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Der Geist von Nelson-Land

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck auch im Auszuge verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26.

 

Der Geist von Nelson-Land.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Drei in einem Boot.

Der große Passagierdampfer Lord Nelson, ein modernes, einer englischen Reederei gehöriges Schiff, kam von Australien und wollte auf einem Umwege über den Hafenort Tina auf der Molukkeninsel Buru nach Singapore.

An Bord befand sich in einer der sogenannten Staatskabinen der Sohn eines hohen australischen Beamten mit seinem Erzieher. Tom Bursley, wie er sich stets nannte, obwohl sein Lehrer diese Abkürzung des Vornamens Thomas immer wieder als unfein rügte, war einer jener infolge falscher Erziehung und allzu ängstlicher Verweichlichung völlig unselbständigen Knaben, bei denen gleichzeitig die wahre Charakterveranlagung gänzlich unterdrückt und in die Schablone eines fein gebildet sein sollenden Sohnes reicher Eltern gepreßt worden ist.

Tom war ein langaufgeschossener, blonder Junge von etwa fünfzehn Jahren. Mit dem einzigen Altersgenossen, den er auf dem Lord Nelson hatte, sollte er nicht verkehren, denn dieser Werner Bruck war einfacher Leute Kind, die in zehn Jahren in Australien ein kleines Vermögen sich erarbeitet hatten und nun in die deutsche Heimat als zufriedene und glückliche Rückwanderer heimkehrten.

Beide, Tom und Werner, hatten es trotz des strengen Verbotes des Erziehers Doktor Woog verstanden, sich heimlich hin und wieder auf dem Vorderdeck zu treffen, denn die Familie Bruck reiste bescheiden als Zwischendecker und durfte sich auf dem vornehmen Achterdeck nicht sehen lassen.

Tom beneidete Werner glühend um die goldene Freiheit, die dieser in jeder Beziehung genießen durfte. Werner trieb sich überall auf dem großen Schiff umher, war bei den Heizern gerade so beliebt wie bei den Köchen und erfreute sich auch der Gunst des einzigen deutschen Matrosen der Besatzung, eines schon älteren Mannes namens Benno Scholz, der von allen kurz mit Benn angeredet wurde und der ohne Frage seiner Grobheit und seiner vielfachen Künste wegen ein Original war.

Benn konnte einfach alles, sogar Klavierspielen und Bauchreden. Seine Zauberkunststücke mußte er oft den Passagieren der ersten Kajüte vorführen und erntete damit nichts nur Beifall, sondern auch klingenden Lohn. Er stellte auf dem Lord Nelson sozusagen das Mädchen für alles dar. Stets gefällig, dabei aber gegen Leute, die er nicht leiden mochte, von einer unglaublichen Grobheit, wurde er von den meisten sehr geschätzt. Werner Bruck war in kurzem sein Freund geworden. Der frische, lebhafte Junge, der in Australien als einziges Kind seiner Eltern wacker überall mit angefaßt hatte, war so recht nach Benns Geschmack.

Anders stellte er sich zu Tom, der die lächerliche Angewohnheit hatte, stets mit der Stellung und dem Reichtum seines Vaters zu prahlen, woran er selbst weniger schuld hatte als sein Lehrer Reginald Woog, denn dieser machte seinem Zögling jeden Tag so und so oft klar, daß die Bursleys eine der wohlhabendsten und angesehensten Familien Australiens seien. –

Der Lord Nelson hatte gerade die Banda-Inseln passiert, als eine Windstille einsetzte, die gleichzeitig eine furchtbare Hitze mit sich brachte. Am zweiten Tage nach Beginn dieser Flaute erlitt der Dampfer einen Maschinenschaden, der ihn zwang, längere Zeit regungslos auf der bleigrauen See zu treiben.

An Bord herrschte infolge der Backofenglut jetzt eine ziemlich gedrückte Stimmung. Die Hitze war so arg, daß man es auf Deck nicht aushielt und daß selbst in den Gesellschaftsräumen auch die geringste Bewegung Schweiß kostete.

Doktor Reginald Woog saß jetzt den lieben langen Tag im Rauchsalon und trank eisgekühlte Limonaden.

Tom segnete die Windstille und die Hitze, denn nun konnte er sich endlich einmal ohne seinen steten Aufpasser freier bewegen. Er nutzte dies auch nach Kräften aus und steckte dauernd mit Werner Bruck zusammen, der ihn sowohl mit in den Kesselraum als auch ganz tief bis in die Laderäume mitnahm, wobei freilich Toms tadellos weiße Leinenanzüge manchen Schmutzfleck abbekamen.

Es war am dritten Morgen nach dem Einsetzen der Windstille, als Tom wieder nach dem Vorderdeck hinüberschlüpfte und gerade zur rechten Zeit kam, um neidisch mitanzusehen, wie Benn und Werner in die zu Wasser gebrachte Jolle kletterten, um ein paar Korkwesten wieder aufzufischen, die über Bord gefallen waren. Außerdem wollten sie aber auch versuchen, einen Haifisch zu harpunieren.

Tom wagte Benn nicht zu bitten, ihn mitzunehmen, denn der kleine, dürre o-beinige deutsche Matrose hatte bisher aus seiner Abneigung gegen den „Zierbengel“ – anders nannte er Tom nicht – nie ein Hehl gemacht.

Da hatte Werner ein Erbarmen mit seinem Altersgenossen.

„Benn, darf der Tom nicht auch mit ins Boot?“ fragte er. „Er ist wirklich ein ganz netter Junge, Benn. Was kann er dafür, daß Doktor Woog aus ihm einen „Zierbengel“ zurechtgedrechselt hat?!“

„Meinetwegen!“ knurrte Benn in seinen rötlichgrauen Schifferbart hinein. „Aber – wenn’s der gelehrte Herr Doktor erfährt, daß sein Schutzbefohlener sich in einem offenen Boot ein Stück vom Nelson entfernt hat, gibt’s sicher Krach.“

„Na, das ist Toms Sache,“ lachte Werner. Dann rief er dem wieder in blendendes Weiß Gekleideten, der oben an der Reling stand, freudig zu:

„Komm’ mit, Tom. Benn hat’s erlaubt. Wir haben auch zwei Harpunen mit und wollen versuchen, einen Hai aufzuspießen.“

Benn grinste nach oben und brummte: „Er wird sich hüten, die Strickleiter herabzuklettern! Dazu fehlt ihm die Courage!“

Doch – er hatte sich getäuscht. Sowohl die Aussicht auf die Bootfahrt und die Haifischjagd als auch die Angst, in Werners und Benns Augen als Feigling zu gelten, verscheuchte bei Tom alle Bedenken gegen diese ihm völlig neue Klettertour an einer Strickleiter abwärts.

„Donner und Doria – er riskiert’s wirklich!“ meinte der Alte verwundert. „So schlapp, wie ich glaubte, ist er doch nicht!“

Tom landete glücklich unten im Boot und begrüßte Werner und Benn mit dankbarem Händedruck. Als er zu dem Alten äußerte, er würde auch gern rudern helfen, schüttelte dieser den Kopf.

„Das gibt Schwielen bei so zarten Mädchenhändchen,“ knurrte er.

Tom wurde rot und biß die Zähne in die Unterlippe.

Dann stieß die Jolle ab. Werner ruderte. Er zog die Riemen (Ruder) gleichmäßig durch und trieb das kleine Boot schnell über die regungslose See auf die etwa fünfhundert Meter entfernt schwimmenden Korkwesten zu.

Diese hatten ein halbes Dutzend Haifische angelockt, die wohl glaubten, Korkwesten wären genießbare Dinge.

„Rudere recht lautlos, Junge,“ meinte Benn nun und machte eine der Harpunen fertig, deren lange Leine er an den Ring vorn im Boot befestigt hatte. Er selbst stand auf der vordersten Ruderbank.

„Recht lautlos, Werner!“ wiederholte er. „Ich sehe da einen Burschen von Hai, der gut seine zwei und ein halb Meter mißt. Den müssen wir haben! – Mehr backbord, Junge! Halt – nicht zu viel!“

Tom verfolgte die Bewegungen Benns mit größtem Interesse.

Der Alte hatte die Harpune in der erhobenen und zurückgereckten Rechten. Der Hai, wirklich ein Prachtexemplar, schien gerade die Korkwesten nochmals auf ihre Verdaulichkeit hin zu besichtigen, als die Harpune ihm in die Mitte des Rückens rechts von der hochstehenden, sichelförmigen Flosse flog.

„Hurra!“ brüllte Benn. „Er ist unser. Jetzt noch ein Stich mit der anderen Harpune, und –“

Er schwieg plötzlich, denn der Hai, der erst blitzschnell in die Tiefe geschossen war, begann nun das Boot mit unheimlicher Geschwindigkeit hinter sich her zu ziehen, nachdem er wieder aufgetaucht war.

„Donner und Doria,“ schimpfte Benn. „Der Racker hat ja Kräfte wie ’n kleiner Walfisch. Na warte, Freundchen, Dir will ich bald zeigen, daß mit dem alten Benn Scholz nicht so leicht solche Faxen zu machen sind! – Werner, zieh’ die Ruder ein!“ rief er diesem nun zu. „Und dann hol’ die Harpunenleine langsam ein, damit wir unser Wasserpferdchen, das hier mit uns herumkutschiert, in Wurfnähe bekommen.“

Tom griff unaufgefordert mit zu. Was machte es ihm, daß die frisch mit Holzteer getränkte Leine seine Jacke und seine Hosen schnell in ein Habit von recht fragwürdiger Reinheit verwandelte! Er war glücklich, mit anpacken zu dürfen. Alle ihm mühsam eingedrillte künstliche „Pomadigkeit“ war mit einem Schlage verschwunden.

„Feste – feste!“ rief er begeistert, indem er dies volkstümliche deutsche Wort recht stolz gebrauchte, weil er es erst von Werner gelernt hatte. Im übrigen beherrschte er das Deutsche recht fließend.

Benn machte die zweite Harpune zurecht. Deren Leine schlang er um eine Ruderbank.

Inzwischen hatten die beiden Jungen das Boot bis auf zehn Meter an den davonschießenden Hai herangebracht. Da schien dieser Unrat zu wittern, tauchte ganz plötzlich und gab der Leine dabei einen so starken, unerwarteten Ruck, daß Tom das Gleichgewicht verlor und ins Wasser fiel. Er hatte aber doch Geistesgegenwart genug, die Leine nicht fahren zu lassen, so daß der schnell zuspringende Benn ihn sofort wieder in die Jolle zerren konnte.

„Brav, Tom, – sehr brav, daß Du Dich an der Leiste festhieltst,“ lobte der Alte den Pudelnassen. „Schade, unser Zugpferd ist inzwischen wieder ein gut Stück ausgekniffen! Also nochmals, Boys, – holt ihn näher ans Boot heran. Es wird Zeit, daß ich ihm den Gnadenstoß versetze. Sonst kommen wir zu weit vom Nelson ab.“

Wieder verkürzte sich die Leine unter den Händen der Knaben Meter um Meter; wieder stellte Benn sich auf die Ruderbank und hielt die zweite Harpune bereit. Da – aus der Ferne kam über die See her ein ganz seltsamer, heulender Ton.

Der Alte schaute sich um, schaute nach Norden hin. Dort war am Horizont eine helle, gelbliche Wolke in Form eines Kegels, die Spitze nach unten, aufgetaucht. Und diese Wolke vergrößerte sich nun mit unheimlicher Geschwindigkeit.

Benn war ein paar Sekunden wie erstarrt. Dann kam wieder Leben in seine kleine Gestalt. Er ließ sich auf die Ruderbank fallen, griff nach den Riemen, brüllte:

„Ein Zyklon – ein Wirbelsturm! – Jungens, laßt den Hai jetzt in Ruhe! Mag er uns weiter als Vorspann dienen, so lange er nach Süden davonrennt. Wir müssen vor dem Zyklon fliehen! Zum Nelson können wir nicht zurück – es ist zu weit! Bald haben wir die ersten Sturmstöße hinter uns.“

Er begann zu rudern, mit aller Kraft, erleichterte so dem Hai seine Arbeit als Zugpferd.

Abermals erklang aus der Ferne das Heulen, nur kräftiger. Und die Kegelwolke hatte jetzt schon den halben Himmel bedeckt, kroch weiter und weiter. Gleichzeitig wurde es auch dunkler. Die Sonne war verschwunden. Eine häßliche, fahle Dämmerung lagerte über dem Meere, dessen Oberfläche stellenweise bereits jene leicht gekräuselten Flecken zeigte, die auf vereinzelte Windstöße hinweisen.

Die Zwischenräume der Sturmmusik wurden kürzer und kürzer. Alle möglichen Töne kündeten nun das Nahen des gierigen Ungeheuers, Zyklon genannt, an.

Die beiden Jungen hatten erst untätig vorn im Boot gesessen. Nun holte aber Werner das zweite Riemenpaar unter den Bänken hervor, schickte sich an, dem Hai diese Schlepparbeit noch mehr zu erleichtern.

Da kam der erste volle Sturmstoß über das Wasser daher. Mit einer wahren Fülle überlauter, trommelfellgefährdender Orgeltöne heulte der Luftwirbel näher und näher. Mit einem Schlage war’s nun auch völlig finster geworden.

„Duckt Euch!“ brüllte Benn mit aller Lungenkraft. „Duckt Euch ganz tief!“

Dann war’s, als ob eine Geisterfaust die Jolle packte, halb aus dem Wasser hoch und mit sich fortriß hinein in die plötzlich von allen Seiten hochleckenden Wogen.

Und wenige Minuten später klatschte der erste Wellenkamm wie ein Sturzbach über Bord. Ein zweiter, dritter folgten. Die drei Leidensgefährten saßen schon halb im Wasser. Hätte das Boot nicht Luftkästen gehabt, wäre es unfehlbar weggesackt. So aber hielt es sich noch an der Oberfläche. Wie lange noch – das entschied der Sturm, das entschied der Zufall!

Und weiter und weiter riß der Wirbelsturm es mit sich fort nach Süden zu. Immer mehr füllte es sich. Tom betete laut. Werner schaute mit verbissener Wut in die Finsternis, in das Gewirr weißer Schaumkämme hinaus. Er fühlte hier zum ersten Male die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Toben der Naturgewalten. Aber – an Sterben dachte er nicht! Solche Gedanken lagen ihm fern. Benn aber zog sich seine blaue Schirmmütze noch tiefer über die Ohren und fluchte leise, weil ihm sein wohlgefüllter Tabakbeutel naß wurde.

Noch immer schwamm die Jolle. Zuweilen war sie dem Kentern nahe, zuweilen schwebte sie auf der Spitze einer Welle, als wollte sie das Fliegen lernen, sank dann rasend schnell in einen finsteren Abgrund hinab, kletterte wieder keck in die Höhe.

Zu keck! – Jetzt ein dreifacher Schrei – jetzt – schwamm sie kieloben! Ihre menschliche Last hatte sie abgeschüttelt. Doch – nicht ungestraft sollte diese bestimmungswidrige Eigenmächtigkeit bleiben. Eine neue Woge warf sie über eine Reihe von Korallenriffen hinweg, schmetterte sie gegen ein paar Klippen, spießte sie hier auf einer scharfen Zacke auf.

 

2. Kapitel.

Auf einsamem Gestade.

Der Zyklon hatte ausgetobt. Nur zwei Stunden lang hatte er sich die Banda-See zum Tummelplatz seiner wilden Launen auserwählt.

Nun schien wieder hell und warm die Sonne vom lichtblauen Himmel herab. Ihre Strahlen umschmeichelten, als wollten sie gutmachen, was der rauhe Sturmgeselle verbrochen, das gebräunte Gesicht Werner Brucks, der sich mit lahmen Knochen mühsam höher auf das felsige Gestade schleppte, wo er bisher in halber Ohnmacht, unfähig sich zu rühren, zwischen Seetang und Muscheln gelegen hatte.

Ein Wunder dünkte es ihm, daß er mit dem Leben davongekommen war, daß eine mitleidige Woge ihn über die Korallenbänke hinweggetragen und bis hierher gebracht hatte, wenn auch unsanft und mit Beulen und Hautabschürfungen am ganzen Körper und arg zerfetzten Kleidern.

Jetzt hatte er die Uferhöhe erreicht. Zufällig war dieser Platz, an dem er sich jetzt befand, auch mit die höchste Erhebung der kleinen Insel, auf der er nun als Schiffbrüchiger vielleicht einsam endlose Tage würde ausharren müssen, bis irgend ein Fahrzeug ihn wieder mitnahm.

Einsam! – Da dachte er, als in seine Gedankenreihe dies Wort sich mit einflocht, an die beiden Gefährten. Lebten sie, hatten die Wogen sie gleichfalls über die zackigen, gefährlichen Riffe hinweggeführt?

Alle Mattigkeit, alle Schmerzen waren vergessen. Er schaute sich um, schaute nach rechts, nach links den sanft gebogenen Strand entlang. Blendend weiß wie frischer Schnee lagen auf dem sanft ansteigenden Uferstreifen Milliarden und Übermilliarden zu feinen Körnchen zerriebene Muscheln in dicken Schichten da. Jeder Gegenstand, jedes Stückchen Treibholz, jede losgerissene und hier angespülte Meerespflanze, jeder zum glatten Felsblock abgeriebene Korallenbau war deutlich wie auf Papier gezeichnet zu erkennen. Alles Mögliche bemerkte der Junge, bemerkte jetzt auch draußen in der noch immer wütend tobenden Brandung das auf einer Klippe hängende Boot, bemerkte mehrere Schildkröten, die in einer kleinen Bucht sich sonnten, bemerkte weiter nach Süden zu über einer benachbarten Insel große Schwärme von Seevögeln. Nur von Benn und Tom sah er nichts.

Da wurde ihm ganz traurig zumute. Das Gefühl der Verlassenheit packte ihn mit aller Macht.

Doch – so schnell wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, daß vielleicht ein gütiges Geschick wenigstens einen der beiden am Leben belassen hätte. Er begann die Insel zu umschreiten, wandte sich nach Süden zunächst.

Kaum ein paar Minuten war er so erwartungsvoll am Strande entlanggewandert, als er vor sich hinter einem Felsstück hervor ein jämmerliches Schluchzen hörte.

Wie gebannt blieb er stehen, lauschte.

Tom – nur Tom konnte es sein! – Und mit ein paar langen Sprüngen war er schon neben dem Felsstück. – Und wirklich, da saß Tom, das Gesicht in die Hände verborgen, und weinte kläglich, hörte und sah nichts in seiner Mutlosigkeit und Verzweiflung.

„Hallo, Tom!“ rief Werner jubelnd. Er war ja überglücklich, weil seine Hoffnung sich so zum Teil erfüllt hatte.

Der andere schnellte hoch. Sein Gesicht veränderte sich blitzschnell. Frohe Überraschung malte sich in seinen Zügen.

„Oh, nun – nun brauche ich hier wenigstens nicht allein elend umzukommen,“ meinte er und streckte Werner die Hand hin.

„Umkommen – umkommen?!“ sagte Werner lebhaft. „Aber Tom, davon kann doch nicht die Rede sein! Ich habe dort bereits das Ufer erklettert gehabt und gesehen, daß die Mitte unseres Inselchens eine tiefe Mulde bildet, in der ein Hain von Bäumen und Sträuchern grünt und blüht. Wer wird denn gleich die Flinte ins Korn werfen und so kleinmütig sein.“

„Kleinmütig?! – Habe ich nicht allen Grund dazu! Sieh nur, Werner, – mein Anzug besteht nur noch aus Fetzen. Und – wo sollen wir wohnen? Wer wird uns bedienen, uns die Mahlzeiten kochen und –“

Da lachte Werner Bruck hell auf.

„– Und wer wird mir weiter Unterricht in Mathematik, Geschichte, Literatur und so weiter erteilen, wer wird mir ein parfümiertes Bad herrichten, welcher Friseur soll mir hier die Haare schneiden,“ setzte er die Klagen Toms scherzend fort. „Aber Tom, hast Du denn nie in Deinem Leben die Geschichte von Robinson Crusoe gelesen?“ fügte er ernster hinzu. „Du nickst. – Na also! Genau wie Robinson machen wir’s, das heißt: Selbst ist der Mann! – Denk’ mal, wird das nicht hochinteressant werden, wenn wir –“ Und nun entwickelte er dem ganz wortlos vor so viel Unternehmungsgeist dastehenden Tom eine Menge Pläne, die später dann auch sämtlich verwirklicht wurden.

„Daß die beiden Inselchen hier,“ meinte er zum Schluß, „ganz unbewohnt sind, ist sicher. Und daß es eine geraume Zeit dauern wird, ehe ein Schiff in Sicht kommt, muß man gleichfalls als bestimmt annehmen. Benn hat mir ja erzählt, daß die Banda-See zu den einsamsten Meeresteilen gehört. Nur Küstendampfer besuchen die größeren Niederlassungen der Molukken-Inseln, die die Banda-See im Norden, Osten und Süden einschließen. – Kurz: wir sind echte, rechte Robinsons geworden. Und wenn ich nicht fürchten würde, daß unsere Eltern sich sehr um unseren Tod grämen werden – denn man wird uns sicher für tot halten, da einem Zyklon so leicht niemand in einem offenen Boot entgeht, – so wäre ich sehr vergnügt über diesen Schiffbruch. Nur – nur Benn müßte auch mit gerettet sein, der alte, gute Benn! – Ich schlage vor, wir suchen jetzt sofort nach ihm.“

Sie bogen jetzt nach dem Südstrande ab. Dieser lief in ein niedriges Vorgebirge aus, dem auf etwa zweihundert Meter die Nachbarinsel gegenüberlag. Diese war bedeutend anders gestaltet als „Nelson-Land“, wie Werner jetzt während der eifrigen Unterhaltung dieses ihr Eiland zu benennen vorschlug, worauf Tom meinte, die zweite Insel müsse dann Abukir heißen, denn die Seeschlacht bei Abukir sei ja Admiral Nelsons berühmtester Seesieg gewesen.

Die Abukir-Insel schien kreisförmig zu sein. Am steilen Nordufer gab es dort drüben einen zerklüfteten, hohen Hügel, an dessen Fuß ein paar Palmen wuchsen. Der Kanal zwischen den beiden Eilanden war mit hohen Korallenriffen förmlich gespickt, ebenso wie sich ja auch ein weiter Kranz von Korallenbänken um die kleinen Inseln herumzog.

Nach einer Stunde gaben die beiden Robinsons das Suchen nach Benn auf. Sie waren recht niedergeschlagen, daß ihnen jetzt kaum noch eine Hoffnung blieb, ihn lebend wiederzusehen. Nur an eine ganz geringe Aussicht, ihn doch noch zu finden, klammerten sie sich: es konnte ja möglich sein, daß er sich auf die Abukir-Insel gerettet hatte. – Freilich, Werner erklärte ehrlich, er wage selbst dies nicht anzunehmen, denn der gute Benn hätte sicherlich den Hügel drüben erklettert, um Ausschau zu halten, und sie hätten ihn daher längst bemerkt haben müssen.

Während dieser Stunde hatten sie nicht nur Nelson-Land umrundet, sondern waren auch im Innern des Inselchens hin und her gewandert. Auf der Ostseite gab es eine schmale Bucht, die sich in vielfachen Krümmungen bis zu jenem Walde von allerhand tropischen Bäumen fortsetzte, der von Werner bereits vorher vom Westufer aus bemerkt worden war. Hier fanden sich all jene Bäume vereinigt, die den Molukken auch den Namen Gewürzinseln eingetragen haben, so besonders der Nelken-, der Muskatnußbaum, ferner an hochstämmigen Pflanzen Tabak, Indigo und Kakao. Bekanntlich gehören die Molukken mit zum holländischen (niederländischen) Kolonialbesitz, und noch heute bilden sie eine unerschöpfliche Quelle des Reichtums für dieses kleine, strebsame Volk, das noch vor zweihundert Jahren die einzige wirklich erfolgreiche Kolonialmacht der Erde war. –

Die Bucht mit ihren bewaldeten Ufern hatte es Werner sofort angetan.

„Tom, hier werden wir unsere Niederlassung gründen,“ sagte er mit einer großartigen Handbewegung und deutete auf den äußersten Winkel der Bucht, wo die Bäume etwas zurücktraten und wo es auch flachen, sandigen Strand gab. „Was tun wir nun zunächst? Womit beginnen wir unser Robinsonleben?“

„Mit einer Mahlzeit,“ meinte Tom kurz. „Ich habe Hunger, sogar recht großen. Aber – woher nehmen wir etwas Genießbares?“

Werner dachte nach. Dann holte er sein Taschenmesser hervor – es war ein großes, sehr starkes Messer, kein Spielzeug – und lief nach einer Stelle hin, wo sich ein paar junge Schildkröten sonnten, die ja keinen harten Schildpatt-Panzer, sondern nur eine lederartige, faltige Haut haben.

Tom folgte ihm. Aber er wandte sich ab, als Werner nun eins der Tiere mit geschicktem Schnitt tötete. Später gewöhnte er sich diese überflüssige Weichherzigkeit ab.

Dann mußte Tom nachsehen, ob sein Feuerzeug wasserdicht geblieben wäre. Als er das Stahlrädchen drehte, flammte der kleine Docht sofort auf. Gleich darauf brannte ein lustiges Feuer am Buchtufer, über dem Teile der Schildkröte am Spieße gebraten wurden.

Tom zeigte sich sehr anstellig und drehte die Fleischstücke eifrig über der Glut. Dieses Abenteuer begann nun auch ihm Freude zu machen. Werner war inzwischen nach dem Weststrande hinübergelaufen, ohne Tom zu sagen, was er eigentlich vorhatte. Der Weg dorthin war kurz, betrug nur 200 Meter etwa, denn Nelson-Land, das die Form eines langgestreckten Vierecks hatte, besaß nur eine Länge von Nord nach Süd gemessen von vielleicht 800 und eine größte Breite von 400 Metern.

Als Werner am Westufer anlangte, sah er sofort, daß inzwischen die Ebbe eingetreten war und den Wasserstreifen bis zu den Korallenriffen, zwischen denen die Jolle hing, zu einer schmalen Rinne verengert hatte. Sehr bald hatte er diese durchschwommen und war dann in das auf der Zacke aufgespießte Boot geklettert, wo wie bei allen Rettungsbooten der Passagierdampfer in einem Verschlage am Steuer sowohl ein Fäßchen Trinkwasser als auch eine Menge Lebensmittel in Zinkbüchsen aufbewahrt wurden – eben für alle Fälle der Not, wenn die Boote ganz plötzlich das Schiff verlassen mußten.

Werner packte von den Konservenbüchsen so viel in seine blaue, leider jetzt so arg zerrissene Tuchjacke, als er schwimmend mit fortnehmen zu können hoffte. Dann ließ er sich aber noch die Zeit, die Beschädigung der Jolle genauer zu besichtigen. Leider sah er sofort, daß das Boot völlig unbrauchbar geworden war. Bei dem Anprall auf das Riff hatten sich auch die nicht mit zertrümmerten Planken zumeist vom Vorder- und Hintersteven gelöst oder klafften doch jedenfalls in breiten Spalten auseinander. Dann gewahrte er die zweite Harpune und ihre Leine, die zu schleudern Benn keine Zeit mehr gefunden hatte. Auch die Harpune wollte er nachher holen. Sie erinnerte ihn nun an den aufgespießten, riesigen Hai. Er kletterte nach vorn und entdeckte, daß die Leine der anderen Harpune noch an dem Eisenring befestigt war. Als er die Leine nun einholte, spürte er, daß ein schweres Gewicht sie belastete. – Sollte etwa der Haifisch noch daran hängen, fragte er sich ungläubig, zog stärker, beugte sich über Bord und sah nun tatsächlich die tote Bestie samt der Harpune unten im Wasser in die Höhe kommen.

Kaum fünf Minuten später war er wieder bei Tom und berichtete diesem, wie er die Jolle vorgefunden hätte. Tom war über die Konserven hocherfreut, nicht minder darüber, daß Werner erklärte, die Haut des Haifisches würde gegerbt einen haltbaren Stoff für einen Anzug abgeben.

Tom hätte am liebsten sich gleich über den Inhalt einiger Zinkbüchsen hergemacht. Doch Werner öffnete nur eine einzige, die Schiffszwieback enthielt.

„Wir müssen sparsam mit diesen Vorräten umgehen,“ meinte er. „Wir können sie vielleicht gut brauchen, wenn wir den Versuch machen, auf einem selbstgezimmerten Auslegerboot eine bewohnte Insel zu erreichen.“

Tom sah ein, daß Werner recht hatte. Die beiden Robinsons gewannen in der leeren, großen Zinkbüchse auch gleich einen vorzüglichen Kochtopf, worauf Werner besonders hinwies. Schildkrötensuppe soll’s zum Abendbrot geben,“ meinte er. „Sie muß, nach dem Geschmack des gebratenen Fleisches zu urteilen, vorzüglich munden.“

Nach dieser ersten Mahlzeit, bei der Tom den weit besseren Appetit entwickelte, schwammen sie nach der Jolle hinüber und brachten die Harpunen, die Leinen und den Haifisch an Land. Vorher hatten sie aber mit Hilfe der Eisenspitzen der Harpunen die Verbände der Jolle so weit gelockert, daß sie eine Anzahl Planken losbrechen und nachher mit den Leinen gleichfalls an den Strand ziehen konnten. So gelangten sie auch gleich in Besitz der Eisenbeschläge des Bootes und der Dollen, was für sie von größtem Werte war. Bis zum Abend hatten sie dann die sämtlichen am Weststrand aufgehäuften Gegenstände nach der Bucht geschafft und sich hier auch eine primitive Hütte aus den Planken und aus Baumzweigen errichtet. Morgen wollten sie dann an den Bau eines gefälligeren Heims herangehen.

Als es dunkel geworden, lagen sie neben der Feuerstelle vor ihrer Hütte, warteten auf das Garwerden des in der Büchse kochenden Schildkrötenfleisches und freuten sich über den ausgestirnten Himmel, über die milde, warme Luft und das Branden des Meeres, dankten auch von Herzen der gütigen Vorsehung, die sie gerade an dieses schöne Fleckchen Erde hatte gelangen lassen.

Nachher schliefen sie auf ihren Laublagern in der Hütte bis in den hellen Morgen hinein.

 

3. Kapitel.

Ein Rätselwesen.

Werner wurde zuerst munter. In den Bäumen ringsum kreischten bereits lustig Scharen von Papageien, während über der Bucht zahlreiche Seevögel aller Art in graziösem Fluge dahinstrichen.

Tom wurde dann sehr unsanft von seinem Freunde wachgerüttelt, – denn am Abend vorher hatten die beiden Robinsons mit festem Handschlag sich treue Freundschaft für alle Zeiten gelobt.

„Tom – Tom, wir sind bestohlen worden,“ rief Werner erregt. „Ich begreife das nicht! Hier auf Nelson-Land gibt es doch außer uns keinen lebenden Menschen, auch kein größeres Tier, das etwa Konservenbüchsen, Eisenstücke und eine Harpune nebst Leine gefressen haben könnte!“

Tom glaubte erst, Werner wollte ihn ein wenig zum Narren halten. Dann sah er aber mit eigenen Augen, daß von den draußen neben der Hütte aufgeschichteten Vorräten und anderen Dingen fünf Büchsen und gerade die beiden dicksten Eisenstücke fehlten, die mit Schraubenlöchern versehen gewesen waren und aus denen Werner zwei Beile hatte anfertigen wollen.

Die Freunde rieten hin und her, wer wohl der Dieb sein könnte. Dann meinte Tom, hier gebe es nur eine Erklärung: die Abukir-Insel müsse bewohnt sein, und die Diebe seien von dort gekommen.

Werner pflichtete dieser Ansicht bei. „Unter diesen Umständen ist es mit unserem schönen Sicherheitsgefühl hier ebenfalls vorbei!“ sagte er sehr ernst. „Wir wissen ja nicht, was für Leute dort drüben hausen. Es spricht nicht gerade für ihre Harmlosigkeit und für ihre freundliche Gesinnung uns gegenüber, daß sie heimlich bei Nacht uns ausgerechnet die Dinge geraubt haben, die armen Robinsons am nötigsten sind, eben die durchlochten Eisenstücke!“

Tom meinte nun, man sollte doch mal nach Spuren suchen. Vielleicht ließe sich aus den Fährten erkennen, ob man es mit wilden Insulanern zu tun hätte. – Die Freunde fanden dann auch wirklich an verschiedenen Stellen Spuren, aber so merkwürdiger Art, daß sie daraus nicht recht klug werden konnten.

Die Fährte glich nämlich durchaus der eines riesigen Vogels. – „Man könnte an eine vorweltliche Krähe von enormen Abmessungen denken,“ sagte Tom. „In jedem Falle ist’s aber die Spur von Vogelfüßen. Sieh nur, Werner, hier,“ – die beiden standen gerade am Südstrande und zwar auf der äußersten Spitze des Vorgebirges, – „führt die Spur ins Wasser. Wahrhaftig – man könnte an irgend ein Fabelwesen denken, zumal es hier doch nur größere Schwimmvögel gibt, die sämtlich Schwimmhäute zwischen den Zehen haben und somit ganz andere Eindrücke mit ihren Füßen hinterlassen würden!“

Werner fühlte sich jetzt auf Nelson-Land gar nicht mehr recht behaglich. – „Wenn wir nur irgend eine Waffe zu unserer Verteidigung besäßen,“ sagte er nun, als sie nach der Bucht zurückkehrten. „Wir sind doch zwei kräftige Jungen, die es schon mit ein paar Eingeborenen aufnehmen können! Freilich – Lanzen und Bogen und Pfeile ließen sich leicht herstellen. Das wäre dann doch wenigstens etwas und besser wie nichts!“

Tom nahm diesen Gedanken mit Eifer auf. „Du bist ja so geschickt, Werner! Schon auf dem Lord Nelson hattest Du Dir ja mit Benns Hilfe eine vorzügliche Armbrust geschnitzt!“

„Armbrust – Armbrust!“ rief Werner begeistert. „Gut, daß Du mich daran erinnert hast! Natürlich – nur diese Waffe ersetzt leidlich ein Gewehr oder einen –“

Er hatte „Revolver“ hinzufügen wollen! Aber das Wort blieb ihm im Munde stecken. Inzwischen waren sie nämlich bis in die Nähe der Hütte gelangt. Aber – diese war vollständig auseinandergerissen. Weit umhergestreut lagen die Bootsplanken und die Äste und Zweige herum.

Werner war stehen geblieben. „Eine neue feindselige Handlung der Leute von der Abukir-Insel,“ flüsterte er Tom zu und zog ihn hinter ein paar Büsche. „Vielleicht halten sie sich irgendwo hier verborgen und wollen uns auflauern! Warte auf mich. Ich werde den Wald durchsuchen.“

Aber Tom mochte nicht allein zurückbleiben. So schlichen sie dann mit größter Vorsicht um ihren Lagerplatz im Bogen herum, stellten aber nach einer halben Stunde zu ihrer vorläufigen Beruhigung fest, daß sie einen Hinterhalt nicht zu fürchten brauchten und daß ohne Zweifel auch jetzt wieder das seltsame Wesen mit den Vogelfüßen ihre Hütte eingerissen, doch diesmal nichts gestohlen hatte.

Werner erklärte nun, zu allererst müsse man sich jetzt nach einem Orte umsehen, wo man einigermaßen nachts sicher sei und wo man sich dann häuslich einrichten könne. Eine Hütte hier an der Bucht im Walde böte zu wenig Schutz.

Sofort begannen die Freunde nun die Insel, abermals sehr vorsichtig dahinwandernd, nach einer für ihre Zwecke geeigneten Stelle abzusuchen. Leider entdeckten sie nirgends einen Platz, der Werners Ansprüchen genügte, und ziemlich ratlos machten sie sich nun auf den Rückweg nach ihrem Lager, indem sie jetzt zum ersten Mal am Südufer der Bucht entlanggingen.

Plötzlich packte Tom seines Gefährten Arm und rief leise: „Da – da drüben, Werner, – schau’ nur, dort scheint in jenem Felsen über den Wassern der Bucht sich eine große Vertiefung zu befinden!“

Werner folgte der Richtung von Toms ausgestrecktem Arm, und sogleich ließ er ein zufriedenes „Wie geschaffen für uns!“ hören.

Die Bucht hatte nämlich zum Teil recht hohe, felsige Ufer. Und gerade die Stelle, auf die Tom hindeutete, fiel schroff in das Wasser wie eine Mauer ab, war gut zehn Meter hoch und besaß in halber Höhe etwa ein grottenartiges Loch, das als Unterkunftsraum für zwei Menschen durchaus genügen mußte.

Im Laufschritt hasteten die Jungen nun, nachdem sie die ihnen verbliebene Harpunenleine geholt hatten, jener Uferstelle zu. Dann wurde die Leine über der Grotte an einen nahen Palmenstamm gebunden, und Werner kletterte bis zu dem Felsloche hinab.

Tom hatte sich oben lang auf den Bauch gelegt und beobachtete den Freund. Dieser verschwand nun in der Grotte, nachdem er die Leine in pendelnde Bewegung versetzt und sich so in die kleine Höhle hineingeschwungen hatte. Sehr bald erschien er wieder und rief Tom zu: „Du verdienst ein besonderes Lob, Tom! Die Grotte ist famos – glänzend – großartig!“

Dann kletterte er nach oben. „Wir werden jetzt sofort umziehen,“ schlug er vor. „In der Grotte ist für all unsere Besitztümer Platz genug. Sie ist trocken, luftig, liegt nach Süden zu und bietet uns einen vorzüglichen Schlupfwinkel, sobald wir die Öffnung nach der Bucht hin durch die Bootsplanken und festes Astflechtwerk bis auf einen verschließbaren Eingang zubauen.“

Am Spätnachmittag bereits waren sie mit dieser Arbeit trotz ihrer mangelhaften Werkzeuge fertig. Sie besaßen ja nur zwei Taschenmesser und die Harpune. Diese ließ sich jedoch ganz gut zum Abhauen von Ästen und zum Kürzen der Planken benutzen.

Inzwischen waren sie auch noch zweimal nach dem Wrack der Jolle hinübergeschwommen und hatten diese ganz auseinander gerissen, hauptsächlich deswegen, um die aus starkem Zinkblech bestehenden Luftkästen, die Nägel und Schrauben und die Tür des kleinen Heckverschlages zu gewinnen. Diese Tür hatte Werner dann sehr praktisch in die neu errichtete Außenwand der Grotte eingefügt.

Tom erntete heute von seiten seines weit geschickteren Freundes manch anerkennendes Wort. – „Tom, Du bist gar nicht so unbegabt, als es anfangs schien,“ meinte Werner lachend, als der jetzt wacker mit zugreifende „Zierbengel“ nun auch das Problem löste, wie man eine bequeme Verbindung aus der Grotte nach der Höhe des Uferfelsens herstellen könnte. Er wollte dies in der Weise erreichen, daß ein starker Eisenhaken oben dicht unter dem Rande des Felsens in eine Spalte hineingetrieben werden sollte und zwar möglichst versteckt. Dann sollten zwei Riemen (Ruder) der Jolle zu einer langen Stange zusammengenagelt und an einem Ende gleichfalls mit einem Haken versehen werden. Wollte man nun die Grotte verlassen, so brauchte man nur die Stange an dem Haken im Gestein aufzuhängen und daran emporzuklettern. – Diese Einrichtung bot den Vorteil, daß sie sich leicht jedesmal wieder entfernen ließ und daß sie somit nicht auch von ungebetenen Gästen benutzt werden konnte.

Bevor die Sonne unterging, hatten die Freunde dann auch diese Kletterstange ganz nach Wunsch hergestellt. Nun wollte Werner noch schnell den Hai abhäuten, den sie bis an den Fuß jener Palme geschleppt hatten, an die sie vormittags die Harpunenleine festgebunden hatten. Die große Meeresbestie duftete jetzt schon recht stark. Aber Werner kümmerte sich nicht weiter darum. Er nahm sein Messer und ging dem Hai ganz kunstgerecht zu Leibe. Die Haut ließ sich auch leicht abziehen, da darunter eine dicke Speckschicht saß. Das Fett von Haifischen gibt ausgelassen einen vorzüglichen Tran. Und Werner hatte schon früher daran gedacht, diesen Tran zur Speisung einer Lampe zu benutzen.

Während Werner so mit dem Hai beschäftigt war, hatte Tom in einem der Zinkluftkästen, in den man oben ein großes Loch geschnitten hatte, eine Menge Haispeck über einem Feuer ausgeschmolzen. Nachher zeigte es sich, daß Werners Hoffnung, dieser Tran würde ein gutes Speisematerial für eine Lampe abgeben, nicht getrogen hatte. Eine der kleineren Fleischkonservenbüchsen wurde entleert und als Lampe zurechtgemacht. Sie gab ein helles, ruhiges Licht, obwohl der Docht nur aus Pflanzenfasern bestand.

So brauchten die Freunde denn nach Anbruch der Nacht in ihrer neuen Felsenwohnung nicht im Dunkeln zu sitzen und konnten auf ein offenes Feuer als Lichtquelle verzichten. Werner begann denn auch sofort mit dem Schnitzen zweier Armbrüste, die er genau so anfertigen wollte, wie Benn es ihm gezeigt hatte.

Diese Armbrüste sollten nicht mit der Hand gespannt werden, sondern mit Hilfe eines mit dem Schaft verbundenen Hebels, da man dann die Bügel, die die Pfeile schleudern sollten, bedeutend stärker wählen konnte.

Tom schlief bereits fest, als Werner noch immer eifrig an den Brettstücken herumbastelte, die er aus den Trümmern der Jolle für die Herstellung der beiden Schußwaffen ausgesucht hatte. Schließlich fielen aber auch ihm die Augen zu. Er streckte sich neben Tom auf das Mooslager, legte aber zur Vorsicht die Harpune in Griffweite.

Die Nacht verging ohne jede Störung. Am Morgen kletterte Werner mit Hilfe der Stange als erster auf die Höhe der Ufersteilwand. Sehr bald sah er, daß von dem Haispeck, den man mit Steinen zugedeckt hatte, eine ganze Menge fehlte.

Wieder war das merkwürdige Wesen auf Nelson-Land gewesen, wieder hatte es etwas heimlich mitgehen heißen, und wieder fanden die Freunde hier und dort die frischen Spuren der riesigen, fast vierzig Zentimeter langen Vogelzehen.

„Es ist der Geist von Nelson-Land,“ sagte Tom kopfschüttelnd. „Anders kann ich dieses Geschöpf nicht bezeichnen, das den Fährten nach ein Vogel sein muß und das doch nicht zum Vogelgeschlecht gehören kann.“

Werner meinte darauf, wenn nur erst die Armbrüste und für jeden von ihnen eine leichte Wurflanze fertig seien, dann wollte er schon herausbekommen, um was für ein Wesen es sich hier handele.

 

4. Kapitel.

Ein nächtlicher Ausflug.

Die folgenden vier Tage verliefen ohne jedes besondere Ereignis. Die Freunde beschäftigten sich während dieser Zeit mit der wohnlicheren Ausstattung ihrer Grotte, mit der Herstellung von Eisenspitzen für die Lanzen und die Armbrustpfeile und mit dem Auslegen von Angelschnüren in der fischreichen Bucht. Dieser Fischfang warf weit reichere Erträge ab, als man verwenden konnte und wurde daher sehr bald wieder eingeschränkt.

Der Geist von Nelson-Land machte sich nicht wieder bemerkbar. – „Vielleicht weiß er, daß wir jetzt bald vortrefflich bewaffnet sein werden,“ meinte Werner stolz, denn er hoffte, die Armbrüste würden ihm sehr gut gelingen. „Er will sich daher auf besseren Verkehrsfuß mit uns stellen oder – sich gar nicht mehr blicken lassen!“ –

Am Abend des vierten Tages flocht Werner aus dünnen Striemen der Haifischhaut die Bogensehnen. Als Bügel hatte er nach dem Ausprobieren verschiedener Holzarten endlich eine gefunden, die sich über Erwarten für diesen Zweck eignete.

Tom, der sonst sehr früh müde wurde, blieb heute absichtlich so lange auf, bis die Bogensehnen als letzter Teil der Armbrüste fertig und an die Bügel befestigt waren. Er wollte die seine sofort versuchen. Mit Hilfe des Hebels konnte man die fast armstarken Bügel bequem spannen. Werner hatte die Schußwaffen sehr sauber bearbeitet und für die gefiederten Pfeile einen gut zwanzig Zentimeter über den Bügel hinaus verlängerten Lauf hergestellt, um ihnen größere Treffsicherheit zu geben.

Die Grotte hatte nun leider nur eine größte Ausdehnung von vier und ein halb Meter. Trotzdem wurde eine Planke als Scheibe und die Tranlampe daneben aufgestellt.

Werner zielte auf eine helle Stelle der Planke und traf auch das Ziel. Tom wollte nun gleichfalls einen Probeschuß abgeben.

Da – gleichzeitig hörten die Freunde draußen ein leises Geräusch, das wie das Kratzen und Scharren irgend eines an dem Felsen über ihnen entlangstreichenden Gegenstandes klang.

Tom erbleichte, flüsterte: „Was – was bedeutet das nur?“

„Nichts anderes, als daß ein Mensch zu uns herabklettert,“ raunte Werner ihm zu, spannte schnell seine Waffe, schob einen Pfeil in den Lauf und löschte die Lampe aus. „Ganz still, Tom,“ fügte er dann hinzu. „Draußen scheint der Mond. Und durch das kleine Fenster, das ich gestern noch in der Außenwand angelegt habe, werden wir daher bald sehen, was für eine Sorte Mensch wir vor uns haben.“

Er trat leise an die quadratische Öffnung heran, die von innen durch ein Plankenstück verschlossen war, öffnete diese Lade und spähte hinaus.

Die Geräusche wiederholten sich. Jetzt tauchten plötzlich etwas links seitwärts zwei nackte Beine auf. Werner sah sofort, daß sie einem Farbigen gehörten. Er wußte nicht recht, was er unter diesen Umständen tun sollte.

Auch Tom hatte, hinter ihm stehend, diese unteren Gliedmaßen eines Menschen, der sicherlich nicht in guter Absicht der Grotte einen Besuch abstatten wollte, bemerkt. Jetzt drängte er den Freund einfach beiseite und schoß, ehe Werner noch hindernd eingreifen konnte, dem Unbekannten einen Pfeil in den einen Unterschenkel.

Draußen ein halbunterdrückter Ausruf. Blitzschnell waren die Beine wieder nach oben zu verschwunden.

Noch ein lautes Scharren an der Felswand, dann wieder tiefe Stille wie zuvor.

Gespannt lauschend verharrten die Freunde eine ganze Weile regungslos. Nichts ereignete sich weiter.

Nach einer guten Stunde meinte Tom, man könnte nun wohl ohne Sorge sich niederlegen. „Der Denkzettel, den ich dem Menschen gegeben habe, hat genügt!“ setzte er hinzu.

„Ja – hat genügt, uns einen erbitterten Feind zu schaffen!“ sagte Werner etwas ärgerlich. „Der Mann wird auch uns nun einen – Denkzettel zu geben versuchen, lieber Tom! Der Geist von Nelson-Land war ein harmloser Dieb. Der Mann, zu dem die Beine gehörten, wird weniger harmlos sein – besonders jetzt, nachdem Du seine Wade gespickt hast. Der Pfeil ist sicher ein gutes Stück in das Fleisch eingedrungen.“

Tom zuckte die Achseln. „Ich denke anders über diesen Schuß! Der Farbige wird sich hüten, uns in die Quere zu kommen.“

„Abwarten! – Leg’ Dich jetzt nieder. Ich werde zuerst wachen. Dann kannst Du mich ablösen.“ –

Der Morgen brach an. Bisher hatte niemand mehr den Versuch gemacht, in die Grotte einzudringen. Tom hatte jetzt die Wache und lugte durch das Fensterchen hinaus und beobachtete die Bucht und die gegenüberliegenden Uferteile. Ruhig flogen Möwen[1] und Albatrosse wie sonst hin und her. Papageien kreischten laut in den Bäumen drüben und umkreisten in Schwärmen die Baumkronen. Dann war es Tom, als bewegte sich in einem Buschstreifen eine menschliche Gestalt, von der er aber nur den Unterkörper zu sehen bekam. – Ja – es war ein Mensch, ein Mann, aber einer, der keine nackten Beine hatte.

Tom weckte Werner. Der lugte hinüber. Aber – die Gestalt war verschwunden. Darauf erklärte er, daß es eine sehr mißliche Sache sei, die Grotte heute zu verlassen, wo sich doch fraglos auf Nelson-Land Leute umhertrieben, die schlechte Absichten verfolgten. „Wir sind jetzt hier sozusagen belagert, Tom,“ meinte er. „Ein Glück nur, daß wir gestern den Luftkasten wieder mit frischem Trinkwasser gefüllt haben. Sonst würden wir es hier kaum zwei Tage aushalten.

Sie blieben denn auch wirklich vier Tage in ihrer Felsenbehausung, nährten sich von den Konserven und hielten nachts stets abwechselnd Wache. Dann aber ging das Trinkwasser, das sie an der Nordseite der Insel aus einer tiefen Gesteinspalte, also einer natürlichen Zisterne schöpften, auf die Neige.

„In der kommenden Nacht müssen wir uns herauswagen,“ sagte Werner. „Es hilft nichts. Wir werden es aber schlau anfangen, uns an der Leine in die Bucht hinablassen und schwimmend an Land gehen. Gefährlich bleibt es immer! Doch – es muß sein!“

Tom, der jetzt längst ein anderer und beinahe zu unternehmungslustig geworden, erklärte, so ernst wie Werner die Lage hinstellte, könne er sie nicht ansehen. Man hätte doch in diesen Tagen nichts mehr von der Anwesenheit irgend eines Menschen draußen bemerkt.

Diesmal behielt Tom recht. Ganz unbelästigt gelangten die Freunde bis zu ihrem Schöpfloch und auch wieder in die Grotte zurück. Deshalb schlug Tom nun auch vor, man solle diese Nacht außerhalb der Felsenwohnung zubringen und aufpassen, ob vielleicht Leute die Uferstelle über der Grotte umschleichen würden.

So geschah’s denn auch. Die Freunde legten sich unter den Bäumen auf die Lauer, warteten hier bis zum Morgen auf das Erscheinen irgend eines Menschen und warteten – ganz umsonst. Das gab ihnen Mut, nun auch bei Tage die Insel sorgfältig abzusuchen. Der Erfolg war gering. Sie fanden lediglich am Südufer auf dem Vorgebirge im Sande die bereits verwischten Spuren von vier nackten Füßen.

„Ich wette, die Besitzer dieser Füße stecken drüben auf der Abukir-Insel,“ meinte Tom. „Wir wollen doch mal dorthin nachts einen Ausflug machen. Zur Ebbezeit liegt der Sund zwischen den Inseln mit seinen vielen Rissen ja beinahe trocken.“

Werner war einverstanden. Bevor noch der Mond in der nächsten Nacht aufging, hatten die Freunde bereits das Ufer des Nachbareilandes erreicht. Dann schritt Werner stets ein Stück voraus. Zunächst hielt er sich dicht am Strande und umkreiste die Insel. Sie hatte weit steilere Ufer als Nelson-Land und war ziemlich kreisförmig, dabei aber kleiner als das nördlichere Inselchen. Nachher bog Werner am Nordufer neben dem zerklüfteten Hügel ins Innere ab. Dieses war recht schwer passierbar. Niedrige Felsenhügel wechselten mit kleinen Tälern ab, in denen stets ein paar Bäume wuchsen. Zwei volle Stunden schlichen die Jungen, bei mäßiger Dämmerung, die dem Monde und dem klaren Nachthimmel zu danken war, kreuz und quer durch die Insel. Dann meinte Tom, man müßte einmal den Hügel erklimmen. Vielleicht könnte man von der Spitze irgendwo den Schein eines Lagerfeuers bemerken. – Werner war zwar überzeugt, daß auch diese Kletterpartie zwecklos sein würde, begann aber trotzdem den recht mühseligen Aufstieg.

Kaum waren sie oben angelangt, als Tom triumphierend dem Freunde zuraunte: „Dort rechts oben an den Uferhöhen brennt ein kleines Feuer!“

Auch Werner sah es jetzt. – „Gut – schleichen wir uns an!“ erklärte er. „Aber versprich mir, Tom, nicht etwa wieder vorschnell von Deiner Armbrust Gebrauch zu machen!“

Zehn Minuten später krochen sie auf einer Felsterrasse entlang, an deren Südende in einer Schlucht das Feuer hinter einem Vorhang von Büschen hin und wieder höher aufflackerte.

Werner war ein Stück voraus. Die Lanzen hatten sie zurückgelassen, da diese sie nur behinderten. Jetzt schob der Junge sich durch das Gesträuch an das Feuer heran, jetzt gewahrte er einen Neger, der nur mit einer Art kurzem Umhang aus gestreiftem Flaggentuch bekleidet, über den kleinen Flammen einen Fisch briet.

Die Schlucht war nur kurz und verengerte sich im Hintergrunde so sehr, daß dort durch festgeklemmte Äste eine Art Dach hergestellt war, unter dem undeutlich zwei weitere Gestalten zu erkennen waren. Gerade als sich jetzt Tom neben Werner einfand und ihm zuraunte: „Ein Schwarzer – was tut er hier so allein?“ bemerkte Werner, daß die eine Gestalt sich dicht am Boden an der rechten Schluchtwand entlangdrückend, offenbar hinter den Neger zu gelangen suchte.

Dann ging es wie ein elektrischer Schlag durch des Jungen Körper. Seine Augen weiteten sich. Und nun auch Toms Stimme wie ein Hauch an seinem Ohr: „Das – das ist ja Benn – unser alter Benn!“

Doch Werner hatte jetzt keine Zeit, diese freudige Überraschung voll auf sich wirken zu lassen, denn unter dem Dache hervor war ein zweiter Neger aufgetaucht, ein geradezu herkulisch gebauter Kerl, der – in der Rechten ein kleines Handbeil hielt.

Auch Tom sah ihn nun. Er kniete hinter dem Freunde, der lang am Boden lag. Er ahnte, daß Benn von den Schwarzen als Gefangener festgehalten wurde, daß er jetzt fraglos den am Feuer Sitzenden unschädlich machen und fliehen wollte. Benn schwebte in Lebensgefahr. Der riesige Neger glitt ja wie eine Schlange dicht hinter ihm drein, das Beil halb erhoben. Jeden Augenblick konnte er zuschlagen.

Tom hatte einen Pfeil im Lauf seiner Armbrust, brauchte sie nur noch zu spannen. Schnell stützte er sie auf den Boden, bog den Hebel abwärts. Mit leisem Knacken schnappte die Haifischsehne in die Kerbe ein.

Werner wandte den Kopf, flüsterte: „Schieß’, Tom, – schieß! Ziele auf die Brust. Hier darf’s kein Bedenken geben!“

Der kleine Australier legte an. In demselben Augenblick fuhr auch des Negers rechter Arm hoch, holte zum tödlichen, heimtückischen Hiebe aus.

Doch – dicht über dem Herzen fuhr ihm der gefiederte Pfeil in die nackte Brust. Der schwarze Riese stieß einen Schrei aus, taumelte zurück.

„Benn – hierher!“ brüllte Werner und sprang auf. Im Nu hatte er seine Armbrust gespannt.

Benn war mit ein paar langen Sätzen an dem anderen Schwarzen vorüber, drang in das Gesträuch ein. Werner stand jetzt aufrecht im Anschlag.

„Schone die Schurken nicht!“ rief Benn, sofort die Lage überschauend.

Werner drückte ab, sah noch, daß der Pfeil den zweiten Neger in die linke Schulter getroffen hatte. Da zog ihn der alte Matrose schon mit sich fort.

„Weg von hier, Jungens! Folgt mir! Die Schufte haben Revolver bei sich –“

Er eilte davon. Hinter ihm her hasteten die Freunde. Benn schlug die Richtung nach dem Nordufer der Insel ein, passierte den Sund zwischen den Eilanden und wandte sich auf Nelson-Land geradeswegs nach der Bucht. Jetzt erst mäßigte er seine Schritte, sagte: „Jungens, hinein in Eure Grotte. Ich kenne sie. Nachher erzähle ich Euch alles.“

 

5. Kapitel.

Benns Erlebnisse.

„Ihr habt Euch wohl schön die Köpfe zerbrochen über die merkwürdige Vogelfährte, Jungens, – wie?! Kann’s mir denken! Nun – ’s war so ’ne Idee vom alten Benn, der schon des öfteren was Besonderes ausgeheckt hat! – Doch – ich will hübsch der Reihe nach alles berichten, obwohl ’s mir schwer fällt. Ein regelrechtes Garn zu spinnen, dazu fehlt’s mir – na, wie sagt man doch nur? – also dazu fehlt’s mir – an der logischen Denkfähigkeit. Klingt sehr gelehrt! – Als unsere Jolle also uns ausgeschüttet hatte, wie faule Pflaumen, die man aus ’m Körbchen rauswirft, da glaubte ich bestimmt, daß es diesmal mit mir Matthäi am letzten wäre, wie man zu sagen pflegt. Ich habe ja bereits verschiedene Male im Wasser als Schiffbrüchiger herumgepaddelt, aber – in einem Zyklon noch nie! – Nun – der Mensch irrt sich zuweilen. Ich bin stets zählebig wie ’n magerer Kater gewesen, und – so war’s auch in diesem Falle. Als eine Riesenwelle mich an einer Klippe zu Brei zerschlagen wollte, tat ich einen förmlichen Luftsprung aus dem Wasser heraus, kam glücklich über das Hindernis hinweg und landete jenseits der Riffbarriere in ruhigerem Wasser, schwamm auf den Strand zu und – war gerettet. Der Zyklon hatte es also sehr gnädig mit mir gemeint. Sehr bald klärte sich dann auch der Himmel auf, und ich konnte mich nun auf dem Inselchen genauer umsehn. Schließlich erkletterte ich den hohen Hügel an der Nordseite, nachdem ich umsonst nach Euch Ausschau gehalten hatte. Kaum war ich oben, als ich auch bemerkte, wie Ihr am Strande gegenüber entlangwandertet. Schon wollte ich mich melden, überlegte mir die Sache aber noch im letzten Augenblick. – Halt, dachte ich, eigentlich könntest du mal heimlich beobachten, wie die Jungens sich drüben auf ihrem Eiland als Robinsons anstellen werden! Wenn Du bei ihnen bist, werden sie sich ganz auf Dich verlassen, und der alte Benn muß für sie denken und handeln.

So kam’s denn, daß Ihr mich wohl für tot und meine Vogelspur für die Fährte irgend eines seltsamen Ungeheuers hieltet. Und dabei war die Sache mit der Spur doch so herzlich einfach: ich hatte mir nämlich passend zurechtgeschnittene Zweige unter die Schuhsohlen gebunden, die dann allerdings Eindrücke ergaben, von denen nur ein erfahrener Trapper oder dergleichen sofort gesagt hätte: das ist Schwindel, das ist kein Riesenstorch, sondern ’n leibhaftiger Mensch!“

„Oh, da sind wir ja schön reingefallen!“ lachte Werner kopfschüttelnd. „Aber – wie sollten wir wohl auch darauf kommen, daß –“

„Ja – daß der alte Benn Euch die Harpune, die Eisenstücke, die Konserven und den Speck gestohlen hatte,“ unterbrach der Matrose den Jungen. „Nein – daß ich der Dieb war, konntet Ihr nicht vermuten! Und wenn ich nicht die Blechdosen als Kochgeschirr und die Harpune als Axt zum Bau meiner Hütte gebraucht hätte, dann wäre ich auch nicht zum Langfinger geworden. Mit den Eisenstücken wieder hatte es eine andere Bewandtnis. Ich wollte Euch daraus nämlich zwei Beilschneiden schmieden und sie Euch dann in dieser für Euch so angenehm veränderten Form wiedergeben, natürlich ohne mich blicken zu lassen.“

„Und die eingerissene Hütte?“ fragte Tom lebhaft.

„Ja, das tat ich, um Euch zu warnen – nämlich vor den beiden Schwarzen, die inzwischen auf meiner Insel in einem Segelboot gelandet waren. Ich beobachtete ihre Ankunft, sah, daß sie ihr Boot in einer kleinen Bucht am Südufer in flachem Wasser versenkten, sah weiter, daß sie ein großes Bündel dann mit ins Innere schleppten und belauschte sie gleich darauf, hörte so, daß sie von einer Farm von der nördlich von uns gelegenen Insel Groß-Banda geflohen waren, nachdem sie den Farmer ermordet und dessen wertvollsten Besitz geraubt hatten. – Ihr wart dann auch klug genug, Euch eine sichere Behausung zu suchen. Ich habe Euch ständig im Auge behalten, damit Euch nichts Schlimmes widerfahren sollte, und ich hatte meine ehrliche Freude an Euch, wie verständig und praktisch Ihr alles anfaßtet. Dann aber ereilte mich selbst das Geschick: die Schwarzen – es sind ein Somali von der Ostküste Afrikas und ein Dahome-Nigger von der Westküste, die sich nur auf englisch verständigen können – überraschten mich gerade an dem Tage, als Ihr dem einen einen Pfeil in den Unterschenkel geschossen hattet, in meiner versteckten Hütte am Südufer, überwältigten mich und behandelten mich erst etwas besser, nachdem ich ihnen erklärt hatte, ich würde ihnen als alter Seemann helfen, nach einiger Zeit mit dem Segelboot, das sich leicht wieder flott machen läßt, einen südlichen Hafenort zu erreichen. Sie glaubten, daß ich nicht zu Euch gehöre, und wollten Euch beseitigen, weil sie fürchteten, durch Euch könnte man ihnen später auf die Spur kommen. So lagen die Dinge, als ich in dieser Nacht zu entfliehen beabsichtigte und dann mit Euch zusammentraf. – Jungens, – heute habt Ihr Euch wacker benommen, wie’s erwachsene Männer nicht besser hätten tun können! Ich danke Euch! Ihr habt mir das Leben gerettet. Der alte Benn wird Euch das nie vergessen!“

„Und – was wird nun mit den verwundeten Negern?“ meinte Tom. „Wir müßten doch eigentlich versuchen, sie gefangen zu nehmen, zumal sie doch kaum noch fähig sein dürften, erheblichen Widerstand zu leisten.“

Benn lachte kurz auf. „Lieber Tom, da kennst Du Dich mit Niggern schlecht aus. Die haben zumeist eine so unglaublich derbe Körperbeschaffenheit, daß ihnen Pfeilschüsse nicht viel ausmachen. Ich erwähnte ja schon: sie besitzen Revolver! Wir können uns deren Kugeln nicht aussetzen. Nein – etwas anderes werden wir tun: das Boot in der nächsten Nacht heben und auf und davon segeln. Nicht allzuweit südlich von diesen beiden Eilanden muß die bewohnte Insel Manok liegen. Und dorthin werden wir uns wenden.“ –

Bald darauf legten Benn und Tom sich zum Schlafe nieder, während Werner als erster freiwillig die Wache übernahm. Er hatte die Tür der Außenwand geöffnet und sich in den Eingang niedergesetzt. Der Mond stand gerade über Nelson-Land und spendete genügend Licht, um selbst drüben am Südufer der Bucht alles recht deutlich erkennen zu lassen. So gewahrte Werner denn auch sofort eine menschliche Gestalt, die plötzlich aus dem Schatten der Bäume hervortrat und vom Rande der Uferfelsen nach der Grotte hinüberspähte. Es war einer der Neger, und zwar der kleinere, den Werner an der Schulter verwundet hatte.

Bevor der Junge den alten Matrosen und Tom wecken konnte, rief der Schwarze ihn schon an:

„He, kleiner Massa (Herr), der lange Quimbo sein mausetot. Er mich nur gezwungen haben, mit ihm zu fliehen, sonst er mich auch niedergestochen hätte wie den Massa Vanderkolt, bei dem wir Arbeiter auf der Farm waren. Ich ganz friedlich sein, kleiner Massa, Ihr mir glauben könnt.“

Werner hatte Benn und Tom munter gemacht[2]. Der alte Matrose befahl dem Neger dann, an einer Schnur die Revolver in die Grotte hinabzulassen. Der Schwarze gehorchte und bewies so, daß er es wirklich ehrlich meine.

Am Morgen half er dann auch, das Boot vom Grunde der kleinen Bucht heraufzuholen. Er war ein sehr anstelliger und willfähriger Bursche, und Benn glaubte ihm, daß der Riese Quimbo allein den Mord und auch den Raub begangen hätte.

Quimbos Leiche ließ man liegen, wo sie lag. Toms Pfeil hatte offenbar das Herz gestreift, denn nur so war der schnelle Tod des schwarzen Herkules zu erklären.

Zwei Tage später verließ das Boot – es war ein halbgedeckter Kutter – bei scharfem Nordost, aber klarem Himmel die Eilande und gelangte nach einer glücklichen Fahrt in kaum 48 Stunden in Sicht der Manok-Insel, von wo ein Küstendampfer dann Benn und die beiden Knaben mit nach Batavia nahm.

Hier trennten sich die Wege der drei Gefährten für immer. Als Tom sich von Benn und Werner verabschiedete, waren seine Augen feucht.

„Ich habe Euch beide lieb gewonnen,“ sagte er schlicht. „Euch habe ich etwas zu danken, das mehr wert ist, als Doktor Woogs ganze Gelehrsamkeit: die Erkenntnis meines wahren Wesens und die feste Absicht, den – Zierbengel für alle Zeiten abzustreifen.“

Benn drückte ihm kräftig die Hand.

Recht so, Tom! Laß Dich nicht wieder in Watte packen. Und wenn Doktor Woog Dich wieder in seinem Sinn ummodeln will, dann sag’ ihm nur: „Spielen Sie mal erst irgendwo Robinson, und dann reden Sie mit!“ –“

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Möven“. Bandübergreifend und einheitlich auf „Möwen“ geändert.
  2. Fehlendes Wort „gemacht“ ergänzt.