Sträucher herum und stand dann wie eine Rachegöttin mit drohend erhobener Faust vor den beiden.

„Alma – Alma – du – du …“ Ihre kreischende Stimme versagte ihr den Dienst. Aber ihre Glieder gehorchten ihr noch. Sie packte die Tochter beim Arm, riß sie von Horstner fort und … wollte zuschlagen, als eine Hand von rückwärts ihr Gelenk umspannte und Schattler befehlend sagte:

„Gnädige Frau – einen Augenblick!!“

Sie fuhr herum. Ihre ganze ohnmächtige Wut wandte sich jetzt gegen den Assessor.

„Sie … Sie …“

Der Blick seiner Augen war stärker. Sicherlich hätte sie ihm irgend eine Beleidigung ins Gesicht geschleudert.

„Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich bei Ihnen für meinen Freund um die Hand Ihres Fräulein Tochter anhalte,“ fuhr er mit verbindlichem Lächeln fort. „Horstner ist vom ersten Oktober dieses Jahres ab mit einem Gehalt von neuntausend Mark als zweiter Syndikus bei den Vereinigten Konservenfabriken Frankenmühl angestellt, gleichgültig, ob er das Assessorexamen besteht oder nicht. Das Gehalt steigt bis auf zwölftausend Mark, und, falls Horstner später mal erster Syndikus wird, auf fünfzehntausend Mark.“

Ein besseres Besänftigungsmittel konnte es nicht geben.

Aber Frau Marholz war nicht die einzige, durch diese Mitteilung vollständig Überraschte. Horstner wollte sich einmischen, da ihm diese faustdicke Lügerei widerstrebte. Doch Schattler winkte ihm schon heimlich mit den Augen zu und erklärte weiter:

„Diese Anstellungsnachricht ist das Verlobungsgeschenk, das ich dem Brautpaar überbringe. Einzelheiten, gnädige Frau, erzähle ich wohl besser im Hause in Gegenwart Ihres Gemahls, der sich sicherlich freuen wird einen Schwiegersohn zu bekommen, dessen eine so glänzende Zukunft wartet.“

Frau Marholz war vollständig entwaffnet. Die starke seelische Erregung machte sich jetzt in Tränen Luft. Weinend schloß sie erst Horstner, dann Alma in ihre Arme. Dem gepuderten Gesicht bekamen die Tränenbächlein schlecht. Die Professorin sah auf den Wangen ganz streifig aus.

Dann wanderte man ins Haus. Und eine halbe Stunde später saß Schattler mit am festlich gedeckten Kaffeetisch bei Professors und mußte es sich gefallen lassen, daß man ihn wie ein Wundertier anstarrte und der Professor stets aufs neue kopfschüttelnd rief:

„Hören Sie, Assessorchen, Sie sind mir aber ein Heuchler, – unglaublich, einfach unglaublich!! Na – die Büskower werden Augen machen, sag ich, – Augen …!!“

Schattler verabschiedete sich bald, versprach aber, zum Abendessen sich vielleicht wieder einzufinden.

Als er auf die Straße hinaustrat, dachte er: „So, und nun zu Winklers …! Der Kampf dort wird wohl schwerer werden als dieser hier es war.“ – –

Hella von Gersheim sah sehr müde und abgespannt aus. Um ihren Mund lag ein Zug von Seelenqual, und über ihr ganzes Wesen war es wie stilles Entsagen ausgegossen.

Frau Lucie entging das nicht. Den Grund ahnte sie zwar nicht, war aber doppelt herzlich zu Hella, half ihr beim Ablegen und geleitete sie dann in den Salon.

Hella wollte wieder die Kühle, Unnahbare spielen. Es gelang ihr nicht. Gegenüber dieser warmen, fast mütterlichen Freundlichkeit konnte sie ihren Vorsätzen nicht treu bleiben.

„Nehmen Sie Platz, liebes Fräulein von Gersheim. Bitte – hier auf dem Sofa neben mir. – So, und nun möchte ich nochmals auf mein Gespräch von gestern bei der Theaterprobe zurückkommen. Sie werden nicht leugnen können, daß Ihr Verhalten mir gegenüber sich plötzlich geändert hat. Ich glaube jetzt auch den Grund zu wissen. Herr Assessor Schattler –“ –

Hella wurde flammend rot, was Frau Lucie nicht entging – „hat mir heute brieflich mitgeteilt, daß hier in der Stadt Gerüchte umgehen, die mich in nähere Beziehungen zu ihm bringen. Auch Sie werden davon erfahren haben, und als junge Dame von sittlichen Grundsätzen wünschten Sie eine Frau, die Ihrem Gatten offenbar die Treue nicht hält oder doch zum mindesten mit schuld an der Zerrüttung ihrer Ehe ist, sich möglichst fernzuhalten, was ich ganz verständlich finde.“

Draußen schrillte die Flurglocke. Gleich darauf hörte man Schattlers Stimme. Dann wurde es wieder still.

Abermals hatte Hella von Gersheim die Farbe gewechselt. Auf ihrem heute so blassen Gesicht malte sich nervöse Unruhe.

Frau Lucie tat ganz unbefangen, zog aber jetzt sehr wichtige Schlüsse aus Hellas Benehmen. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr nunmehr mit ziemlicher Sicherheit, daß Hellas wahre Gefühl für den Assessor wohl ganz anderer Natur wären, als es den Anschein hatte. Freude und Genugtuung erfüllten sie bei diesem Gedanken, und freier und beredter begann sie dem jungen Mädchen nun ein Bild von ihrer Ehe zu entwerfen, erzählte freimütig, was sie infolge der verliebten Torheiten ihres Mannes alles gelitten und wie dann Schattler aus reiner Herzensgüte sie auf das einzige Mittel hingewiesen hatte, um ihren Gatten von seiner an sich harmlosen, aber doch so schwer kränkenden Flatterhaftigkeit zu kurieren.

Hella saß ganz regungslos da. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Frau Lucie die volle Wahrheit sprach. Als diese nun mit den Worten schloß: „Schattler ist eine Seele von Mensch, und ihm werde ich es zu danken haben, daß fortan meine Ehe eine restlos glückliche ist,“ da haschte sie tief beschämt nach Frau Winklers Hand, versuchte ihre Lippen darauf zu pressen und sagte leise:

„Oh – verzeihen Sie mir – verzeihen Sie mir …!“

Frau Lucie umschlang Hella und schaute sie glücklich lächelnd an.

„Kleines, wir müssen Freundinnen werden. Ich habe Sie so sehr gern. Und es hat mir bitter weh getan, als Sie gestern mich so halb und halb Ihre Verachtung fühlen ließen.“

Über Hellas Gesicht glitt es wie Sonnenschein. Und dann küßte sie das hübsche Frauchen innig auf den Mund.

Frau Lucie fühlte sich jetzt bereits ganz als Siegerin. Und daher begann sie nun auch ohne viele Umschweife:

„Kleines, wissen Sie auch, daß Sie noch einem anderen Menschen bitter Unrecht getan haben …?!“

Hella schlug die Augen zu Boden. Sie ahnte, was nun kommen würde. Schattlers Stimme draußen im Flur, und diese Einladung für heute fünf Uhr in so dringlicher Form. –

Da gehörte nicht viel Überlegungsgabe dazu, um das Richtige zu erraten, – eben daß Frau Lucie auch den Assessor herbestellt hatte.

Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen. Und in holder Verwirrung erwiderte sie leise:

„Ich weiß, wen Sie meinen, Frau Lucie. Soll es denn heute wirklich ein Tag der Abrechnung werden …?! Ich … ich …“

„Kleines, darf Ihnen Schattler nicht selbst alles aufklären?“ unterbrach Frau Winkler sie bittend.

Hella haschte wieder nach ihrer Hand.

„Ich … ich habe Angst vor …“

Da war Frau Lucie aber schon an die in ihres Mannes Arbeitszimmer führende Tür geeilt, öffnete sie und sagte:

„Bitte, Herr Assessor.“

Schattler trat ein, und … die Hausfrau schlüpfte an ihm vorüber ins Nebenzimmer, zog die Tür hinter sich ins Schloß.

Die beiden waren allein.

„Gnädiges Fräulein, auf meine Bitte hin hat Frau Doktor Winkler mir diese Gelegenheit verschafft, mich Ihnen gegenüber rechtfertigen zu können,“ sagte Schattler, nachdem er sich höflich verbeugt hatte. „Sie haben sich vergebliche Mühe gegeben, Ihre Abneigung gegen mich zu verbergen. Erst gestern gelangte zu meiner Kenntnis, was Sie mir vorwerfen. Ich soll am Stammtisch aus bloßem Vergnügen an müßigem Klatsch und um mich mit meinem Wissen wichtig zu tun, ohne jede Veranlassung erzählt haben, aus welchem Grunde Sie Ihr Elternhaus verließen, und damit eine Angelegenheit an die Öffentlichkeit gezerrt haben, die Sie zum Gegenstand müßiger Neugier machte. Nun, ich gebe zu: Ich habe das alles den damals anwesenden vier Herren mit der Bitte um strengste Diskretion mitgeteilt. Ich glaubte, es mit Ehrenmännern zu tun zu haben, nicht mit … Schwätzern, die hier in der Büskower Luft verlernt haben zu schweigen, hier, wo die Leute geistige Anregung nur aus dem Beschämen des lieben Nächsten ziehen. Aber ich wurde auch halb und halb dazu gezwungen, diese … diese traurige Episode Ihres Lebens preiszugeben. Jener Millionär, dem Sie sich verkaufen sollten – entschuldigen Sie bitte, wenn ich die Dinge mit dem richtigen Namen nenne – ist ein Bekannter eines der vier Herren. Und dieser Herr Friedrich Bollermann hat nun, um sich für den ihm erteilten Korb an Ihnen zu rächen, hier nach Büskow berichtet, daß … Sie sich ihm aufgedrängt hätten, und er es gewesen wäre, der Sie hätte fallen lassen, wie man zu sagen pflegt. – Dies deutete nun der betreffende Herr am Stammtisch sehr fein an, verkroch sich aber sofort hinter seine ihm auferlegte Schweigepflicht, als ich Einzelheiten verlangte. Und dies tat ich deshalb, weil mir der wahre Sachverhalt bekannt war. Nur um die Angelegenheit richtigzustellen, habe ich denn erzählt, was ich wußte. Nachher ist dann dieses Gespräch am Stammtisch, ohne daß ich bis gestern etwas davon ahnte, so weiterverbreitet worden, als ob ich ganz aus mir selbst heraus den Gegenstand angeschnitten hätte. – So verhält sich die Sache. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß ich damals jenen Schurken Bollermann sofort einen Brief unter Einschreiben zukommen ließ, der für eine Beleidigungsklage gegen mich genügt hätte. Bollermann hat nie geantwortet. Und auch dem Büskower Freunde dieses edlen Genossen bin ich heute vormittag sehr, sehr deutlich gekommen. Er hat sein tiefstes Bedauern ausgesprochen, daß die Sache diese Wendung genommen hat, wollte aber völlig unschuldig daran sein, daß ich später derart bloßgestellt wurde, eben als derjenige, der Sie, gnädiges Fräulein, hier zur Zielscheibe des berühmten Bedauerns dieser Kleinstädter gemacht hat. Kurz, der wahre Schuldige ist natürlich nicht zu fassen. – Das ist es, was ich Ihnen gern persönlich vortragen wollte.“

Hella brachte zunächst kein Wort heraus. Ihre Augen schwammen in Tränen. – Wie schwer hatte sie sich nur an diesem Manne versündigt, der sich ihrer in so selbstloser Weise angenommen hatte. Ihre Schuld kam ihr so ungeheuerlich vor, daß sie vergebens nach einem Ausweg suchte, der ihm zeigte, wie tief sie bereute, aber – der ihm auch keinerlei Einblick in ihren Herzenszustand gewährte.

Dann begann sie plötzlich fassungslos zu weinen. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, so sehr sie auch sich zu beherrschen bemüht war.

Ratlos stand Schattler vor ihr. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und jede Träne aus ihren Augen fortgeküßt.

Langsam beruhigte sie sich. Dann stand sie auf, streckte ihm die Hand hin.

„Oh, wenn ich doch alles ungeschehen machen könnte, was ich Ihnen antat,“ sagte sie stockend und blickte ihn flehend an. „Und Sie – gerade Sie mußte ich so schwer …“

Wieder erstickte ihre Stimme unter aufsteigenden Tränen.

Da vermochte Schattler nicht länger zu schweigen.

„Hella,“ rief er voller Sehnsucht, „Hella, – die Liebe verzeiht alles! Und – ich liebe Sie, liebte Sie vom ersten Augenblick an, als ich Sie sah, als Sie mir in dem Abteil zweiter Klasse gegenübersaßen, als ich Sie gegen diesen groben Beamten in Schutz nehmen durfte. Vielleicht wußte ich damals noch nicht, daß es Liebe auf den ersten Blick war, die mich veranlaßte, eine Berliner Auskunftei um Aufschluß über Ihre Person anzugehen. Und wie gut war es, daß ich es tat …! So erfuhr ich ja die Wahrheit, konnte hier richtigstellen, was jenes Elenden Bosheit sich ausgeklügelt hatte, um Ihnen zu schaden …! – Hella – brauchen Sie noch mehr Beweise dafür, was ich für Sie empfinde …?!“

In einem Atem hatte er das alles hervorgesprudelt. Zärtlich, bittend ruhten seine Augen auf ihrem lieben Gesicht. Noch immer hielt er ihre Hand …

Wie es dann kam – keiner der beiden wußte es nachher. Mit einem Male lag sie an seiner Brust, hielt ihn umschlungen, lachte, weinte …

Frau Lucie im Nebenzimmer dauerte das Warten zu lange. Vielleicht mußte sie doch noch die Vermittlerin spielen. Ganz leise öffnete sie die Tür …

Hella und Schattler küßten sich gerade.

Da wollte Frau Lucie schnell wieder verschwinden. Aber der Assessor hatte sie schon bemerkt.

„Kommen Sie, kommen Sie – gratulieren Sie uns, gnädige Frau,“ rief er überselig. „Das zweite Brautpaar dieses Tages stellt sich vor, denn auch Horstner und Alma Marholz haben den elterlichen Segen erhalten.“

 

10. Kapitel.

Nebenweibchen – Auskehr und Verlobung Nr. 3.

Aber dazu, ihren Glückwunsch anzubringen, sollte Frau Lucie erst später kommen.

Plötzlich wurde die auf den Flur mündende Tür hastig aufgerissen; und Doktor Winkler, noch im grauen flatternden Staubmantel und der weichen Reisemütze auf dem Kopf, stürmte ins Zimmer.

Beim Anblick Schattlers und Hellas, die eng aneinandergeschmiegt mit strahlenden Gesichtern dastanden, prallte er zurück.

„Was – was geht hier vor?“ stotterte er unsicher.

Seiner Gattin übermütiges Lachen machte ihn noch verwirrter.

„Gelt Schatz, das ist mal eine Überraschung, wie?!“

Assessor Heinz Schattler und Fräulein Hella von Gersheim! Doktor Winkler machte ein Gesicht, dessen Ausdruck nur ein Genie im Bilde hätte festhalten können.

Dann brachte er Ordnung in seine Gedanken. – Ein Wort klang noch in seinen Ohren nach, das er lange, lange nicht gehört hatte. „Schatz – Schatz“ – hatte Lucie gesagt. – Er schaute zu ihr hinüber, breitete die Arme aus …

Und dann trug er sie wie eine Puppe ins Nebenzimmer. – –

Eine halbe Stunde später perlte bei Winklers der Sekt in den Gläsern.

„Der Tag muß gefeiert werden!“ hatte der Doktor erklärt und Schattler scherzend mit dem Finger gedroht. „Obwohl Sie es eigentlich nicht verdienen, Assessorchen, Sie Verschwörer, Sie Intrigant …! Mit meiner Frau ein solches Komplott zu schmieden – warten Sie …“

Man saß im Salon. Viel Vernünftiges wurde nicht geredet. Dazu waren vier Herzen zu sehr voller eitel Seligkeit. Bis Schattler dann mit übertrieben feierlichem Gesicht sich erhob, an sein Glas schlug und begann:

„Hochverehrte Festversammlung! Die Stunde ist da, wo eine Überraschung der anderen folgt, – wo der … Fleischersohn seine romantische Geschichte zum Besten geben will. – Am 26. April dieses Jahres war ich zum erstenmal nach Büskow unterwegs. In meinem Abteil saßen drei Damen – nein, vier, Frau Marholz und Frau Knittel hechelten den neuen Assessor durch. – Fleischersohn – unglaublich, daß so etwas Assessor wird …!! – In diesem Tone ging’s eine halbe Stunde lang. Da nahm ich mir vor, diese beiden Damen zu strafen. Wie – das schwebte mir nur sehr unklar vor. Jedenfalls gedachte ich ihnen einmal die ganze Armseligkeit ihrer Lebensanschauungen recht deutlich vor Augen zu führen. Mein alter Diener Karstke befand sich gleichfalls im Zuge. Ebenso war am Tage vorher mein Chauffeur mit meinem Auto bereits in Büskow eingetroffen. Das Auto brachte mich, kaum daß ich an der Stätte meiner richterlichen Tätigkeit angelangt war, sofort wieder nach Danzig, der nächsten größeren Stadt. Ich hatte ja noch ein paar Tage Zeit, brauchte mich erst am ersten Mai dienstlich in Büskow zu melden. Mein Spitzbart fiel einem Friseur zum Opfer, und die blaue Brille, die ich einer leichten Augenentzündung wegen trug, legte ich ab. Karstke und Stillke schickte ich dann vor nach Büskow. Sie sollten, ohne ihre Zugehörigkeit zu mir zu verraten, das Terrain erkunden, sollten mich mit Nachrichten über das Leben und Treiben der Personen versehen, die ich mir aufs Korn genommen hatte. Nun – alles kam anders. Bei näherer Kenntnis der Eigenheiten dieses Städtchens sah ich ein, daß mit wenigen Ausnahmen die ganzen Büskower mehr zu bemitleiden als wert waren, daß ich, wie ich es mit den beiden Damen beabsichtigt hatte, Vergeltung übte für die Schärfe ihrer Zungen und die Rückständigkeit ihrer Ansichten. Die Kleinstadt hatte sie eben zermürbt … Meine ganze Rache bestand schließlich darin, daß ich … Frau Marholz einen Schwiegersohn besorgte und der Frau Amtsrichter Knittel gelegentlich kleine Bosheiten sagte, von denen sie aber sicher nur den geringsten Teil richtig verstanden hat. Was der Fleischersohn in Wirklichkeit war, und was Karstke und Stillke hier sollten, erfuhr nur einer – unser Bürgermeister. Und der schwieg wie das Grab. – – Fleischersohn – mit gewissen Einschränkungen stimmt das. Mein Großvater August Schattler war Fleischer, war der Begründer der heutigen Vereinigten Konservenfabriken Frankenmühl. Obwohl er schon als halber Millionär starb, mußte sein einziger Sohn sein Handwerk erlernen, mußte sich bescheiden „Fleischermeister“ nennen – trotz seiner Gymnasialbildung, trotz seiner Stellung als Nachfolger eines Fabrikherrn. So kam in meine Personalpapiere „Fleischersohn“ hinein. Ich habe nie daran Anstoß genommen. Ich wurde der einzige Erbe meines Vaters, wurde Erbe eines Vermögens, das –“

Schattler lächelte seiner Braut ausgelassen zu „– wir beide, Hella, nicht ausgeben können, und wenn wir wie die tollsten Verschwender wirtschaften würden. Einen armen Mann bekommst du also nicht. Und du kannst sogar deine Konserven später aus einer Fabrik beziehen, deren alleiniger Eigentümer … Assessor Heinz Schattler heißt. – So, und zum Schluß will ich nur noch betonen, daß ich diese Kleinstadt jetzt liebgewonnen habe. Warum – dies deute ich dadurch an, daß ich meiner Braut einen Kuß gebe, – es sind nämlich mindestens schon fünf Minuten her, daß wir uns nicht geküßt haben – und mithin habe ich einen sehr berechtigten Anspruch darauf!“

Hella bot ihm willig die weichen Lippen. Vor dem Ehepaar Winkler brauchte man sich keine Zurückhaltung auferlegen. Der Doktor benahm sich ebenfalls so, als habe er sich heute erst verlobt.

Davon, daß Schattler den Abend bei Marholz zubringe, war jetzt natürlich keine Rede mehr.

Frau Lucie schickte schnell sowohl zu Professors als auch zu Markstedts auf das Landratsamt ein paar Zeilen, in denen sie das Nötige mitteilte.

Dann ließ sie ein aus der „Stadt Hamburg“ telephonisch vorher bestelltes kleines Festessen anrichten, und selten hat ein Verlobungsschmaus zu vieren wohl einen so heiteren, fast ausgelassenen Verlauf genommen wie der Hellas und des … Fleischersohnes.

Gegen ein halb neun kamen sogar noch Gäste: Horstner und Alma, die sich gern den Büskower Bürgern als frisch verlobtes Paar mit dem Rechte, untergefaßt zu gehen, und besonders Winkler und Hella von Gersheim zeigen wollten.

Als Hella dann gegen elf Uhr, von Schattler und den anderen begleitet, nach Hause kam, fand sie die große Vorhalle noch erleuchtet. Markstedts hatten sie erwartet, um sie zu beglückwünschen.

Der Landrat rief dann Winklers und das zweite Brautpaar, die sich bereits ein Stück entfernt hatten, zurück und bat sie mit großer Liebenswürdigkeit, wenigstens noch für eine halbe Stunde näherzutreten. Man müsse auf dieses doppelte frohe Ereignis doch auch in seinem Hause anstoßen.

Aus der halben Stunde wurden zwei. Und Alma Marholz hatte daher nicht wenig Herzklopfen, als sie daheim an der Haustür klingelte.

„Mama wird außer sich sein,“ meinte sie ängstlich. „Sie wird es höchst unpassend finden, daß …“

„Keine Sorge!“ fiel Schattler ihr ins Wort. „Geben Sie acht, Almachen, Ihre Mutter wird strahlen, wenn sie erfährt, daß Sie bei Landrats eingeladen waren – bei Landrats …!!“

Der Assessor behielt recht. Die Professorin war eitel Stolz und Wonne. Alma mußte ihr haarklein erzählen, wie Markstedts eingerichtet seien, welchen Wein sie gegeben hätten, und dies und jenes mehr.

„Kind, natürlich müßt ihr jetzt dort Brautbesuch machen,“ sagte sie dann. „Daraus wird sich auch ein Verkehr zwischen Landrats und uns entwickeln. Das war längst mein Wunsch.“ – –

Am nächsten Tage gab es in ganz Büskow nur einen Gesprächsstoff: die beiden Verlobungen und Heinz Schattler, den Millionär.

Mittags fauchte dann das von Itzigsohn abgeholte Auto durch die Straßen. Darin saßen die beiden Brautpaare und … Emil Stillke in seinem tadellosen Chauffeuranzug, den er nun endlich wieder hatte hervorsuchen dürfen.

Als Bürgermeister Stetterheim von Schattlers Verlobung hörte, sagte er zu seinem Klärchen:

„Siehst du – wer hat recht behalten …?! Ich wieder einmal! Du erzähltest immer von der großen Abneigung zwischen Fräulein von Gersheim und dem Assessor. Da meinte ich gleich: Klärchen, das hat einen Haken! Manchmal verbirgt sich hinter solcher Abneigung auch heimliche Liebe! – Na – und nun haben wir den Beweis …!!“

Einen ganz besonderen Eindruck aber machte die Doppelverlobung auf Doktor Sperber. Dieser aß jetzt ebenfalls in der „Stadt Hamburg“, nachdem er sich völlig „gemausert“ hatte.

Nach Tisch nahm er Schattler bei Seite.

„Hör’ mal, du, – das war eigentlich gar nicht nett von dir, mich von deinen Absichten nicht vorher zu verständigen. Dann hätte ich mir doch Mühe gegeben, mich gestern ebenfalls zu verloben.“

„Mühe gegeben ist gut gesagt!“ lachte Schattler.

„Nun ja – so ganz einfach ist das doch nicht, nicht wahr? Wie hast du es denn eigentlich angefangen? Sieh mal, ich bin so sehr unbeholfen …“

„Hm – soll ich dich so etwas unterstützen?“ fragte Schattler ganz ernst.

„Mensch, Busenfreund, – das wäre großartig …!!“ –

Zwei Tage später war wieder Probe. Heute zum letztenmal in der „Stadt Hamburg“. Dann wollte man auf der inzwischen im Schützenwalde fertiggestellten Naturbühne weiterproben.

Schattler und Hella waren mit einemmal verschwunden. Dann rief der Assessor hinter dem Vorhang von der kleinen Bühne herab, die man ihrer geringen Abmessungen wegen für die Proben nicht benutzte:

„Sperber, komm’ doch mal her. Hier stehen noch ein paar Waldkulissen, die wir vielleicht brauchen können.“

Der Doktor ging ahnungslos in die Falle, schob den Vorhang bei Seite und befand sich dann in dem unsicheren Dämmerlicht der Bühne, sah vor sich drei Gestalten, darunter zwei Damen. Ehe er noch recht zur Besinnung kam, hörte er Schattlers übermütige Stimme:

„Also, mein lieber Sperber, nun werden Hella und ich dir zeigen, wie man sich am schnellsten und schmerzlosesten verlobt. Schau her – so!“

Er nahm Hella in die Arme und küßte sie.

„Bitte – nun macht’s ebenso! Hier steht Fräulein Grete Gutzeit, die du liebst … Also bitte …!!“

Dann schlich er mit Hella leise hinter die Kulissen.

Sperber hätte bei hellem Licht wohl nie den Mut gefunden, so tapfer zum Angriff überzugehen.

Hier in dem Halbdunkel der Bühne war’s etwas anderes.

„Fräulein Grete, wollen Sie’s denn wirklich wagen, mit mir vereint durchs Leben zu gehen?“ fragte er leise und trat ganz nahe an sie heran.

Sie machte ihm die Sache leicht, reichte ihm die Hand und … mit einemmal hielt er sie umschlungen, flog ihr geradezu an die Brust. Er war über ein auf dem Boden liegendes Brett gestolpert …

* * *

Die Wohltätigkeitsvorstellung wurde ein glänzender Erfolg.

Dreimal innerhalb vierzehn Tagen mußte das Stück wiederholt werden – stets vor ausverkauften Bänken. Und, da Schattler die ganzen Unkosten bezahlte und noch eine namhafte Summe stiftete, hatten auch die Armen Büskows allen Grund, mit dem klingenden Ergebnis dieser Veranstaltung zufrieden zu sein.

Im Herbst gab es dann drei Hochzeiten kurz hintereinander. Für Hella richteten Landrats die Feier aus. Halb Büskow war geladen. Und nicht nur aus den Kreisen der Honoratioren setzte sich die Hochzeitsgesellschaft zusammen. Nein, Schattler hatte gebeten, daß es ein kleines Volksfest werden sollte.

Wie beliebt der Assessor in dem Städtchen war, zeigte sich so recht bei dieser Gelegenheit. Die Fleischerinnung hatte angeregt, daß die Vereine vom Landratsamt bis zur Kirche Spalier bilden sollten. Außerdem hatte sie als Hochzeitsgabe eine mit Blumen reich geschmückte, in einem vergoldeten Korbe liegende Riesenwurst gestiftet.

Noch Jahre später, als schon verschiedene kleine Schattlers, Sperbers und Horstners in der Welt herumkrabbelten, sprach man in Büskow von dieser Hochzeit wie von einem Märchenspiel.