Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
„Du wirst einsehen, mein Junge, daß unsere Sicherheit diese Maßregel verlangt. Freue Dich, daß Du modernen Freibeutern in die Hände gefallen bist. Früher hätte man Dich als lästigen Zeugen einfach über die Klinge springen lassen.“
Diese in englischer Sprache an Heinrich Oelsen gerichteten Sätze begleitete der baumlange, spindeldürre Piratenanführer, der ebenso wie seine Leute eine seidene Halbmaske vor dem Gesicht trug, mit einem höhnischen Verziehen seines von einem blonden, gutgepflegten Bart umrahmten Mundes, dessen dünne, straffe Lippen brutale Energie, Grausamkeit und Gefühllosigkeit nur zu deutlich verrieten.
Dann wurde der Schiffsjunge der „Holstein“ auf den großen Motorkutter gebracht, der neben dem Wrack der deutschen Brigg lag. Diese bot mit ihren beiden geknickten Masten und den von den Wogen zerstörten Deckaufbauten ein trauriges Bild dar. Mit einem letzten, langen Blick nahm Heinrich Oelsen von dem ihm liebgewordenen Segler Abschied, auf dem er nun bereits zwei Jahre lang die Meere durchkreuzt hatte.
Die Morgendämmerung wurde lichter und lichter. Die Riffpiraten mußten sich daher beeilen, mit ihrem Kutter, dessen schlanke Formen auf große Schnelligkeit hindeuteten, noch vor Hellwerden von dem Wrack wegzukommen. Mit den amerikanischen Küstenwachtbooten war nicht zu spaßen. Und gerade in letzter Zeit hatten diese eine Rührigkeit gezeigt, der man nur durch allergrößte Vorsicht entgehen konnte.
Die Stelle, wo die „Holstein“ gestrandet und zum Wrack geworden war, lag etwa fünfzig Seemeilen (gemeint sind deutsche Seemeilen gleich 1852 Meter, dagegen die amerikanische S. gleich 1854,71 Meter) südöstlich des Mississippideltas (Delta gleich flache Landstrecken und Inseln an den Mündungen großer Flüsse. Sie entstehen durch den mitgeführten Sand, Schlamm und Baumwuchs, die sich an der Mündung ablagern. Der Name „Delta“ ist deswegen gewählt, weil der griechische Buchstabe Delta dreieckige Form hat und diese Anschwemmungen zumeist dieselbe Gestalt annehmen) am Südende einer langen Sandbank. Der Motorkutter eilte jetzt mit voller Maschinenkraft durch die nur leicht bewegten Wasser des Golfes von Mexiko nach Westen zu davon. Eine halbe Stunde später, als am östlichen Horizont mit rötlichen Lichtstreifen sich das Aufgehen der Sonne ankündigte, begannen die zehn Leute des Piratenfahrzeugs mit flinken Händen das Aussehen ihres Schiffes völlig zu verändern. Fischernetze wurden auf dem Vorderdeck aufgehäuft, und ein bisher umgelegter, hoher Mast mit braunen Segeln gab dem Kutter noch mehr das harmlose Äußere eines Fischerbootes. Ebenso bedeckte man unten im Laderaum die auf der Brigg gemachte Beute, über die vorher eine Öltuchplane gebreitet worden war, mit einer dünnen Schicht bereits recht übel duftender Seefische.
Die Besatzung des flinken Motorkutters hatte jetzt die Masken abgelegt. Der Schiffsjunge saß ja vorn in einen Verschlag eingeschlossen. Es war eine recht gemischte Gesellschaft, die unter dem Befehl des dürren Engländers hier das Strandpiratenhandwerk ausübte: Mexikaner, zwei Neger, ein kleiner, geschmeidiger Franzose und auch zwei schwarzhaarige Italiener, die ihre Nation in Amerika zumeist gerade dort „würdig“ vertreten, wo sich Spitzbubengesindel zusammenfindet. Der Engländer, den die übrigen Leute mit Kapitano anredeten, hielt ein ziemlich strenges Regiment. Wenn der Wind seine leichte blaue Jacke zur Seite wehte, kamen darunter die gelben Ledertaschen zweier Repetierpistolen und ein langer, in einer Scheide steckender Dolch zum Vorschein. Auch seine Genossen trugen sämtlich unter ihre Röcke versteckt Schuß- und Stichwaffen bei sich. Auffallend war, daß die Freibeuter beinahe sorgfältig gekleidet waren. Besonders die Mexikaner unter ihnen, die ja alle sehr viel auf ihr Äußeres geben, zeichneten sich durch eine gewisse stutzerhafte Aufmachung aus.
Vier Stunden später, als die Sonne längst hoch am Himmel stand, näherte sich der Kutter, der inzwischen an verschiedenen von oder nach New Orleans aus- bzw. einlaufenden Seeschiffen vorübergekommen war, ohne weiteren Zwischenfall einer sandigen Inselgruppe, die mit ihren gelben Dünen wie ein großer, leuchtender Fleck auf der Meeresoberfläche ruhte und von zahllosen, für die Schiffahrt sehr gefährlichen Sandbänken in weitem Umkreise umgeben war. Diese Eilande, die man die Black-Riffe nennt und die im Westen der Südwestmündung des Mississippi zu suchen sind, liegen fernab von jedem Verkehr, werden ihres Triebsandes (feiner, oft mehlartiger Sand, der, von Wasser durchtränkt, sehr beweglich und flüssig ist. Er findet sich oft in Kohlenflözen und wird den Bergleuten gefährlich, da er aus einer mit der Spitzhacke angeschlagenen Stelle mit großer Kraft hervorquillt. Besonders häufig ist er am Meeresstrande und überall da, wo feiner Sand vorkommt. Auf dem Kurischen Haff sind im Triebsand schon Wagen und Pferde versunken) wegen ängstlich von jedermann gemieden und bieten daher Leuten, die ein so lichtscheues Gewerbe wie die Strandräuberei betreiben, ein vorzügliches Versteck.
Der Kutter steuerte denn auch mit halber Maschinenkraft jetzt auf eine schmale Rinne zu, die, nur dem Auge des Eingeweihten als Durchfahrt erkennbar, in vielfachen Windungen sich zwischen den Sandbänken und Untiefen hindurchschlängelte und schließlich auf eine kleine Insel zuführte, deren Sandberge trostlos und kahl stellenweise gut zwanzig Meter in die Luft ragten. Dieses Eiland, das von der See aus von keiner Seite bemerkt werden konnte, da andere Inseln sich schützend dazwischenschoben, war nur durch einen ganz flachen, vielleicht zweihundert Meter breiten Sund von einem noch kleineren getrennt, das die Mitte dieser nur mit spärlichster Vegetation bestandenen Gruppe bildete.
Nachdem das Piratenboot seinen Motor abgestoppt hatte, legte dessen Besatzung die Masken wieder an. Dann gab der hagere Engländer den Befehl, den Schiffsjungen an Deck zu bringen. Gleichzeitig wurde die Jolle, die bisher an einer Leine am Heck befestigt gewesen war, dicht neben das geräumige, seetüchtige und doch ziemlich flach gehende Fahrzeug gelegt.
Der Kapitano musterte den einzigen Überlebenden der deutschen Brigg mit durchbohrenden Blicken. In dem Gesicht des vielleicht sechzehnjährigen, kräftigen Knaben schien ihm irgend etwas nicht zu gefallen.
„Der Bursche sieht mir fast zu schlau und zu selbstbewußt aus, um ihn so leichten Kaufes davonkommen zu lassen“, sagte er zu dem Franzosen, der so etwas wie den Unteranführer spielte. „Vielleicht ist’s wirklich ein Fehler, daß wir ihn bis hierher mitgeschleppt haben. Doch – nun habe ich dem Knirps einmal das Leben geschenkt, und dabei bleibt es auch.“
Dann wandte er sich Heinrich Oelsen zu, der trotzig an ihm vorbei ins Weite starrte und so tat, als gehe ihn diese ganze Sache durchaus nichts an. Um die Mundwinkel des Schiffsjungen lagerte sogar ein deutlicher Zug von Verachtung, die die Kutterleute doch nur auf sich selbst beziehen konnten.
„Steig’ in die Jolle!“ befahl der Kapitano kurz. „Und lege Deine verd… deutsche Fratze in andere Falten, mein Sohn, sonst könnte mich meine Großmut noch im letzten Augenblick gereuen!“
Dabei versetzte er ihm einen rohen Stoß, daß der Junge beinahe über Bord gefallen wäre.
Gleich darauf schoß die von dem Engländer geruderte Jolle auf das mittelste der Eilande zu, bog nach Überquerung des Sundes in eine kleine Bucht ein und legte hier am Ufer an.
„So, jetzt bist Du am Ziel“, begann der Kapitano wieder. „Bevor Du aber Deinen neuen Aufenthaltsort betrittst, will ich Dir noch so einige Verhaltungsmaßregeln geben. Diese Insel hier ist rings von einem breiten Gürtel von Triebsand umgeben, der seine Schuldigkeit als Absperrmittel besser tut als die höchste Gefängnismauer. Ich rate Dir, ja stets vorsichtig zu sein, mein Bursche, wenn Du Dich dem Strande näherst. Sonst könnte es leicht geschehen, daß Du jämmerlich in dem Sande erstickst, der niemanden mehr losläßt, den er einmal in seine feuchten Arme genommen hat. Im übrigen kannst Du auf Deinem Eilande hier tun, was Du willst. Nur ist Dir aufs strengste verboten, die im Norden gelegene Dünenkette, die uns hier gerade gegenüberliegt, zu ersteigen, nachdem Du sie jetzt sofort überklettern und Dich dem Innern der Insel zuwenden wirst. Vergiß nicht, daß wir Gewehre besitzen, mit denen unsere Wachen den Sund bequem bestreichen können.“
Dann bückte er sich, nahm die losen Bodenbretter aus der Jolle heraus und breitete sie nebeneinander auf dem Triebsandstreifen aus, der die Jolle noch von dem trockenen Ufer trennte.
„Nun fort mit Dir, Bursche!“ fuhr er Heinrich Oelsen barsch an. „Die Bretter schützen Dich vor dem Einsinken, wenn Du schnell darüber hinweggehst. Die letzten zwei Meter mußt Du springen, da kann ich Dir nicht helfen! – Vorwärts, was zögerst Du noch?! Bist Du in der nächsten Sekunde nicht aus der Jolle heraus, dann fliegst Du dort in jene Lache hinein, die Dich im Augenblick verschluckt.“
Der Schiffsjunge hatte mit kurzem Blick die kahlen Dünen gestreift.
„Und wo bekomme ich hier Wasser und Nahrungsmittel her?!“ sagte er in verbissener Wut. „Wenn Sie mich hier verhungern und verdursten lassen wollen, dann schießen Sie mir lieber gleich eine Kugel vor den Kopf.“
Der Kapitano lachte höhnisch auf.
„Wie Du auf dem Eiland Dein Leben fristest, ist Deine Sache, Du kleine, giftige Kröte! Aber laß es Dir nochmals gesagt sein: die nördlichen Dünen sind für Dich verbotenes Gebiet!“
Drohend hob er jetzt einen der Riemen (Ruder) wie zum Schlage ausholend hoch. Da besann sich Heinrich Oelsen nicht lange, sprang auf die Bretter und dann in weitem Satz glücklich auf den Strand.
Als er sich nun nach der Jolle umschaute, war der Engländer gerade dabei, die Bodenbretter wieder einzufügen.
„Ich werde den Namen Ihres Kutters nicht vergessen, Kapitano!“ rief er ihm zu. „Vielleicht gibt die Vorsehung mir Gelegenheit, den „Kondor“ noch einmal wiederzusehen!“
Diese versteckte Drohung entlockte dem Piratenführer nur ein abermaliges Hohngelächter.
„Die Vorsehung wird Dich auf Deiner Insel festhalten, Bursche, – das kannst Du mir schon glauben! Sonst würde ich Dich hier nicht aussetzen und Dir so wenigstens teilweise Deine Freiheit belassen.“ Bei den letzten Worten zog er eine seiner Repetierpistolen hervor, entsicherte sie und legte auf den Knaben an. „Ich zähle bis zwanzig, dann schieße ich, so wahr ich Edward Halonkey heiße! Nimm also Deine Beine etwas in die Hand, damit Du schleunigst hinter den Dünen verschwindest.“
* * *
Heinrich Oelsen dachte jedoch gar nicht daran, etwa aus Angst vor einer Kugel davonzulaufen. Er entfernte sich vielmehr gemächlichen Schrittes vom Strande, der etwa fünfzig Meter breit von der Flut glatt wie eine Tenne gewaschen war und dann erst in die gelbweißen Sandhügel überging, die auch hier zu Kuppen von zwölf und mehr Meter Höhe sich auftürmten. Er war nicht umsonst der Sproß einer alten Hamburger Seemannsfamilie, von deren zahlreichen Mitgliedern in den letzten hundert Jahren kaum einige wenige friedlich in einem Bett gestorben waren. Den Oelsens steckte die Liebe zum weiten Meer und die Abenteuerlust wie eine Krankheit im Blut. Sie waren ein kräftiges, zähes Geschlecht, dessen junger Nachwuchs so bald als möglich den Schulbänken entfloh und sich die See zur Heimat erkor. Auch Heinrichs Vater war Kapitän gewesen, aber bereits seit acht Jahren mitsamt seinem Schiffe, einem einer Emdener Reederei gehörigen Dreimaster, verschollen. Die letzte Nachricht von ihm hatte die Seinen aus Habana auf Kuba erreicht, von wo sein Dreimaster „Henriette“ nach Galveston in Texas mit einer Ladung Tabak gehen sollte. Hier war das Schiff jedoch nicht eingetroffen, und man hörte nie wieder von diesem und der Besatzung das Geringste. Kapitän Franz Oelsen hinterließ eine Frau und drei Söhne, von denen Heinrich der jüngste war. Seine beiden Brüder, die einige Jahre älter waren, dienten bei der Kaiserlichen Marine und befanden sich zur Zeit mit dem Schulschiff „Auguste Viktoria“ auf einer Reise um die Welt. –
Dem Kapitano war es ein neuer Anlaß zu allerlei Verwünschungen, als er den Knaben jetzt mit so kaltblütiger Ruhe davongehen sah. Lediglich um ihn zu erschrecken, feuerte er einen Schuß ab, dessen Kugel hoch über Heinrichs Kopf dahinpfiff.
Doch der Junge beschleunigte auch jetzt seine Schritte nicht. Langsam erklomm er, ohne noch einen Blick nach rückwärts zu werfen, die mit spärlichem Strandhafer und einzelnen Kakteenstauden bewachsenen Dünen und blieb dann erst stehen, als er eine Kuppe hinter sich hatte, die ihn den Augen des Engländers entzog.
Hier, nachdem er sich nicht mehr beobachtet wußte, verließ ihn seine mühsam bewahrte Fassung.
Seit achtundvierzig Stunden ohne Schlaf und länger als einen Tag ohne jede feste Nahrung, waren seine Körperkräfte dem Versagen nahe. Dazu kamen noch die seelischen Aufregungen, einmal die Schrecken der beiden letzten Nächte, dann aber die Todesangst, die er hatte ausstehen müssen, bevor der Freibeuterkapitän ihm das Leben schenkte. Und jetzt noch das Schlimmste: die Aussicht, auf diesem traurigen, sandigen Eiland verhungern und verdursten zu müssen …! Das Leben hatte man ihm gelassen, aber nur, um ihn hier einem ebenso sicheren Tode in die Arme zu treiben.
Matt ließ er sich auf den weichen Boden fallen. Ohne Teilnahme irrte sein Blick über die kleine Insel hin, die für ihn einen festen Kerker darstellte, aus dem es kein Entrinnen gab und in dem niemand ihm auch nur Wasser und hartes Brot reichen würde.
Der Platz, auf dem er in dumpfer Verzweiflung und tiefer Erschöpfung jetzt ausruhte, lag so hoch, daß er das Eiland in allen seinen Teilen, abgesehen von den Ufern, bequem überschauen konnte. Es hatte die Gestalt einer Sichel, die sich der Länge nach ziemlich genau von Norden nach Süden erstreckte und bei einer größten Breite von vielleicht zwei Kilometer etwa vier mal so lang war. Ein Dünengürtel umgab es wie der erhöhte Rand einher Schüssel. Und was er von dem Innern der Insel nun erblickte, was seine Augen allmählich trotz des trostlosen Eindrucks des Ganzen in hoffnungsvollere Einzelheiten zerlegten, weckte langsam wieder die müden Lebensgeister bei ihm und pflanzte neuen Mut in sein verzagtes Herz.
Flache sandige Stellen, auf denen hier und da ein Büschel des anspruchslosen Cyperngrases neben einigen Kakteen wuchs, die zumeist den in Texas und Mexiko vorkommenden Arten des Kandelaber- und des Säulenkaktus angehörten, wechselten mit völlig kahlen Hügeln ab. Nur in der Mitte des Eilandes gab es ein ziemlich ausgedehntes Längstal, aus dem ihm das hellere Grün von Sträuchern freundlich entgegenschimmerte.
Immerhin war also die Insel doch nicht so ohne jede Vegetation, wie er es im Anfang befürchtet hatte. Wo es Sträucher gibt, da muß notwendig auch Wasser vorhanden sein, sagte er sich mit stets zunehmendem Selbsterhaltungstrieb. Und dieser Gedanke an einen erfrischenden Trunk ließ ihn jetzt seine Wanderung fortsetzen und eiliger als vorhin dem muldenförmigen Tale zustreben, das sich an der breitesten Stelle des Eilandes deutlich abzeichnete.
Bald hatte er es erreicht. Aber seine hastenden Schritte waren zuletzt schon merklich langsamer geworden. Gewiß – der Boden dieser Erdsenkung, die ziemlich tief unter dem Meeresspiegel liegen mußte, war mit einer dichteren Grasdecke bewachsen und wies hier und da weite zusammenhängende Gesträuchgruppen auf, ebenso wie viele kleinere und größere Wassertümpel zu sehen waren. Doch die Sträucher bestanden nur aus Weiden mit langen, schmalen Blättern, aus denselben Weiden, die auch im Delta des Mississippi überall auftreten und denen schon die Feuchtigkeit salzhaltigen Wassers zum Fortkommen genügt. Und die Wasserlachen, die sich wie ein Sumpf zwischen den Weiden und fahlen Gräsern hinzogen, hatten eine fettig glänzende Oberfläche und am Rande einen braunroten, moorigen Streifen von verfaulten Pflanzenrückständen und den Niederschlägen des mit allerlei Beimischungen durchsetzten Wassers. Daß dieses nicht genießbar war, lehrte ihn nicht nur der Blick, sondern auch seine Nase, die die üblen Gerüche der sumpfigen Strandniederungen an tropischen Küsten nur zu gut kannte, wo die sengende Sonne die Fieberkeime ausbrütet und besonders den Europäer mit dem Tode bedroht.
Nein, hier lange verweilen hieß sich der bösen Gefahr einer Erkrankung aussetzen. Ganze Schwärme von Insekten spielten ja über den grünlich-fettig schillernden Tümpeln. Und daß einige von diesen fliegenden, stechenden Ungezieferarten die Malaria und das Gelbfieber auf den Menschen durch ihren Stich übertragen, wußte er nur zu gut.
Hastig eilte er daher am Rande des langgestreckten Tales weiter dem Südteile des Eilandes zu. Inzwischen war ihm nämlich ein glücklicher Gedanke gekommen. Daß einige Kakteenarten sehr saftige, zuckerreiche Früchte besitzen, hatte er schon in dem Hafen von Panama erfahren, wo die „Holstein“ vor einem Vierteljahr eine Woche gelegen und er daher die Zeit gefunden hatte, ein paar Ausflüge tiefer ins Land hinein in Begleitung des Steuermannes zu unternehmen. Jetzt im Juni mußte es hier ja sicherlich bereits ausgereifte Früchte geben. Und er bedauerte es sehr, nicht schon auf dem Hinwege nach dem Tale die Kakteen, von denen einige ganz gewaltige Größe besaßen, genauer betrachtet zu haben. Dann wären ihm fraglos die Früchte aufgefallen, und er hätte nicht unnötig hungrig und durstig in der glühenden Sonnenhitze durch den losen Sand zu waten brauchen, der so stark durchwärmt war, daß er es durch die Sohlen seiner Schuhe hindurchfühlte.
Zu seiner großen Freude konnte er dann feststellen, daß dieser Teil der Insel, besonders aber das südliche, mit der Spitze nach Westen zu gerichtete Horn dieser sandigen Sichel, einen kräftigeren Pflanzenwuchs aufzuweisen hatte als der nördliche. Zwar gab es auch hier nur an den inneren Abhängen der Dünen Strandhafer und weiter nach der Mitte zu Kakteen und Cyperngras, aber die beiden letzteren Pflanzen waren hier weit zahlreicher vertreten und bedeckten ganze Flächen, so daß man mit Recht von kleinen Grassteppen, durch die sich Kakteenfelder hinzogen, sprechen konnte. Freilich – Trinkwasser war auch hier nicht zu entdecken. Doch diesen Mangel empfand er insofern nicht so schwer, als die überreich vorhandenen Früchte einer besonders dickblätterigen Kaktusart, die aus einfächerigen, vielsamigen Beeren bestanden, seinen Hunger und Durst aufs beste stillten und ihn auch für die nächste Zukunft dieser Sorgen überhoben.
* * *
Die Bodengestaltung der südlichen Inselhälfte war ebenfalls für einen längeren Aufenthalt geeigneter, da grasbedeckte Flächen hier mit kleinen Tälern abwechselten, in denen die spärliche Flora (Pflanzenwelt), die etwa der der Mississippi-Niederungen entsprach, immerhin den eintönigen, traurigen Eindruck der hellen Sandmassen etwas verwischte. Heinrich Oelsen beschloß daher auch, in diesem Gebiet sich einen Ort zu suchen, wo er sich eine Hütte errichten konnte, die er sich aus Weidenruten zu flechten gedachte.
Mit frischem Mute durchschritt er nun die Täler und bescheidenen Steppen, spähte überall nach einer Stelle aus, die seinen Wünschen entsprach. Der Gedanke, unverzüglich mit dem Bau eines Unterschlupfes zu beginnen, hatte seine ganze Stimmung gehoben. Sein Schicksal, das ihm eben noch bei leerem Magen und ausgedörrter Kehle so überaus trostlos erschienen war, kam ihm jetzt schon weit weniger verzweifelt vor. Auch bei ihm machte sich der allen Oelsens eigentümliche Charakterzug, dieser abenteuerlustige Tatendrang, bereits wieder geltend, und beinahe heiter und mit klaren Augen, in denen Entschlossenheit und Lebensfreude leuchteten, wanderte er umher, verglich diesen und jenen Ort miteinander, sorgsam abwägend, welcher ihm für eine Niederlassung die größten Vorteile bot.
Bei diesem planmäßigen Umherstreifen gelangte er auch an ein ziemlich nahe der südlichen Sichelspitze gelegenes Tal, das bei einer Breite von vielleicht vierzig Meter und der doppelten Länge auf seinem ebenen Grunde einen für diese Sandinsel beinahe üppigen Pflanzenwuchs besaß. Zu seinem nicht geringen Erstaunen bemerkte er in der Mitte dieses von Anhöhen rings umgebenen Kessels, der nur einen schmalen Ausgang nach dem Strande hinunter hatte, auch sechs Platanen, die dicht beieinander standen und deren Blätter so gut entwickelt waren, daß er es nicht begreifen konnte, wie diese feuchten Boden vorziehenden Bäume hier zu gedeihen vermochten. Rings um die Platanen zog sich ein fast kreisrunder Fleck hin, auf dem das Gras ebenfalls eine auffallende Höhe erreichte und durchaus nicht das halbverdorrte Aussehen von Sandgewächsen hatte. Außerdem gab es auch hier Kakteen in starken Feldern und von einer Größe, wie er sie kaum für möglich gehalten hatte. Besonders eigenartig wirkten die Säulenkakteen, die bei einem Durchmesser von etwa einem halben Meter vier bis fünf Meter hoch waren und wie grüngestrichene Pfeiler aussahen.
Nachdem der Schiffsjunge vom Rande eines der das Tal einschließenden Hügel all diese Herrlichkeiten – denn für diese Sandbüchse von Insel waren es wirklich solche – genügend bewundert hatte, begann er den Abstieg nach dem Grunde der Bodensenkung.
Hierbei nun geschah es, daß an einer abschüssigen Stelle der Sand unter seinen Füßen nachgab und er eine unfreiwillige Rutschpartie den Abhang hinab antrat. Vergebens suchte er sich an Grasbüscheln festzuhalten, vergebens stemmte er die Hände in das lose Erdreich. Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit schoß er abwärts einer Stelle entgegen, die ganz steil nach dem Tale zu abfiel. Jetzt flog er über den Rand dieser Wand hinaus ins Leere, schlug dann aber kaum drei Meter tiefer auf einen Hügel auf, dessen Oberfläche unter seinem Gewicht nachgab.
Das Krachen brechender, trockener Äste klang an sein Ohr, Sand flog ihm in die Augen, so daß er sie schließen mußte; endlich ein dumpfer Krach, und er war unten angelangt.
Mühsam öffnete er die Lider, wischte sich die feinen Körner aus den tränenden Augen, setzte sich aufrecht hin und starrte verwundert um sich. – Wo befand er sich denn jetzt mit einem Male?! Wo war der helle Sonnenschein geblieben?! Das hier war doch nicht der Boden des Tales …!
Nun hob er den Kopf und schaute über sich auf das Loch, durch das er in diese unbekannte Welt hinabgeplumpst war. Helles Tageslicht fiel durch diese Öffnung, die durch eine Menge von jetzt zerbrochenen und nach unten gedrückten Ruten noch halb wie von einem Gitter überspannt war, in die Höhle hinein. – Höhle …? Nein, es war keine Höhle, wie er zuerst angenommen hatte. Jetzt hatten seine Augen sich an das hier herrschende Dämmerlicht gewöhnt, jetzt sah er, daß er das aus Weidenruten geflochtene Dach einer kleinen Hütte bei seinem Sturz durchbrochen hatte, welches mit Platanenblättern und Gras dicht belegt war, damit der feine Sand nicht hindurchrieseln konnte, mit dem es von außen offenbar absichtlich bestreut worden war.
Eilig erhob er sich, obwohl ihn der Rücken etwas schmerzte. Das Dach hatte die Wucht des Anpralles zum Glück derart abgeschwächt, daß er bei dieser Talfahrt, die sonst für ihn recht übel hätte endigen können, noch ganz glimpflich weggekommen war. Es neigte sich nach vorn zu, nach einer jetzt deutlich wahrnehmbaren Tür aus Weidenrutengeflecht und großen Rindenstücken hin, etwas abwärts und diente einem viereckigen, etwa zwölf Quadratmeter großen Raum als Decke, dessen Wände ebenfalls aus Weidenflechtwerk bestanden, während der Boden mit längst verdorrten Gräsern belegt war.
Mit nicht geringer Neugierde schaute sich Heinrich Oelsen nun genauer in dieser Hütte um, die er vom Rande des Tales aus gar nicht bemerkt hatte. Vorher aber versuchte er die Tür zu öffnen, die kaum eineinhalb Meter hoch war, während die größte Höhe dieser bescheidenen Wohnung etwa zweieinhalb Meter betrug. Die Tür ließ sich leicht nach außen öffnen, führte jedoch nicht etwa in das Tal hinein, sondern vielmehr nur auf einen kleinen Vorplatz, der ebenso wie die ganze Hütte von einem dichten Kaktusfeld, das sich an der westlichen Talwand entlangzog, eingeschlossen war.
Zunächst widmete der Junge seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Innern dieser Behausung, die ihm jetzt wie ein Geschenk des Himmels erschien. Tatsächlich gab es hier eine ganze Menge zu sehen. Außer der Tür befanden sich in den Seitenwänden noch zwei kleine, durch Läden aus engem Weidengeflecht von innen leicht zu verdeckende Fensteröffnungen. Dann stand an der einen Seite eine Art Tisch, dessen Füße aus starken, in die Erde eingegrabenen Platanenästen hergestellt waren, während ein Stück gerade gebogene Rinde desselben Baumes die Tischplatte vorstellte. Daneben lehnte eine Art Sessel, der recht geschickt aus Weidenruten geflochten war, wie überhaupt sowohl als Baumaterial für diese Hütte als auch zu deren Einrichtungsgegenständen hauptsächlich die Weiden und die Platanen hatten herhalten müssen. Im Hintergrunde wieder stand ein kastenähnliches Bett, ferner ein Korb mit Deckel. Auch an der anderen Wand, dem Tische gegenüber, waren zwei solche Körbe aufgestellt, in denen noch eine große Menge vertrockneter Knollen, die Heinrich unbekannt waren, sowie ein Vorrat von Kakteenfrüchten lag, während der kleinere Korb neben der Lagerstatt Dinge enthielt, die für den Knaben, der hier den Robinson zu spielen gezwungen war, den größten Wert hatten: ein aus einem Stück Eisen hergestelltes Beil, ferner einige Rollen von Schnüren von verschiedener Stärke, die aus Tierdärmen gedreht zu sein schienen, weiter ein festes amerikanisches Bowiemesser und drei merkwürdige, aus Stein bestehende topfartige Gefäße, die sich der Erbauer dieser Hütte offenbar ebenfalls selbst angefertigt hatte. Erst später, als Heinrich Oelsen einen Gefährten fand, der seine Einsamkeit teilte, erfuhr er von diesem, auf welche Weise die Töpfe hergestellt waren, die, wie an der rauchgeschwärzten Außenseite erkennbar, zum Kochen benutzt worden waren.
Schließlich entdeckte er in einer besonderen, durch eine Zwischenwand abgeteilten Ecke dieses Korbes dann noch eine Metallbüchse, in der sich etwa zwanzig guterhaltene Zündhölzer mit Phosphorköpfen befanden, und eine Anzahl von dünnen, gelbgrauen, viereckigen Steinplatten, über deren Bedeutung der Knabe nicht lange im Unklaren blieb, da er bei genauem Hinsehen bemerkte, daß in die Platten wie in Schiefertafeln ganze Reihen von Worten eingeritzt waren. So stand zum Beispiel auf der Platte, die er gerade in der Hand hielt, folgendes in deutscher Sprache, deren Ausdrücke das Herz des Knaben unwillkürlich in Gedanken an die ferne Heimat höher schlagen ließen:
„Gestern gelang es mir, wieder nach der Pirateninsel hinüberzuwaten und mir von dort heimlich ein Stück Eisen zu holen, aus dem ich mir ein Beil herzustellen gedenke. Das Beil wird es mir dann vielleicht möglich machen, daß ich mir einen Nachen zimmern kann. Ich will und muß mir die Freiheit verschaffen, um mich an den Leuten zu rächen, die mich hier gefangen halten und die mein schönes Schiff, das noch zu retten gewesen wäre, vernichteten.“
So gern Heinrich Oelsen auch sofort das ganze Tagebuch des Seemannes, der hier gehaust hatte, gelesen haben würde, er hatte jetzt doch Wichtigeres vor. Erst mußte er die Hütte und auch deren Umgebung genau in Augenschein genommen haben.
Er legte also die Steintafeln, von denen im ganzen 23 vorhanden waren, in den Korb zurück, schloß dessen Deckel wieder und wandte sich nun der Ecke neben der Bettstatt zu, in der einige Gegenstände lehnten, deren Besichtigung er sich bis zuletzt aufgespart hatte. Es waren dies zwei Speere, deren Spitzen aus den starken Oberschnäbeln von Kranichen hergestellt waren, ferner ein Bogen[1] mit einer Darmsaite, ein aus Rindenstücken gearbeiteter Köcher mit zehn gefiederten Pfeilen mit Knochenspitzen und zwei Bündel glatter Stöcke, die so eingerichtet waren, daß sie sich leicht mit den Enden aufeinanderbinden ließen, wodurch sich Ruten von gut fünf Meter Länge ergaben, die mit ihren einzelnen, nach oben zu stets dünner werdenden Teilen nur Angelruten sein konnten. Und wirklich fand Heinrich jetzt heraus, indem er eine der Rollen dünner Schnur nochmals zur Hand nahm, daß diese eine richtige Angel mit einem kräftigen eisernen Haken, der sicherlich auch selbst angefertigt war, darstellte, und daß in dem Stück Rinde, um das die Schnur gewickelt war, noch weitere fünf Haken von verschiedener Größe steckten.
Mit ehrlicher Bewunderung für den praktischen Sinn des Mannes, der diese Hütte und all das andere geschaffen hatte, betrachtete der Knabe jetzt besonders die Waffen, die der Einsame sich trotz seiner unzureichenden Werkzeuge so außerordentlich sauber und zierlich gearbeitet hatte.
Dann verließ er die Hütte, um sich auch draußen umzusehen. Wie schon erwähnt, war diese mit Ausnahme eines kleinen Vorplatzes von drei Seiten ganz dicht durch ein Feld von Kakteen wie mit einer undurchdringlichen Mauer umschlossen, während die Rückseite sich an die gerade an dieser Stelle recht steile Talwand anlehnte, so daß das nach der Tür zu abfallende Dach infolge des darüber ausgebreiteten Sandes wie eine flache Fortsetzung dieser Wand aussah. Die Absicht, das niedrige Häuschen vor jedem neugierigen Blick zu verbergen, ging auch weiter daraus hervor, daß sein Erbauer dicht an die außen mit trockenen Distelstauden verkleideten Hüttenwände gerade Kandelaber- und Säulenkakteen in großer Zahl angepflanzt hatte, die mit ihren viele Meter hohen Trieben diesen künstlichen Schlupfwinkel aufs beste verdeckten. An ein zufälliges Vorkommen dieser baumartigen, merkwürdigen Pflanzen gerade hier und in solcher Menge wollte Heinrich Oelsen nicht glauben. Dazu sah die ganze Anlage doch aus der Nähe betrachtet zu sorgfältig und klug durchdacht aus.
Sehr bald fand er dann auch einen weiteren Beweis dafür, daß der frühere Bewohner des Eilandes auf eine sehr schlaue Weise sein Häuschen zu einem vorzüglichen Versteck ausgestattet hatte. Er entdeckte nach einigem Suchen nämlich einen schmalen Pfad, der zwischen den Kakteen in vielfachen Windungen hindurchlief und erst fünfzig Meter von der Hütte entfernt in das Tal einmündete. Und dieser Ausgang war sogar noch durch mehrere ineinander verflochtene, trockene Stauden, die sich leicht bei Seite schieben ließen, verschlossen. Entfernte man diese stachlige Tür, so konnte man das Tal in seiner östlichen Ecke betreten. Aber auch hier gab es einen förmlichen Wald von Kandelaberkakteen, so daß ohne zwingenden Grund sicherlich niemand diese Stelle betrat.
Nachdem der Schiffsjunge mit der Besichtigung seines zukünftigen Heimes, – denn daß dies die Hütte werden sollte, war bei ihm eine längst beschlossene Sache, fertig war, begab er sich nach den in der Mitte dieser Bodensenkung stehenden sechs Platanen hinüber, in deren Zweigen er jetzt auch die ersten Landvögel, ein paar wilde Tauben, bemerkte. Er hatte sich diesem schattigen Platz, auf dem das Gras so üppig wucherte, in der stillen Hoffnung genähert, daß er hier vielleicht Anzeichen von dem Vorhandensein von Süßwasser finden würde, erlebte aber wieder eine ähnliche Enttäuschung wie in dem nördlichen Teile der Insel: dort hatte er ungenießbares Sumpfwasser entdeckt, während er hier überhaupt kein Wasser bemerkte, obwohl der Pflanzenwuchs gerade an dieser Stelle so sehr vielversprechend gewesen war. –
* * *
Inzwischen war der Nachmittag herangekommen. Heinrich Oelsen beeilte sich jetzt, abermals eine Mahlzeit von Kakteenfrüchten einzunehmen, um dann sofort mit der Ausbesserung des Hüttendaches beginnen zu können. Die hierzu nötigen Weidenruten schnitt er sich mit dem Bowiemesser in der sumpfigen Niederung ab, wo es Weiden in Hülle und Fülle gab. Nachdem er zwei große Bündel gesammelt hatte, machte er sich schwerbepackt auf den Rückweg.
Eine Stunde Arbeit kostete es ihm nur, dem Dache das frühere Aussehen zu geben. Dann schaffte er mit dem Messer abgehauenes Gras in die Hütte, während er das alte, das als Bodenbelag und als Bettstreu gedient hatte, entfernte und außerhalb des Tales wegwarf. Diesen Weg scheute er nicht, da er sich überhaupt vorgenommen hatte alles zu vermeiden, wodurch die Strandräuber, die ohne Zweifel von Zeit zu Zeit auf dem Eiland sich einfinden würden, darauf hingewiesen werden könnten, daß er gerade in diesem Tale seine Wohnung aufgeschlagen habe. Zu diesen Vorsichtsmaßregeln gehörte zum Beispiel auch das Verwischen seiner Fußspuren vor dem Eingang in das Kaktusfeld, eine Mühe, der er sich stets mit größter Sorgfalt unterzog.
Nachdem er das Innere der Hütte gereinigt und das frische Gras verteilt hatte, blieb ihm vor dem Dunkelwerden noch Zeit genug übrig, um mit dem Bogen unter den Platanen Schießversuche anzustellen. Leider war das Platanenholz, aus dem der Bogen geschnitzt war, inzwischen jedoch derart vertrocknet, daß diese Waffe nicht benutzt werden konnte. Hierdurch ließ der Knabe sich aber nicht weiter die gute Laune nehmen. Bald hatte er an einer der Platanen einen Ast entdeckt, der ihm zu einem neuen Bogen geeignet schien, und das Beil und das Bowiemesser mit der kräftigen Klinge machten es ihm leicht, die untaugliche Waffe durch eine neue zu ersetzen.
Bei dieser Schnitzarbeit, die er vor der Hütte im Sande sitzend verrichtete, überraschte ihn die Abenddämmerung, so daß er die Fertigstellung des Bogens auf den nächsten Morgen verschieben mußte.
Müde zum Umfallen streckte er sich nun auf sein weiches Grasbett aus. Bevor er einschlief, vergegenwärtigte er sich nochmals die Ereignisse dieser letzten Tage: Am 17. Juni 1906 abends war die „Holstein“ nach einem langanhaltenden Orkan gestrandet und wrackgeschlagen worden, wobei die Wogen auch den größten Teil der Besatzung mitfortgerissen hatten. Nur vier Mann, darunter auch Heinrich Oelsen, überstanden den folgenden Tag, der kaum zur Rüste ging, als auch schon über die inzwischen ruhiger gewordene See der Piratenkutter, leichte Beute witternd, herbeigeschossen kam. Der Schiffsjunge hatte sich gerade in der Kombüse (Küche) etwas zu essen holen wollen. Da hörte er wüsten Lärm und Schüsse auf Deck, und gleichzeitig vertrat ihm auch einer der maskierten Freibeuter den Weg, band ihm die Hände und sperrte ihn in die Kombüse ein. Schlaflos verbrachte er auch diese Nacht. Glaubte er doch bestimmt, daß die Piraten auch ihn beseitigen würden, wie sie es sicher mit seinen drei Leidensgenossen getan hatten. Aber der Kapitano schenkte ihm nachher doch das Leben. Möglich, daß er sich scheute, das Blut dieses halben Kindes zu vergießen. – So war Heinrich Oelsen denn schließlich auf dieses Eiland gelangt. Und dankbar faltete er jetzt, wo er sich vorläufig so wohlgeborgen wußte, die Hände und sandte ein heißes Gebet zum Himmel empor. Dann schlief er ein. Bunte Traumbilder erstanden in seinem regen Geist, und besonders häufig trat sein verschollener Vater in diesen unwirklichen Geschehnissen auf. Als der Knabe am Morgen erwachte, hatte er seine Traumgeschichte mit allen Einzelheiten noch so deutlich in der Erinnerung, daß er sich wunderte, aus welchem Grunde wohl gerade die Person seines Vaters eine so große Rolle in diesen Träumen gespielt hatte. – –
* * *
Die folgende Woche verging ohne jedes besondere Ereignis. Der neue Bogen war längst in Gebrauch, und die Schießfertigkeit des Knaben nahm bei den häufigen Übungen von Tag zu Tag zu. Bewaffnet mit einem der Speere und Bogen und Pfeilen, hatte er inzwischen wiederholt die Insel in allen ihren Teilen durchstreift, ohne etwas für ihn Wertvolles weiter zu entdecken. Auch davon hatte er sich überzeugt, daß, so nahe auch die benachbarten Eilande lagen, ein Entweichen von seiner Insel wegen des Triebsandstreifens, der stellenweise fünf bis sechs Meter breit war, tatsächlich ausgeschlossen schien. Bei diesen Ausflügen hatte er die nördlichen Dünen ängstlich vermieden, wie dies der Piratenanführer ihm befohlen hatte. Trotzdem lockten ihn gerade jene Sandberge mit tausend Armen, und oft genug war er schon nahe daran gewesen, ohne Rücksicht auf das Verbot einen Blick nach der im Norden gelegenen, nur durch den flachen Sund von ihm getrennten Insel hinüberzuwerfen, auf der die Strandräuber, wie er aus einigen ihrer Bemerkungen herausgehört hatte, ihren Schlupfwinkel haben mußten.
Schließlich wurde dieses Verlangen, obwohl er dessen Zwecklosigkeit vollkommen einsah, so stark in ihm, daß er genau am achten Tage seiner Anwesenheit auf dem Eiland beschloß, kurz vor Eintritt der Dämmerung nach den nördlichen Dünen zu wandern um festzustellen, ob er vielleicht bei der Dunkelheit auf der Pirateninsel irgend einen Lichtschein bemerken könne, der ihm dann verraten hätte, daß der Kapitano mit seiner Bande zur Zeit dort weile. Sollte er hierfür keinerlei Anzeichen finden, so beabsichtigte er die Nacht in den Dünen zuzubringen, damit er früh morgens in aller Ruhe das Freibeuterversteck in Augenschein nehmen könne.
Zu so später Stunde wie heute hatte Heinrich Oelsen das Südtal noch nie verlassen. Deshalb war er auch sehr überrascht, daß ganze Schwärme von Kranichen und Wildenten in den Sumpf einfielen, als er dort vorüberkam. Diese Beobachtung gedachte er später dahin auszunutzen, um sich mit Fleisch zu versehen. Zündhölzer besaß er ja, mit deren Hilfe er sich ein Feuer in Brand setzen konnte, über dem er sich eine mit Bogen und Pfeil erlegte Ente braten wollte. Gewiß, er hatte auch schon auf die Tauben Jagd gemacht, die hin und wieder sich auf die Platanen niederließen. Aber seine Geschicklichkeit als Schütze war leider noch nicht groß genug gewesen, um ein so kleines, bewegliches Ziel zu treffen. Und nachdem er einige Male Fehlschüsse zu verzeichnen hatte, durch die er die Tauben lediglich verscheuchte, gab er vorläufig diese Jagd ganz auf. – –
Als er nach einer Wanderung von anderthalb Stunden die Norddünen jetzt erreichte, war die Dunkelheit bereits so tief geworden, daß er von der Höhe eines dicht am Strande gelegenen Sandhügels, den er, stets vorsichtig umsichspähend und -horchend, erstiegen hatte, nur noch gerade die Insel drüben wie einen hellen Fleck aus dem Wasser hervorragen sah.
Kaum aber hatte er hier auf diesem Ausguckposten einige Minuten lang auf den weichen Boden hingestreckt gelegen, als er das unverkennbare Geräusch von schlecht geölten Dollen (eiserne Rudergabel, in die die Riemen (Ruder) hineinpassen) hörte, in denen Riemen taktmäßig bewegt wurden. Gleich darauf bemerkte er auch die Umrisse eines Bootes, in dem zwei Personen saßen, von denen die eine ruderte.
Schon wollte er aus Angst, man könne ihn hier auf verbotenen Wegen entdecken, davonlaufen und nach seiner Hütte zurückkehren. Doch rechtzeitig gewann noch die ruhige Überlegung bei ihm die Oberhand. Er sagte sich, daß man ihn von der Pirateninsel aus selbst mit dem besten Fernrohr nicht beobachtet haben könne, wie er den Hügel erstieg, und daß das sich nähernde Boot daher sicherlich nur zufällig gerade jetzt auftauche.
So blieb er denn regungslos und tief in den Sand gedrückt liegen. Freilich – ein wenig schneller klopfte ihm doch das Herz. Wenn man ihn hier erwischte, ging es ihm schlecht. Aber – er würde sich schon nicht abfassen lassen. Er war zu begierig zu erfahren, was das Boot zu dieser späten Stunde noch vorhatte. Und diese Neugierde bezahlte er gern mit einem leisen Angstgefühl, das den Reiz dieses Erlebnisses nur noch erhöhte.
Jetzt war das Boot am Rande der Triebsandschicht angelangt, und der Ruderer zog die Riemen ein. In demselben Augenblick vernahm der Knabe auch schon eine harte Stimme, die ihm nur zu wohlbekannt war, – die des Piratenanführers, der dem zweiten Insassen des jetzt bewegungslos stilliegenden Bootes zurief:
„Los denn, mein gelehrter Herr Doktor, – springen Sie! Wir sind angelangt. Sie werden sich vielleicht etwas nasse Füße holen, da das Ufer hier noch etwas feucht ist. Doch in diesem gesegneten Klima werden Ihre Sachen schnell trocknen.“
Der so höhnisch mit „Doktor“ Angeredete hatte sich erhoben und schien ängstlich zu zögern. Auch suchte er den Kapitano durch ein paar Worte, die Heinrich nicht verstehen konnte, um Mitleid anzuflehen. Doch der lange, dürre Engländer lachte nur grausam auf.
„Sie verschwenden unnötig Ihr schlechtes Englisch an mich, – wirklich!“ hallte seine kräftige Stimme durch die Stille der Nacht bis zu dem kleinen Lauscher hinüber. „Und wenn Sie nicht, bevor ich bis drei gezählt habe, aus der Jolle hinaus sind, helfe ich mit dem Ruder nach.“
Heinrich Oelsen erstarrte förmlich das Blut in den Adern vor Entsetzen. Er wußte ja nur zu gut: jener Unglückliche dort mußte unfehlbar in dem Triebsande versinken! Und das wollte der Freibeuter auch ohne Zweifel. Auf diese Weise schaffte er den Fremden bei Seite, ohne sich die Hände mit dessen Blut zu beflecken.
Und dann geschah das Furchtbare. Ahnungslos sprang der Mann drüben über den Rand des kleinen Bootes weg, um sofort bis an die Knie in dem nassen Sande zu versinken.
Da erst merkte er, welche Absicht den Kapitano geleitet hatte. Er stieß einen gellenden Hilferuf aus und warf sich mit dem Oberkörper zurück nach dem Boote hin, um sich daran festzuklammern. Doch der Schurke von Strandräuber hatte längst sein winziges Fahrzeug mit einem schnellen Ruderschlage meterweit fortgetrieben, bewegte jetzt kraftvoll die Riemen und verschwand schnell in der Dunkelheit, ohne sich um die Hilferufe des dem sicheren Tode Preisgegebenen zu kümmern.
Heinrich Oelsen hatte vorhin, als der Fremde Miene machte, das Boot zu verlassen, mit einem lauten Warnungsschrei das gräßliche Vorhaben des Kapitano durchkreuzen wollen. Aber die Kehle war ihm vor Grauen wie zugeschnürt. Nur ein pfeifender Laut drängte sich über seine Lippen. Jetzt aber schnellte er empor und rannte wie gehetzt zum Strande hinab. Ob der Pirat ihn sah und dann vielleicht zurückkehrte, war ihm völlig gleichgültig. Nur ein Gedanke trieb ihn vorwärts: der, dem Unglücklichen, der da vor ihm mit dem tückischen Triebsande rang, zu helfen.
Inzwischen war der Fremde bereits bis an die Hüften versunken. Mit verzweifelten Anstrengungen suchte er sich jetzt nach dem festen Ufer hinzuarbeiten, das er doch nie erreicht hätte, wenn ihm nicht in dem Schiffsjungen ganz unerwartet ein ebenso kühner wie kluger Retter erschienen wäre. Schon während des wilden Laufes von dem Hügel zum Strande hatte Heinrich die Bogensehne schnell mit einer Schleife an dem Speerende befestigt, so daß er auf diese Weise ein Gerät erhielt, welches bis zu dem noch immer laut um Hilfe Rufenden hinreichen mußte.
Keuchend stand er jetzt dicht am Rande des Triebsandstreifens, und leise rief er nun das Opfer des Kapitano mit einigen Worten an, auf die hin der Fremde sofort verstummte und dann geschickt den ihm zugeworfenen Speer auffing, der wieder durch die feste Darmsehne mit dem einen Ende des Bogens noch verbunden war, den der Knabe in der Hand behalten hatte.
Noch ein paar Verhaltungsmaßregeln gab Heinrich dem Unbekannten, bevor er an dem Bogen mit stets wachsender Kraft zu ziehen begann. Sekunden folgten, in denen dem braven Jungen vor angstvoller Spannung, ob sein Rettungsplan glücken würde, der Schweiß in dicken Tropfen auf die Stirn trat.
Vier Meter trennten den Fremden etwa noch von dem festen Gestade. Und der gierige Sand drückte ihn immer tiefer hinab. Aber gleichzeitig bewirkte auch der starke Zug an dem merkwürdigen Rettungsseil, daß der Körper des Mannes unaufhaltsam sich dem Ufer näherte. Jetzt vermochte Heinrich bereits den Speerschaft zu erfassen, jetzt durfte er alle seine Kräfte anspannen, um sein edles Werk zu vollenden.
Noch ein letzter, starker Ruck, und die Füße des Unglücklichen fanden festen Boden. Gestützt auf den Knaben taumelte er noch einige Schritte über den auch hier noch feuchten, aber immerhin nicht mehr nachgiebigen Sand. Dann sank er halb ohnmächtig vor Aufregung und Erschöpfung um. Und erst nach einer geraumen Weile vermochte er sich zu erheben und, den Speer als Stab benutzend, neben seinem Retter den Weg nach der Hütte anzutreten.
* * *
Während dieses nächtlichen Marsches, der oft genug mit Rücksicht auf den eben erst dem Tode Entronnenen unterbrochen werden mußte, erfuhr Heinrich Oelsen dessen Geschichte dann mit allen Einzelheiten.
Doktor Thomas Hertel war seines Zeichens Lehrer und hatte bis vor kurzem die Stellung eines Leiters der deutschen Schule in Mexiko innegehabt. Daß er ebenfalls Deutscher war, erregte bei dem Schiffsjungen einen wahren Freudentaumel. Alles, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, erschienen Heinrich plötzlich in rosigstem Licht, seit er wußte, daß nunmehr ein Landsmann ihm treu zur Seite stehen würde, der sich in Dankesbezeigungen vorhin gar nicht hatte genugtun können. Und er achtete erst wieder genauer auf des Geretteten Erzählung, als dieser bei der Schilderung des Schiffbruches angelangt war, dem der kleine, klapprige Dampfer unfern der Mississippimündung zum Opfer gefallen war, den der Doktor zu der Überfahrt nach New Orleans benutzt hatte, wo er als Erzieher bei einem reichen Plantagenbesitzer eine besser bezahlte Anstellung erhalten hatte. Dem gescheiterten Dampfer war es genau so ergangen wie der „Holstein“. Plötzlich waren die Piraten in ihrem Kutter aufgetaucht, hatten die Besatzung und die drei Passagiere mit vorgehaltenen Pistolen in die Kajüte gedrängt, dort eingesperrt und dann das Schiff geplündert. Was nachher aus den übrigen Leuten geworden war, konnte Hertel nicht sagen. Alle Gefangenen hatte man mit verbundenen Augen und gefesselt in den Kutter geschleppt. Und nicht eher war dem Doktor das Tuch von den Augen genommen worden, bis heute abend der Kapitano ihn zu der Jolle geführt hatte und mit ihm unter dem Vorgeben davongerudert war, er würde nur für kurze Zeit auf die Nachbarinsel gebracht und später wieder abgeholt werden.
Doktor Hertel war ein noch junger, schwächlicher Herr mit einer goldenen Brille vor den kurzsichtigen Augen. Und es konnte nicht weiter Wunder nehmen, daß die Ereignisse der letzten Tage, der Überfall des wracken Dampfers, die Gefangenschaft und schließlich der furchtbare Kampf mit dem Triebsande seine Kräfte völlig erschöpft und seine friedliebende Seele gänzlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatten.
Erst als er dann auf dem weichen Bett in der Hütte sich ausstrecken konnte und der Knabe ihm noch einige besonders saftige Kakteenfrüchte gereicht hatte, ließ die Nervenanspannung bei ihm nach und er [ver]fiel[2] in einen festen Schlaf.
* * *
Am anderen Tage gegen neun Uhr vormittags saßen die beiden Landsleute dann neben einander vor der kleinen, versteckten Behausung und nahmen, eifrig plaudernd ihr Frühstück ein, wobei Heinrich halb im Scherz erklärte, wenn er noch ein paar Tage von Kakteenfrüchten leben müsse, würden sich bei ihm wohl bald auch Stacheln auf der Haut zeigen, womit er freilich nur mit einiger Berechtigung zum Ausdruck bringen wollte, daß sein Magen sich allmählich nach einiger Abwechslung in dem Küchenzettel sehne.
Bei Gelegenheit dieser ersten gemeinsamen Mahlzeit fragte Doktor Hertel, der heute bereits die ihm für gewöhnlich eigene ruhige Gelassenheit wiedergefunden hatte, ob denn Heinrich bereits alle die Steinplatten gelesen habe, die das Tagebuch ihres Vorbewohners der Hütte darstellten. Der Knabe verneinte, indem er wie entschuldigend hinzufügte, daß die ganze verflossene Woche über das schöne Wetter ihn stets ins Freie gelockt und zu Ausflügen bestimmt habe, über die er die Steintafeln völlig vergessen hätte.
Auf des Doktors Bitte holte er diese nun aus dem Korbe hervor und breitete sie im Sande aus, wo Hertel sie eifrig nach der in jede einzelne Platte eingeritzten Nummer ordnete und hierauf mit dem Vorlesen der Aufzeichnungen begann, die für Heinrich Oelsen eine nie geahnte Überraschung bringen sollten.
„Auf einem unbekannten Eiland, am 1. Jan. 1898. Ein Jahr bin ich jetzt hier. Das zweite Jahr will ich damit beginnen, daß ich mir ein Tagebuch anlege. Papier fehlt mir. Ich benutze daher diese Tafeln, die ich von einem merkwürdig geformten Felsen, den ich neben anderen am Südstrande ausgrub, abgespalten habe.
Ich heiße …“
Hier stutzte der Doktor plötzlich und wandte sich schnell an seinen kleinen Retter mit der Frage, wie Heinrichs Vater eigentlich mit Vornamen geheißen habe.
Erstaunt ob dieser Unterbrechung schaute der Knabe seinen Gefährten forschend an. War ihm schon das Anfangsdatum dieser seltsamen Niederschrift und die Bemerkung, daß jener Einsame an diesem ersten Januar 1898 ein Jahr lang hier den Robinson gespielt hätte, aufgefallen, so war dies mit der Zwischenfrage des Doktors, die dieser gerade kurz vor dem Namen des Erbauers der Hütte einschaltete, noch weit mehr der Fall. Über acht Jahre hatte man nichts mehr von dem Dreimaster „Henriette“ und von Kapitän Oelsen gehört, und vor länger als acht Jahren war auch der Verfasser dieses Tagebuches nach seinen eigenen Angaben hier gelandet!! Sollte etwa … – – Aber Heinrich ließ sich gar nicht Zeit, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Unwillkürlich legte er jetzt seine braungebrannte Hand seinem Schicksalsgenossen wie beschwörend auf den die Steintafel haltenden Arm und sagte mit mühsam unterdrückter Erregung:
„Mein Vater hieß Franz Oelsen, Herr Doktor. – Und nun lesen Sie schnell weiter bitte! Ich glaube, ich weiß bereits, wie die nächsten Worte lauten werden …“
Doktor Hertel nickte ernst.
„Schicksalsfügungen … Wie ergreifend das alles ist“, sprach er leise vor sich hin, um dann mit lauterer Stimme fortzufahren:
„Ich heiße Franz Oelsen und war noch vor einem Jahre Kapitän eines schönen, neuen Stahldreimasters, der sogar eine kleine Hilfsmaschine besaß. Mein Schiff war die „Henriette“ aus Emden und gehörte der dortigen Reederei Smeding u. Komp.“
Wieder machte der Vorleser eine Pause. Jetzt war er es, der den Knaben forschend anblickte, um zu sehen, welche Wirkung diese Eröffnungen auf Heinrich ausüben würden.
Der saß mit gesenktem Kopf da, und seine Augen schwammen in Tränen. Erst nach einer Weile sagte er dann leise mit halberstickter Stimme:
„Mein armer Vater …!! Was mag aus ihm geworden sein?! – O, wenn sein Tagebuch mir doch darüber Aufschluß geben würde …!!“
Dieser Wunsch blieb jedoch unerfüllt. Das, was Kapitän Oelsen weiter den Steinplatten anvertraut hatte, betraf zunächst den Schiffbruch der „Henriette“, die ein Sturm auf die südlichen Sandbänke der gefürchteten Black-Riffe geworfen hatte, wo der Dreimaster zwei Tage später, nachdem die Piraten ihn ausgeplündert hatten, von diesen mit Dynamit auseinandergesprengt wurde, um ihn für immer verschwinden zu lassen. Die noch am Leben befindlichen drei Leute der achtzehn Köpfe starken Besatzung waren von den Strandräubern gefangen fortgeführt worden. Zweien kostete ein Fluchtversuch in dem Triebsande das Leben, Kapitän Oelsen aber brachte man nachher auf das Eiland, wo man ihn ganz unbelästigt ließ und wo sich die Freibeuter nur von Zeit zu Zeit vergewisserten, daß er keine Vorbereitungen zur Flucht treffe.
Aus dem Tagebuche ging weiter hervor, daß er sich zum Schein an der Westküste der Insel eine zweite einfachere Hütte in einem Kakteenfelde errichtet hatte, damit die Piraten annehmen sollten, daß er dort dauernd hause. Seine eigentliche Wohnung hatten sie nie entdeckt. Deshalb war es ihm im dritten Jahre seiner Gefangenschaft auch geglückt, im Südtale aus Weidenruten und Rindenstücken der Platanen, die bekanntlich im heißen Klima alle zwei bis drei Jahre ihre Rinde abwerfen, sowie etwa die Schlangen sich häuten, große feste Geflechte herzustellen, mit deren Hilfe es ihm gelang, da sie ihn vor dem Versinken schützten, den Triebsandstreifen zu überqueren und einige Male durch den etwas über einen Meter tiefen Sund nach der Pirateninsel hinüberzuwaten. Diese gefährlichen Ausflüge hatte er stets zur Nachtzeit unternommen und dabei festgestellt, wo die Freibeuter ihr Versteck auf dem Nachbareiland hatten, das sie nur gelegentlich besuchten. Die Lage dieses Verstecks war von ihm in einer kleinen Zeichnung erläutert worden, ebenso wie aus seinen Angaben deutlich hervorging, in welcher Weise er die Geflechte zum Überwinden des Triebsandes benutzt hatte. Daß ihm trotz aller Vorsicht einmal bei diesen nächtlichen Wanderungen ein Unglück zugestoßen sein mußte, war wohl mit Bestimmtheit anzunehmen, da das Tagebuch ganz unvermittelt mit einer unwesentlichen Eintragung vom 2. Oktober 1904 aufhörte.
Außer diesem wertvollen Wink, wie man den Triebsand überschreiten könne, fanden sich in den Aufzeichnungen des Kapitäns aber auch noch weitere Hinweise auf die Nahrungsmittel vor, die die Insel lieferte, und – das Wichtigste! – auf einen verborgenen Brunnen, der sich unter einer der Platanen befinden sollte. Jedenfalls waren diese Steinplatten mit den mühsam eingeritzten Buchstaben für die beiden neuen Gefangenen der Piraten von unendlichem Nutzen.
Nachdem Heinrich dann nochmals langsam mit eigenen Augen das gelesen hatte, was sein Vater in sicher mühevoller Arbeit den Tafeln anvertraut hatte, wobei dem Knaben nur zu häufig Tränen des Schmerzes und der Trauer in die Augen traten, wurde das seltsame Tagebuch sorgfältig wieder fortgepackt, und die Gefährten eilten nun zunächst nach den sechs Platanen hin, um nach dem Brunnen zu suchen, der mit einer dünnen Grasnarbe bedeckt sein sollte. Bald hatten sie ihn gefunden, stachen die Erde vorsichtig mit der Klinge des Bowiemessers aus und hoben sie als ein etwa ein Quadratmeter großes Stück dann gleichzeitig mit dem aus einer Steinplatte bestehenden Brunnendeckel heraus.
Der Brunnen war nichts als ein tiefes Erdloch, das sauber mit Steinplatten ausgelegt war, um ein Nachrutschen des Sandes zu verhüten. Das Wasser stand darin ziemlich hoch, war kühl und schmeckte leicht metallisch, jedoch nicht unangenehm. Und mit wahrer Wonne schlürften die Leidensgefährten jetzt das erquickende Naß, das sie mit den Händen herausschöpften. Dann wurde der Brunnen wieder sorgfältig zugedeckt.
Kapitän Oelsen hatte in seinem Tagebuch auch „Erdnüsse“ erwähnt, die sowohl roh als geröstet ihm als Nahrung gedient hatten. Eifrig begannen die beiden unfreiwilligen Robinsons nunmehr nach diesen Bodenerzeugnissen zu suchen, die ihre so wenig abwechslungsreiche Speisekarte etwas ergänzen sollten. Zunächst jedoch blieb alles Nachgraben an den verschiedensten Stellen vergeblich, bis der Knabe dann auf den Gedanken kam, einen besonders hohen Büschel des Cyperngrases herauszuziehen. Und wirklich – an dem Wurzelwerk hingen einige Knollen, die vollständig denen glichen, die Heinrich in einem der Vorratskörbe in der Hütte gefunden hatte. Auch dem Doktor waren diese Erdnüsse völlig unbekannt, obwohl sie unter dem Namen „Erdmandel“ oder „Kaffeewurzel“ auch nach Europa kommen, wo man aus ihnen Kaffeezusatz herstellt. Sie ergeben auch ein goldgelbes, sehr wohlschmeckendes und angenehm riechendes Öl.
Heinrich hatte schnell eine der Knollen gereinigt und biß nun herzhaft hinein. Ihr Geschmack glich dem von Paranüssen, nur war sie bedeutend süßer. Später, als die beiden Gefährten sich neben der Hütte auch einen Herd errichtet hatten, fanden sie dann heraus, daß geröstete Erdmandeln ganz geeignet waren die Kartoffel zu ersetzen und daß die in Scheiben geschnittenen Knollen gekocht einen kräftigen Brei ergaben, der an Nährwert sicherlich nicht hinter dem Reise, dem Volksnahrungsmittel der Chinesen, zurückstand. –
Daß Heinrich geradezu darauf brannte, auch die zweite von seinem Vater erbaute Hütte am Weststrande in Augenschein zu nehmen, war weiter kein Wunder. Man brach denn auch sofort zu diesem Ausfluge auf, zumal der Doktor selbst sehr gern auch andere Teile des Eilandes kennenlernen wollte.
Die Hütte entdeckte man dann nach einigem Suchen in einem kleinen Tale unweit des Ufers. Sie war ebenfalls aus Weidenruten geflochten, aber bereits von Wind und Wetter halb zerstört. Trotzdem beschlossen die beiden Robinsons, sie auszubessern und ihr den Anschein des Bewohntseins zu geben, damit sie vor den Piraten als ihre Behausung gelten konnte.
Von hier wanderten die Geführten dem Südstrande zu, wo sich nach Kapitän Oelsens Angabe die merkwürdig geformten Felsen befinden sollten. Diese erkannte der Doktor dann sofort als versteinerte Reste gewaltiger Nadelbäume. Bei dieser Gelegenheit hielt er seinem jungen Retter einen kurzen Vortrag über derartige Versteinerungen, die auf die Einwirkungen von Kieselerde zurückzuführen sind. Er zeigte ihm, wie sich von den „verkieselten“ Stämmen mit Leichtigkeit dünne Schichten ablösen ließen, die den Jahresringen der Bäume entsprachen. Diese Schichten waren eben die Steinplatten, die der Kapitän für seine Aufzeichnungen und zum Ausmauern des Brunnens benutzt hatte, ebenso wie er sich auf ähnliche Weise durch Aushöhlen kleiner versteinerter Aststücke seine Kochtöpfe gefertigt hatte.
Hier am Südstrande fanden sie auch einige Schildkröten, von denen sie zwei schlachteten, um sich aus dem Fleisch eine Brühe zu kochen. Außer diesen beiden gepanzerten Amphibien nahmen sie noch jeder ein Stück von den versteinerten Stämmen mit, um diese, in Platten zerspalten, zum Bau eines Herdes zu verwenden, der bereits am Nachmittag fertig wurde.
Gegen Abend bezog sich dann der Himmel, und urplötzlich strömte eine wahre Sintflut herab, vor der die Gefährten, die unter den Platanen gesessen und geplaudert hatten, schleunigst in ihre Hütte flüchten mußten. Das Unwetter, Sturm, Regen und gelegentliche Hagelschauer, hielt fast eine ganze Woche lang an, so daß die beiden Robinsons ihre Hütte nur verließen, um Cypernknollen und Kakteenfrüchte einzusammeln. Es war dies eine jener Sturmperioden, wie sie gerade auf dem Golfe von Mexiko nicht selten sind, und die in den Wintermonaten die Temperatur bis auf sechs Grad Wärme herabdrücken, während die Sommermonate durchschnittlich einen Thermometerstand von 28 Grad aufweisen. Diese Zeit benutzten die Gefangenen dazu, auch für den Doktor einen Bogen zu schnitzen. Meistens saßen sie aber nebeneinander im Innern ihrer Hütte vor der geöffneten Tür und beratschlagten, wie sie sich ihr Leben hier auf dem Eiland möglichst angenehm gestalten könnten, oder aber der Doktor erzählte dem Knaben von seinem jahrelangen Aufenthalt in Mexiko und seiner Studentenzeit in Heidelberg und München, die er, von Hause aus arm, nur hatte durchhalten können, indem er Privatstunden gab und für Zeitschriften kleine Artikel schrieb.
Endlich klärte sich das Wetter wieder auf. Die letzten Wolken verschwanden, und anhaltender Sonnenschein trocknete den feuchten Boden nur zu schnell wieder aus. Immerhin hatte der Regen den gesamten Pflanzenwuchs der Insel wunderbar gekräftigt, die Kakteen wucherten üppiger denn je, und das Gras hatte eine frischgrüne Farbe angenommen.
Die nächsten vierzehn Tage verstrichen wieder ohne jedes wichtigere Ereignis. Sehr eifrig lagen die beiden Robinsons jetzt dem Angelsport ob, nachdem sie aus dem Tagebuch des Kapitäns ersehen hatten, wo sie Fische finden würden und daß sie als Köder kleine Muscheln und Krebse benutzen mußten, um einen unserem Dorsch ähnlichen Meeresbewohner zu fangen, dessen Fleisch ebenso wie das von Wildenten jetzt häufig auf ihrer Mittagstafel erschien. – Von den Piraten hatte man nie etwas zu sehen bekommen, so daß die beiden Gefährten in friedlicher Ruhe dahinlebten.
Wenigstens war dies bei dem Doktor der Fall, dessen Gesundheit sich bei diesem ungebundenen Leben von Tag zu Tag mehr kräftigte und der mit seiner philosophischen Gelassenheit diese Gefangenschaft fast als einen Kuraufenthalt an der See auffaßte. Anders stand es mit Heinrich Oelsen, der dieses beschauliche Dasein längst satt hatte und sich nach Aufregungen und Abenteuern sehnte, ohne freilich den älteren Gefährten hiervon etwas merken zu lassen. So hatte er heimlich in den Morgenstunden, wenn der Doktor noch fest schlief, in einer ganz bestimmten Absicht sich nach den Angaben seines Vaters vier von jenen Geflechten hergestellt, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, den Triebsand gefahrlos zu überschreiten. Ferner war von ihm auch auf eine kleine Steinplatte jene Zeichnung von der Lage des Piratenversteckes übertragen worden, die Kapitän Oelsen seinem Tagebuche hinzugefügt hatte. – –
Nach einem echt anstrengenden Nachmittag, an dem sie einen Ausflug nach dem Nordteil der Insel unternommen hatten, waren sie dann früh zur Ruhe gegangen, und Doktor Hertel zeigte auch sehr bald durch tiefe, regelmäßige Atemzüge an, daß er fest eingeschlafen war. Plötzlich erwachte er durch irgend ein Geräusch, richtete sich auf und lauschte. Es war ihm jetzt, als ob er draußen vor der Hütte schnelle Schritte hörte, die aber gleich wieder verstummten. Sein erster Gedanke war, daß vielleicht die Freibeuter diesen Schlupfwinkel entdeckt haben könnten und etwas Böses gegen sie im Schilde führten. Deshalb erhob er sich leise von seinem Lager und tastete sich nach dem seines kleinen Gefährten hin, um diesen zu wecken. Zu seinem Erstaunen fand er das niedrige Bett jedoch leer. Er beruhigte sich aber in der Überzeugung, der Knabe würde vielleicht nach dem Brunnen geeilt sein, um seinen Durst zu löschen. Die Nacht war nämlich außerordentlich heiß, so daß in der Hütte die Luft trotz der offenen Fenster recht drückend schien.
Schon wollte er sich wieder niederlegen, als er bemerkte, daß durch die nur angelehnte Tür der Vollmond einen schmalen, leuchtenden Streifen auf den grasbedeckten Boden der Hütte warf. Der Wunsch, sich das Tal auch einmal im Zauberlichte einer Vollmondnacht anzusehen, lockte ihn jetzt ins Freie. Eine ganze Weile betrachtete er mit Entzücken die geisterhafte, milde Beleuchtung, die das Nachtgestirn über die Sandhügel ringsum, über die hohen Platanen und die phantastischen Gebilde der Kakteen ausgoß. So vertieft war seine schönheitsdurstige Seele in diesen Anblick, daß er darüber ganz vergaß, an den abwesenden Gefährten zu denken, der längst wieder hätte zurücksein müssen. Schließlich kam ihm dieser Umstand aber doch zum Bewußtsein. Besorgt spähte er nach dem Knaben aus, der ja nur auf dem Pfade durch das Kaktusfeld zurückkehren konnte. Als eine geraume Zeit verstrich, ohne daß Heinrich erschien, stieg ein bestimmter Verdacht in dem Doktor auf: der abenteuerlustige Junge war sicherlich nach den verbotenen nördlichen Dünen geeilt, um wieder einmal nach der Pirateninsel hinüberzuschauen, deren Geheimnisse ihn offenbar sehr reizten, nachdem er darüber einige Andeutungen in dem Tagebuche seines Vaters vorgefunden hatte. Kaum hatte Doktor Hertel dann noch festgestellt, daß Heinrichs Mütze und Waffen fehlten, als auch sein letzter Zweifel schwand.
Von einer unerklärlichen Angst getrieben, ergriff er jetzt schnell den zweiten, in der Ecke der Hütte lehnenden Speer und eilte der Nordspitze des Eilandes zu. In Schweiß gebadet kam er hier an. Aber vergeblich irrte er durch die Dünen und schaute nach dem Knaben aus. Er konnte keine Spur von ihm entdecken. Nur einmal war es ihm so, als ob in dem flachen Wasser des Sundes, der die Pirateninsel von ihrem Eiland trennte, sich etwas bewegte. Mit seinen kurzsichtigen Augen vermochte er näheres jedoch nicht zu unterscheiden.
Stunde auf Stunde verrann, und Doktor Hertel saß noch immer auf einem der höchsten Sandhügel und starrte nach der Nachbarinsel hinüber. Er war jetzt überzeugt, daß es Heinrich Oelsen gewesen war, den er vorhin mitten in den Wassern des Sundes bemerkt hatte. Dessen Bogen und Köcher hatte er ja da unten am Strande an einer Stelle gefunden, wo der schillernde Triebsandgürtel ziemlich schmal war.
Der Mond war längst untergegangen, und im Osten zeigte sich bereits der erste rosige Schimmer der Morgendämmerung, als des Doktors Ausharren endlich belohnt wurde. Wieder tauchte in dem flachen Sunde eine Gestalt auf, die, bald schwimmend, bald watend, dem Eilande zustrebte. Immer näher kam der verwegene Junge, der etwas wie ein kleines Floß vor sich her schob. Jetzt hatte er den Triebsandstreifen erreicht, jetzt breitete er eines der Geflechte – diese waren es gewesen, die der Doktor für ein Floß gehalten hatte – auf dem heimtückischen, unsicheren Boden aus, legte die anderen dahinter, schritt schnell über diesen ihn vor dem Versinken schützenden Steg hin und gelangte wirklich glücklich an das Ufer, wo er die an feste, aus Därmen gedrehte Schnüre gebundenen Teile der merkwürdigen Brücke wieder an sich zog. Als er jetzt die keuchenden Atemzüge des auf ihn zulaufenden Doktors hörte, drehte er sich erschreckt um. Dann aber nickte er ihm erfreut zu. Und hastig erstattete er nun Bericht über seinen erfolgreichen Ausflug nach der Pirateninsel, auf der er, begünstigt durch den hellen Mondschein, sehr bald mit Hilfe der kleinen Zeichnung seines Vaters das Versteck der Strandräuber am Weststrande in der Nähe einer tief in die Sandinsel einschneidenden Bucht gefunden hatte.
„Dort erhebt sich tatsächlich ein im losen Sande halb vergrabenes, altes Gemäuer“, erzählte er weiter. „Daneben aber steht eine kleine Holzhütte, aus der ich deutlich die rasselnden Schnarchtöne eines festschlafenden Menschen hervordringen hörte. Bevor ich mir nun das verfallene Gebäude, das an der einen Seite von einem dicken Turm überragt wird, genauer ansah, habe ich die Tür der Hütte von außen verschlossen. Der Bewohner ahnt jetzt sicher noch nicht, daß die starke, eiserne Krampe und das plumpe Vorlegeschloß an der Tür ihn zum Gefangenen gemacht haben. Dieser Mann ist offenbar zur Zeit allein auf der Pirateninsel und dürfte den Wächter für uns und die anderen Unglücklichen spielen, die, wie ich nachher feststellte, in den Turm eingesperrt sind und die wir sofort befreien müssen. Wer weiß, wann sich hierzu wieder eine so günstige Gelegenheit findet wie jetzt, wo ich in der Bucht nichts von dem Kutter bemerkt habe und wo wir also wahrscheinlich nur einen einzelnen Feind unschädlich zu machen brauchen. – Doch – halten wir uns hier nicht länger auf! Es ist wirklich ein Glück, Herr Doktor, daß Sie mich gesucht haben. Auf diese Weise sparen wir viel kostbare Zeit. Vorwärts denn – bevor die Sonne auftaucht, müssen jene Leute frei sein, mit denen ich mich bisher nur durch einige Worte verständigen konnte, da ich nicht zu laut sein durfte, um den Wächter in der Hütte nicht munter zu machen. Das Nähere erzähle ich Ihnen unterwegs.“
Wieder wurden die Geflechte, die durch breite Rindenstücke zu einer Art Holztafel abgedichtet waren, über den Triebsand gelegt, den sie an dieser kaum viereinhalb Meter breiten Stelle bequem überbrückten. Halb laufend überschritt Doktor Hertel nun den unter seinen Füßen sofort einsinkenden Weg. Aber die Hauptsache: er gelangte ebenso glücklich hinüber wie der an Gewicht bedeutend leichtere Knabe. Und eine knappe Stunde später, als gerade die Sonne über dem Horizont auftauchte, hatten die beiden Robinsons bereits das zum Teil verschüttete, alte Steingebäude, das sich mit seiner Rückseite dicht an einen hohen Sandhügel anlehnte, erreicht.
Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß der Mann in der verschlossenen Hütte noch immer ahnungslos weiterschnarchte, schritten sie auf den Turm zu, an dem lediglich in etwa drei Meter Höhe über dem Erdboden einige mit verrosteten Gitterstäben versehene, kleine Luftlöcher zu bemerken waren, jedoch nichts von einer Tür oder einem sonstigen Eingang. Dieser mußte sich mithin in dem Hause befinden, das ebenso wie der Turm aus grauen Ziegeln erbaut war und mit seinen leeren Fensteröffnungen und der nur noch halb in den Angeln hängenden starken Eichentür einen trostlosen, beinahe schon unheimlichen Eindruck machte. Es besaß nur ein Stockwerk, war etwa zwölf Meter lang und hatte ein flaches Dach aus dicken Eichenbohlen, die von Wind und Wetter längst zermürbt und fast schwarz verfärbt waren. Die Räume dieses alten Gebäudes zeigten nicht das geringste Einrichtungsstück. Auf den mit Ziegeln belegten Fußböden wucherte hier und da ein Grasbüschel, die Türen zwischen den einzelnen Zimmern fehlten, und unter den Fensteröffnungen lag in Haufen feiner Sand, den der Wind hineingejagt hatte. Kurz – das Haus wies alle Spuren völligen Verfalles auf.
Doch die beiden Robinsons hielten sich nicht lange mit der Besichtigung der leeren Räumlichkeiten auf, sondern suchten lediglich nach dem Eingang zu dem Turme, in dem einige weitere Opfer der Piraten der Befreiung entgegenschmachteten. Und dieser Eingang war leicht zu finden. Der Mittelgang des Hauses lief gerade auf eine schmale, niedrige Eichentür zu, in deren altertümlichem Schloß ein mächtiger Schlüssel von außen steckte. Heinrich drehte den Schlüssel mit einiger Anstrengung zwei Mal nach rechts um, und die Pforte ließ sich öffnen. Dieser unterste Raum des Turmes war genau so leer wie das ganze alte Gebäude. Aber an der einen Seite ging eine schmale Steintreppe nach oben, die auf einen kleinen, halbdunklen Vorplatz mündete, von dem drei eisenbeschlagene Türen in wahrscheinlich ebenso viele als Kerker benutzte Zellen führten. Hier jedoch fehlten die Schlüssel. Enttäuscht blickte der Knabe jetzt den Doktor an. Doch der hatte sich schon vorgebeugt und das eine Schlüsselloch genau betrachtet.
„Ich glaube, dies hier sind genau dieselben Schlösser wie das unten an der Turmpforte“, erklärte er nun mit einer Stimme, der man es anmerkte, wie erregt er war. Ihm fiel in der Tat dieses Abenteuer weit mehr auf die Nerven als seinem jüngeren Gefährten, der sich hier ganz in seinem Element befand.
Heinrich eilte denn auch schon die Treppe wieder hinab, um wenige Sekunden später mit dem plumpen Schlüssel zurückzukehren, dessen seltsam geformter Bart unter einer feinen Ölschicht fettig glänzte.
Der Schlüssel paßte. Beinahe hätte der Knabe vor Freude laut Hurra geschrien. Doch dazu kam er gar nicht mehr. Die erste der Zellentüren drehte sich kreischend in den Angeln, und in dem sich schnell erweiternden Spalt erschien die Gestalt eines breitschultrigen Mannes in zerfetzten Kleidern, aus dessen bleichem, bärtigen Gesicht ein helles Augenpaar die Befreier jetzt ungläubig anstarrte.
Dann ein jubelnder Ruf, eine jauchzende Frage:
„Vater – Vater – bist Du’s denn wirklich?!“
Gleich darauf hielt Kapitän Oelsen seinen Jungen in den Armen, während ihm dicke Tränen der Rührung über die Wangen rannen.
Der Doktor war still bei Seite getreten, hatte wortlos den Schlüssel wieder abgezogen und auch die beiden anderen Zellen geöffnet, aus denen ihm noch drei verwilderte Gestalten entgegenschwankten, holländische Matrosen, wie er bald erfuhr, die ebenfalls schon über ein Jahr hier gefangen saßen.
* * *
Inzwischen hatte der erste Freudenrausch des Wiedersehens bei dem Kapitän und seinem jüngsten Sohne einer in dieser Lage recht notwendigen ruhigen Überlegung Platz gemacht.
Ersterer übernahm jetzt den Befehl über die kleine Schar. Mit kurzen Worten erklärte er, daß die Piraten ihn vor zwei Jahren dabei erwischt hätten, als er ihrer Insel wieder einmal einen Besuch abstattete, um sich aus deren geheimem Beutelager mit Schußwaffen zu versehen. Dieses befinde sich in den Kellern des Hauses, wie er bei einem seiner nächtlichen Ausflüge über den Sund ausspioniert habe. Die nächste Aufgabe sei nun, sich schleunigst Waffen zu besorgen, damit man für alle Möglichkeiten gerüstet wäre. Alles weitere würde sich dann schon von selbst ergeben.
Hierauf führte er die Seinen die Treppe hinab in das untere Turmgemach, wo eine sehr gut verdeckte Falltür und eine starke Leiter den Zugang zu einigen verborgenen Kellern bildeten, in denen tiefste Dunkelheit herrschte. Zum Glück hatte aber Heinrich die Zündholzbüchse bei sich, so daß man eine der gleich vorn neben der Leiter stehenden Laternen anzünden konnte, bei deren rötlichem Lichtschein man feststellte, daß der erste Raum offenbar den Piraten für den Fall der Not als Wohnung dienen sollte, wie seine Einrichtung bewies, während die dahinter liegenden Keller mit Beutestücken aller Art vollständig vollgepfropft waren. In einem Schranke entdeckte man dann auch eine Anzahl Gewehre, Revolver, Dolche, Säbel und die für erstere passende Munition.
Nachdem alle sich bewaffnet hatten, verließ man den Keller und das alte Haus und bemächtigte sich des Wächters in der Hütte, die die Piraten, wie jetzt bei Tageslicht zu erkennen war, aus den Türen des verfallenen Gebäudes zusammengeschlagen hatten.
Der Wächter, ein schon bejahrter Mann, hatte sich der Übermacht ohne Widerstand zu versuchen, ergeben. Er lebte hier anscheinend als harmloser Fischer und besaß auch ein kleines Segelboot, das in der Bucht einige hundert Meter entfernt versteckt lag. Kapitän Oelsen versprach ihm, ihn nachher laufen zu lassen und ihn nicht den Behörden zu übergeben, wenn er ohne Hinterlist treu zu den bisherigen Gefangenen der Strandpiraten halten wolle. Dies versprach der Alte, ein Mexikaner, mit vielen Eiden, und es zeigte sich dann auch, daß diese Versicherungen von ihm aufrichtig gemeint waren.
Wem das verfallene Gebäude gehört und wer es einst erbaut hatte, wußte er nicht. Allgemein würde aber angenommen, daß es der frühere Schlupfwinkel des berüchtigten Seeräubers Lafitte (Lafitte, ein Pirat, der in den Jahren 1848–1867 den Golf von Mexiko unsicher machte. Neben Morgan und Kidd ist er der berühmteste Freibeuter aller Zeiten. Seine zusammengeraubten Schätze hat er erwiesenermaßen irgendwo auf einem Eiland im Golf vergraben, doch konnten sie bisher nicht aufgefunden werden. – Das hier geschilderte Treiben der Strandräuber, die stets nur wrack gewordene Fahrzeuge ausraubten, entspricht den Tatsachen. Auch in den Gewässern der westindischen Inseln gibt es noch heute zahlreiche derartige Küstenpiraten) gewesen sei. Auf die weitere Frage Oelsens, – wann der Alte seine Genossen hier zurückerwarte, erklärte dieser, daß der Piratenkutter erst vorgestern die Insel verlassen habe und kaum vor einer Woche wieder auftauchen dürfte. Er erzählte dann freiwillig, daß der Freibeuterkapitän, eben jener lange Engländer, auf dem Westdamm der südlichen Deltamündung des Mississippi ein Gasthaus und eine kleine Plantage besitze, auf der die anderen Piraten als angebliche Arbeiter beschäftigt wären; nebenbei betreibe er, ebenfalls als Deckmantel für sein eigentliches Gewerbe, die Hochseefischerei. Reichlich zehn Jahre sei der Kapitano nun schon der Schrecken des Golfes von Mexiko, und so schlau habe er es bisher anzufangen gewußt, daß er noch nie von den Wachtfahrzeugen abgefaßt sei. – –
* * *
Gegen Mittag verließen die Befreiten dann in dem gut verproviantierten Segelboote des Wächters, den sie mit sich nahmen, die Black-Riffe, steuerten bei ruhiger See und leichter Briese nordöstlichen Kurs und erreichten am nächsten Morgen wohlbehalten die Südmündung des Mississippi und den Leuchtturm von Jacksville, wo auch zwei kleine Kreuzer der Vereinigten-Staaten-Flotte stationiert waren.
Die Einfahrt in das Mississippidelta, dessen Fläche nicht weniger als 3 185 000 Hektar groß ist und dessen Breite und Länge etwa je 300 Kilometer beträgt, bot viel Sehenswertes. Deutlich war zu erkennen, wie der Riesenstrom seine abgelagerten Schlamm- und Sandmassen immer weiter in das Meer hinausschob und auf diese Weise neue Landstrecken schuf, deren jährlicher Zuwachs auf durchschnittlich 250 Meter berechnet worden ist. – –
Noch an demselben Tage wurde dann der Kapitano nebst seiner Bande von amerikanischen Marinesoldaten, die in drei Barkassen bei seiner dicht am Wasser gelegenen Plantage landeten, gefangen genommen und nachher zur Aburteilung nach New Orleans gebracht, wo das Gericht sämtliche Piraten mit Ausnahme des Wächters, den Kapitän Oelsen vor der Ankunft in Jacksville an Land gesetzt hatte, zum Tode verurteilte.
Und wieder vierzehn Tage später verließen die beiden Oelsens, der Doktor und die drei holländischen Matrosen auf einem Dampfer die Gewässer des Golfes von Mexiko und fuhren ihrer Heimat entgegen. Heinrich hat die auf dem sandigen Eiland zugebrachten Wochen nie vergessen. Zeigten sie ihm doch, wie wunderbar das Walten der Vorsehung oft ist und wie selbst das traurigste Erlebnis für uns noch zum Guten ausschlagen kann.
Ende.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: