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Salon Geisterberg

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 258

 

Salon Geisterberg

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO. 16.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Die Gletschermadonna.

Das Schwalbennest von Balkon vor unserem Zimmer Nr. 49 im Hotel Albana bot immerhin zwischen zwei Hauswänden hindurch einen schmalen Durchblick auf den smaragdgrünen See von St. Moritz auf den Piz Rosatsch mit seinen grün bewaldeten, von Schneefeldern durchzogenen Abhängen und auf den in fleckenloser weißer Reinheit strahlenden Gipfel. Die Morgensonne hatte das St. Moritz-Tal bereits mit fast tropischer Hitze erfüllt. Mein seidener Schlafanzug war dieser Temperatur durchaus angemessen. Ich hatte das Fernglas eingestellt und erkannte ganz deutlich droben die Blockhütte an der Steilwand, in der sich der letzte Akt des goldenen Waschtisches, überreich an Überraschungen, abgespielt hatte. Kriminalkommissar Alarich Gepp war gestern abgereist, die Verbrecher waren nach Chur unterwegs, und die beiden Arndts und Blauveilchen genossen fraglos schon italienische Luft.

„Ich würde dich bitten, deine Toilette zu beenden,“ rief Harst mir aus dem Zimmer zu. „Ich habe Hunger.“

„Ich auch … Aber zwei zugleich können sich vor dem Spiegel unmöglich rasieren.“

Als ich mich dann einseifte, sagte Harst unvermittelt: „Wie gefällt dir Frau Gilda Tomahsen? Würdest du als Ehemann eine Frau von so berückendem Charme allein reisen lassen?!“

Frau Gilda aus Kopenhagen hatten wir gestern abend im überfüllten Speisesaal des Albana kennen gelernt: Tischgemeinschaft, erzwungen durch die Amerikanerinvasion, auf die St. Moritz im Juni nicht eingestellt war. Die Riesenhotels waren noch geschlossen. Die Sommersaison beginnt erst im Juli.

„Du redest wie ein Dichter, Harald …“ Ich schrabte meine linke Backe ab. „Berückender Charme ist Schmalz … Eine ganz nette Frau, ohne Frage. Nur für meinen Geschmack zu melancholisch. Es fehlt das Feuer …“

„Oder es ist zu viel Feuer da, mein Alter, nur von anderer Art … – Wiedersehen … Beeile dich.“

Als ich im Lift zum Erdgeschoß hinabrutschte, hatte ich Begleitung: Drei von den Yankees. – Die Invasion war eine Reisegesellschaft, die mit einer Luxusjacht von Neuyork herübergekommen war, alles Millionäre, hatte der kleine patente Oberkellner uns erklärt.

Im Speisesaal, dessen Fenster den See und die drei weißen Berghäupter zu bewundern gestatten, reichte mir Gilda Tomahsen die schmale Hand. „Guten Morgen, Herr Schraut.“ Ihr Deutsch klang etwas fremd. Sie selbst war entzückend. Frauen zur Morgenstunde sind, wenn jung, Delikatesse.

Lautlos bedienten die flinken Mädels mit den weißen Häubchen, lautlos dirigierte der Herr Ober im tadellosen Smoking das Ganze, weniger lautlos benahm sich die Invasion. All der Brillantschmuck, der hier zur Schau gestellt wurde, mußte einige Millionen wert sein.

„Karawanen folgen die Aasgeier,“ meinte Harst und füllte seine Tasse.

Gilda schaute ihn seltsam starr an. Sie hatte dunkle Augen mit langen Wimpern, die wie ein Schleier waren.

„Sie denken an Hoteldiebe?“ fragte sie etwas unsicher.

„Ja … Es sollte mich wundern, wenn nicht einige Vertreter dieser Langfingerzunft bereits zur Stelle wären.“

Gilda nickte zerstreut. „Man sagt, die Amerikaner hätten zwei Detektive mitgebracht.“

„Wer sagt das?“

„Der Ober …“

„Also ein Eingeweihter.“ Harst blickte träumerisch durch das Fenster zum Piz Rosatsch empor. „Das wäre etwas für Alderspohn gewesen, gnädige Frau.“

Sie schloß die Augen, und die zart gepuderten Wangen überflog flüchtige Röte. „Wer ist das?!“

„Ein Zuchthauskandidat … Ein Verbrecher ganz großen Formats. Er hatte hier Pech … Er ist auf dem Wege nach Chur, und dann wird er nach Berlin ausgeliefert werden.“

„Pech – durch Sie, Herr Harst?“ Gilda öffnete die herrlichen Augen ganz weit.

„Nein, mehr durch einen Herrn Alarich Gepp, einen Berliner Detektiv. Sein Amtstitel lautet Kriminalkommissar.“

„Oh – das klingt bedrohlich. Detektiv ist romantischer,“ lächelte sie müde. „Sie sind doch auch Detektiv, sagte der Ober.“

„Der Mann sollte den Meldezettel genauer einsehen: Doktor juris Harald Harst, Gerichtsassessor a. D., Berlin, – von Detektiv steht da nichts. Schraut und ich werden hier angeln, kraxeln, uns erholen. Ich finde, dieses Alpenparadies wird schon allein durch das Wort Detektiv entweiht.“

Gilda Tomahsen nahm ihre Lorgnette und betrachtete die Ölgemälde an den Wänden. „Mittelware …“ kritisierte sie kühl. „Mein Mann ist Maler …“

Sie sprach sehr selten über ihren Gatten.

„… Leider nur Maler, nicht Künstler. Er ist den modernen Richtungen abgeneigt, und heutzutage verlangt Kritik und Publikum eine eigene Note. Holger könnte viel Geld verdienen, wenn er … – aber das interessiert sie kaum …“ Sie hüstelte, drückte ihr Spitzentüchlein an die Lippen, und ein schmerzliches Zucken lief über ihr Gesicht.

Das Gespräch glitt abermals in andere Bahnen. Wir wollten vormittags nach Sils Maria hinüber und den Fex-Gletscher ersteigen. – „Da kann ich nicht mithalten,“ meinte Gilda traurig. „Meine Lunge ist nicht ganz in Ordnung. Ich werde im Liegestuhl unten am See faulenzen.“ Sie lächelte schwach. „Und ich werde einen Kriminalroman lesen … Der Arzt gibt mir noch zwei Jahre … Menschen, deren Daseinsfaden bereits halb zerschnitten ist, flüchten in das Reich der Sensationen.“

Harst nickte ihr aufmunternd zu. „Ihr Arzt in Kopenhagen hat sich arg geirrt, verehrteste gnädige Frau. Ich gebe Ihnen das biblische Alter, es sei denn, daß …“

Sie wehrte fast schroff ab. „Trösten ist eine Untugend – verzeihen Sie … Man hört stets dieselben Redensarten. Ich fürchte den Tod nicht. Ich möchte nur eins noch vom Leben als Geschenk erbitten: Wirkliches Erleben! Ich habe einen Heißhunger nach allem, was die dunklen, düsteren und romantisch-unwirklichen Seiten des Daseins streift. Herr Harst, sollten Sie hier zufällig ein Abenteuer aufspüren, bitte, lassen Sie mich daran teilhaben!“ Sie gab ihm die Hand, hielt die seine fest … „Sie versprechen es mir?“

„Gern, gnädige Frau, nur dürfte das Abenteuer ausbleiben.“ –

Da unsere Koffer noch in Bayern am Chiemsee lagerten, hatten wir noch eine Unmenge einzukaufen. Vor der Post in St. Moritz-Dorf stand im grellen Sonnenschein neben seinem Ständer mit Postkarten, ein buckliger Händler, der durch seine Nickelbrille trostlos geradeaus starrte, wo ein paar Arbeiter die Zementstufen des Postamts ausbesserten. Dieser Mann mit der roten Hakennase, dem blassen Gesicht und dem unglaublich schäbigen Anzug konnte trotz seines schwarzen Hängeschnurrbarts und trotz der schwarzen gelockten Tolle, auf der ein verflecktes Hütchen mit melancholischer weicher Krempe balancierte, kaum ein Schweizer oder Italiener sein. Sein Stoppelbart auf Wangen und Kinn machte dieses verhungerte, schweißige Gesicht noch hagerer. Aus Mitleid trat ich näher, und hinter den Brillengläsern glotzten mich nun ein Paar trübe glanzlose Fischaugen verdiensthungrig an.

„Kaafen Se ’m armen Jidd wos af …“ sprudelten die dicken Lippen … „Signore, sechs Karten for vierzig Centimes … Kaafen Se, Signore …“

Der arme Teufel, den das Schicksal ausgerechnet hier in dieses Tal des Luxus und des selbstverständlichen Nepps verschlagen hatte, tippte mit den schmierigen Fingern, deren Nägel von Feile und Politur nichts ahnten, auf eine Reihe Karten … „Nor vierzig Centimes, Signore … Disse hier sein Phottograffichen, Signore, – Stück fufzehn Centimes.“

Harst, wie ich, mit zwei Paketen beladen, fragte den Galizier verwundert: „Welche ungnädige Woge hat Sie denn hierher gespült?!“

Der Schwarze feixte und hob die Schultern.

„Man muß leben, Herr … Man verdient … E’ Berliner?“ Seine Blicke leuchteten auf. „Natierlich, e Berliner, Herr … Scheene Stadt … Ich hob’ gehabt e Stand am Nollendorfplatz mit Zeitungen, Herr … St. Moritz is besser … Man verdient …“

„Wie heißen Sie?“ – Harst suchte zehn Postkarten aus.

„Herr, Se werde lache … Ich heiß Moritz Seligfeld, – e scheiner Name … Paßt hierher, Moritz in St. Moritz.“

Wir lachten in der Tat und Moritz verdiente zwei Franc fünfzig Centimes, betrachtete gerührt die blanken Münzen, krächzte wie ein Rabe und … bespuckte sie diskret.

„E guter Anfang for heite,“ meinte er dankbar.

Harst musterte ihn nochmals, und dann verschwanden wir im Albana, zogen uns um und fuhren nachher in einem Mietwagen nach Sils Maria. Oben im Val Fex hinter dem Hotel Curtins lehnte an einem Felsblock ein dunkelbärtiger strammer Bergführer, die Pfeife im Munde, neben sich Eispickel, Seil und Rucksack. Wir wurden mit ihm rasch einig und eine halbe Stunde darauf stagsten wir bereits durch Steingeröll und über blinkende Eisflächen mit den neuen genagelten Schuhen. Der Führer sprach leidlich deutsch, war jedoch ein sehr schweigsamer Mann, und erst als wir in einer Höhe mit dem Piz Corvatsch waren und die berühmte Gletscherspalte vor uns hatten, seilte er uns an.

Es war bitter kalt hier in 3500 Meter Höhe. Der Winterschnee lag noch unberührt in hohen Wehen und Brücken über dem Eisschlund, in dessen Tiefen der Gletscherbach unheimlich gurgelte und schäumte.

Der Einstieg in die Spalte erforderte größte Vorsicht. Als wir dann aber auf dem Eisbalkon über dem Eisbache standen, als das wundervolle bläuliche Licht, eine zarte Dämmerung, uns einhüllte, bemerkten wir zu unserem Erstaunen rechts von uns auf einer zweiten Eisnase eine Frauengestalt, die dort zusammengeduckt saß und die Hände vor das Gesicht gedrückt hatte und … weinte. Daß sie weinte, sahen wir nur an den Bewegungen ihres Kopfes.

Der Führer brüllte uns zu: „Sie wollte keinen Führer. All diese Engländer sind geizig …“

Er brüllte, und doch mußte ich ihm die Worte von den bärtigen Lippen ablesen. Das Tosen des Gletscherbaches übertönte jeden Laut. – Die Frau ahnte unsere Nähe nicht. Sie trug ein dunkles Lodenkostüm. Zu ihren Füßen lagen Bergstock, Pickel und ihr flacher grüner Hut, und auf diesem Hut lag noch etwas Weißes, – es konnte ein Brief sein.

Die Fremde, völlig versunken in ihren Schmerz, fuhr mit einem leisen Schrei empor, als Harst, der auf schmalem Eisgrat zu ihr hinübergeturnt war, ihre Schulter berührte. Sie stieß gegen ihr Hütchen, – Harst griff zu spät zu, es flog hinab in das schäumende Wasser und verschwand.

Was Harst mit ihr verhandelte, war lediglich aus den erregten Gesten und dem Mienenspiel der blonden Engländerin zu entnehmen. Offenbar war sie entrüstet, daß man sie hier störte, – offenbar wirkten jedoch Harsts eindringliche Worte, denn sie kam nun zu uns herüber, und da erst konnte ich ihr Gesicht deutlicher erkennen: Nicht mehr ganz jung, weder hübsch noch häßlich, aber wunderschönes aschblondes Haar, das hinten zu losem Knoten geschlungen und glatt gescheitelt, dem schmalen Antlitz etwas madonnenhaftes verlieh. –

Lady Gwendolyn Hooy dinierte mit uns im Hotel Curtins, und die Unterhaltung drehte sich um so belanglose Dinge, daß ich mir sehr bald klar darüber war, wie oft Worte nur dazu dienen, Gedanken zu verschleiern.

Um sechs Uhr waren wir wieder in St. Moritz-Dorf. Gwendolyn Hooy wohnte ebenfalls im Albana und hatte zwei Zimmer nach der Seeseite hinaus.

Als Harst seine Bergstiefel aufschnürte, sagte er so nebenbei: „Nun gib mir mal den Brief aus der Außentasche meiner Joppe. Myladys Hut schwimmt talwärts. Der Brief wurde von mir geschnappt.“

 

2. Kapitel.

Die Brosche.

„Percy, ich weiß, daß Du mir keinen Glauben schenken wirst … Deine Familie hat es bereits fertig gebracht, unser Eheglück halb zu zerstören. Gwendolyn Lany vom Theater war ihnen stets verhaßt. – Ich schwöre Dir, ich habe den blauen Hooy nicht verkauft. – Lebe wohl für immer. Ich bin unfähig, das in Worte zu kleiden, was ich an grenzenloser Verzweiflung empfinde. Ich liebe Dich wie einst …

Gwendolyn.“

„Sie hätte zweifellos Selbstmord begangen,“ sagte er, nachdem er mir den Brief halblaut vorgelesen und ihn dann im Futter seiner Joppe verborgen hatte. „Sie wollte Hut und Brief in der Fex-Spalte liegen lassen. Es war nicht leicht, diese Frau zu bewegen, von ihrem unseligen Vorhaben abzustehen. Erst als ich ihr meinen Namen nannte und ihr zu helfen versprach, wurde sie zugänglicher, verschwieg mir jedoch den Grund ihres Kummers und meinte, sie würde nach dem Abendessen hinunter zum See gehen. Bis dahin würde sie sich dann entschieden haben.“ Er schlüpfte in die Beinkleider seines dunklen Jackenanzugs und fügte hinzu: „Ihr Brief ist unser. Wir wissen nun, daß er um den blauen Hooy geht. Es mag 1908 gewesen sein, als ein Neger im Flußbett eines nur bei Regenzeit wasserführenden Stromes südlich von Kimberley ein bläuliches Glasstück fand. Er verkaufte es an einen fahrenden Händler für eine Flasche Rum. Der Edelstein ging durch mehrere Hände, bis Lord Hamilton Hooy von Hooyshire-Castle ihn erwarb, schleifen und in Platin als Anhänger fassen ließ. So erhielt dieser achtkarätige Stein, der im Innern in der Mitte seltsamerweise eine Luftblase hatte, aber gerade deshalb wundervoll brillierte, den Namen „Der blaue Hooy“. Lord Hamilton starb, und sein Sohn Percy überreichte die Kostbarkeit am Hochzeitstage seiner Braut Gwendolyn Lany, die bisher in London Schauspielerin gewesen war. – Es kann nie etwas schaden, wenn man selbst geringfügige Ereignisse aus den Kreisen der internationalen Aristokratie sich einprägt. Bevor Gwendolyn Lany, eine Künstlerin von tadellosem Ruf, Lady Hooy wurde, hatte sie das Fegefeuer infamster Intrigen von Seiten der Verwandten Lord Percys durchzumachen. Kein Mittel war insbesondere der alten Lady Hooy, der Mutter Percys, schlecht und verwerflich genug, die Liebenden zu trennen. London erlebte damals vor vier Jahren einen gesellschaftlichen Skandal ohnegleichen. – Genug, die Ehe kam dennoch zustande. Wie diese Ehe infolge der nimmermüden Sticheleien und schamlosen Ränke der lieben Verwandtschaft enden würde, war bei Lord Percys bekannter Charakterschwäche vorauszusehen. – Der Brief sollte eine Tragödie abschließen. Ein Zufall führte uns auf den Fex-Gletscher. Ich werde den blauen Hooy finden und Lord Percy dann wohl die Augen gründlich öffnen können. Einzelheiten wird Gwendolyn mir kaum vorenthalten, wenn ich ihr nachher mitteile, daß ich mich allerdings einer groben Indiskretion schuldig gemacht habe – in ihrem Interesse.“

Ich saß auf einem Stuhl neben der offenen Balkontür und band mir die Krawatte um. Den Stehspiegel hatte ich auf den Tisch gestellt – etwas schräg, damit ich besseres Licht hätte. Der Knoten fiel nach Wunsch aus, ich steckte die Perle hinein, sicherte sie durch die Spitzenschraube und erwiderte in einer Anwandlung von Sarkasmus, der mir sonst nicht liegt: „Eine Lady, gewesene Komödiantin, dazu eine Horde gehässiger Verwandter des Gatten, – drittens ein seltener Diamant, – viertens eine Gletscherspalte und ein Brief, – – mehr kann man nicht verlangen! Erzähle unserer Freundin Gilda Tomahsen, die so versessen ist auf ein Abenteuer, diesen Roman, und sie wird dir um den Hals fallen und …“

Es hatte geklopft, – herein schob sich die klägliche Gestalt Moritz Seligfelds, katzbuckelte verängstigt, schnappte nach Luft und sprudelte hervor: „Die Herren werden verßaihn meine Frechheit … Drei Mol hat mir rausgeschmissen der Potjeh … Nu hat er mich nix gesehn … Ich hab’ gedacht, die Herrn kennt’n kaafen viellaichte e schainen Schmuck …“

Er zog ein Taschentuch von vorbildlicher Unsauberkeit aus seiner schäbigen Jacke und trocknete den Schweiß von Stirn und Nase.

Wie er so neben der Tür stand mit seinen zerrissenen braunen Schuhen, den unglaublichen O-Beinen und dem häßlichen, mitleiderregenden Gesicht, – in dieser mehr als fadenscheinigen Kluft, in ausgefransten Hosen und einem schmierigen gelblichen Gummikragen und verschossener grünlicher Schnallenschleife, war ihm wirklich nicht anzusehen, daß er „schainen Schmuck“ auf redliche Art erworben haben könnte.

Harst schaute ihn denn auch eine Weile abschätzend an und sagte dann ablehnend: „Mein lieber Herr Moritz aus St. Moritz, wie kommen Sie gerade auf uns?! Woher wissen Sie, daß wir hier im Albana in Nr. 49 logieren?!“

Seligfeld zog die dicken Lippen kummervoll herab. „Nu – man muß sich bei die mieße Geschäfte die faine Kundschaft warm halten … Ich hab’ gesehn die Herrn reingehn hier, und ich hab’ gesehn den Herrn da auf ’m Balkon vorhin … Sehr einfach.“

Harst trat dicht an ihn heran. „Zeigen Sie mir den Schmuck.“

Ich vermutete, ich würde nunmehr den blauen Hooy zu sehen bekommen. Das hätte so wunderschön in den schmalzigen Roman hineingepaßt. Aber auf Moritzens Handfläche von zweifelhafter Reinheit lag jetzt eine Brosche mit drei blitzenden, erbsengroßen Steinen, ein ganz modernes Schmuckstück in Form einer gereckten Acht aus Mattgold.

„Nu – fain, nicht wohr?!“ meinte der Postkartenhändler triumphierend.

Harst nahm die Brosche und trat damit in die offene Balkontür. Wie ein Blitz war Moritz hinter ihm her, riß ihn am Arm zurück und keuchte entsetzt: „Herr, Sie wollen doch nich sterzen ins Unglick e armen Jidd?!“

Dann schien ihm bewußt zu werden, wie verdächtig sein Benehmen wäre, und er grinste gezwungen und stotterte rasch: „Wenn Se sich widder emol rasieren tun oder e Schlips umwirgen, Herr …“ – das galt mir –, „dann stelle Se nich das Spiegelche da off’n Tisch …“

Harst lächelte unmerklich. „Wohnen Sie drüben in dem Eckhaus, Herr Moritz?“ fragte er nun.

„In die Mansarde, ganz obben, – es stümmt … Da wohn’ ich …“

„Und Sie meinen, der Spiegel zeigt so manches, was wir hier im Zimmer tun?“

„Auch das stümmt, Herr …“ nickte der Bucklige eifrig. „Und unter mir in das Zimmer mit das Eckfensterche wohnt wer, der hat gehabt e Fernglas und hat gehabt Neugier for Sie boide … Was er hat tun sehen, sah ich durch meine Brillen, Herr … Stecken Se das Briefle anderswohin, sag’ ich Ihne im Vertraun …“

Harst ging still zur Balkontür, drückte sie zu und zog die Vorhänge vor. Ich schaltete das Licht ein, und dann erst sagte Harst kopfschüttelnd: „Sie sind ein eigentümlicher Herr, Herr Moritz Seligfeld … Sie gestatten doch, daß ich einige Zweifel hege, was Ihren Beruf angeht. Mein Freund Lücke erzählte mir gelegentlich von einem Angestellten der Berliner Detektei Sollux, der ein äußerst gewandter Detektiv sein soll, obwohl sein Äußeres dies kaum vermuten ließe. Herr Seligfeld, demaskieren Sie sich. Sie sind dieser Mann.“

Moritz glotzte Harst eine Weile durch seine verbogene Nickelbrille verständnislos an. Sein ungeheures Riechorgan schien sich dabei zu verlängern, seine Wulstlippen zuckten und ein Kichern folgte, als ob Moritz daran schier ersticken müßte. „Ich – – e Detektiv, – – ich …?!“ Er krümmte sich vor Heiterkeit. „Gott der Gerechte, – Moritz e Detektiv …?! Da muß man lache, Herr, verzeihn Se schon …“

Allerdings: Moritz in dem Beruf war undenkbar!

Harst lachte mit. „Irren ist menschlich. – Also dann: Woher haben Sie die Brosche?“

„Gefunden!“

„Na nu, – wo denn?“

„Hier im Rinnstein mang allerlei Schmutz, – wahrhaft’ger Gott, ehrlich gefunden!“

„Und unehrlich nicht abgeliefert …“

„Doch – doch, – frage Se bei die Polißei an … Ich hab’ ihr abjeliefert, aber se hab’n mir rausjeschmissen, die Brosche wär’ Tombak und die Steine Glas, hab’n se jesagt, und se hatt’n n’ Juwelier jeholt und der hatt’ mir dasselbichte jesagt: Dreck!!“

Harst deutete auf einen Stuhl. „Bitte, Platz nehmen …!! So … – Und weshalb bieten Sie uns den … Dreck an, Herr Moritz aus St. Moritz …?“

Seligfeld schielte über den Brillenrand zu Harst empor. In den kleinen verkniffenen Augen wetterleuchtete es merkwürdig. „Ich hab’ jedacht, das wär’ wos for Sie …“ entgegnete er achselzuckend. „S’ is e schainer Schmuck, sieht wie echt aus, – man kann so was brauchen e mol, geben Se mir e Franc dafor …“

Harst betrachtete die Brosche längere Zeit. „Ich werde Ihnen zehn Francs geben, Herr Seligfeld,“ erklärte er gemütlich. „Aber unter einer Bedingung …“

Moritz schoß vor Freude vom Stuhle hoch.

„Tausend Bedingungen, tausend – –, was reden Se von nur eine …?! For zehn Francs kletter’ ich in zwei Stunde zum Fex-Gletscher rauf mit disse Stiebel!“ Und er zeigte seine linke Sohle, die ein Riesenloch hatte.

„Wer ist der Herr, der drüben im Eckhause in dem Erkerzimmer wohnt? – Das ist meine Bedingung,“ erklärte Harst sehr ernst.

Moritz grinste selig. „Der?! Nu, das is e verrickter Engländer … Um finfe morjens jeht er angeln mit ’n Rucksack und Angelstöck, und um sieben is er abends widder zu Haus und manchmol auch frieher – wie heit …“

„Er heißt?“

„Levy Brendt …“

„Hm – Levy brennt …?! Er wird sich wohl Lewis Brance schreiben, denke ich.“

„Tut er, tut er …!! Ich nenn’ ihm Levy Brendt … Ich kann nix englisch, Herr, nur e paar Worte, wo ich neetig hab’ zu mein’ Handel …“

Harald bezahlte schweigend die Brosche, und Moritz flutete vor Dankbarkeit über. „Wenn Sie widder was kennten brauchen, Herr … For zehn Francs renn’ ich auf’n Gletscher …“

Harst legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mein lieber Herr Moritz aus St. Moritz, man soll nicht zweimal an einem Tage auf den Fex-Gletscher klettern … Einmal waren Sie heute schon oben … – Gute Nacht.“

Er schob ihn zur Tür hinaus.

Ich rieb mir die Stirn. Dieses Intermezzo hatte mich etwas verwirrt.

„Harald, Moritz war wirklich oben?!“

„Ich sage dir: Er war!! – Und wenn er nicht trotz allem der Detektiv vom Sollux ist, den Lücke als Genie schilderte, aber auch als Phantom von mannigfacher Gestalt, will ich nie wieder eine Zigarette rauchen. Seligfeld, behaupte ich, weiß längst, wer wir sind. Er „arbeitet“ hier, und er braucht Verbündete …“ –

Als Harst nach zehn Minuten unten im Speisesaal Gilda Tomahsen erzählte, er habe vorhin im Rinnstein diese Brosche gefunden (er zeigte sie ihr verstohlen), wurde die schöne Frau leichenblaß. Aber sie hatte sich gut in der Gewalt, heuchelte einen augenblicklichen Schwächeanfall, hustete stark und erklärte geringschätzig:

„Simili natürlich, – wertlos!“

In demselben Moment sah ich etwas anderes, das nicht Simili sein konnte. Aber ich schwieg und widmete mich dem Fischgericht, während Frau Gilda Harst die Brosche als Andenken an unsere Tischgemeinschaft abzuschmeicheln suchte. – Das alles war sehr sonderbar.

 

3. Kapitel.

Moritz wäscht Kragen.

Wenn man von St. Moritz-Dorf den Weg am See nach St. Moritz-Bad entlanggeht, findet man in einer Ausbuchtung der Promenade ein paar Bänke, von denen man in Andacht die weißen Schneehäupter der drei Berge Piz Rosatsch, Piz Surley und Piz Roseg bewundern kann.

Lady Gwendolyn Hooy saß zwischen uns auf einer dieser Bänke, und ihr müdes, trübes Gesicht zeigte den tiefen Gram um ein zerstörtes Liebesglück.

„Mr. Harst,“ sagte sie tonlos und senkte den Kopf noch weiter, „Sie zwingen mich nun geradezu, Sie ins Vertrauen zu ziehen. Ich war zu einem anderen Entschluß gelangt. Ich wollte mein Schicksal allein tragen … Nachdem Sie den Brief gelesen haben, muß ich auch meinen Entschluß ändern. Ich hatte den blauen Hooy mit hierher nach St. Moritz genommen. Ich betrachtete den Stein als einen Talisman, ich hoffte, daß die Trennung von Percy bewirken würde, was bisher Worte nie erzielten: Daß er sein schwächliches Doppelspiel aufgeben würde! Er liebt seine Mutter nur allzu sehr. Lady Elisabeth Hooy hat mir meinen Gatten geraubt. Percy diente zweien Herren – hier zwei Frauen, mit keiner wollte er es ganz verderben. – Vor einer Woche traf ich hier ein. Ich hatte Percy diese vorübergehende Trennung selbst vorgeschlagen. Gestern nun entdeckte ich, daß der blaue Hooy mir gestohlen worden war. In dem Geheimfach meines Schrankkoffers lag an Stelle des echten Anhängers eine Imitation …“ – Sie wandte den Kopf, und das Abendrot, das von den rosigen Schneefeldern leuchtend zurückgeworfen wurde, ließ auch ihre blassen Züge lebenswarmer schimmern. „Eine Imitation, Mr. Harst … Vielleicht hätte ich diesen Austausch des echten blauen Hooy gegen ein gefärbtes Stück Glas an einer mattsilbernen Kette nicht sofort bemerkt, wenn ich weniger Verständnis für Juwelen besäße. Ich war entsetzt, – ich eilte zu einem Juwelier, er bestätigte: Imitation! – Zu meinem Unglück habe ich nun noch aus früherer Zeit beträchtliche Schulden. Eine Schauspielerin, die auf Liebhaber verzichtet und ohne Vermögen ist, kann den Toilettenansprüchen der Bühne kaum genügen. Ich war zu stolz, Percy diese Schulden zu beichten. Wenn ich ihm nun den Diebstahl mitgeteilt hätte, würde er den Brief sofort Lady Elisabeth, seiner Mutter, gezeigt haben. Und diese weiß, daß harte Gläubiger mich bedrängen, sie würde Percy sicherlich voller Hohn erklärt haben, ich hätte den Stein verkauft, um meine Verbindlichkeiten heimlich aus der Welt zu schaffen. Sie kennen meine Ehe nicht, Mr. Harst: Lady Elisabeth Hooy ist maßlos stolz, ich habe sie noch nie gesehen und sie hat mich nie sehen wollen. – Möglich, daß meine Absicht, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, Ihnen unbegründet erscheint. Ich kann Ihnen nicht alles anvertrauen, was ich durchlitten habe.“

Sie schwieg … Ihre Hand, die bisher im Schoße geruht hatte, schnellte hoch und ballte sich zur Faust. In ganz anderem Tone rief sie: „Oh – da ist er schon wieder, dieser ekelhafte Mensch …!!“

Wir blickten zur Seite, und drüben auf dem breiten Bootsstege lehnte am Geländer Moritz Seligfeld und schien träumerisch in das Wasser hinabzustarren. Er hatte seinen Gummikragen an einen Bindfaden gebunden und den Kragen in die Flut getaucht, zog ihn jetzt empor, tauchte ihn wieder ein, – und so trieb er’s mehrere Male.

„Kragenwäsche …!“ meinte Harald lächelnd. „Billig und praktisch … – Also Moritz Seligfeld schleicht Ihnen nach, Mylady?“

„Ja. – Heißt dieses bucklige Scheusal so?“

„Wahrscheinlich nicht, Mylady … Er ist Postkartenverkäufer, sagt er … Wir sind bereits sehr gute Bekannte.“

Gwendolyn Hooy schaute Harst ungläubig an. „Bekannte?!“

„Wir machen Geschäfte miteinander …“

„Sie – mit ihm?!“

„Gewiß …“ Harst beobachtete Moritz unausgesetzt. „Er war heute ebenfalls auf dem Fex-Gletscher – in der östlichen kleineren Spalte … Er verbarg sich dort. Vielleicht weiß er mehr, als wir ahnen …“

„Worüber?! Dieser Mensch?!“ Gwendolyn Hooy schelte verächtlich. „Er ist ein frecher aufdringlicher Hausierer … Ich kaufte ihm gleich am ersten Tage hier ein paar Postkarten ab … Denken Sie, vorgestern kam er in meinen Salon im Hotel und bot mir Edelweiß an … Er war einfach nicht loszuwerden … Wo ich gehe und stehe, immer ist er in der Nähe.“

„Er war bei Ihnen,“ wiederholte Harst langsam … „Vorgestern … Und Sie kauften Edelweiß?“

„Ja … Aber ich drohte ihm auch, mich hier an die Polizei zu wenden, falls er mich weiterhin belästige. Er erwiderte sehr demütig, – und das brachte mich noch mehr auf: „Die Polizei wird Ihnen nicht helfen, fürchte ich …“ – Als ich den Portier herbeirufen wollte, verließ er mich mit einem unverschämten Grinsen …“

Harst stand auf. „Entschuldigen Sie mich, Mylady …“ Er ging zum Stege hinüber, Moritz zog gerade wieder seinen Gummikragen empor, und an dem Kragen hing irgend etwas, das im Abendrot wie ein feuriger Funke blitzte.

Gwendolyn Hooy lief wie gehetzt hinter Harald drein, ich folgte, und Moritz Seligfeld stotterte tödlich verlegen:

„Gott der Gerechte, – was for’n Fisch hab’ ich jeangelt!!“

Der Fisch war ein Platinkettchen, an dem der blaue Hooy befestigt war.

Gwendolyn sagte drohend:

„Sie … Sie haben gesehen, wie ich gestern abend diese Imitation hier ins Wasser gleiten ließ …! Und jetzt …“

„… Gott der Gerechte, – nur e Imitation?!“ winselte Seligfeld enttäuscht … „Ich mecht’ wetten, das is e echter blauer Diamant …!“

Lady Hooy griff nach dem Schmuck.

„Echt?! Es ist die Imitation!! Und Sie haben den echten blauen Hooy gestohlen, Sie Spion, Sie …!“

„… Bei dem Gott meiner Väter, schöne Dame: Der Moritz is kan Dieb!! Ich lass’ mir nix beleidigen … auch von Sie nich, schöne Dame … Da haben Se den Dreck … Mein Kragen is sauber, mein Gewissen auch … Gute Nacht!“

Und stolz zog er davon.

Lady Gwendolyn begann zu weinen. Ihre Nerven streikten plötzlich. Hastig schritt sie nach dem Badeteil hin den Weg entlang. Die Imitation war leise klirrend Harst vor die Füße gefallen.

„Wenn sie jetzt nicht kehrt macht und sich bei diesem höchst eigenartigen Angler nicht entschuldigt,“ sagte Harst, und steckte den Anhänger in die Tasche, „dann würde sie mich sehr enttäuschen. Selbst für eine frühere Schauspielerin und Engländerin hat sie sehr viel Temperament. Es ist etwas Unausgeglichenes an ihr, das freilich anderen Quellen entspringt als bei Frau Gilda Tomahsen. – Ah – sie macht kehrt … Sie winkt uns zu, – ihr Gang ist wundervoll, selbst die hastigen Schritte stören die Vornehmheit ihrer Erscheinung nicht. Schade, ein Schwarm der juwelenbehängten Wolkenkratzerbewohner drängt sich zwischen Lady Gwendolyn und unseren Freund Moritz. Trotzdem bin ich glücklich. Gwendolyn Hooy ist so, wie ich sie einschätzte.“ Harst lächelte dann still vor sich hin. „Im Grunde beherbergt dieses köstliche Tal ein paar Menschen, die es wert sind, unsere Feiertage auch mit ihnen auszufüllen. Übrigens – die Dame heißt Frau Mabel Billinx, mein Alter.“

„Welche Dame?“ Aber kaum hatte ich diese höchst überflüssige Frage gestellt, als ich sie auch schon selbst beantwortete. „Du meinst die Amerikanerin am zweiten Tisch mit der echten Brosche … Ich glaubte, du hättest dieses Gegenstück zu Moritzens Talmi nicht bemerkt.“

„Schon gestern, schon gestern abend … Es sind drei Steine von reinstem Feuer, und Frau Billinx trägt die Brosche als Vorstecknadel vor der Brust … Gilda Tomahsen hat mir die Imitation abgeschmeichelt – als Andenken – durch viele harmlose Redensarten … – Wirklich, Lady Hooy und Moritz Seligfeld stehen jetzt drüben am Gondelsteg … – Ist es nicht seltsam, daß hier zwei Imitationen wertvoller Schmuckstücke auftauchen?! Ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß noch mehr derartiger Talmi hergestellt werden wird? Wenn es Hoteldiebe sind, arbeiten sie nach einer völlig neuen Methode: Sie wechseln die echten Stücke gegen Tombak aus, und die Geschädigten dürften nur zufällig sofort bemerken, daß sich Platin oder Gold und Edelsteine in Bijouterie verwandelt haben.“

Ich blickte träumerisch zum weißen Piz Surley empor. Die Schatten der Nacht senkten sich langsam über dieses Hochgebirgsparadies herab.

„… Es wird hier sehr viel gestohlen werden, fürchte ich,“ sagte Harst in demselben sinnenden Tone. „Alle Anzeichen deuten darauf hin … Du solltest besser dem Piz Rosatsch deine Blicke widmen. Es berührt mich nicht gerade angenehm, daß zwei Fenster von Professor Oberspahns Hütte matt erleuchtet sind, was doch nicht sein dürfte. Oberspahn ist unterwegs nach Chur, die Polizei hat seine Hütte verschlossen, und es ist kaum wahrscheinlich, daß Touristen das Blockhaus erbrochen haben oder ein Beamter zu dieser Stunde dort seine Pfeife raucht.“

Zwischen weißen Schneehalden lag droben düster und unzugänglich die Steilwand, auf deren Terrasse der Mann, den Harst noch immer Oberspahn nannte, seinen Schlupfwinkel besessen hatte: ein großer Verbrecher, ein großes Genie!

Ich mußte sehr genau hinsehen, wenn ich dort hoch oben am Rande des ewigen Schnees die leuchtenden Pünktchen erkennen wollte.

„Harald, er ist entflohen …“ meinte ich erregt, und ich erwartete als Antwort ein Kopfnicken zumindest.

Harst erwiderte mit leichtem Gähnen:

„Wenn ich nicht fürchten würde, morgen mit einigen kaputten Kochen im Bett zu liegen, würde ich Kriminal-Kommissar Alarich Gepp sehr gern besuchen.“

Ich starrte ihn verblüfft an. „Gepp?!“

„Er ist bestimmt hier, mein Alter, noch hier oder schon wieder hier. Gepp ist der Außenseiter der Herren vom roten Alex in Berlin. Er ist stets vorn an der Front, wenn man es am wenigsten vermutet. Wer kennt Gepps wahres Gesicht?! Eigentlich niemand. Man verwendet ihn nur in besonderer Mission. Man muß solche Leute in Bereitschaft haben, die dem internationalen Gaunertum völlig fremd sind.“

Er blickte noch immer schräg nach oben über den See hinweg. „Gepp ist hier,“ wiederholte er. „Ich spüre seine Anwesenheit mit jenem sechsten Sinn, der feiner ist als die anderen. Beweise habe ich nicht.“

„Dann ist es Moritz,“ behauptete ich ohne Zaudern.

„Nein, nein, weder Moritz noch der Angler Lewis Brance, mit dem wir uns morgen beschäftigen wollen. Ich wünschte, ich wüßte, in welcher Maske Alarich Gepp hier umhergeistert.“

Eine Gondel, von einem schwarzhaarigen langen Italiano gerudert, strich an unserem Stege vorüber. In der Gondel [saß][1] Gilda Tomahsen in einem weißen flockigen Mantel, einen Blaufuchs um die Schultern gelegt. Die eine Hand ließ sie im Wasser nachschleifen. Der Italiener sang leise ein schwermütiges Lied südlicher Gestade. Gilda sah uns nicht. Zu ihren Füßen lag auf einem bunten Teppich ein Mann, der eine Zigarette rauchte.

Wie eine Vision zog die Barke schnell dahin und tauchte in die milchige Dämmerung ein. Ich hatte den Kopf des Mannes nicht deutlich gesehen, denn Frau Gildas Mantelzipfel bedeckte ihn halb.

„Gehen wir zu Bett, mein Alter …“

„Wer war der Liebhaber?!“

„Vielleicht Alarich Gepp … Seitdem ich mich so sehr von ihm bluffen ließ, traue ich ihm alles zu … Er steckt uns beide in die Tasche – leider …!“

 

4. Kapitel.

Noch einige Diebstähle.

„Wo läßt man sich hier am besten das Haar schneiden, Zenzi?“

Unser Stubenmädchen, frisch und rosig und flink, lächelte und zeigte tadellose Zähne. Sie betrachtete Harsts nicht allzu üppige Haarfülle und schlug den Salon Deister vor … „Ein ganz ein neues G’schäft, Herr Harst … Gleich drüben im Eckhause unten. Vom Balkon sehen Sie’s. Erst eine Woche alt, der Salon … Der alte Deister hat einen Sohn, und dem hat er’s Geschäft eingerichtet. Sehr feiner Coiffeur, der junge Deister … In Wean hat er gelernt … Ach, kennen’s Wean, Herr Harst?“

„Du kannst mitkommen,“ sagte Harald, nachdem Zenzi davongeflitzt war. „Wenn man in einem Orte wie St. Moritz über einen Hausbewohner Auskunft haben will, muß man den nächsten Friseur aufsuchen und sich vom Chef bedienen lassen. Alles weitere ergibt sich dann von selbst, wenn man nur eben Konversation zu machen versteht.“

Harsts Rezept war gut und bewährt. – Im Salon Deister gab es rechts die Abteilung für Damen, links die für Herren, in der Mitte lag das neutrale Gebiet, eine achteckige Diele mit Korbmöbeln, Tischchen und allerhand Zeitschriften. Wie üblich hatte der Herrensalon keine trennenden Wände, sondern Sessel stand an Sessel, und der gewaltige Spiegel gestattete, auch die Nachbarn dauernd zu beobachten. – Zwei Sessel waren frei. Eine Maid im weißen Mantel mit dunklem Wuschelkopf und recht pikantem Gesichtchen seifte mich ein. Harst wurde von einem schwarzhaarigen Gentleman bediente der so gewiß italienisches Blut in den Adern hatte wie ich ausschließlich germanisches habe. Es war der Herr Chef: Ignatz Deister, der schöne Natzi genannt. Sein Augenaufschlag, sein bleiches, etwas gelbliches Gesicht mit sehr regelmäßigen, sehr weichlichen Linien, seine schlanken Hände mit blitzenden Ringen, die selbstbewußt-lässige Art seines Gebahrens, eine tief getönte Stimme und – nicht zu vergessen – der künstlerisch-geniale Haarschopf mußten unbedingt auf Frauenherzen von harmloser Natürlichkeit ungeheuer verwirrend wirken.

Dieser Natzi Deister legte Harald den Frisiermantel um, stopfte ihm einen Wattestreifen ins Genick und redete wie ein Wasserfall. Ich lauschte andächtig. Meine einseifende und rasierende Maid gab sich bei mir weiter keine Mühe, wärmere Empfindungen für ihr kokettes Persönchen hervorzurufen. Ich spiele überall den guten alten Onkel, dem man eher eine Gichtzehe als Seitensprünge zutraut.

„… Freilich g’hört das Haus meinem Vater, mein Herr … Wir bewohnen’s ganz allein, aber wir geben natürlich Zimmer an Gäste ab …“ Natzi ließ den kleinen Motor der Haarschneidemaschine surren … „Gewiß, – ganz oben in der Mansard’ wohnt der Hausierer Seligfeld …“ Natzis Stimme drückte eine Geringschätzung aus, als ob unser Moritz ein vielfacher Raubmörder wäre …

Harst warf aufmunternd ein: „Ich angle leidenschaftlich, und Herr Seligfeld meinte, Mr. Lewis Brance könnte uns tadellose Forellenstellen angeben …“

„So – – ?!“

Merkwürdig, wie jäh die Lippen Natzi Deisters verstummten. Das „So – – ?!“ schien seinen Atemvorrat erschöpft zu haben.

„Ist Mr. Brance ein zugänglicher Herr?“ bohrte Harst ohne Rücksicht auf Natzis Verschlossenheit weiter.

„Ich muß bedauern, mein Herr, ich habe mit Mr. Brance noch keine drei Worte gewechselt,“ erklärte der junge Chef mit schwachem Achselzucken. Jedenfalls ist Mr. Brance den Tag über am Flusse, bei jedem Wetter … Wenn ich mir ein Urteil erlauben darf: Er ist sehr wenig zugänglich, und mit unserem dritten Mieter hat er bisher nur kühle Grüße ausgetauscht, obwohl sie doch Zimmer an Zimmer wohnen, mein Herr. – Darf ich die Schläfen auch mit der Maschine schneiden?“

„Ja. – Ich möchte dennoch versuchen, mit Mr. Brance bekannt zu werden … Ich bin hier fremd, und Angler pflegen einander …“

Natzi wehrte energisch ab. „Mein Herr, es wäre zwecklos … Auch unser dritter Mieter, Professor Termoolen aus Amsterdam, hat sich umsonst bemüht, Mr. Brance seine Begleitung aufzudrängen … – darf ich vorn das Haar noch kürzer schneiden, mein Herr? Bitte, hier ist der Spiegel … Sie entschuldigen, – eine Dame muß onduliert werben …“

Natzis Rückzug geschah etwas plötzlich. Er ließ einen Jüngling von erstaunlicher Magerkeit die Arbeit vollenden, und das Ergebnis dieses Besuchs im Salon Deister war mithin ebenso mager, wie dieser Ersatzmann.

Dachte ich.

Als wir dann auf der Straße standen, belehrte mich Harald eines Besseren. „Weißt du, mich interessiert jetzt dieser holländische Professor Termoolen fast mehr als Mr. Brance,“ sagte er und schaute nach Moritzens Postkartenstand hinüber. – Moritz hatte sich wieder unweit der Post aufgebaut. Melancholisch hockte er auf seinem Klappstühlchen in der prallen Sonne und betrachtete tiefsinnig seine ausgefransten Hosen.

„Morgen, Herr Seligfeld,“ begrüßte Harst den fragwürdigen buckligen Postkartenhändler. „Na, Ihr Kragen ist durch das Bad gestern abend entschieden eindrucksvoller geworden …“

Moritz erhob sich rasch. „Nu, wie hat er gefallen die Herren?!“ sprudelte er in seiner so sehr verblühenden Zielsicherheit hervor und blinzelte uns durch seine schiefe Brille verständnisvoll an. „Sehr ein patenter Herr, der schöne Natzi – sehr ein patenter Herr!“ äffte er den Weaner Ton miserabel nach. Dann – in ganz anderem, geheimnisvollem Flüsterton: „Der Moritz is nur e armer Jidd … Der kann nix geihn in den feinen Salon … Aber, wozu mißten Sie gehn da hinein, wozu?! Wollen Se sich vermasseln e großes Ding?! Wozu frag’n Se nich den Moritz, he?! Nu laufe Se herum mit’n kalten Kopf, und der schöne Natzi wird Ihne nix gesagt haben, wie ich ihm kenn’, den Natzi … Das is e ganz gerissener …“

Ich war ziemlich sprachlos. Moritzens Schlauheit verdiente Anerkennung. – Harst wählte zum Schein ein paar Karten aus.

„Mein lieber Freund Moritz,“ sagte er dabei eindringlich, „wer und was sind Sie eigentlich? Mir müssen Sie doch keine Komödie vorspielen … Reden wir ehrlich miteinander. Sie waren gestern Lady Hooy auf den Fex-Gletscher gefolgt. Ich sah Sie.“

Seligfeld senkte den unschönen Kopf und murmelte trübselig: „Nu – ich kenn’ ihr doch … Ich … lieb’ ihr, Herr Harst … Warum soll ich ihr nicht lieben?!“

„Sie schleichen hinter ihr her, Moritz.“

„Gott, e Verliebter macht noch verricktere Sachen …“ Er grinste schämig. Aber – ihm war nicht beizukommen. Er war aalglatt.

Harst zählte zehn Postkarten ab und reichte Moritz drei Franc. „Wer war der Herr, mit dem Frau Gilda Tomahsen gestern abend gondelte?“

„Professor Jan Termoole …“ flüsterte Moritz und blinzelte noch stärker. „Auch sehr ein patenter Herr – sehr patent, – graue Haare, schitzen nix vor Torheit, und die Frau Tomahsen verbraucht jeden Tag dreißig Taschentüchlein … Da – nehmen Sie’s, Herr Harst …“ Er steckte Harald blitzschnell ein winziges Päckchen zu. „Wenn das Blut in den Tüchlein aus der Lunge is, laß ich mir taufen … – Nu gehn Sie … gehn Sie …! Der Ober kommt … Im Hotel Albana is heit der Teifel los, heit frieh … Die Polizei war da in Zivil, und … gehn Sie, gehn Sie …!“

Er wandte uns den Rücken zu und ordnete seine Karten.

Blaß und verstört stand der elegante, geschmeidige Ober vor uns.

„Herr Harst … Herr Harst … würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben …“ – er konnte kaum sprechen, der Ärmste … „… Liebenswürdigkeit haben und in die Geschäftszimmer kommen …“

Er warf Moritz einen grimmen Blick zu …

„Herr Harst, vier von den Amerikanern behaupten, sie feien in dieser Nacht bestohlen worden …“ – er dämpfte seine zitternde Stimme noch mehr. „Es handelt sich um Juwelen im Werte von vielen Tausenden, und die amerikanischen Detektive stehen einfach vor einem Rätsel …“

„Hm, – weil die Schmuckstücke zwar noch vorhanden, aber nicht mehr echt sind, nicht wahr?!“

Der Ober nickte übertrieben. „Es ist unbegreiflich …! Es ist so. Nicht mehr echt, nur Imitationen!“

„Das ist gar nicht so unbegreiflich,“ meinte Harst ebenso leise. „Gut, wir kommen mit …“

 

5. Kapitel.

Moritz springt …

Im Geschäftszimmer saßen eine Menge Leute, zum Teil ratlos, zum Teil verzweifelt oder in gereiztester Stimmung. Frau Mabel Billinx war mit dabei, und sie war die Dame mit der Brosche.

Zwei pomadige Herren in praktischen Sportanzügen entpuppten sich als die beiden Beschützer der amerikanischen Invasion, und ein kleines Männchen von zappeliger Eilfertigkeit war der Polizeigewaltige von St. Moritz.

Außer Frau Billinxs Brosche mit den drei Prachtsteinen waren noch von den unbekannten Dieben folgende Schmucksachen in der verflossenen Nacht vertauscht worden: Eine Vorstecknadel aus Platin mit fünf Diamanten, eine zweite mit sieben Diamanten, ein Anhänger mit vierzehn Diamanten und eine Perlenkette. – Die geschädigten Damen behaupteten sämtlich, ihre Schmucksachen abends beim Schlafengehen unter die Kopfkissen gelegt zu haben. Zimmertüren und Fenster waren verschlossen und verriegelt gewesen, und nirgends hatten sich Spuren gewaltsamen Eindringens in die Schlafzimmer feststellen lassen. Mr. Billinx, Gatte der Broschen-Dame, betonte, er habe einen sehr leisen Schlaf. Der eine der Detektive wieder machte darauf aufmerksam, daß das eigenartigste Moment dieser Diebstähle wohl der Umstand sei, daß unter den Kopfkissen doch auch noch anderer Schmuck gelegen habe.

Man redete auf Harst von allen Seiten ein. Tränen flossen, – der Polizeichef schwitzte vor Erregung, – die Detektive starrten düster vor sich hin, – der elegante Ober rang die Hände wie ein Schmierenkomödiant. – – Harst stand wie ein Fels in der Brandung und sagte nur tröstend: „Warten wir ab … Die Hauptsache bleibt: Lassen Sie niemand von hier abreisen, Herr Tossani.“ Und der kleine Polizeichef schwor, weder aus St. Moritz noch den Nachbarorten käme vorläufig keine Maus ins Freie! –

Wir schritten zum See hinab. Moritz mit seinem Stühlchen und seinem Postkartengestell war verschwunden. Dafür trafen wir unten am Ufer in einem Liegestuhl im Baumschatten Frau Gilda, unsere Freundin, mit der wir schon morgens zusammen gefrühstückt hatten. Sie las einen dicken Kriminalroman mit farbigem Umschlag, und in ihren schönen Augen schimmerte ein märchenhafter Glanz.

„Oh – das Kapitel soeben war sehr aufregend,“ meinte sie seufzend: „Denken Sie: Der Detektiv sollte in einem Betonschacht ertränkt werden, und …“

„Alle Detektive, die nichts taugen, sollten ersäuft werden,“ sagte Harald und setzte sich in das spärliche Gras. „Wozu kriecht Ihr Detektiv in den Betonschicht?! War das nötig, gnädige Frau?!“

„Pfui, zerstören Sie mir doch nicht die Illusion,“ meinte Gilda Tomahsen und schlug mit ihrer Lorgnette auf den Roman.

„Das ganze Leben ist Illusion,“ erklärte Harst und zog Moritzens Päckchen aus der Tasche, öffnete die Papierhülle und breitete das feine Batisttüchlein auf seinen Knien aus.

Gilda beugte sich vor. „Oh – woher haben Sie das … das Taschentuch?“ rief sie verwirrt. „Es gehört mir … Ich muß es verloren haben. Geben Sie es mir, Herr Harst. Es ist so unschön mit den roten Flecken …“

„Blut …“ murmelte Harst und blickte an Gilda vorüber zum Murail empor, wo gerade die Bahn den Berg emporkletterte. „Blut verfärbt sich, gnädige Frau … Es tut mir leid: Dies ist kein Blut, dies ist gewöhnliche Farbe …“ Und ohne auf ihr tödliches Erbleichen zu achten, nahm er von ihrem Schoße eine flache silberne Schachtel, öffnete sie und …

„Das … ist eine Unverschämtheit!“ fuhr Frau Tomahsen auf …

Harst hatte einen der Bonbons schon aus der Papierhülle gelöst und zerbrach ihn. Außen sah dieser Bonbon wie ein durchaus alltäglicher Hustenbonbon aus … Innen aber war er hohl, und über Harsts Finger floß eine dicke rote Masse, die er mit dem Tüchlein abwischte.

„Weshalb täuschen Sie hier die Lungenkranke vor, Frau Tomahsen?“ fragte er vorwurfsvoll und blickte sie lange an. „Wo haben Sie übrigens die Brosche, – das Andenken, – Sie wissen schon … Die Imitation der Brosche der Frau Mabel Billinx …?“

Gilda lag mit geschaffenen Augen im Liegestuhl. Ihre Wangen waren farblos, ihre Lippen zitterten, der Roman glitt ihr vom Schoße … Dann riß sie die Augen ganz weit auf. „Was – denken Sie von mir?“ flüsterte sie und mit einem Male richtete sie sich auf, griff nach dem Handtäschchen, öffnete es und schleuderte die Brosche Harst vor die Füße.

„Bitte!! – Und jetzt verlassen Sie mich! Sie haben mich so schwer beleidigt, daß ich …“

„Wodurch?“ meinte Harst unschuldig. „Haben Sie nicht das gleiche Interesse wie wir, die Diebstähle in unserem Hotel schleunigst aufzuklären?!“

Gilda errötete jetzt. Aber ihre Blicke verrieten ein so grenzenloses Entsetzen, daß mir ihr ganzes Verhalten immer rätselvoller erschien.

„Diebstähle?“ – sie brachte das Wort nur mit Mühe über die Zunge. „Mehrere Diebstähle …?! Ich … ich … weiß nichts davon – nichts …!“

„Verzeihung, dann hätte es auch keinen Zweck, noch weiter darüber zu reden, Frau Tomahsen, obwohl ich fürchte, daß Ihr Gedächtnis zur Zeit getrübt ist.“ Er hob die Talmibrosche auf und ließ die Steine im Sonnenlicht funkeln. „Vorhin sah ich genau dieselbe Talmibrosche im Büro des Albana … Frau Billinx hatte sie unter ihrem Kopfkissen gefunden anstelle der echten … Türen und Fenster hatten den Dieb nicht durchgelassen. Ist das alles nicht sehr merkwürdig, Frau Tomahsen?!“

Sie sprang auf. „Kein Wort mehr! Ich … ich werde …“

„Sie werden sich böse Ungelegenheiten bereiten, ganz bestimmt … Fahren Sie häufiger mit Professor Jan Termoolen spät abends in der Gondel?“

Sie warf ihm einen Blick unverhohlenen Hasses zu, raffte ihr Buch auf und schritt davon.

„Eine eigentümliche Frau,“ sagte Harst nur und steckte das Batisttuch und die Brosche in die Tasche. „Wenn wir uns beeilen, können wir noch vor Tisch Professor Oberspahns Hütte besuchen … Du wirst etwas schwitzen, aber ich möchte nicht allein nach oben. Man kann nie wissen, ob nicht zwei Pistolen und vier Hände gebraucht werden.“

Er legte ein Tempo vor, daß ich all meinen Atem zum klettern brauchte. Zum Fragen kam ich nicht. Dort, wo der vielfach gewundene steile Waldweg über St. Moritz-Bad plötzlich rechts abbiegt und sich in kahlen Felsschründen verliert, mußten wir auf gut Glück nach links hin unser Heil versuchen. Für geübte Bergsteiger mag ein solches Unterfangen nicht weiter gefährlich sein. Wir hatten nur Spazierstöcke mit starken Eisenzwingen bei uns und trugen halbhohe braune Schuhe, ungenagelt. Nach zehn Minuten machte Harst vor einem Abhang halt, der nur zu umgehen war. Hinter uns hatten wir die letzten dürftigen Reihen von Lärchen, vor uns den Abgrund, rechts und links himmelhohe Wände. Und an der rechten Steilwand erkannten wir gerade noch die Vorderseite des Daches der Blockhütte.

Harst beugte sich über den Rand des Abgrundes und schien nach einer gangbaren Stelle zu suchen. Ich entdeckte sie früher als er. Es zog sich da ein schmaler Grat wie eine schräge Leiste in die Tiefe, vorüber an Felsnasen, auf denen noch Schnee lag, und allem Anschein nach handelte es sich hier um einen Weg, der von Menschenhand in besonders schwierigen Stellen durch Felsbrocken, die man in Sparten und Risse festgekeilt hatte, noch verbreitert worden war. Ich wollte Harst gerade auf meine Entdeckung aufmerksam machen, als hoch über uns ein schriller Schrei ertönte, – wir blickten empor und bemerkten auf dem Steinwall der Terrasse vor der Blockhütte einen Mann, der in den Händen einen jener großen Gartenschirme hielt, wie sie in grellen Farben so oft in neuester Zeit selbst die idyllischsten Gebirgsgasthäuser verunzieren.

Dieser aufgespannte riesige Schirm dort droben war freilich einfarbig und dunkelgrün. Ich erinnerte mich, ihn in dem Flur der Blockhütte bemerkt zu haben, als wir den „Professor Oberspahn“ so gründlich hineingelegt hatten.

Der Mann hoch über uns schien mit diesem Fallschirm den Sprung in die Tiefe wagen zu wollen. Irgend jemand, von dem wir nur flüchtig eine vorgereckte Hand sahen, die den tollkühnen Menschen packen wollte, führte die Entscheidung herbei: Der Mann mit dem Schirm tat einen Satz ins Leere, stieß sich kraftvoll mit dem einen Fuße ab und schoß zunächst mit bedrohlicher Geschwindigkeit abwärts.

Uns blieb das Herz vor Entsetzen stehen.

Doch der Schirm, der offenbar sehr kräftige Rohrstangen hatte, klappte zum Glück nicht nach oben um, – der Mann fiel ziemlich sanft kaum zwanzig Meter seitwärts von uns in die hohen Lärchen, – wir hörten die Zweige brechen und krachen und stürmten ohne Besinnung dorthin, wo der Springer nun vielleicht zwischen den Baumästen hing. Als wir eine schroff abfallende Wasserrinne durchklettert und uns mühsam zwischen Gestrüpp durchgedrängt hatten, sahen wir zunächst den völlig zerfetzten Schirm und dann auf dem grünen Moosboden eine vertraute bucklige Gestalt: Moritz Seligfeld!

Moritz rückte seine Brille zurecht und lächelte uns sichtlich verlegen an.

„Glück muß der Mensch haben,“ sagte er mit vorbildlicher Kaltblütigkeit. „Ohne Glück is nix zu machen … – Schad’ nur um meine Hos’ …“

Allerdings, seine ohnehin schon traurigen Beinkleider zeigten die Spuren der Baumäste in so drastischer Form, daß diese Hosen nicht einmal mehr als Schwimmhosen genügt hätten. Moritz nahm schnell seinen verwitterten Filz ab und benutzte ihn als Feigenblatt.

„Entschuldigen Se, – ich kann nix dafor,“ meinte er mit flüchtigem Erröten.

Harst betrachtete dieses Häuflein Unglück mit auffälliger Sorgfalt.

„Freund Moritz, Sie werden uns nun wohl einiges erklären müssen,“ sagte er merkwürdig ironisch. „Wollen Sie sich als Fallschirmkünstler ausbilden?! Ich denke, derartiger Sport ist kaum etwas für Sie, mein lieber Seligfeld oder wie Sie sonst noch heißen mögen.“

Moritz grinste beschämt: „Herr Harst, ob Sie’s glauben oder nich: Bloß die Neugier hat mich gelockt da nach oben. Ich wollt’ mir emol besehn die Hütte, und als ich die Tür fand offen, kam da ein Kerl aus ’s eine Zimmer und da hab’ ich aus Angst vor sein Pixtol genommen den großen Schirm, – na, und das is alles … Is war e Kerl wie ’n Riese, und er hätt’ mir umbringen getan, wenn ich nicht währ’ gesprungen … – ob Se’s glauben oder nicht …“

Er schielte zu Harst empor und kniff die Rattenaugen noch kleiner.

„Nein, ich glaube es nicht,“ erwiderte Harst sehr bestimmt. „Sie sind gar nicht der Mann gewesen, der mit dem Schirm den Sprung wagte … Ihre Hosen haben Sie mit dem Taschenmesser zerschnitten … das sind keine Risse sondern Schnitte … Außerdem: Der Springer trug einen grauen Sportanzug mit weichledernen Gamaschen. Sie lügen, Moritz … Sie suchen hier lediglich einen ohnedies recht dunklen Tatbestand noch mehr zu verwirren. – Wer war der Springer?“

Moritz Miene zeigte bitterste Enttäuschung. Er zuckte die Achseln, grinste wieder, um sein enttäuschtes Gesicht zu bemänteln, und meinte trotzig: „Was Sie da reden, das sein allens nur Finten, Herr Harst … Ich war’s, und dabei bleib’ ich, da is nix zu ändern …“

Ein Felsstück von gut anderthalb Zentner kam durch die Äste gesaust, schlug dicht neben uns auf einen verfaulten Baumstumpf auf und bespritzte uns drei von oben bis unten mit Baummoder.

 

 

Die Talmifabrik

 

1. Kapitel.

Professor Termoolen.

„… Er schmeißt nu mit Klamotten,“ sagte Moritz und säuberte seine verbogene Nickelbrille. „Glauben Se nu an den Kerl, Herr Harst?“

Der zweite Stein flog so dicht über Moritz’ Kopf hinweg, daß der bucklige Hausierer sich tief verbeugte. „Hm – ob er uns kann sehn von oben?!“ meinte er verwundert.

Harst packte ihn beim Arm und zog ihn dicht an den nächsten Lärchenstamm heran. Hier standen wir geschützt. „Sie sind ein seltenes Exemplar Ihrer Art, Herr Seligfeld,“ rief Harst etwas außer Atem. „Der Kerl hätte Sie beinahe getroffen, und …“

„Beinah’ is nich ganz, – da, Nummer drei!“

Das Felsstück zerplatzte auf kahlem Gestein, und ein Splitter zog eine rote Furche über Moritzens Wange.

„Wenn er nur nich mit’s Pixtol schießen tät,“ sagte Seligfeld leicht besorgt. „Wissen Se, er hatt’ auf sein Pixtol so e Trichter drauf. Ich glaube mann nennt das Knallschlucker oder so ähnlich … Aha – sagt’ ich’s doch! Er schießt, der Lump!“

Ja – er schoß … – Da der Baum uns drei nicht genügend deckte, wechselte ich den Platz. Meine Lärche war sehr dick, und als ich vorsichtig fast senkrecht nach oben spähte, sah ich droben vor der Hütte in dem Steinwall lediglich einen Arm mit einer Pistole, auf deren Lauf ein Maxim-Knallschlucker steckte. Von den Schüssen war nichts zu hören. Nur die Kugeln spürten wir.

Harst spähte ebenfalls nach oben, zog dann seine Klement hervor und hob den Arm.

„Lassen Se das!“ meinte Moritz jetzt fast befehlend. „Lassen Se das, Herr Harst. Ihre Schüsse werden unten rufen hervor e richtigen Alarm … – Kommen Se, – da is e Felsblock … Rasch – und von da werden wer den Kerl schon anders eins wischen aus …“

Der Schütze gab nun das zwecklos gewordene Feuern auf. Moritz mit seinen zerfetzten Hosen, die er notdürftig mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt hatte, kroch wie ein Wiesel vor uns her zum Rande des Abhangs und sprang von hier zu meinem Erstaunen auf denselben Grat hinab, den ich vorhin entdeckt hatte.

„Folge Se mir nur,“ meinte er schlicht.

Daß er diesen zweiten Zugang zu Oberspahns Höhentuskulum besser kannte als wir, konnte uns kaum mehr überraschen. Auf dem in die Tiefe führenden Grat waren wir vollkommen gedeckt, und nach einer Viertelstunde eiligsten Kletterns standen wie genau über dem Dache der Hütte hinter mehreren flachen Steinen, die hier wohl nur deshalb aufgestellt waren, damit man vom Tale aus nicht etwa zufällig mit einem Glase jemand hier erspähte.

„Scheene Aussicht,“ meinte Moritz leise. Und ihm war von Atemnot nichts anzumerken, während mir der Schweiß aus allen Poren drang und meine Lungen wie Blasebälge arbeiteten. – Er zog ein kleines Fernglas aus seiner Jacke, stellte es auf die Spielzeughäuschen von St. Moritz-Dorf ein und nickte nach einer Weile befriedigt. „Is gut so … Niemand hat nix bemerkt.“

„Sie sind der hartgesottenste Lügner, der mir je begegnete,“ sagte Harst noch leiser, aber doch ziemlich scharfen Tones. „Lady Gwendolyn Hooy suchen Sie mit Ihrem Perspektiv, Sie Schwindler! Lady Hooy war die Springerin. Sie trug denselben Reitanzug, mit dem sie schon einmal den Tatterfall im Badteil besuchte.“

Seligfeld steckte sein Glas ein. „Sie wissen immer alles besser, Herr Harst …! Gor nix wissen Se, gor nix … Se wollen mer ausholen … Da haben Se lang was dran. Der Moritz läßt sich eher die Zung’ ausreißen! Aber – so was is ja abjeschafft, es gibt nix mehr, keine Folter mehr … Also: Ich war’s! Beweisen Se das Gegenteil, he?!“

„Die Sachlage eignet sich wenig für derartige kleine Meinungsverschiedenheiten,“ lenkte Harald gutmütig lächelnd ein. „Glauben Sie, der Kerl ist noch in der Hütte?“

Moritz Seligfeld blickte auf das Hüttendach hinab. Es war mit Balken gedeckt, in denen sich nur ein kleines Dachfenster befand – neben dem kurzen, dicken Schornstein. Auf dem Dache lagen Felsstücke, Moos und Steingeröll.

„Bin ich e Detektiv?!“ erwiderte Seligfeld flüsternd. „Ich bin e armer kleiner Jidd, und mei’ Unglick is mein Herz … Aber ich denk’, er is noch da … Weil er nix kann weg von hier. Er kennt dissen Pfad hier nich – bestimmt nich … Und der andere da, den jeder kennen tut, den wird er, denk’ ich, nix runterklettern. Da sitzt der Professor Termoolen mit seiner Staffelei und pinselt Farb’ auf die Leinwand … Wenn Se die Bilder sehn, werd’n Se lachen. Den See malt er rot und die Gletscher grün und die Häuser blau und die Bäume lila … Man kriegt Magenschmerzen, aber ’s is modern.“

Der Holländer ein Maler?! – auch Harst flüsterte erstaunt: „Sie sind geradezu verblüffend gut über jede Kleinigkeit orientiert, lieber Moritz.“

„Ich wollte ich wär’s,“ murmelte Seligfeld mehr für sich. „Wär ich’s, dann kennten wir nu abfassen den Kerl. Aber wir werdn ihm nix finden, dem Gannef, dem, fürcht’ ich, und außerdem würd’ er uns eins auf ’n Pelz brennen, mein’ ich, denn keiner will gern gehn im Zuchthaus, denk’ ich … – Vielleicht läßt sich da aufmache das Dachfenster …“

Es ließ sich öffnen. Aber der Vogel war ausgeflogen. Wir durchsuchten die Hütte und die hinter ihr in der Steilwand liegende Grotte, die Oberspahn für uns vor Tagen als Gefängnis bestimmt hatte, so sorgfältig, daß wir unserer Sache völlig sicher waren.

„Hm – ich fürchte ich fürchte …“ sagte Seligfeld mißmutig, als wir draußen auf der Terrasse standen …

„Was denn?“

„Nu, ich fürchte der Professor lebt nix mehr … – Gehen wir, Herr Harst …“

Wir beeilten uns beim Abstieg auf dem bequemeren Pfad nach Kräften, – Moritz war immer zehn Schritt voraus. Als wir an die obere Grenze des Waldes kamen, sahen wir schon von weitem unter uns auf einem riesigen Felsblock, auf dem sich drei Lärchen erhoben, eine Klappstaffelei und ein Stühlchen stehen. Fünf Schritt weiter am Rande des allseitig sehr abschüssigen Blockes lag auf dem Gesicht ein Mann in einem Sportanzug. Als Moritz ihn umdrehte, prallte er zurück.

„Gott der Gerechte! Das ist der Lewis Brance, der, wo immer Forellen angelt!“

Er starrte Harst hilflos an. „Ob er noch lebt, Herr Harst?“

„Ja … Aber es ist höchste Zeit, daß er verbunden wird,“ – und Harst riß von seinem Oberhemd breite Streifen ab. – Ich half. Brance hatte einen Brustschuß über dem Herzen und schon viel Blut verloren. Er war ohne Besinnung, und sein blutloses, hartes Gesicht war fahl und verfallen.

Moritz packte die Staffelei zusammen und schnallte das angefangene Bild auf den Malkasten. „Herr Harst, – Se haben mer vorhin gefragt, ob ich den Kerl kenn’, der in der Hütte war,“ meinte er sehr geistesabwesend. „Ich sagt’, ich kenn’ ihm nix, und das is so … Se haben mer genannt e Schwindler: Das is so! Ich war wieder Lady Hooy gefolgt, aber ich war zu weit zurück … Sie kletterte den Grat rauf, und dann kamen Sie beide, und – na, ich hab’ also gelogen, gut. Ich wollt’ ich kennt’ dem Kerl …“ Er schaute grüblerisch auf Brance’s stille Gestalt. „Möglich, er war’s … Vielleicht muß er’s sein gewesen … Vielleicht hat der Professor schneller abgedrückt … Ich bin nix kein Detektiv … Ich find’ mer da nix zurecht. Eigentlich muß es ja gewesen sein der Brance.“

Harst meinte nur: „Später erörtern wir das alles … Packen Sie mit an …“

Wir hatten aus Ästen und aus unseren Jacken eine Tragbahre hergestellt. Eine Stunde drauf lag Brance sorgsam gebettet in der Meierei oberhalb von St. Moritz-Dorf. Ein Arzt war telephonisch herbeigerufen worden. Mit ihm zugleich trafen zwei Polizeibeamte ein, darunter der kleine quecksilbrige Polizeichef, der nun völlig den Kopf verlor. Ein Mordversuch hier in diesem Gebirgsparadies, – das war so unerhört, daß das Männchen beinahe überschnappte.

„Herr Harst,“ flehte er immer wieder, „nehmen Sie um Gotteswillen diese Banditen fest, die hier stehlen und morden und …“

Wir schritten zu viert jetzt zu Tal: Der Chef, Moritz, wir beide. Harst unterbrach den verstörten kleinen Herrn: „Werfen Sie nicht alles in einen Topf …! Ob Brance zu der Diebesbande gehört, ist durch nichts erwiesen. Wir werden sein Zimmer durchsuchen.“

Wir kamen am Wildpark vorüber. Am Gatter drängten sich die zahmen Hirsche und Rehe zusammen, und Moritz hüstelte und meinte bescheiden: „Hier hat der Herr Professor Termoolen auch mit seine Staffelei gesessen, und die Hirsch waren grün auf die Leinwand, – schad’ um die Farb’ … – Wo ist er nu?!“

Termoolen war nicht zu finden. Auch sein Zimmer im Hause Deister wurde durchsucht. Weder bei ihm noch bei Brance fanden wir irgend etwas Belastendes. Inzwischen war es Mittag geworden. Als wir jetzt eine Treppe höher in Moritzens Mansardenstübchen emporkletterten, nur wir drei, denn der Polizeichef wollte telephonisch alle Wege sperren, damit Termoolen noch erwischt würde, bevor er etwa italienischen Boden erreichte, kam uns auf der Treppe ein dürrer, gebückter älterer Mann entgegen, der einen Ballen Wäsche schleppte. Durch das breite Glasfenster des Daches fiel das Sonnenlicht auf sein gebräuntes, vergnügtes Gesicht. Moritz grüßte tief.

„Erlauben Se, Herr Deisler, – hier dies sind die Herren aus ’m Albana, die Berliner … Herr Harst und Herr Schraut, – und da, das is der alte Herr Deister …“

Nach einigen höflichen Redensarten betraten wir Moritzens ärmliches Gelaß, und Deister Senior stapfte die Treppe hinab.

Moritz hatte die Tür zugedrückt und lauschte.

„Nu – er geht, – gut … Wie gefellt er Ihnen, he?!“

„Ausgezeichnet,“ meinte Harald und trat an das schmale Fenster und beugte sich hinaus, wandte sich uns wieder zu und sagte mit einem bedrohlichen Ernst: „Freund Moritz, jetzt werden Sie endlich Farbe bekennen … Sie sind jener Angestellte des Berliner Detektivinstituts Sollux, von dem Kommissar Lücke uns erzählte.“

Seligfeld schüttelte wehmütig lächelnd den Kopf. „Herr Harst, ich bin e bettelarmer Jidd … Denken Se, ich bin verkleidet?! An mir is alles echt, Buckel, die Nos, – – alles … – Ich wollt’ ich wär’ verkleidet … Mit mein Ponem und mit mein’n angewachsenen Rucksack nimmt mer kan Institut … – Setzen Se sich …“

Von der Straße herauf erscholl ein so gellender Schrei, daß wir ans Fenster stürzten.

Unten vor dem Hotel Albana war Frau Gilda Tomahsen ohnmächtig dem patenten Oberkellner in die Arme gesunken.

Harst sagte dazu, indem er Moritz scharf musterte: „Haben Sie die Talmi-Imitation der Brosche der Frau Billinx wirklich im Rinnstein gefunden?“

Seligfeld betrachtete gesenkten Kopfes seine zerplatzten, geflickten Schuhe. „Nein, Herr Harst … Was einer wegschmeißt und was mann dann hebt auf, das is nicht Finden. Frau Tomahsen schmiß die Talmibrosche am See weg … Jetzt lüg’ ich nich’ …“

„Das weiß ich,“ nickte Harst.

 

2. Kapitel.

Gilda gesteht.

„… Ob Se mer glauben oder nich,“ begann Moritz, nachdem wir uns jeder eine Mirakulum angebrannt hatten, – „ich bin zu alldem jekommen nur durch die Lady Hooy. Se lache mer aus: Ich lieb’ ihr! Und weil ich bin geschlichen immer hinter ihr drein, hab’ ich so manches gesehn, was andere nix haben bemerkt. Und weil ich nix ganz bin auf’n Kopf gefallen, hab’ ich mir zusammengereimt allerlei, aber – es war gewesen alles Unsinn, denn ich bin nix ’e Detektiv wie Sie, Herr Harst. – Die Zigarett is gut … – Nu hör’n Se zu. Wenn die Lady mit ihre scheene traurige Augen is gegangen spazieren und is gekommen in ’n Wald drüben oder hier auf disse Seite von ’s Tal, immer is da noch einer gewesen, der ihr nachschlich … Ich kenn’ ihm nich … Er hatt’ ausgeschaut mal so, mal so … Aber er hatt’ gewußt von den Pfad, wo wir drei sein vorhin zur Hütte von dem großen Verbrecher rauf … – Also das is nu alles.“

„Wirklich? Alles?“ Harst fragte dies mit einer unmerklichen Handbewegung der Ungeduld. „Ihre unrichtigen Vermutungen interessieren mich ebensosehr wie diese magere Beichte, in der nur etwas als neuer Punkt auftaucht: Lady Hooys Verfolger.“

Moritz saß mangels eines dritten Stuhles auf der Bettkante. Sein Profil hob sich scharf gegen das offene Fenster und die Schneefelder des Piz Rosatsch ab. Er schüttelte leicht den Kopf und erwiderte, indem er behutsam jedes Wort abwog: „Ich bin nix kein Detektiv … Ich kann nix zusammenreihen die Dinge wie Perlen auf ’ne Schnur, daß sie fein aneinanderpassen. Bei mir kommt vielleicht ’ne große Perl’ ganz hinten ans Schloß von die Schnur. Ich hab’ mir gedenkt, der große Verbrecher Oberspahn-Alderspohn muß hier im Ort haben gehabt ’e Vertrauten, e Freund, auch e Ganeff wie er selbst, und dieser Ganeff hatt’s abgesehen gehabt auf den Blauen Hooy der Lady Gwendolyn. Wer rennt auch hier herum mit e Anhänger, wo is viele Tausende wert?! Das is wie Honig for die Wespen, sie kommen und wollen Honig stehlen, und der Moritz hat gewollt die Wespe verscheuchen.“ Er blickte Harst forschend an. „Nich wahr, das ’is Unsinn, Herr Harst?“

Harald schaute an Moritz vorüber in die grandiose Erhabenheit der weißen Bergspitzen. „Herr Seligfeld, es ist wahrscheinlich nicht Unsinn. Oberspahn dürfte hier mehrere Freunde haben, und diese dürften die Diebstähle im Albana nicht nur sorgfältig vorbereitet, sondern auch ausgeführt haben. Wenn Sie imstande sind, mir zu erklären, weshalb die Diebe sich die Mühe machten, von den Stücken, die sie stehlen wollten, vorher Imitationen herzustellen und diese dann ihren Opfern zurückzulassen, würde ich die Bande sehr schnell entlarven können.“

Moritz knetete seine braunen, schmalen Hände und grinste schwach. „Darüber hab’ ich mir auch schon meinen Kopf angestrengt,“ nickte er eifrig. „Es muß geben hier sozusagen e Takmifabrik, wo die Ganeffs sehr rasch anfertigen die unechten Stücke. Lady Hooys blauer Diamant, der Anhänger, war nachgemacht worden, Frau Billinx’ Brosche ebenso, und weiter noch drei andere Schmuckstücke … Nu, wer kann das so im Handumdrehen?! Das muß e Künstler sein mit ne ganze Werkstatt und mit viel Tinneffmaterial, eben einer mit ne Talmifabrik. Kann sein, der Lewis Brance steckt mit in die faule Geschichte, kann sein, der Brance is der Mann, der immer der Lady folgte wie ich … Ich weiß es nix. Er wird nu ja reden missen, wenn er wieder is bei volle Besinnung …“

Harst beugte sich plötzlich weit vor. „Es ist eine Anregung, lieber Moritz,“ sagte er lebhafter. „Ich danke Ihnen dafür. – Ob der Maler Termoolen hier Bilder los geworden ist?“

„Verkauft? – Und ob!“ Seligfeld fügte voller Geschäftsneid hinzu: „Termoolen soll e berihmter Mann sein … In Holland soll er e großen Ruf haben. Natürlich hat er verkauft … mindestens vier Bilder … Ich hätt’ nix gegeben fünf Franc dafor, die reichen Touristen zahlten tausende.“

„Mit Recht. In Termoolens großem Zimmer hier unter Ihnen sah ich noch zwei fertige Gemälde. Auch ich würde dafür einen Scheck mit vier Nullen ausstellen. – Wenn wir nur Termoolen erwischten! Vielleicht könnte er uns so manches erklären.“

Moritz hüstelte. „Hm, unter uns, Herr Harst: Ich glaub’, wir beid’ denken nun dasselbe … Man wird Termoolen nie kriegen, fürchte ich, – oder: man hat ihn schon!“

Harst stand auf. „Haben Sie Beweise, Moritz?“

„Nu ja, – einen sicher: Ich hab’ Brance und Termoolen nie gleichzeitig gesehen, nie beide zusammen, nie …“

„Aber der junge Deister behauptete, Brance habe mit Termoolen mal ein paar Worte gewechselt.“

Moritz blickte über seine Brille zu Harald empor. „Er lügt …!“ meinte er beinahe haßerfüllt. „Er lügt wie gedruckt, der schöne Natzi … Mir hat er gesagt, er hätt’ nie nix bedient die Lady Hooy, und die Resi, was die erste Gehilfin unten is, hat gräd’ gesagt, der Natzi lass’ nie nix ’nen andern an die feinen Damen ran, und das wär’ gemein wegen der Trinkgelder, sagt die Resi, was ein nettes Mädel is.“

Harald hatte sich an den Fensterkopf gelehnt und hob warnend die Hand. „Still, es kommt jemand …“

Es klopfte. Der Hausdiener aus dem Albana bat uns dringend, sofort Frau Tomahsen aufzusuchen, die soeben erst aus ihrer Ohnmacht erwacht sei und nach uns verlange.

„Gut, wir kommen,“ erklärte Harst. „Gehen Sie nur … Wir sind im Augenblick drüben.“

Der Hausdiener verschwand. – Moritz seufzte kläglich. „Ich möchte mit dabei sein … Ob sie leugnen wird?! Wenn sie tut leugnen, Herr Harst, dann denken Se an die Gondel. Immer abends fuhren die beiden, und meist ohne Gondelführer.“

„Ich hätte daran gedacht, lieber Seligfeld. Ich würde Sie auch mitnehmen, aber Sie sind doch nicht ganz im Bilde, was die Gemälde betrifft, und das ist gut. Allzu viel wissen ist Ballast …“ Er drückte Moritz zum Abschied die Hand. Der sagte noch, als ich schon die Tür öffnete: „Nu, den Ballast trag’ ich doch mit mir herum, Herr Harst. Ich bin nix e Detektiv, aber ich bin auch nix auf’n Kopp gefallen.“

Harst wandte sich rasch um. „Und auf Sie ist Verlaß?“

„Wie auf’n Grab … N’ Grab redt nix, der Moritz auch nich.“ –

Gilda Tomahsen sah erbärmlich aus. Der Diwan, der ihre schöne Gestalt trug, stand schräg vor dem Fenster.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind …“ – sie roch an einem Riechfläschchen, hustete und fragte noch leiser: „Ob man Termoolen verhaften wird?“ Ein paar Tränen rollten über die Puderschicht ihrer Wangen.

Harst rückte seinen Stuhl ganz nahe an das Kopfende des Diwans. Er blickte Gilda ruhig an und erwiderte: „Ging es Ihnen pekuniär so schlecht, daß Sie zu solchen Mitteln greifen mußten?!“

Die bezaubernde Frau versuchte ein wenig Komödie zu spielen. „Ich verstehe Ihre Frage nicht, Herr Harst, wirklich nicht …“ – Ihre Augen senkten sich, und ihre Hand führte das Riechflacon wieder unter die Nase. „Wir leben in durchaus geordneten Verhältnissen, Herr Harst, und …“

„Ja, jetzt …!“ meinte Harald vorwurfsvoll. „Jetzt, nachdem Termoolen hier wieder Absatz für seine Bilder gefunden hat, nachdem er außerdem eine persönliche Note als Künstler sich angeeignet hat.“

Sie richtete sich mit einem Ruck auf. Ihre Augen waren weit und voller Angst. „Was geht … mich Termoolen an?!“ flüsterte sie mit brüchiger Stimme.

„Der echte Termoolen dürfte in Amsterdam sein und nicht ahnen, daß sein dänischer Kollege Holger Tomahsen hier als Termoolen wirkt …“ entgegnete Harst nachsichtig. „Seien wir ehrlich – in allem, gnädige Frau … Brance und Termoolen sind ein und dieselbe Person, und diese Person ist eben Holger, Ihr Gatte.“

Sie sank aufschluchzend zurück. „Mein Gott, nun ist alles verloren,“ klagte sie kaum verständlich. „Als Sie hier im Albana abstiegen, habe ich Holger angefleht, schleunigst abzureisen …! – Gott im Himmel, wie werde ich das alles ertragen?! Was habe ich nicht schon gelitten, wie jämmerlich bin ich mir vorgekommen, als ich die Kranke spielte, – wie entsetzlich waren die Nächte, nachdem ich noch in Holgers Tasche …“

„Sprechen Sie getrost weiter. Sie fanden in Ihres Gatten Tasche die Similibrosche, die Sie nachher wegwarfen, und Ihr Gatte brauchte Ausflüchte, wie er zu der Brosche gekommen sei. Ich denke, diese Ausflüchte sind leichter und harmloser zu erklären, als Sie es vermuten, Frau Tomahsen. Holger wird die Brosche gefunden haben und hielt sie für echt und behielt sie, eben weil er sie als wertvoll erachtete. Sie Ärmste jedoch legten sich das alles weit ärger aus. Sie wußten als Zimmernachbarin Lady Hooys, daß deren Anhänger gestohlen war …“

„Ich … sah, daß sie eine Imitation trug, ich verstehe etwas von Edelsteinen.“

„… Und Sie sahen auch Frau Billinx echte Brosche und hielten Holger für den Helfershelfer einer Diebesbande. Sie tun ihm Unrecht. Seine Schuld besteht lediglich in seinem hiesigen Auftreten als Termoolen. Die Diebe sind anderswo zu suchen, glauben Sie mir. – Ihr Gatte fand die Brosche wo?“

Gilda Tomahsen weinte nicht mehr. „Oh – wie soll ich Ihnen danken!“ flüsterte sie mit einer Inbrunst, die am besten bewies, wie sehr sie Holger liebte. „Nun mag geschehen, was da will: Er ist kein Dieb!! Alles andere wird sich irgendwie einrenken lassen. – Wo er das unglückselige Ding fand? Mir sagte er, auf dem Treppenpodest vor seinem Zimmer …“

„So – vor seinem Zimmer, sehr möglich …“ sagte Harst und hob Gildas Riechflacon vom Teppich auf. „Und das andere nun, – daß er nebenbei Lewis Brance spielte. Er ist wohl eifriger Angler, und bei schlechtem Wetter kann man durch Forellenfang immerhin die Unkosten des Lebensunterhaltes herabsetzen.“

Gilda betupfte ihre Wangen. „Holger verkaufte die Forellen im Dorfe Samaden, einen Teil ließ er für sich durch die alte Frau Deister herrichten.“

„Ganz wie ich es mir dachte … – Wie geht es ihm? Haben Sie Nachricht?“

„Der Arzt, bei dem er als Patient untergebracht ist, gab telephonisch dem Oberkellner Auskunft. Es besteht keinerlei Gefahr für ihn …“

„Das freut mich. Er wird als Lewis Brance genesen, Frau Tomahsen, und Professor Termoolen bleibt eben unauffindbar.“ Er nickte Gilda gütig zu, zog sein Scheckbuch hervor und auch den Füllhalter. „Zwei Gemälde Termoolens sind noch unverkauft … Bitte – nehmen Sie nur … Ich werde die Gemälde für mich beanspruchen als Lohn für die Entlarvung der Gaunerbande hier … Nehmen Sie, seien Sie nicht kleinlich …“

Gilda weinte, aber der Scheck bleibt in ihrer Hand.

 

3. Kapitel.

Wo Gepp lag.

„Du sagtest doch, Alarich Gepp sei hier?“

Wir saßen unten im Gesellschaftszimmer des Hotels in weichen Sesseln, und die Sonne ließ alle Farbenschönheiten der echten Teppiche freudig aufleuchten. Wir hatten droben im Zimmer Gildas eine glückselige Frau zurückgelassen. – Wir waren hier allein, und nirgends konnten wir schwerer belauscht werden, als in diesem großen, behaglichen Raume. Die Fenster nach der Straße hin standen offen, Autos rollten vorüber, kleine Wägelchen ratterten vorbei … Harst drehte sich halb um und blickte seitwärts hinaus … „Alarich Gepp ist hier … Vielleicht hat er zur Zeit lebhaftes Interesse für die Schaufensterauslagen des Salon Deister, mein Alter.“ – Ich sprang auf und sah drüben am Schaufenster einen uralten schäbigen Gebirgler stehen – einen greisen Bettler mit grünem Filz und Spielhahnfeder und weißem Patriarchenbart …

„Der war ja gestern abend am See, Harald, als …“

„Der ist immer dort, wo es was zu sehen gibt. Moritzens Kragenwäsche interessierte ihn außerordentlich, und der geangelte Anhänger noch mehr. Ich bin nur neugierig, wieweit Alarich Gepp orientiert ist.“

Ich beschaute mir den alten Älpler. „Das soll Gepp sein?!“

„Gepp hat tausend Gesichter, meinte Lücke mal.“

Der angebliche Gepp betrat den Salon Deister.

„Harald, er ging soeben hinein …“

In das Haus … Die Haustür führt aber nicht nur in den Salon, sondern auch zu Moritz nach oben … – Komm’, vielleicht habe ich recht.“

Als wir die Treppen emporstiegen, öffnete sich im ersten Stock eine Flurtür und eine große, hagere, grauhaarige, grobknochige Frau fragte uns, zu wem wir wollten, – hier gäbe es keine freien Zimmer mehr.

„Zu Herrn Seligfeld wollen wir,“ erklärte Harst höflich.

„Bitte, – oben in der Mansarde,“ und die Frau schlug die Tür mit einem Krach zu, daß das ganze Haus zitterte.

Harst brummte etwas vor sich hin …

„Wie meintest du?“

„Die Tür, meine ich … Sie gefällt mir nicht, – keine Tür, die man so zuwirft …

Er hatte es sehr eilig, und oben bei Moritz klopfte er recht derb an und trat ein, obwohl sich drinnen niemand meldete. Moritzens Stübchen war leer.

Harald schaute sich wie suchend um.

„Findest du nicht auch, daß der fadenscheinige Teppich arg verrutscht ist?!“

Er ging zum Bett, dessen blaue billige Decke bis zu den Dielen herabhing, hob die Decke hoch, bückte sich und faßte unter das Bett und zog den leblosen Körper des alten Mannes hervor.

Alarich Gepps weiße Perücke war in den Nacken geglitten, der Bart hing halb herab, und die Stricke um Hände und Füße und der Knebel im Munde sowie eine blutrünstige Stelle vorn am Haaransatz besagten alles.

Dies war unser Wiedersehen mit Gepp nach sechstägiger Trennung.

Nun, Gepp hatte eine Pferdenatur, und als er erst leidlich wieder bei Sinnen war, meinte er erstaunt:

„Ich hätte dem Moritz niemals die Kräfte zugetraut! Solch’ ein buckliger Lump, kaum bin ich hier in der Stube, als er mir auch schon mit einem Gummiknüttel eins auswischt – und es genügte. – Ich danke Ihnen, Harst. Vielleicht hätten die Schufte mich kalt gemacht.“

Ich fiel so ziemlich aus allen Wolken.

„Moritz muß Sie verkannt haben,“ verteidigte ich Freund Seligfeld.

Gepp lächelte nur, und Harst sagte sichtlich amüsiert: „Natürlich – verkannt! Eine Krähe hackt der anderen doch mal die Augen aus.“ Worauf Kriminalkommissar Gepp Harst mißbilligend anstarrte und meinte: „Sie sollten wiesen, daß es in der Schweiz nur Raben und Dohlen gibt, Krähen sind selten.“ Dann zog Gepp eine Tube Klebstoff hervor, klebte sich den Bart wieder fest, fischte unter dem Bett seinen Filz hervor und sagte gleichmütig: „Ich habe mich schon bedankt. Also leben Sie wohl, meine Herren. Ich arbeite nicht gern mit anderen zusammen. Die Diebstähle im Albana sind übrigens Bluff. – Auf Wiedersehen später … Folgen Sie mir nicht. Es hätte keinen Zweck, ich habe unten ein geschlossenes kleines Auto bereit. Moritz Seligfeld wird sich wundern.“

„Sie auch, Herr Gepp!“ rief Harald, aber Gepp schloß schon die Tür und stieg schnell die Treppen hinab.

Mein verdutztes Gesicht erweckte in Harsts rätselvoller Brust ein dröhnendes Gelächter.

„Lieber Alter, du solltest ihn doch bereits kennen. Gepp ist ziemlich unverdaulich. Seine Herren Vorgesetzten behandelt er wie Hanswürste, mit den Kollegen spielt er Schindluder, und uns beide hält er für bessere Narren mit Detektivfimmel. Der Mann gefällt mir ausgezeichnet. Er ist in seiner Art zu redselig. Daß er die Diebstähle im Albaner als Bluff bezeichnete, hat mich auf eine neue Spur geführt. – Gehen wir. Der Ober in unserem Hotel weiß alles, den werde ich fragen.“

Im Hotelbüro stand der Ober katzbuckelnd vor uns. Seine Verneigungen waren allzu devot. Sein Lächeln zu höflich. Sein Smoking saß zu tadellos. Seine Lackschuhe und Beinkleider waren ebenso erstklassig. „Bitte, fragen Sie, Herr Harst …“

Harst im Schreibsessel musterte den Geschniegelten bewundernd. „Sind Sie schon lange im Albana, Herr Oberkellner?“

„Vier Jahre, Herr Harst.“

„Dann kennen Sie hier wohl so ziemlich alles und alle …?“

„Gewiß, Herr Harst … Haben Sie besondere Wünsche?“

„Sie brauchen sich nicht derart in Überhöflichkeit zu erschöpfen. Wir werden die Diebe fangen.“

„Oh, – mir fiele ein Stein vom Herzen …“

„Hoffentlich ist der Stein harmloser als die Felsbrocken.“

„Pardon, – wie meinen Sie das, Herr Harst?“

„Ein Scherz … – Seit wann ist der Hausierer Moritz Seligfeld hier?“

„Hm – vielleicht zwei Wochen …“

„So … so, zwei Wochen. Und Lady Hooy?“

Der elegante Ober stutzte. Sein zumeist kühl-verschlossenes Gesicht mit dem eingefrorenen Lächeln wurde starr, steinern.

„Seit wann also?“

„Oh – genau dreizehn Tage …“

„Dreizehn, eine ominöse Zahl, Herr Ober. – Ist das Gemäuer über der Blockhütte des Herrn Oberspahn eine Burgruine und irgendwie zugänglich?“

„Verzeihung, – ein Gemäuer?! Das ist ein Irrtum, Herr Harst. Die Felsen machen nur den Eindruck von Ruinen. Die Gäste haben die Bergkuppe Geisterberg getauft, weil man in den zackigen Felsen verschiedentlich Licht gesehen haben will, aber das ist natürlich ein Märchen, die Kuppe ist noch nie erklettert worden. Lord Percy Hooy machte im vorigen Herbst den Versuch, aber …“

„War die Mutter Lord Percys einmal hier in St. Moritz?“

Harsts Maschinengewehrfeuer von Fragen ließ den Ober stottern …

„Lady Palmyra Hooy – gewiß …“

„Wann sahen Sie sie zum letzten Mal?“

Der Gefragte schien plötzlich heftige Schmerzen zu empfinden.

„Lügen Sie nicht! Wann?!“

„Vor vier Tagen, Herr Harst,“ flüsterte der Smoking … „Aber ich bitte Sie inständigst, Herr Harst, dies nicht etwa Lady Gwendolyn mitzuteilen, denn die alte Lady, der ich nur zufällig in Samaden begegnete, hat mir strengstens befohlen, ich solle …“

„… schweigen – natürlich.“

„Oh - sie ist fürchterlich,“ stöhnte der Ober. „Wenn sie hier absteigt, sehnen wir den Tag herbei, an dem sie wieder abreist.“

„Wo wohnt sie denn jetzt?“

„Ich weiß es nicht … wirklich, ich weiß es nicht, ich hätte auch nie gewagt, sie danach zu fragen, sie kann unglaublich grob werden.“

„Danke. – Ist Lady Gwendolyn auf Ihren Zimmern?“

„Jawohl … Nach dem Reiten pflegt sie immer zu ruhen, und sie ritt heute wieder im Tatterfall …“

„Zirkus nennen sie das hier, und Theater sollte man’s nennen,“ lächelte Harst und schritt zur Tür. „Lady Gwendolyn liebt den Sport … ich weiß. Nächstens wird sie auch fliegen, nehme ich an.“

Der Ober stierte uns mit offenem Munde nach. Der Ober behagte mir in keiner Weise.

 

4. Kapitel.

Die Talmifabrik.

Der Lift hielt, und das Stubenmädchen ging uns anmelden, kehrte zurück und erklärte, Mylady habe zwar Besuch, wolle uns jedoch trotzdem empfangen.

Der Salon Gwendolyn Hooys lag nach dem See hinaus. Die seidenen Fenstervorhänge waren der Sonne wegen geschlossen, und der schlanke Herr im grauen Anzug, der uns als Mr. Giles Tirom vorgestellt wurde, hatte ein fades, rasiertes Besicht und einen sehr dünnen semmelblonden Scheitel. Sein randloses Monokel am Seidenband konnte diesen ausdruckslosen Zügen keinerlei Reiz verleihen, und sein Englisch klang so unverfälscht nach Londoner Luft, daß die ernste, bedrückende Gwendolyn kaum hätte hinzuzufügen brauchen, Mr. Giles Tirom sei ein früherer Kollege von ihr und Schauspieler in London. „Ich habe vor Giles, der mein Freund ist, keinerlei Geheimnisse, Mr. Harst. Sprechen Sie also ohne jede Scheu …“

Giles Tirom sagte steif: „Außerdem bin ich durchaus verschwiegen – selbstverständlich.“

Das Dämmerlicht hier störte mich. Lady Gwendolyn saß noch dazu mit dem Rücken nach dem Fenster, und als Harst fragte, ob sie sich bei dem kühnen Sprung mit dem Schirm nicht verletzt habe, entgegnete sie kopfschüttelnd:

„Sprung?! Ich fiel heute leider im Zirkus vom Pferde.“

„Der Zirkus war der Wald unterhalb der Blockhütte, Lady Hooy. – Liegt Ihnen nichts mehr daran, den Blauen Hooy zurückzubehalten?“

Sie schwieg sekundenlang. „Oh, mir liegt sehr viel daran, Mr. Harst.“

„So?! – Was taten Sie heute droben in der Hütte?“ Giles Tirom sagte unfreundlich: „Haben Sie immer diese eigentümliche Art, Damen auszufragen, Mr. Harst?!“

„Ich kann auch anders fragen, Mr. Tirom … gewiß. Seit wann sind Sie denn in St. Moritz …? Übrigens eine Ortsbezeichnung, die, ins Deutsche übertragen, recht komisch wirkt: Heiliger Moritz!“

Giles Tirom erwiderte kühl: „Das dürfte Sie kaum interessieren, Mr. Harst.“

„Ganz recht, zumal ich genau weiß, wie lange Sie hier weilen: Zwei Wochen.“

„Erstaunlich! In der Tat erstaunlich. Und woher diese Kenntnis?“ Giles lächelte frech.

„Von dem Oberkellner. – Lady Hooy, Sie waren heute drüben in der Hütte. Ich nehme an, jemand hat Sie dorthin bestellt. Vielleicht durch einen Brief, dessen Handschrift Sie zu kennen glaubten?!“

Gwendolyn konnte eine Bewegung höchster Überraschung nicht unterdrücken. Trotzdem erklärte sie, wenn auch ohne jede Überzeugungstreue: „Sie irren sich wirklich, Mr. Harst.“

„Ich finde,“ sagte Harst ironisch, „Mr. Giles Tiroms Erscheinen hat Ihre Wahrheitsliebe schlecht beeinflußt. – Der Brief trug die Unterschrift Ihres Gatten, Mylady, wie ich vermute, war aber eine Fälschung. Sie gerieten so in eine Falle, und nur Ihre Kühnheit rettete Sie, außerdem auch Moritz Seligfeld, Ihr stiller Verehrer. – Ich möchte Sie nicht weiter zwingen, sich um Ausflüchte zu bemühen. Was ich wissen wollte, weiß ich nun. Sie schenken jetzt anderen Herren mehr Vertrauen als uns, – ich finde mich damit ab. Möglich, daß Sie es noch bereuen … – Wir empfehlen uns …“

Mr. Giles Tirom brummelte noch etwas von „Unerhörtes Benehmen“, – dann standen wir wieder im Flur vor dem Lift, der schnurrend nach oben kam.

In unserem Zimmer fragte ich Harst, wer denn nun eigentlich dieser ekelhafte Giles sei.

„Das ist der Mann von der Blockhütte, – ich gebe dir mein Wort darauf!“ entgegnete Harst und rieb ein Zündholz für eine Zigarette an.

„Wie, – der Kerl, der Gwendolyn Hooy zu dem Sprung in die Tiefe zwang und der beinahe Holger Tomahsen erschossen hätte?!“ Ich glaubte, er hielt mich zum besten.

Da es jedoch klopfte und der nervöse Polizeichef hereinstürmte: „Moritz Seligfeld ist entflohen!“ rief er, – wurde Harald einer Antwort überhoben.

„Herr Harst, er ist nirgends aufzufinden,“ jammerte der Chef. „Solche ein wichtiger Zeuge! Ich habe jetzt übrigens einen Beamten in die Hütte als Wache einquartiert mit zwei scharfen Hunden.“

„Sehr bedauerlich!“

„Weshalb?“

„Weil Schraut und ich sofort hinaufwollen. – Geben Sie mir ein Schreiben für den Mann mit. Wir beide werden dort wachen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß bis heute abend die Diebe festgestellt sind.“

Der Chef fiel Harst beinahe um den Hals. –

Beim Anstieg legte Harald wieder ein Tempo vor, daß mir die Lust zum Fragen und auch die Luft zum Atmen verging. Während einer kurzen Rast bekam ich sanfte Wadenkrämpfe. Diese Tagesleistung war eben zu viel für einen Amateurkletterer. Massage half, und leicht gereizt fragte ich: „Wie ist das nun eigentlich mit Moritz Seligfeld?! Und was sollen wir droben in der Hütte?!“ – Wir saßen auf dick bemoosten Steinen unweit des großen Felsens, wo wir Holger Tomahsen mit dem Brustschuß aufgefunden hatten. Wir hatten den bequemeren Weg über die Alp Statz gewählt, und in einer weiteren halben Stunde konnten wir am Ziele sein.

„Moritz?“ sagte Harst und beschaute die Sohlen seiner genagelten Schuhe. „Ich nehme an, er wird jetzt soupieren, falls er nicht mit Alarich Gepp ein neues Renkontre hat. Und die Hütte, – vielleicht finden wir dort noch den Steinwerfer vor.“ Er sprach das ganz ernst, und seine folgenden Sätze waren nur eine leidlich befriedigende Erklärung für seine Hoffnung, den unbekannten Mordgesellen da oben zu stellen. „Der Mann ist zweifellos nach dem Mordanschlag auf Holger Tomahsen, den er für Termoolen hielt, in sein Versteck zurückgekehrt. Er fühlt sich anderswo nicht mehr sicher. Er mag erwartet haben, der Schuß sei tödlich gewesen und habe ihn von einem gefährlichen Mitwisser befreit. Ich will damit nicht sagen, daß Frau Gildas Gatte etwa mit dem Manne verbündet sei. Nein, Tomahsen wäre nur in der Lage gewesen, der Polizei wichtige Fingerzeige zu geben.“

Ich knetete noch immer meine empfindliche Wade. „Die Geschichte bleibt mir ziemlich schleierhaft, Harald. Nur in einem Punkte glaube ich klar zu sehen: Der Oberkellner aus dem Albana ist kein harmloser Smokingträger, sondern …“

„Brechen wir wieder auf!“ – und ich war so klug wie zuvor.

Der Polizeibeamte saß mit seinen Hunden, die durchaus reinrassige Bernhardiner waren, auf der Terrasse im Sonnenschein und hatte seinen Karabiner auf den Knien liegen. Ihm schien sein Auftrag wenig zu behagen, und mit sichtlicher Erleichterung seines friedfertigen Herzens zog er samt seinen ebenso lammfrommen, mächtigen Rüden ab. Wir blickten ihm nach, und kaum war er unterhalb des Schneestreifens im Walde verschwunden, als Harald die Hütte betrat und die Tür, die in die Grotte führte, aufschloß und hier in der geräumigen Höhle mit ihren Bretterzwischenwänden gerade diesen Wänden besondere Beachtung schenkte. Sie reichten fast bis zu der unregelmäßigen Decke empor, und die eine zeigte im Lichte unserer Taschenlampen deutliche dunkle Kratzer von Stiefelspitzen. Harst schwang sich empor, setzte sich auf das oberste Brett und befühlte die Felsendecke, – er suchte einen Zugang zu dem sogenannten Geisterberg, eben eine Spalte, die sich durch das Gestein nach oben zog.

Er fand, was er suchte. Man hatte hier den alten Trick angewandt und die Öffnung der Spalte durch ein Brett verschlossen, das in eisernen Gelenken beweglich und mit dünnen Steinplatten benagelt war, so daß diese Falltür vollkommen der grauschwarzen Umgebung glich. – In diesem Felskamin hing eine schmale eiserne Leiter an mehreren Eisenhaken, die mit Blei in den Fels eingegossen waren. Die Leiter hatte achtzig Sprossen, war aus mehreren Stücken zusammengenietet und endete unter einer ähnlichen Falltür. Sie ließ sich unschwer emporheben. Zu unserem Erstaunen standen wir nun in einem kleinen Zimmer mit zwei großen Fenstern und allerhand Möbelstücken. Ein Holztisch war mit Werkzeugen aller Art bedeckt. Lötlampen, Schraubstöcke, Metallstücke, drei Glasschalen mit Similisteinen und künstlichen Perlen verrieten uns, daß wir uns in der Talmifabrik befanden. – Eine Holztür im Hintergrund deutete noch auf einen zweiten Raum hin. – Wir mußten vorsichtig sein. Harst schlich zur Tür, nahm die entsicherte Clement in die Rechte und öffnete ganz behutsam. In diesem zweiten Stübchen dieses mitten in die Felszacken des Geisterberges sehr geschickt hineingebauten Steinhäuschens, von dessen Existenz bisher nur Oberspahn und seine Bande Kenntnis hatten, lag auf einem Bettkasten auf wollenen Decken und mit Moos gepolsterten Säcken ein schlafender Mann mit grauem Spitzbart und grauem vollen Haar. Das gebräunte magere Gesicht war von tiefen Falten durchkerbt. Eine kühne schmale Nase und ein Mund mit dünnen Lippen verliehen dem Fremden etwas Brutal-Energisches. Auf einem Holzschemel neben diesem Älplerlager bildeten eine Repetierpistole, eine Damenhandtasche aus Krokodilleder, mehrere Brillantringe, ein Kognakfläschen und … der Blaue Hooy an seinem Platinkettchen ein verdächtiges Stilleben. Der Mann atmete tief und ruhig, und als Harst nun den echten Blauen Hooy vorsichtig gegen die Imitation austauschte, die er aus seiner Tasche hervorzog, rührte sich der Schläfer immer noch nicht.

Harst stand eine Weile regungslos und schien über irgend etwas angestrengt nachzudenken. Dann raunte er mir ins Ohr: „Du siehst hier eine Mutter, die in der Liebe zu ihrem einzigen Sohne weit über die Grenzen dessen hinausging, was man mütterliche Fürsorge nennt.“

Ich starrte die verkleidete Lady Palmyra Hooy wie ein Gespenst an. Ich begriff jetzt alles, und mir graute vor dieser Frau, die heute vormittag vielleicht ihre Schwiegertochter getötet hätte, wenn Gwendolyn nicht den tollkühnen Fallschirmsprung gewagt haben würde. Sie also hatte Gwendolyn durch den gefälschten Brief hierher gelockt, sie wäre beinahe auch Tomahsens Mörderin geworden! Und all das aus blindem Haß gegen Gwendolyn, geborene Lany, einstige Schauspielerin!!

Harst hustete stark, und blitzschnell fuhr das Weib empor. Sie war im Nu völlig munter. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet weder Bestürzung noch Angst. Ihre harten scharfen Augen glitten feindselig über uns hin, und als Harst jetzt die Pistole vom Schemel nahm, packte sie gleichfalls zu, freilich zu spät.

„Lady Hooy, ich werde mich nicht zum Richter über Ihre Taten aufwerfen,“ meinte er kalt. „Jedenfalls sind Sie entlarvt, und es wäre gut, wenn Sie schleunigst fliehen wurden. Ich weiß, daß ein Mann, den Sie für Professor Termoolen hielten, Ihre Doppelrolle hier gekannt hat und daß Sie ihn töten wollten. Ich weiß auch, daß Sie Ihre Mitschuldigen nicht verraten werden. Den echten Blauen Hooy habe ich nun, und das weitere geht mich nichts an.“

Lady Palmyra Hooy beugte sich vor, ergriff den falschen Blauen Hooy, betrachtete ihn und brach in ein hysterisches Gelächter aus.

Wortlos verließen wir das Steinhaus und stiegen schnell in die Hütte hinab und traten den Rückweg an.

 

5. Kapitel.

Der wahre Sieger.

Harst sprach nicht ein Wort während dieser anderthalb Stunden. Es war sechs Uhr, als wir St. Moritz-Dorf erreichten. Die Sonne stand bereits hinter den schroffen Zacken des Piz Nair, und der See schimmerte smaragdgrün und geheimnisvoll und schien von den Wintersportfesten zu träumen, wenn auf seiner blanken Fläche die Eislaufmeisterschaften unter dem Jubel von Tausenden ausgetragen wurden.

Ich war hungrig und müde, und es war mir ganz recht, daß Harald vorschlug, wir sollten uns im Salon Deister noch schnell zur Erfrischung die durchschwitzten Häupter waschen und massieren lassen.

Als wir die Diele mit den Korbmöbeln betraten, tauchte vor uns dasselbe grobknochige, große Weib auf, das uns mittags im Treppenhause begegnet war. Im übrigen war der Raum leer. In der Luft hing der fade Geruch von Seifen, Parfüm und Qualm von Brennscheren, die einem Bubikopf die ersehnten Wellen verleihen. Die grauhaarige Frau musterte uns flüchtig und lächelte kriecherisch.

Harst trat ganz dicht auf sie zu. „Frau Deister, es wundert mich, daß Kommissar Gepp Sie noch nicht verhaften ließ“ sagte er ganz leise. „Sie haben Gepp hier oben im Mansardenstübchen niedergeschlagen. Sie hätten auch uns beide kaum wieder ins Freie gelassen, wenn wir Gepp nicht gefunden hätten.“

Die Frau wurde totenbleich. Sie öffnete den Mund, aber nur ein heiseres Lächeln kam über ihre fahlen Lippen. Ihr verzweifelter, hilfloser Blick irrte zu einer der Kabinen hin, zu dem geschlossenen Vorhang, und es war wie höllische Ironie, als aus jener Kabine nun des schönen Natzi ölige Stimme ertönte: „Der Flapperkopf wird sich niemals durchsetzen, gnädige Frau. Ihm fehlt das Eigenartige, ihm fehlt die Möglichkeit der persönlichen Note.“

Harald gab mir einen Wink. Ich ließ Frau Deister nicht aus den Augen. Er selbst ging zu dem Vorhang, streckte die Hand in die Kabine hinein, und diese Hand hielt etwas, das dem schönen Natzi einen kurzen Schrei entlockte.

In dem Frisierstuhl saß eine Dame im weißen Frisiermantel. Das Brillantkreuz auf ihrer Brust schillerte in allen Farben.

„Haben Sie bereits einen Wachsabdruck von dem Brillantkreuz genommen?“ fragte Harst in die Kabine hinein. „Oder war die Imitation dieses Schmuckes bereits fertig, Herr Ignatz? Hatte Ihr Vater, der frühere Goldarbeiter, sie schon in der Talmifabrik auf dem Geisterberg hergestellt, damit Sie Echt gegen Unecht hier bei Ihrer Arbeit vertauschen könnten?! – Es sind ja niemals Diebe in die Zimmer des Albana eingedrungen. Das hatten die Diebe gar nicht nötig. Beim Herrichten schöner Frauenköpfe ließ sich bei einiger Fingerfertigkeit so leicht Talmi gegen Gold, Platin und Diamanten auswechseln. Ich glaube, Lady Gwendolyn Hooys Anhänger war der Anfang der Dinge, Herr Deister Junior. Nun – Immerhin entbehrt Ihr Gaunertrick nicht der Eigenart und hat bestimmt eine persönliche Note. Vielleicht können Sie Ihren Trick in der Zurückgezogenheit einer Gefängniszelle noch vervollkommnen … – Schraut, rufe die Polizei an … – Man sollte diesen Salon besser Salon Geisterberg taufen.“

Die verstörten Gesichter der Angestellten bildeten Spalier, als der zappelige Polizeichef mit seiner Garde die drei Deisters nach Numero Sicher brachte. –

„Mylady hat zwei Herren als Gäste zu Tee …“ erklärte der Herr Ober. „Aber ich werde Sie sofort anmelden, Herr Harst …“

Als wir Gwendolyn Hooys Salon betraten und sie uns liebenswürdig entgegenkam, glänzte auf ihrer Brust in mildem Feuer an einem Platinkettchen ein bläulicher, wundervoller Stein.

Harst vergaß fast eine Verbeugung, so angestrengt blickte er auf den herrlichen Schmuck. Ich als Nebenfigur vergaß die Verneigung tatsächlich, Gwendolyn lächelte etwas müde.

„Die Herren kennen sich ja … – sie deutete auf ihre Gäste, die sich erhoben hatten.

Mir flimmerte es vor den Augen: Der eine war Mr. Giles Tirom mit dem Monokel, der andere aber war bis ins Einzelne … die verkleidete Lady Palmyra, die wir doch droben in dem Steinhäuschen zurückgelassen hatten. Und diese Lady Palmyra sagte nun mit einer uns nur zu bekannten, wohllautenden Männerstimme: „Lieber Harst, Sie dürfen mir den kleinen Scherz nicht verargen. Ich wußte, daß Sie den Geisterberg erklimmen würden, ich stellte mich schlafend, ich glaubte, mein Gelächter würde Sie stutzig machen. Was Sie vom Schemel aufnahmen, war nur eine zweite Imitation des Blauen Hooy. Den echten Hooy hatte ich bereits Lady Palmyra abgenommen, die jetzt schon auf den Wege in eine Heilanstalt ist, denn sie ist zweifellos geistig nicht normal, sie hat die Deisters bestochen gehabt, von ihr stammte der Plan zu den Diebstählen, sie wollte Lady Gwendolyn eben von ihrem Gatten trennen, und die anderen Diebstähle des schönen Natzi sollten den Tatbestand nur verwirren.“

Alarich Gepp streckte Harst die Hand hin. „Also – nichts für ungut, lieber Harst … Ich habe Ihnen ja den Triumpf gegönnt, das Deisternest auszuheben.“

„Danke verbindlichst,“ meinte Harald lachend und klopfte dann Mr. Tirom auf die Schulter. „Es bleibt mir außerdem noch ein Trost, nämlich der, daß ich in Ihnen, Mr. Tirom, sofort Freund Moritz Seligfeld erkannt habe. Ihr Name Giles Tirom glich von rückwärts doch zu sehr unserem lieben Moritz Seligfeld. Wie heißen Sie nun eigentlich mit richtigem Namen?“

Da sagte Gepp sehr entschieden: „Mag’s bei Giles Tirom bleiben …! Genau so wenig, wie ich mein wahres Gesicht jemandem zeige, soll mein bester Mitarbeiter seinen wahren Namen der Öffentlichkeit preisgeben. – Lady Hooy, Sie gestatten, daß Giles und ich uns verabschieden … Unser Zug geht um sieben Uhr dreißig ab …“

Als die Tür zugefallen war, meinte Gwendolyn Hooy, indem sie jedem von uns eine Hand hinstreckte: „Heute speisen wir drei gemeinsam an einem Tische, meine Herren. Und übermorgen … kommt mein Mann, mein Percy …“

In ihren Augen glomm ein warmer Schimmer auf, und diese Augen schweiften hinaus zu dem in rosige Glut getauchten Gipfel des Piz Rosatsch.

 

 

Anmerkung:

  1. Die Vorlage ist an dieser Stelle unleserlich, fehlendes Wort wurde ergänzt.