Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 333
Roman von
W. Kabel.
Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 14,
Dresdenerstraße 88–89.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlag mod. Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Das Haupt des Verbrechers war gefallen. Der Mord an der jungen Verkäuferin, die der Täter in dem kleinen Milchgeschäft weniger Markstücke wegen brutal niedergeschlagen hatte, war gerächt.
Die Beamten und die Zeugen, die der Hinrichtung des Schiel-Maxe beigewohnt hatten, verließen still und blaß den Hof der Strafanstalt Plötzensee, wo dieser letzte Akt des furchtbaren Dramas sich abgespielt hatte.
Die beiden Kriminalkommissare Salten und Marchowski und ihr gemeinsamer Bekannter, der praktische Arzt Termitz, gingen langsam den Promenadenweg entlang, der zum Stadtbahnhof Beusselstraße führte.
Doktor Termitz zündete sich eine Zigarette an, nachdem er seinen Begleitern gleichfalls das silberne Etui hingehalten hatte.
„Der Abschied aus diesem Dasein muß einem an einem solchen Frühlingstage doppelt schwer werden,“ meinte er, indem er einen forschenden Blick auf Marchowski warf, der zum ersten Mal bei einer Hinrichtung zugegen gewesen war.
Kommissar Salten glaubte, auf diese Bemerkung des Freundes etwas erwidern zu müssen.
„Der Mann hatte dieses Ende verdient,“ sagte er ernst. „Ohne die Todesstrafe kämen wir nicht aus. Abschreckung ist das Einzige, was die schlechten Instinkte in der Verbrecherseele zurückdrängt.“
Marchowski lachte kurz auf.
„Du mußt dich schon notwendig dieser Ansicht anschließen,“ meinte er. „Warst du es doch, der den Mann dem Henker auslieferte.“
In dem Ton seiner Stimme lag etwas beinahe Gehässiges, als er die Worte scharf hervorstieß.
Doktor Termitz ärgerte sich, daß Marchowski immer wieder in den alten Fehler verfiel, sich in einer Anwandlung von Neid auf die Erfolge Saltens an diesem zu reiben.
„Unser Freund tat nur seine Pflicht,“ warf er ein. „Oder ‒ hättest du den Mörder etwa laufen lassen, nachdem genügend Beweismaterial beisammen gewesen wäre?!“
Der gutmütige Spott reizte Marchowski noch mehr.
„Törichte Frage!“, erwiderte er gereizt. „Ich bin nur ein Gegner dieser barbarischen, mittelalterlichen Justiz. Henker und Richtschwert sind der modernen Menschheit unwürdig. Im Übrigen ‒ warum war der Schiel-Maxe so dumm und ließ sich greifen, warum verwickelte er sich gleich bei den ersten Verhören in derartige Widersprüche, daß es nachher kein Herauslügen mehr gab! Alle Verbrecher, die ich in meiner jetzt sechsjährigen Praxis als Kriminalkommissar kennengelernt habe, zeichneten sich geradezu durch einen Mangel an Intelligenz aus.“
Wieder blickte der Arzt den Bekannten so eigentümlich prüfend an.
„Ich glaube, Marchowski, du hast deinen Nerven in letzter Zeit etwas reichlich viel zugemutet,“ sagte er besorgt. „Früher eilten deine Gedanken nicht in solchen Sprüngen von Gegenstand zu Gegenstand, auch warst du nicht so schnell erregt wie jetzt. Du solltest einige Zeit Urlaub nehmen.“
Abermals lachte der Kommissar ärgerlich auf.
„Danke für freundlichen Rat! Meine Nerven sind tadellos in Ordnung. Salten wird zugeben müssen,“ fügte er zusammenhanglos hinzu, „daß die Verbrecher allein ihrer Dummheit wegen ihr Schicksal verdienen. Von der vielgerühmten Verbrecherschlauheit habe ich noch nie etwas bemerkt, lieber Doktor.“
Hartnäckig knüpfte er also wieder an seine frühere Bemerkung an.
Egon Salten nickte bestätigend.
„Stimmt, Marchowski! Die Schurken machen bei ihren Plänen alle einen Fehler, entweder schon beim Entwerfen oder aber später, wenn es heißt, die Verfolger ‒ und das sind wir ‒ zu täuschen.“
„Na also,“ rief der Kommissar lebhaft. „Siehst du, Doktor, nun bestätigen dir zwei Fachleute die Tatsache einer stets wiederkehrenden Verbrecherdummheit.“
Hans Termitz schüttelte gutmütig den Kopf.
„Du tust gerade so, als ob ich dir widersprochen hätte, mein Bester! Ist mir gar nicht eingefallen! ‒ Du bist wirklich überarbeitet, glaube mir als Arzt. Schon in letzter Zeit beobachtete ich an dir allerlei Anzeichen einer Nervenüberreizung. Heute die Szene auf dem Gefängnishof hat dir den Rest gegeben. Reiche Urlaub ein.“
„Blech!“, meinte Marchowski ungeduldig. „Ich werde mich hüten! Gerade jetzt, wo der tüchtigste von uns drei Kollegen von der sogenannten Mordkommission nächstens zur Beförderung eingegeben werden soll …! Im Gegenteil – ich lauere förmlich auf den nächsten Mord, der mir Gelegenheit geben soll zu beweisen, daß ich mehr kann als andere, weit mehr.“
Die drei Herren hatten jetzt den Bahnhof Beusselstraße erreicht und benutzten den nächsten Nordringzug über Charlottenburg, um in das Zentrum der Millionenstadt Berlin zurückzukehren. Marchowski fuhr bis zum Alexanderplatz weiter, wo sich das Berliner Polizeipräsidium befindet, während Salten und Termitz schon Friedrichstraße ausstiegen.
Als sie langsam den Linden zuschritten, sagte der junge Arzt zu Salten mit ehrlicher Besorgnis in der Stimme:
„Ich übertreibe nicht: Marchowski ist tatsächlich krank. Hast du den Ausdruck in seinen Augen beobachtet? So sehen nur Leute aus, die schon halb unzurechnungsfähig sind.“
Egon seufzte vernehmlich.
„Der arme Kerl hat es sich sehr zu Herzen genommen, daß Hilde mir den Vorzug gab. Er muß sie ebenfalls sehr lieb haben. Im Grunde ist er ein guter Mensch, nur etwas zu temperamentvoll und zu … mißgünstig!“
Dann bestiegen sie einen Omnibus, der sie durch die Leipziger Straße bis nach dem stillen Berliner Westen brachte. Hier, in der Nähe der Barbarossastraße, verließen sie das schwerfällige Gefährt und trennten sich.
Doktor Termitz, ein kleiner, beweglicher Herr mit klugem Gesicht, bewohnte in der Barbarossastraße 52 drei Zimmer in einem älteren Hause, wo er mehrere Stunden am Tage auf Patienten wartete, ohne daß diese trotz jahrelanger Geduld, wie wenigstens seine Freunde behaupteten, zahlreicher als in der ersten Woche nach Eröffnung seiner Praxis erschienen wären, was Termitz allerdings stets lachend mit der Bemerkung bestritt, es gehe ihm in jeder Beziehung glänzend. Tatsächlich lebte er auch recht behaglich, ließ sich nichts abgehen und war stets bei Kasse, obwohl er von Hause aus nicht das geringste Vermögen besaß und sogar „auf Schulden“ studiert hatte.
Der junge Arzt fand daheim den Kaffeetisch sauber gedeckt vor, frühstückte mit Behagen und unterhielt sich dabei mit seiner Wirtschafterin, einer älteren Frau, die schon längere Zeit in seinem Dienst stand.
„Nach der Sprechstunde können Sie auf die Post gehen und diese Anweisung absenden, Frau Meller,“ sagte er im Laufe des Gesprächs. „Hier sind die hundert Mark, die Sie einzahlen sollen.“
„Sehr wohl, Herr Doktor.“
Inzwischen war es neun Uhr geworden, und Hans Termitz begab sich, bewaffnet mit der Morgenzeitung, in sein Sprechzimmer. Zumeist störte ihn niemand in der Lektüre während dieser Stunde von neun bis zehn, in der sich eigentlich die Patienten hätten einfinden sollen.
Als er hinter der Tür verschwunden war, nahm Frau Meller die Postanweisung zur Hand und überflog die Adresse.
„Wieder an seine Mutter!“, murmelte sie vor sich hin. „Ein selten guter Sohn ist’s, – findet man nicht oft heutzutage.“
Und nach einer Weile fügte sie grübelnd hinzu:
„Wo er nur das Geld hernehmen mag? Die Praxis bringt doch keine zweihundert Mark monatlich ein! Das weiß ich am besten. Er muß noch nebenbei was verdienen, – ganz sicher. Deshalb wird er auch so selten zu Hause sein.“ – –
Egon Salten war, nachdem er sich von dem Freunde verabschiedet hatte, zu seinen Schwiegereltern gegangen, denen er diesen Morgenbesuch am Abend vorher telephonisch angekündigt hatte.
Der Juwelier Brückner besaß Ecke Barbarossa- und Richardstraße ein sehr gut gehendes Goldwarengeschäft. Er selbst bewohnte mit seiner Frau und den zwei erwachsenen Kindern die Etage über dem Laden, aus dessen hinteren Räumen eine Wendeltreppe nach oben führte, so daß Brückner nicht erst die Straße und den Hausflur zu benutzen brauchte, wenn er in seine Wohnung hinauf wollte.
Hildegard Brückner, ein fröhliches, sonniges Geschöpfchen von eigenartigem Liebreiz, eilte dem Verlobten bis in den Flur entgegen, erwiderte seine stürmischen Zärtlichkeiten ebenso heiß und zog ihn dann, lachend ihre Blondhaare glatt streichend, in das Eßzimmer, wo die Familie noch beim Frühstück beisammen saß.
Ernst, der Bruder Hildes, belegte den Schwager sofort mit Beschlag und wollte ganz genau wissen, wie es bei einer Hinrichtung zugehe. Er studierte seit einigen Jahren Jurisprudenz und suchte seine sensationslüsterne Neugier mit angeblichem Fachinteresse zu bemänteln.
Aber Salten winkte energisch ab.
„Wenn ich heute zu euch gekommen bin, lieber Ernst, so tat ich dies absichtlich. Eure gemütliche Häuslichkeit mit ihrem Glück und stillen Frieden sollte mich das Geschaute schnell vergessen machen. Freiwillig bin ich ja überhaupt nicht hingegangen. Ich wurde dazu kommandiert.“
„Sehr richtig,“ meinte der Juwelier, ein korpulenter, kleiner Herr mit lebensfrohen Augen. „Das ist überhaupt kein Gesprächsstoff für den Familienkreis.“
Und um den Gedanken der Seinen sofort eine andere Richtung zu geben, fuhr er unvermittelt fort:
„Könnten Sie sich übermorgen vielleicht freimachen, lieber Salten? Wir möchten den Sonntag zu einem Ausflug nach Werder benutzen.“
Der Kommissar dachte nach und nickte dann zustimmend.
„Ja, es wird gehen. Falls nötig, vertritt mich Marchowski. Ich habe ihm in der verflossenen Woche ja auch einmal den Nachtdienst abgenommen.“
„Gut. Dann wird’s also ein Tagesausflug,“ meinte Brückner vergnügt. „Frauchen, du sorgst mir rechtzeitig für den Proviant. Frühmorgens brechen wir auf, und als Abschluß spendiere ich nach der Rückkehr ein Abendessen bei Kempinski.“
Der Studiosus machte ein keineswegs beglücktes Gesicht.
„Mich befreit ihr wohl freundlichst von der Teilnahme an diesem Familienbummel,“ sagte er, mit seinem Bierzipfel spielend. „Meine Turnerschaft hat am Sonnabend Semester-Antrittskneipe, und da wird es stets reichlich spät und „feucht“.
Bald darauf verabschiedete Egon Salten sich, da die Pflicht ihn nach dem Polizeipräsidium rief.
Frau Brückner fragte ihn noch, ob man nicht Doktor Termitz zum Sonntag einladen solle. Vielleicht würde er den Ausflug gern mitmachen. Er sei doch ein sehr netter Mensch und stets so harmlos vergnügt.
Salten erklärte jedoch, daß der junge Arzt kaum zusagen werde.
„Am Tage, ob Alltag oder Sonntag, wird man seiner nie habhaft. Weiß der Kuckuck, was er treibt. Er behauptet zwar stets, seine Praxis nehme ihn so völlig in Anspruch, doch das kann nicht stimmen. Aber abends bei Kempinski – da macht er sicher mit. Von sieben Uhr an ist er stets frei.“
„Ob er vielleicht irgendwo eine heimliche Liebe hat?“, meinte Frau Brückner neugierig. „Es wäre doch wirklich Zeit für ihn zu heiraten. Ein Arzt ohne Frau ist nur ein halber Arzt.“
Der Kommissar schmunzelte.
„Vielleicht haben Sie schon jemand für den braven Hans in Aussicht, liebe Schwiegermutter, – wie? Kätchen Marlow etwa?“
Der Juwelier lachte schallend.
„Siehst du, Frauchen, so ein Kriminalkommissar in der Familie ist bisweilen etwas unbequem, Salten hat auch für Heiratspläne einen feinen Riecher.“
„Na – und wenn ich wirklich an Hildes beste Freundin gedacht hätte – schadet das was?“, verteidigte Frau Brückner sich leicht verwirrt. „Ich möchte sie schon deshalb bald mit einem Lebensgefährten versorgen, weil dieses kindische Getue zwischen ihr und Ernst doch endlich aufhören muß. Die beiden sind fast gleich alt, und für eine Ehe taugt das nichts. Außerdem – so hoch ich auch Papa Marlow achte, er bleibt doch immer Kolonialwarenhändler, wenn er auch recht wohlhabend ist.“
Der Student, dessen Herzensgeheimnisse hier so öffentlich erörtert wurden, nahm die Sache mit einem pfiffigen Lächeln hin und sagte nur:
„Zartfühlend bist du gerade nicht, Mama. Und „kindisches Getue“ – na, es bleibt abzuwarten, was sich später daraus entwickelt. Ich habe nicht nur deine Figur, sondern auch deinen harten Kopf geerbt. Noch ein Jahr, dann bin ich mündig, meine Lieben.“
Wenn das auch alles halb scherzend herauskam, so fühlten doch alle, daß der Studiosus so etwas wie eine Warnung an seine Mutter gerichtet hatte, sich nicht in seine persönlichen Angelegenheiten einzumischen.
Ernst Brückner besaß in der Tat für seine Jahre ein sehr stark ausgeprägtes Selbständigkeitsgefühl, verbunden mit zielbewußtem Wollen, großem Fleiß und leichter Anpassungsfähigkeit, die vielleicht ein Erbteil seines geschäftsklugen, vielseitig begabten Vaters war.
Salten, den diese Aussprache peinlich berührte, sagte nochmals allen Lebewohl und eilte davon.
Auch der Student begab sich in sein Zimmer hinauf, das der Vater ihm in der zweiten Etage bei einer verwitweten Frau Sanitätsrat gemietet hatte, da die Brücknersche Wohnung keinen für einen etwas unregelmäßig heimkehrenden Junggesellen geeigneten Raum besaß.
* * *
Am nächsten Tage erhielt der Juwelier jedoch von einer Dresdener Goldwarenfabrik, mit der er schon jahrelang in Verbindung stand, einen Brief mit der Nachmittagspost, daß ein Vertreter der Firma ihn gerade am Sonntagvormittag besuchen werde, um ihm einige neue Muster vorzulegen.
Brückner schimpfte mächtig, beruhigte sich dann aber, als Hilde ihm erklärte, er könne ja nachkommen. Man würde sich eben um die Mittagszeit an einer bestimmten Stelle in Werder treffen.
Dieser Vorschlag wurde angenommen, und damit war der Sonntagsausflug gerettet.
Hans Termitz war auch heute am Sonntag wie immer um zwei Uhr nachmittags nach Hause gekommen, hatte dem Mittagessen alle Ehre angetan und sich dann zu einem Verdauungsschläfchen auf den Diwan in seinem Wartezimmer hingestreckt.
Frau Meller, die um die Erlaubnis gebeten hatte, bis zum Abend zu Bekannten gehen zu dürfen, verließ gegen drei Uhr die Wohnung, um ihren Herrn nicht zu stören.
Der schlief denn auch ruhig weiter, aber keine fünfzehn Minuten später weckte ihn das anhaltende Läuten der Flurglocke.
Ein kleiner Junge stand vor der Tür und hielt ihm einen Brief hin.
„Soll ich hier abgeben,“ sagte er eilig und wollte wieder die Treppe hinabspringen.
„Halt, mein Sohn,“ rief der junge Arzt. „Wer schickt dich denn?“
Dabei besah er die Aufschrift des Umschlages flüchtig. Sie lautete:
Herrn Dr. Termitz,
Arzt,
Barbarossastr. 52, Schöneberg
Der Junge war ein paar Stufen tiefer stehen geblieben.
„Ein Mann gab mir den Brief auf der Straße,“ rief er Termitz zu. „Ich spielte gerade mit Robert Kreisel. Eine ganze Mark hab’ ich für den Gang bekommen.“
Dann raste er die Treppe hinab.
Drinnen im Wartezimmer schnitt der Doktor den Umschlag auf und zog den Briefbogen heraus.
„Kommen Sie sofort zu Juwelier Brückner. Schnelle Hilfe nötig. Verbandzeug mitbringen.“
Die Unterschrift war unleserlich. –
Termitz starrte noch immer auf die wenigen Worte hin.
„Merkwürdig!“ dachte er kopfschüttelnd. „Die Handschrift hat ohne Zweifel eine gewisse Ähnlichkeit mit der meinigen.“
Dann packte er schnell seine Handtasche und verließ die Wohnung.
Termitz eilte mit schnellen Schritten die sauberen Bürgersteige entlang und stieg dann ebenso hastig die Treppe zu der Brücknerschen Privatwohnung hinauf. Er klingelte bei Brückners an und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere, weil nicht sofort jemand erschien und ihn einließ.
Das Schrillen der Glocke mußte überhört worden sein. Also läutete er nochmals und anhaltender.
Niemand erschien. Nichts rührte sich hinter der dunkelgebeitzten Tür, in deren Mitte sich wie ein glänzendes Auge das runde, glasverkleidete Guckloch deutlich abhob.
Der junge Arzt ließ seine Blicke von dem Guckloch zufällig nach dem reichverzierten Türschloß hinwandern.
Er stutzte. Da steckte ja von außen in dem oberen Schlüsselloch ein Schlüssel …?! – Schon wollte er mit Hilfe dieses sich selbst die Tür öffnen, als die bereits erhobene Hand einen anderen Weg nahm und wieder den Knopf der elektrischen Glocke berührte. Er scheute sich, so ohne weiteres in eine fremde Wohnung einzudringen.
Schließlich raffte er sich zu einem Entschluß auf. Ewig konnte er doch hier draußen nicht stehen. Und so drehte er denn den Schlüssel um, der Schnepperriegel glitt zurück und die Tür ging nach innen zu auf.
Der lange, läuferbelegte Flur war leer, und die überall herrschende Stille wirkte auf Doktor Termitz geradezu unheimlich. Nachdem dieser die Tür ins Schloß gedrückt hatte, stellte er seine Tasche auf den Garderobenständer, legte seinen Hut dazu und klopfte dann an die in das Speisezimmer führende Tür. Er wußte hier ja recht gut Bescheid. Seit Saltens Verlobung mit der reizenden Hilde war er häufiger Gast bei Brückners gewesen.
Niemand meldete sich. Und jetzt wurde der junge Arzt ernstlich unruhig. Er stieß die Tür förmlich auf und trat schnell ein. In dem Speisezimmer befand sich niemand. Rechter Hand lag das Herrenzimmer. Beide trennte eine zweiteilige Rolltür. Termitz schob sie auseinander.
Durch die beiden Fenster des gleichfalls nach der Straße zu gelegenen Raumes flutete das helle Tageslicht in fast die Augen blendender Fülle hinein.
Der junge Arzt stand wie gebannt da. Gleich sein erster Blick war auf eine regungslose Gestalt gefallen, die zwischen dem Diplomatenschreibtisch und dem runden, mit Zeitschriften und Büchern belegten Mitteltisch lang ausgestreckt auf dem farbenprächtigen Perserteppich lag.
Wenige Schritte, und Doktor Termitz beugte sich über das bereits von fahler Leichenfarbe überzogene Gesicht des Juweliers.
Etwas wie ein Schwächeanfall überkam den Arzt. Schwer ließ er sich in den nächsten Klubsessel fallen und starrte wie hypnotisiert in das bleiche Antlitz des Toten. Daß Brückner keiner Hilfe mehr bedurfte, hatte Termitz sofort erkannt.
Was war hier vorgefallen? Wer hatte ihm den Brief geschickt, in dem um seinen sofortigen Besuch gebeten wurde? Wo waren die Dienstboten? Und – aus welchem Grunde hatte draußen in der Flurtür der Schlüssel gesteckt …?
Der junge Arzt gab dieses Grübeln bald auf. Das Interesse des Mediziners erwachte in ihm. War er schon hier, so wollte er wenigstens feststellen, woran Gustav Brückner so plötzlich verschieden war.
Er erhob sich und kniete neben der Leiche nieder.
Schlaganfall …? ‒ Nein! Dann hätte das Gesicht eine andere Farbe gehabt und wäre verzerrt gewesen.
Der Ausdruck in den Zügen des Toten, dessen Augen weit offen standen, hatte jedoch durchaus nichts Abschreckendes, war fast friedlich.
Also Herzschlag, mutmaßte Termitz und wollte sich schon wieder aufrichten, als er unter dem etwas zurückgeschlagenen Rock auf der hellen Weste einen verdächtigen, roten Fleck bemerkte.
Wenige Minuten später wußte Termitz Bescheid, – jetzt ganz genau. Und diese Gewißheit entfesselte in seinem Hirn einen förmlichen Sturm von Gedanken.
Brückner war ermordet worden. Ein dolchartiges Instrument mit dünner Klinge hatte ihm das Herz durchbohrt. Die Unterwäsche, auch die Weste, waren auf der linken Brustseite bis in den Rücken hinab völlig blutgetränkt.
Wieder saß er junge Arzt zusammengesunken in dem Klubsessel und suchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Immer aufs Neue drängte sich ihm die Frage auf: Was war hier geschehen, und wer hatte ihm den Brief zugesandt?
Als er den ersten Schreck über diese eben getroffene Feststellung, daß hier ein Mord vorlag, überwunden hatte, kam ihm auch sofort die Pflicht zum Bewußtsein, unverzüglich die Polizei zu benachrichtigen. Hastig nahm er seinen Hut und wollte gerade die Flurtür öffnen, als diese von außen mit Hilfe des von ihm stecken gelassenen Schlüssels aufgestoßen wurde.
Vor ihm standen drei Herren, hinter diesen der Portier des Hauses, den Termitz von Ansehen kannte.
Überrascht starrten die beiden Parteien einander einen Augenblick an. Dann traten die vier wortlos ein, und der Vorderste drehte sofort die elektrische Flurbeleuchtung an.
Nun erst fiel das erste Wort.
„Mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte der, der eben mit so großer Selbstverständlichkeit das Licht eingeschaltet hatte.
Termitz nannte seinen Namen und Stand.
Der andere lüftete leicht den Hut.
„Kriminalkommissar Wendler,“ stellte er sich vor, um sofort hinzuzufügen:
„So ist hier also wirklich ein Verbrechen verübt worden, Herr Doktor?“
Termitz, der annehmen mußte, daß irgend einer von den Dienstboten die Polizei herbeigerufen habe, nickte ernst.
„Leider. Ich habe soeben den Toten flüchtig untersucht. Es liegt Mord vor.“
Der Kommissar hob erschreckt den Kopf.
„Mord? Tatsächlich? ‒ Das wußten wir nicht. ‒ Aber führen Sie uns bitte. Hoffentlich ist der Tatort inzwischen nicht von zuviel Personen betreten und dort auch nichts berührt worden.“
Der junge Arzt zuckte die Achseln. „Darüber vermag ich Ihnen keinen Aufschluß zu geben. Ich traf hier niemand an.“
Der Beamte schaute ihm erstaunt schärfer in das frische Gesicht.
„Wie soll ich diese Antwort verstehen, Herr Doktor? War denn kein Mitglied der Familie Brückner anwesend, als Sie hierher kamen?“
Ehe jedoch Termitz etwas erwidern konnte, fuhr der Kommissar schon fort:
„Lassen wir das besser für später. Jetzt haben wir Dringenderes vor. ‒ Bitte, Herr Doktor, gehen Sie also voran.“ – –
Zehn Minuten später bereits schickte Wendler den einen der beiden Kriminalschutzleute, die er mitgebracht hatte, nach dem nächsten Wirtshaus, damit dieser von dort das Polizeipräsidium Schöneberg, zu dessen Bereich die Barbarossastraße gehört, telephonisch anrufen und von dem furchtbaren Verbrechen verständigen sollte. Auffallenderweise waren nämlich die beiden Telephonapparate in der Brücknerschen Wohnung und in dem Kontor offenbar absichtlich unbrauchbar gemacht worden.
Doktor Termitz und der Portier hatten, während die Beamten hin und hereilten und leise miteinander flüsterten, auf Wendlers Geheiß im Eßzimmer Platz genommen.
Jetzt trat der Kommissar zu ihnen und setzte sich gleichfalls an den großen Mitteltisch.
„Ich muß einige Fragen an Sie richten, Herr Doktor. Allerlei Seltsames spielt bei diesem Verbrechen mit. Sehr bald wird mein nächster Vorgesetzter, der Polizeirat Schulte, hier eintreffen, dem ich dann wenigstens Auskunft über Ihre Tätigkeit geben möchte.“
Termitz, der inzwischen Zeit genug gehabt hatte über das Geschehene nachzudenken und der sich eingestehen mußte, daß die Art und Weise, wie er Kenntnis von dem Morde erhalten hatte, zu mindestens recht eigenartig war, begann sich etwas unsicher zu fühlen, da der Ton, in dem Wendler dieses Verhör begann, auf ihn den Eindruck machte, als ob dieser ihm irgendwie mißtraute.
So erwiderte er denn, indem er leicht verlegen mit der Hand über die Tischdecke strich:
„Ich fürchte, Sie werden von meinen Antworten nicht sehr befriedigt sein. ‒ Aber bitte ‒ fragen Sie.“
„Kommen wir zunächst auf unser vorhin im Flur unterbrochenes Gespräch zurück,“ meinte Wendler bedächtig. „Es war also niemand in der Wohnung hier anwesend, als Sie sie betraten?“
„Nein, niemand.“
„Wie gelangten Sie denn hinein, Herr Doktor?“
„Genau so wie Sie, Herr Kommissar. Draußen im Schloß steckte der Schlüssel. Nachdem ich mehrmals vergeblich geläutet hatte, öffnete ich mir selbst die Flurtür.“
„Aber es muß Sie doch jemand geholt haben?! Oder wurden Sie telephonisch hergerufen?“
„Nein ‒ durch ein kurzes Briefchen, das mir ein Junge brachte. – Am besten ist es, ich erzähle alles im Zusammenhang, Herr Kommissar.“
Er tat es dann auch völlig der Wahrheit gemäß. Viel wußte er ja nicht zu sagen.
Als er mit dem kurzen Bericht fertig war, schüttelte Wendler unmutig den Kopf.
„Das scheint ja ein recht vielversprechender Fall zu werden,“ erklärte er nachdenklich. „Begleitumstände gibt es hier, die das Bild völlig verwirren.“
Dann schaute er Termitz merkwürdig forschend an.
„Haben Sie den Brief noch, Herr Doktor, durch den Sie zu schneller Hilfeleistung bei Brückners gerufen wurden?“
„Ja; er liegt in meiner Wohnung auf dem Tisch im Wartezimmer, soweit ich mich erinnere. Ich glaube, ich warf ihn in der Eile dorthin.“
„Hm ‒ würden Sie ihn mir vielleicht herschicken? Ich gebe Ihnen meinen Beamten mit, der zunächst hier doch nichts zu tun hat, Sie erweisen mir dadurch einen großen Gefallen.“
Termitz erhob sich bereitwilligst und erklärte:
„Gut, mag der Beamte mitkommen.“
Wendler stand nun ebenfalls auf und ging in das Herrenzimmer, wo der zweite Kriminalschutzmann noch immer herumschnüffelte.
Eine Weile flüsterten beide leise miteinander. Dann rief der Kommissar dem jungen Arzte zu:
„Sie können also aufbrechen, Herr Doktor. Bitte kommen Sie aber doch nachher wieder mit hierher. Vielleicht will der Herr Polizeirat Sie noch etwas fragen.“
„Sehr gern. Dann wäre es jedoch überflüssig, daß Ihr Beamter sich mit zu mir bemüht. Ich wohne ganz in der Nähe und bin in höchstens fünf Minuten wieder hier.“
Wendler war in die offene Schiebetür getreten.
„Der Kriminalschutzmann Siegert mag ruhig mitgehen,“ sagte er kühl. „Vielleicht ist der Brief verlegt worden, und da kann Siegert Ihnen suchen helfen.“
Wieder beschlich Termitz ein unbehagliches Gefühl. In den Blicken des Kommissars glaubte er, etwas Feindseliges zu bemerken, etwas, was ihn wie eine ernste Warnung traf.
Schweigend schritten die beiden dahin. Termitz hatte erst eine Unterhaltung beginnen wollen, aber Siegert gab so einsilbige Antworten, daß der Doktor schließlich jeden weiteren Versuch unterließ.
Dann waren sie angelangt. Auf dem Tisch im Wartezimmer lag der Brief nicht. Termitz suchte weiter, zunächst noch in aller Ruhe. Der Brief mußte ja noch irgendwo vorhanden sein. Bald aber wurde er ungeduldig, durchstöberte die unmöglichsten Orte, kehrte seine Taschen um und kramte auch die Ledertasche aus, in der er seine Instrumente und ein paar Verbandpäckchen mit zu Brückners genommen und die er jetzt wieder nach Hause gebracht hatte.
Der Geheimpolizist stand dabei und blickte zuweilen den Doktor so sonderbar an.
Dieser war schon ganz kopflos von all den vergeblichen Bemühungen geworden.
„Der verd… Brief muß da sein, muß!“, rief er und begann die illustrierten Zeitschriften einzeln durchzublättern, die auf dem Tisch im Wartezimmer auslagen.
Siegert half ihm dabei, aber mit offensichtlich recht geringem Interesse.
So verging beinahe eine halbe Stunde. Dann erklärte der Kriminalschutzmann, sie müßten notwendig zu Brückners zurück.
„Ich finde nur eine Lösung,“ meinte Termitz wütend. „Ich muß den Brief auf der Straße verloren haben, trotzdem ich mich wie gesagt genau zu ersinnen glaube, daß ich ihn hier ließ und nicht in die Tasche steckte.“
Siegert schwieg. Und stumm gingen sie wieder nebeneinander die Barbarossastraße entlang.
Als sie die Wohnung des ermordeten Juweliers betraten, hörten sie schon im Flur die gellenden Schreie einer von Weinkrämpfen befallenen Frau.
Ahnungslos waren die Ausflügler, da der Vater die Verabredung in Werder nicht eingehalten hatte, früher als anfänglich beabsichtigt, zurückgekehrt. Und jetzt mühte sich der inzwischen hier mit dem Polizeirat Schulte eingetroffene Gerichtsarzt um die bedauernswerte Gattin des Toten, der man das Geschehene nicht lange hatte verheimlichen können.
Egon Salten, der die fassungslos schluchzende Hilde zu trösten suchte, saß neben dieser im Speisezimmer auf dem Paneelsofa, hielt sie eng umschlungen und sprach ihr liebevoll zu. Als er den jungen Arzt erblickte, winkte er ihn heran und bat ihn, sich seiner Braut etwas anzunehmen, da er gern der Besprechung der Beamten, die soeben im Nebenzimmer stattfand, beiwohnen wollte.
Termitz drückte dem Freunde stumm die Hand. Es gelang ihm dann wirklich, Hilde wenigstens etwas zu beruhigen, so daß Salten zu den Kollegen vom Schöneberger Präsidium hinübergehen konnte. Er schob die geschlossenen Türhälften nur ein wenig auseinander und trat ein.
Der Polizeirat, Kommissar Wendler und die beiden Geheimpolizisten standen um die Leiche herum und sprachen eifrig mit halblauter Stimme miteinander. Beim Erscheinen Saltens verstummte Siegert, der gerade berichtet hatte, daß der bewußte Brief nicht aufzufinden sei.
Schulte wandte sich sofort an Salten und sagte leise:
„Gut, daß ich mal ungestört mit Ihnen reden kann, lieber Salten.“ ‒ Sie kannten sich schon längere Zeit, da dienstliche Angelegenheiten sie häufiger zusammenführten. „Leider ist mit dem Morde allein dieses Verbrechen hier nicht erschöpft. Ich habe vorhin, absichtlich darüber geschwiegen, als ich den Damen und Ihnen der Übermittler so trauriger Kunde sein mußte. Es liegt Raubmord vor.“
Salten schien nicht weiter überrascht.
„Ich dachte es mir schon,“ meinte er ernst. „Die Gelegenheit, heute hier größere Beute zu machen, war zu günstig für Einbrecher.“
Der Polizeirat nickte:
„Leider ‒ leider muß es so gewesen sein. Sogar der Geldschrank im Kontor ist ausgeräumt worden. Was sonst an Pretiosen aus dem Laden fehlt, ist so leicht nicht festzustellen.“
Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:
„Hm – kennen Sie eigentlich diesen Doktor Termitz genauer, lieber Salten? – Er ist hier nämlich in der leeren Wohnung angetroffen worden und hat angegeben, man habe ihn durch einen Brief zu Ihrem Schwiegervater gerufen.“
Salten begriff sofort, was diese vorsichtigen Sätze ausdrücken sollten.
„Jeder, auch der geringste Verdacht gegen Doktor Termitz wäre lächerlich,“ erklärte er eifrig. „Termitz ist mein Duzfreund und verkehrt bei meinen Schwiegereltern.“
Da erlaubte sich Siegert, der bei seinen Vorgesetzten recht beliebt war und sich schon mal etwas herausnehmen konnte, eine kurze Zwischenbemerkung.
„Wußte der Arzt, daß Brückners heute nach Werder fahren wollten?“, fragte er mit einem kaum merklichen triumphierenden Lächeln.
„Allerdings!“, entgegnete Salten scharf. „Aber als Täter kommt er ebensowenig in Betracht wie ich!“
Am folgenden Dienstag, also am zweiten Tage nach dem Morde, begab sich Salten zu seinem Kollegen Wendler in das Schöneberger Polizeipräsidium, um mit dem Kommissar über die inzwischen angestellten Ermittlungen Rücksprache zu nehmen.
Wendler empfing seinen berühmten Kollegen, der seine glänzende Befähigung schon bei der Aufklärung so und soviel verwickelter Kapitalverbrechen dargetan hatte, mit ziemlicher Zurückhaltung.
Salten hatte die Unterredung mit der Bemerkung eröffnet, daß er als Schwiegersohn des Ermordeten dem Falle ein leicht begreifliches Interesse entgegenbringe und daher gern wissen möchte, welchen Erfolg die bisherigen Nachforschungen gehabt hätten.
Der Schöneberger Kommissar erwiderte darauf in kurzen Sätzen, was bei ihm stets das Anzeichen einer nicht gerade freundlichen Stimmung war, er könne dem Wunsche seines Kollegen nur dann entsprechen, wenn dieser die ganze Sache als Dienstgeheimnis betrachten wolle.
„Unsere Ansichten dürften nämlich in dieser Angelegenheit sehr auseinandergehen,“ fügte er hinzu. „Doktor Termitz ist Ihr Freund. Von dem, was wir hier verhandeln, darf auch nicht ein Wort in die Öffentlichkeit, überhaupt zur Kenntnis Dritter gelangen. Nur weil Sie Kollege sind, komme ich Ihnen so weit entgegen.“
Wieder war der Name des jungen Arztes gefallen, und zwar in einem recht bedenklichen Zusammenhange! Salten hätte am liebsten ärgerlich aufgelacht. Aber er bezwang sich. Das war ja mehr als Unfug, Termitz auch nur im geringsten zu verdächtigen. Jedenfalls mußte er jetzt alles erfahren, was die Schöneberger an Scheinbeweisen zusammengetragenen hatten, schon um dem Freunde Ungelegenheiten mit der Polizei zu ersparen. Ihm mußte es ja gelingen, Wendler diese Idee auszureden.
Daher erwiderte er liebenswürdig und sogar etwas respektvoll, da Wendler an Jahren bedeutend älter war:
„Gut – also Dienstgeheimnis. – Diese Zusicherung genügt Ihnen hoffentlich, Herr Kollege.“
„Gewiß, – vollständig. – Übrigens ist es mir ganz lieb, daß Sie mich aufgesucht haben. Ich habe einige Fragen an Sie zu richten. – Doch zunächst will ich Ihre Bitte erfüllen und Ihnen mitteilen, was bisher in dieser Sache festgestellt worden ist. Ich bin gerade mit meinem schriftlichen Bericht fertig, und den kann ich Ihnen der Einfachheit halber vorlesen. –
Am Sonntag, den 19. Mai 191., morgens acht Uhr verließen Frau Brückner, deren Tochter und der Verlobte dieser, der Kriminalkommissar Egon Salten, die Brücknersche Wohnung und fuhren nach Werder, wo sie sich den Tag über aufhalten wollten. Gustav Brückner selbst plante erst mit dem Mittagszuge nachkommen.
In dem Hause des Juweliers werden zur Zeit zwei Dienstboten gehalten, – eine Köchin, die bereits zehn Jahre dort dient, und ein siebzehnjähriges Stubenmädchen. Letzteres ist die Tochter des Kontordieners des Geschäfts, eines Mannes namens Brunke, der in allerbestem Rufe steht. Frau Brückner hatte nun die beiden Dienstboten für diesen Sonntag von ein Uhr nachmittags an beurlaubt, und die Mädchen waren denn auch bis abends acht Uhr von Hause abwesend, und zwar bei Verwandten.
Ernst Brückner, der Student, hat bei seiner Vernehmung über sein letztes Beisammensein mit seinem Vater folgendes ausgesagt:
„Ich kam am Sonntag früh gegen drei Uhr in leicht angeheitertem Zustande heim und habe nachher in meinem Zimmer in der zweiten Etage bis gegen zehn Uhr vormittags geschlafen. Dann ging ich in die Wohnung meiner Eltern hinab und frühstückte, nachdem ich meinem Vater, der mit dem Vertreter der Firma Leonhardi & Co. im Erdgeschoß im Kontor saß, guten Morgen gewünscht hatte. Um halb zwölf Uhr verabschiedete Herr Schramm, der Geschäftsreisende, sich. Da ich zum Frühschoppen meiner Turnerschaft in das Pschorr gehen wollte, sagte ich dem Vater Lebewohl und schloß mich Herrn Schramm an, der nachher sofort zum Lehrter Bahnhof fuhr, um den Mittagszug nach Hamburg zu benutzen. Im Anschluß an den Frühschoppen machte ich mit drei Freunden einen Spaziergang nach Wannsee, von dem ich erst abends acht Uhr heimkehrte.“ –
Die telephonisch angeordnete Vernehmung des Reisenden Schramm hat nichts von Belang ergeben. Der ist tatsächlich um zwölf Uhr fünfundfünfzig Minuten vom Lehrter Bahnhof nach Hamburg abgefahren und dort pünktlich eingetroffen, wie durch Zeugen festgestellt wurde.
Die beiden Dienstboten, insbesondere die Köchin, wußten schon mehr anzugeben. Nach ihrer Aussage hat, kurz nachdem der Reisende und der Student fortgegangen waren, ein Dienstmann dem Juwelier einen Brief überbracht. Brückner las diesen im Flur und kam dann in die Küche, wo er der Köchin ärgerlich zurief, er habe noch eine Abhaltung und werde nun überhaupt wohl nicht nach Werder fahren können. Dann befahl er noch, die Köchin solle ihm kalten Braten von Tage vorher wärmen. Im Übrigen sollten die beiden Mädchen aber ruhig um ein Uhr ausgehen, was sie denn auch taten, als der Juwelier zu Mittag gegessen hatte. – Von wem der Brief abgeschickt war und was darin stand, konnten die Dienstboten nicht angeben.
Auch der Portier des Hauses und die Einwohner, soweit diese am Sonntagnachmittag daheim waren, sind vernommen worden. Niemand von diesen Personen konnte jedoch irgendetwas von Bedeutung bekunden. Fremde verdächtige Gestalten sind auf der Treppe nicht bemerkt worden, ebenso wenig sonst etwas Auffälliges.
Frau Brückner, darüber befragt, in welcher Weise das Geschäft gegen Einbruchsdiebstahl gewöhnlich geschützt werde, erklärte wie folgt:
„Aus dem Laden und dessen Nebenräumen führen elektrische Leitungsdrähte oben in die Wohnung und in die Portierloge, die zwei Alarmglocken in Tätigkeit setzen, sobald irgendjemand sich unbefugt im Laden zu schaffen macht. Außerdem hat mein Mann regelmäßig abends nach Geschäftsschluß die wertvollsten Waren in den im Kontor stehenden Panzerschrank eingeschlossen, der vollkommen diebes- und feuerfest ist. Nachts brennt im Geschäft stets Licht, so daß der Wächter, der nebenbei noch für einige andere Firmen in der Nähe tätig ist, bei seinen viertelstündlichen Revisionsgängen von der Straße aus zu kontrollieren vermag, ob im Laden etwas Verdächtiges sich regt. Bisher ist in den achtzehn Jahren, die mein Mann das Goldwarengeschäft betreibt, nie der Versuch eines Einbruchs gemacht worden.“
Soweit die Aussagen der Zeugen, deren Inhalt sich nicht direkt auf die Tat selbst bezieht. Über den Schaden, den das Geschäft erlitten hat, ist unten näheres gesagt. –
Die erste Kunde, daß im Brücknerschen Hause etwas Besonderes vorgefallen sei, erhielt die Polizei auf folgende Weise:
Ziemlich genau um drei Uhr fünfzehn nachmittags wurde am letzten Sonntag die Wache des Schöneberger Polizeipräsidiums angerufen. Der Beamte, der an den Telephonapparat ging, meldete sich, worauf eine nur schwer verständliche Stimme folgende Worte durchsagte: „Schicken Sie sofort Beamte zu Juwelier Brückner nach der Barbarossastraße. An mir ist ein Verbrechen verübt worden. Hilfe … Hilfe …“ Diesem zweiten „Hilfe“ folgten noch einige Worte, die jedoch nur wie ein Gemurmel klangen und gar nicht zu verstehen waren. Der Beamte rief noch mehrmals den Juwelier an, erhielt aber keine Antwort mehr.
Darauf begab ich mich sofort mit den beiden Kriminalschutzleuten Siegert und Paulsen zu Brückners. In Begleitung des Portiers stiegen wir die Treppe empor. Siegert war es, der uns dann auf den in der Tür zur Wohnung des Juweliers steckenden Schlüssel aufmerksam machte. Ich wollte sehen, ob die Tür wirklich nur ins Schloß gedrückt sei, und drehte daher den Schlüssel leise um. Die Tür öffnete sich auch nach innen, und wir sahen uns nun einem Herrn gegenüber, der mit dem Hut auf dem Kopf im Korridor stand. Dieser Herr war der praktische Arzt Doktor Hans Termitz, der in der Barbarossastraße 52 wohnt.
Er führte uns in das Herrenzimmer, wo die Leiche des Juweliers auf dem Rücken liegend gefunden wurde. Vier verschiedene photographische Aufnahmen des Zimmers mit dem Toten sind diesem Bericht beigefügt.
Der Kriminalschutzmann Siegert stellte dann fest, daß in dem im Erdgeschoß gelegenen Kontor, welches er mit Hilfe der aus dem Herrenzimmer hinabführenden Wendeltreppe erreichte, der große Geldschrank offenstand und vor diesem eine Anzahl leerer, sammetgefütterter Etuis auf dem Fußboden lagen. Ebenso sah er, daß auch einige Scheiben der auf dem Ladentisch stehenden Glaskästen eingedrückt waren. Die Tür zwischen dem Kontor und dem Verkaufsraum stand ebenfalls halb offen.
Ich ließ nun durch den Kriminalschutzmann Paulsen das Präsidium von dem Morde benachrichtigen und stellte auch sofort an Doktor Termitz einige Fragen. Dieser ist gestern Mittag nochmals vernommen worden. Das Protokoll liegt bei. Der Brief, durch den Termitz zu Brückners gerufen sein will, ist bis heute nicht gefunden worden.
Der Polizeirat stellte dann nach seinem Eintreffen am Tatort fest, daß Brückner mit einem dolchartigen Instrument erstochen worden ist. Die gestern erfolgte Leichenschau hat diese Annahme bestätigt.
Schon vorher hatten wir bemerkt, daß sowohl das Telephon im Vorzimmer als auch das im Kontor offenbar absichtlich unbrauchbar gemacht worden war. Die Mordwaffe oder sonst etwas, das auf die Spur des Täters führen könnte, wurde nicht gefunden. Das Aussehen des Zimmers sowie die Lage und der Gesichtsausdruck des Toten ließen erkennen, daß ein Kampf zwischen dem Mörder und seinem Opfer nicht stattgefunden hat und daß Brückner ohne Zweifel ganz plötzlich niedergestoßen worden ist. –
Der erste Verkäufer hat dann durch genaues Vergleichen der Geschäftsbücher mit den Warenbeständen herausgerechnet, daß Schmuckstücke, zumeist Brillantringe, -armbänder und -halsketten sowie einige Perlenschnüre, im Gesamtwert von rund achtundneunzigtausend Mark geraubt sind, gerade die kostbarsten Stücke. Ein Verzeichnis mit eingehender Beschreibung jedes einzelnen dieser Wertgegenstände liegt bei.
Auf Veranlassung von Polizeirat Schulte ist sofort eine Belohnung von eintausend Mark für sachdienliche Angaben, die zur Ergreifung des Täters führen können, ausgesetzt und in bekannter Weise öffentlich bekannt gegeben worden. Die Freigabe der Leiche zur Beerdigung ist ebenfalls schon erfolgt. – – –
Beurteilung durch die Mordkommission: Ob an dem Morde eine oder mehrere Personen beteiligt sind, steht noch dahin. Jedenfalls muß sich unter den Tätern einer befinden, der mit den Verhältnissen im Hause Brückner sehr vertraut ist. Der Betreffende hat den Umstand ausgenutzt, daß am letzten Sonntage die Familienangehörigen des Juweliers nicht anwesend waren und hat auch wahrscheinlich damit gerechnet, daß die Dienstboten den Tag zu einem Ausgang benutzen würden. Der Juwelier ist dann durch den von dem Dienstmann überbrachten Brief, der verschwunden ist, veranlaßt worden, daheim zu bleiben, und dürfte den Mörder, der mithin ein Bekannter von ihm sein muß, selbst in die Wohnung eingelassen haben, wo der ahnungslose Brückner dann ermordet wurde. Da dieser die Schlüssel zu dem Geldschrank und zu der eisernen Verbindungstür zwischen Kontor und Laden bei sich führte, war es ein Leichtes, den Tresor und die Glaskästen auszuplündern. Die oder der Täter haben den Schlüssel im Panzerspind sogar stecken lassen. Für die Tatsache, daß der offenbar bereits tödlich getroffene Juwelier dann noch das Polizeipräsidium um Hilfe anrief, gibt es nur eine Erklärung. Brückner muß, nachdem er den tödlichen Stoß erhalten hatte, nochmals zu sich gekommen sein, als gerade der oder die Mörder sich unten im Laden befanden. Mit letzter Kraft hat er sich an den auf dem Schreibtisch stehenden Telephonapparat geschleppt, dürfte dann aber während des Gesprächs von einem der Täter überrascht worden und tot umgesunken sein. Aus Vorsicht wurden nun die beiden Apparate von den Mordbuben unbrauchbar gemacht. Der Polizeiarzt hat die Möglichkeit dieser letzten Kraftanstrengung des tödlich Getroffenen zugegeben. Bei Stichen in das Herz soll dieses, wie schon häufiger beobachtet worden ist, noch eine Zeitlang weiter arbeiten, wenn das benutzte Instrument stecken bleibt und nicht herausgezogen wird.
Auf das Protokoll der Vernehmung des Doktor Termitz weist die Kommission noch besonders hin.“
* * *
Kommissar Wendler legte den sauber geschriebenen Bericht auf den Schreibtisch zurück.
„So, das wäre alles,“ meinte er und schaute Salten erwartungsvoll an. Offenbar hoffte er auf irgendein anerkennendes Wort.
Salten als guter Menschenkenner verstand, diesen Blick sofort richtig zu deuten. Und, da er sich jetzt unbedingt mit Wendler gut stellen mußte, sagte er dem Kollegen eine faustdicke Schmeichelei, die der Schöneberger Kommissar mit dankbarem Lächeln quittierte.
Dann fragte Salten, ob er vielleicht das zuletzt erwähnte Protokoll einmal durchsehen könne.
„Bedaure sehr, lieber Kollege, – das habe ich kurz vor Ihrem Kommen Polizeirat Schulte zugeschickt,“ entschuldigte sich Wendler lebhaft. „Ich wollte von meinem Vorgesetzten die Einverständniserklärung zu – hm, ja – zu einer Hausdurchsuchung bei Doktor Termitz einholen.“
Salten fuhr ordentlich hoch.
„Hausdurchsuchung? Höre ich recht?! Soweit sind Sie schon?!“
„Allerdings!“ entgegnete Wendler stolz. „Gestern haben sich nämlich noch Dinge zugetragen, die den Verdacht gegen den Doktor ganz wesentlich verstärkt haben.“
„So? Da bin ich wirklich neugierig!“ Saltens Worte klangen sehr gedehnt und leicht ironisch.
Seinem Kollegen entging das nicht.
„Hören Sie, was alles gegen diesen jungen Arzt spricht,“ rief Wendler gereizt. „Vielleicht wird dann auch aus Ihnen sehr bald ein Anhänger meiner Theorie, nach der lediglich Doktor Termitz als Täter in Frage kommt. Bedenken Sie, daß dieser gewußt hat, daß Brückners mit Ihnen den Ausflug verabredet hatten. Auch davon war er unterrichtet, daß der Juwelier erst mittags nachfahren wollte. Sie selbst haben es ihm ja in Ihrer gemeinsamen Stammkneipe am Sonnabendabend erzählt. Als wir ihn dann in der Brücknerschen Wohnung überraschten, wußte er sich ja sehr gut zu beherrschen und brachte schließlich das Märchen von dem Briefe vor, durch den er seine Anwesenheit in der leeren Wohnung aufzuklären suchte. Bedenken Sie weiter, daß er seine Wirtschafterin von drei Uhr nachmittags ab beurlaubt hatte, damit niemand kontrollieren konnte, was er tat. Daher kann er auch keinen Zeugen dafür benennen, daß der Knabe ihm den Brief tatsächlich gegeben habe.“
Wendler schöpfte Atem, da er diese Sätze in jagender Hast hervorgesprudelt hatte.
„Sind das etwa Ihre gesamten Belastungsmomente, die gegen meinen Freund sprechen?“ fragte Salten verwundert, als sich Wendlers Atempause über Gebühr lange ausdehnte.
„Oh nein! Halten Sie mich für so wenig fähig abzuschätzen, was zu einem „dringenden“ Verdacht gehört?! Noch manches andere läßt die Persönlichkeit dieses Doktors in etwas zweifelhaftem Lichte erscheinen. Merkwürdig nur, daß Ihnen das noch nicht aufgefallen ist. Der Zulauf zu Termitz’ Praxis in der Barbarossastraße ist recht gering. Sein Einkommen hat er auf dreitausend Mark angegeben. Dabei hat er allein im letzten Jahre seiner in recht dürftigen Verhältnissen lebenden Mutter eintausendundzweihundert Mark geschickt. Bleiben also noch eintausendundachthundert Mark. Die Wohnung kostet jährlich neunhundert Mark, mithin Rest neunhundert Mark. Die Wirtschafterin bezieht monatlich dreißig Mark Lohn, also im Jahre dreihundertundsechzig Mark. Somit hätte der Herr Doktor Termitz von fünfhundertundvierzig Mark sein Leben ein Jahr lang zu fristen, abgesehen von Steuern und Abgaben, die auch gezahlt werden müssen. Nehmen wir nun schon an, daß er nicht dreitausend, sondern fünftausend Mark verdient, so genügen aber auch diese zweitausendfünfhundertundvierzig Mark, die dann herauskämen, nicht, um so üppig zu leben, wie er es tut. Seiner Wirtschafterin gibt er wöchentlich vierzig Mark zur Bestreitung aller laufenden Ausgaben, – Essen, Trinken, Heizung, Beleuchtung. Das sind im Monat rund gerechnet einhundertundsechzig, im Jahr eintausendneunhundertundzwanzig Mark. Seine Schneiderrechnung – er läßt in einem erstklassigen Geschäft arbeiten – hat für die letzten zwei Jahre die Höhe von rund eintausend Mark. Im vergangenen Jahre ist er sechs Wochen an der Riviera und in Italien gewesen. – Na – ich könnte noch mehr Zahlen anführen, aus denen mit untrüglicher Sicherheit nur der eine Schluß zu ziehen ist: Doktor Termitz verfügt noch über andere Einnahmequellen. Privatvermögen besitzt er nicht. Ist er vielleicht Spieler? Das müßten Sie doch wissen!“
„Nein – Termitz rührt keine Karte an,“ erwiderte Salten schon etwas nachdenklich.
„Nun also! – woher hat er die Summen, die er ausgibt? Woher? Können Sie mir die Frage beantworten?“
„Leider nicht.“
„Sehen Sie …! Sie sind bereits etwas kleinlaut geworden. – Meine Hauptstütze, der Siegern hat im Laufe des gestrigen Tages aber nicht nur diese Einzelheiten über die Lebensführung des Arztes ausgekundschaftet, sondern noch eine weitere Entdeckung gemacht, die noch wertvoller ist. Siegert, der sich gestern Nachmittag in einer Verkleidung vor dem Hause des Doktors postierte, ist diesem später heimlich nachgeschlichen. Na – ich will mich kurzfassen und Sie nicht auf die Folter spannen. So kam heraus, daß Termitz oben im Norden Berlins in der Chausseestraße noch eine zweite Wohnung, besser, ein möbliertes Zimmer mit Flureingang, besitzt, das er dann in einer tadellosen Maske als ärmlich gekleideter, grauhaariger, gebückter Mann wieder verließ, um sich in eine Mietskaserne in der Müllerstraße – Nr. 198 – zu begeben, wo Siegert ihn jedoch nicht aufzustöbern vermochte. Nachdem mein Beamter zwei Stunden vor dem Hause gewartet hatte, mußte er wohl oder übel die Sache aufgeben und kehrte mit dieser Neuigkeit ins Präsidium zurück. – Na – was sagen Sie nun?!“
Triumphierend schaute Wendler seinen Kollegen an.
Salten blickte zu Boden.
„Unmöglich – Siegert muß sich geirrt haben,“ meinte er unsicher.
„Der und sich irren!“ lachte Wendler. „Einen so geriebenen Fuchs wie den gibt es kein zweites mal mehr. Der hört wirklich beinahe das Gras wachsen und sieht durch ein zolldickes Brett hindurch!“
Salten trommelte nervös mit den Fingern gegen das Stuhlbein.
„Und diese Beobachtung gibt Ihnen die Veranlassung, bei Termitz eine Hausdurchsuchung abzuhalten?“ fragte er dann.
„Keine direkte Hausdurchsuchung – oh nein! Termitz soll nicht vor der Zeit gewarnt werden. Ich will nur Siegert zu ihm schicken, damit er mit diesem zusammen nochmals nach dem Briefe sucht. – das ist es, was ich Polizeirat Schulte vorgeschlagen habe.“
Noch eine halbe Stunde lang besprachen die beiden Beamten den Fall Brückner nach allen Richtungen hin. Salten suchte wie ein Verzweifelter nach irgend einem Punkt, von dem aus sich die ganze Theorie Wendlers vielleicht umstoßen ließ. Aber diesen Punkt fand er nicht.
* * *
Drei Stunden später klingelte Wendler schon Salten, der sich gerade in seinem Arbeitszimmer auf dem Berliner Polizeipräsidium befand, ziemlich stürmisch an.
„Hier Wendler … n’ Tag, Salten! Soeben ist Termitz verhaftet worden. Siegert hat einen Teil der bei Brückner geraubten Schmuckstücke im Wartezimmer gefunden, – in der Polsterung des dort stehenden Plüschsessels. – Na – wer hat Recht behalten …?!“
Hans Termitz war verhaftet worden, als er wie täglich gegen zwei Uhr nachmittags heimkehrte. Siegert hatte sich zur Vornahme der Suche nach dem wichtigen Brief gegen zwölf Uhr bei dem jungen Arzte eingefunden, hatte diesen jedoch nicht angetroffen und dann etwas eigenmächtig in dessen Abwesenheit die ganze Wohnung durchschnüffelt. Frau Meller, die mit den Vorbereitungen für die Mahlzeit zu tun hatte, ließ ihn ungestört, da er sich ihr gegenüber durch seine Marke ausgewiesen hatte. –
Die Schmuckstücke waren ziemlich tief zwischen die Polsterung des Sitzes und die der Rückenlehne des Sessels hineingeschoben worden. Im ganzen entdeckte Siegert in diesem Versteck drei Perlenketten und fünf Brillanthalsbänder, – gerade die kostbarsten der geraubten Wertgegenstände.
Ohne Frau Meller etwas von diesem Funde zu sagen, begab er sich damit sofort zu seinem Vorgesetzten in das Präsidium. Schulte ließ dann einen Haftbefehl ausstellen, mit dessen Vollstreckung Kommissar Wendler und Siegert betraut wurden.
Ersterer zeigte Termitz lediglich den Haftbefehl vor und befahl ihm mitzukommen, ohne ihm mitzuteilen, welche schwerwiegenden Verdachtsmomente gegen ihn vorlagen.
Der Doktor war von seiner Verhaftung so vollkommen überrascht worden, daß er schweigend alles hinnahm. Erst als das Verhör im Amtszimmer Wendlers begann, hatte er den lähmenden Schreck völlig überwunden und protestierte ziemlich erregt gegen diese unsinnige Maßnahme, wie er seine Verhaftung bezeichnete.
Der Kommissar lächelte im Bewußtsein eines schnell errungenen, entscheidenden Sieges nur mild zu diesen Ausbrüchen der Verzweiflung.
„Wenn Sie Ihre Schuldlosigkeit beweisen können, so wird man Sie sofort wieder entlassen,“ erklärte er ruhig und beinahe freundlich.
„Ich soll meine Schuldlosigkeit beweisen!!“ brauste der Arzt wieder auf. „Ich denke, es ist Sache der Behörden mir zu beweisen, daß ich an diesem Verbrechen irgendwie beteiligt bin!“
„Ist schon geschehen!“ meinte Wendler, und gab dem Protokollführer am Nebentisch ein Zeichen sich bereitzuhalten.
„Da bin ich doch sehr neugierig!“ rief Termitz mit beißender Ironie.
Wendlers Gesicht wurde streng und abweisend.
„Zur Sache nun. – zuerst Ihre Personalien also.“
Die waren bald aufgenommen. Dann begann das gefährliche Frage- und Antwortspiel, gefährlich für Termitz, der bald merkte, daß seine Sache schlechter stand, als er je geahnt hatte.
„Zunächst möchte ich wissen,“ fing der Kommissar an, „wo Sie am letzten Sonntag in der Zeit von elf Uhr vormittags bis um zwei Uhr nachmittags gewesen sind. Daß Sie um zwei zu Tisch heimkamen und bis gegen drei zu Hause waren, hat uns schon Ihre Wirtschafterin bekundet.“
Termitz zuckte leicht zusammen.
„Ich habe einen Spaziergang gemacht,“ erwiderte er dann gelassen.
„So? – Wohin denn?“
„In den Grunewald nach dem Teufelssee.“
„Allein?“
„Ja.“
Wendler nickte langsam mit dem Kopf. „Auf diese Antworten war ich vorbereitet,“ meinte er. Dann fragte er weiter:
„Wo waren Sie gestern, Montag Nachmittag in der Zeit von einviertel fünf bis gegen sieben Uhr? Etwa wieder im Grunewald?“
Termitz, der bereits hoffte, diese gefahrdrohende Klippe überwunden zu haben, brauchte reichlich lange Zeit, bis er eine Antwort fand. Und diese klang schon merklich unsicher.
„Ich habe Krankenbesuche gemacht.“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
„Bei wem denn?“ forschte Wendler lauernd.
Termitz schwieg und schaute zu Boden. Plötzlich war ihm würgende Angst in die Kehle gestiegen. Dieser kaltblickende Beamte rührte ja an einem Geheimnis, das unbedingt sein alleiniges Eigentum bleiben mußte.
„Verweigern Sie die Antwort?“ meinte Wendler nach einer Weile gelassen.
„Ja!“ Feindselig stieß der Doktor das eine Wort hervor.
„Haben Sie vielleicht in dem Hause Chausseestraße 106 einen Patienten?“ forschte Wendler, während seine Augen unverwandt Termitz’ Gesichtsausdruck belauerten.
Der Doktor preßte die Lippen fest zusammen. In seinem Blick war der Schreck nur zu deutlich zu lesen.
„Nein,“ sagte er dann zögernd.
„So, so! – Na – was taten Sie denn gestern Nachmittag dort?“
Termitz erbleichte. Schnell raffte er sich aber wieder auf.
„Das geht niemanden etwas an, niemanden!“ meinte er unwillig.
„Sie werden schon bescheidener werden, mein Lieber,“ sagte Wendler drohend. Und fuhr fort:
„Sie haben dort in der Chausseestraße ein möbliertes Zimmer gemietet, das Sie gestern in einer Verkleidung verließen. Dann verschwanden Sie in dem Hause Müllerstraße 198. Zu spät bemerkte der Beamte, der Ihnen heimlich gefolgt war, daß diese Mietskaserne noch einen zweiten Ausgang nach einer kleinen Laubenkolonie zu besitzt. Den haben Sie benutzt, um Verfolger von ihrer Spur abzulenken. – Leugnen Sie auch dies alles ab?“
Termitz fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Also kannte die Polizei vorläufig erst den kleineren Teil seines Geheimnisses! Nun hieß es schlau sein und die Behörde womöglich irreführen. Dann war noch nicht alles verloren.
„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig als das zuzugeben, was Sie mir eben vorgehalten haben,“ sagte er leise und sehr geschickt den in sein Schicksal völlig Ergebenen spielend. „Ja – ich habe das Haus Müllerstraße 198 nur als Durchgang benutzt, und dies nicht zum ersten Mal.“
„Und wozu legten Sie diese Maske eines alten, ärmeren Mannes an? Wohin gingen Sie überhaupt?“ fragte Wendler hastig, der schon hoffte, hier vor weittragenden Enthüllungen zu stehen.
Termitz hatte sich die Antwort schon zurechtgelegt.
„Ich begab mich zu einer Unterredung mit einem Manne, der nicht wissen darf, mit wem er es zu tun hat,“ sagte er ruhig. Er ahnte ja nicht, wie falsch er eben gehandelt hatte und wie belastend gerade diese Ausrede für ihn werden sollte.
Wendler nickte daher auch hochbefriedigt.
„Sind Sie mit diesem Manne schon häufiger zusammengewesen?“ war seine nächste Frage.
„Ja – einige Male.“
„Dieser Mann handelt wohl mit Schmucksachen, nicht wahr?“ meinte er vertraulich.
Termitz stutzte. – Schmucksachen? Wie kam der Kommissar gerade darauf? – Dann fiel ihm ein, daß ja bei Brückners für annähernd einhunderttausend Mark Pretiosen geraubt worden waren. Und jetzt überkam ihn wieder die Angst vor einem unbestimmten Unheil, das schleichend näher und näher rückte. Aber er mußte ja etwas erwidern – irgendetwas.
„Ich glaube nicht,“ meinte er schnell. „Genauer kenne ich den Betreffenden nicht.“
Wendler zuckte die Achseln.
„Wozu lügen Sie? Sie haben sich ja doch schon verraten. Der Mann ist der Hehler, der Ihnen einen Teil des Raubes abgekauft hat. Den Rest haben wir nämlich in dem Sessel gefunden, mein Lieber. Hier sind die Sachen.“
Dabei zog er die Schublade seines Schreibtisches auf und legte die Perlenketten und die Brillanthalsbänder vorsichtig auf die grünbezogene Tischplatte.
Termitz stierte sprachlos auf den blitzenden Schmuck. Er begriff nicht, was das alles bedeutete. Die Worte des Kommissars waren ihm ein vollkommenes Rätsel.
Wendler tat die Kostbarkeiten wieder in die Schublade zurück.
„Sie sehen, Termitz, – jedes weitere Leugnen wäre eine bodenlose Frechheit! Als Siegert den Schmuck aus der Polsterung des Sessels in Ihrem Wartezimmer hervorzog, war die Beweiskette geschlossen. Verdacht auf Sie hatte ich schon am Sonntag. Vielleicht haben Sie das auch gemerkt.“
„In … meinem … Sessel …?!“ stotterte der Doktor. „In meinem Sessel? – Das ist ja unmöglich, das ist Wahnsinn! Sie reden mir das nur vor, um ein Geständnis aus mir herauszulocken. Aber ich habe nichts zu gestehen – nichts! Ich bin unschuldig!“
„Natürlich – das sind alle, die ich in die Finger bekomme. Jeder schwört, er wisse von nichts! Und auch Sie werden wohl jetzt mit der alten Ausrede sich herauszulügen suchen, ein Anderer habe die Sachen in den Sessel gesteckt, um Ihnen zu schaden. – – Geben Sie nun also zu, daß Sie Brückners Mörder sind?“
„Nein – nein – niemals!“ schrie der junge Arzt mit wutverzerrtem Gesicht. „Lassen Sie mich in Ruhe mit diesem Unsinn!“
Termitz fühlte, daß seine Widerstandskraft nachzulassen begann. Nie hatte er gedacht, daß dieser unerbittliche Kommissar bereits so weit unterrichtet sein könne. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Jedes unvorsichtige Wort würde ihn ja noch mehr hineinreißen.
„Na, so reden Sie doch, Mann!“ sagte Wendler ironisch. „Sie waren ja bisher um keine Erwiderung verlegen. – Oder hat Sie der eine Reinfall, dieses Zugeständnis Ihrer Geschäftsbeziehungen zu dem Hehler, vorsichtig gemacht?! Das hilft Ihnen jetzt nicht mehr viel.“
„Hehler? – Von einem Hehler habe ich kein Wort gesagt,“ stieß der Doktor verzweifelt hervor. „Ich widerrufe diese meine Angaben. Ich hatte die Verkleidung zu einem anderen Zwecke angelegt.“
Wendler pfiff leise durch die Zähne. „Zu spät, du rettest den Freund nicht mehr …!“ meinte er gutmütig scherzend. „Die Fortsetzung kennen Sie wohl: „So rette das eigene Leben!“ – Ja, Termitz, retten Sie Ihr Leben durch ein offenes Geständnis! Vielleicht haben Sie Brückner gar nicht töten wollen, vielleicht geschah die Tat im Affekt, – in der Übereilung.“
Der junge Arzt saß jetzt völlig zusammengesunken da. Der Kommissar, in der Hoffnung, daß Termitz bereits halb mürbe sei, wollte nun seinen letzten Trumpf ausspielen.
„Ich werde Ihnen mal erzählen, wie sich die ganze Sache abgespielt hat, – nein, abgespielt haben muß. – Den Entschluß, den Juwelier auszuplündern, faßten Sie, als Ihr Freund Salten Ihnen erzählte, daß Brückners nach Werder fahren wollten und daß nur der Juwelier selbst bis Mittag zu Hause bleiben würde. Dies kam Ihnen sehr gelegen. Wußten Sie doch, daß es Ihnen nie gelingen würde, gewaltsam den Geldschrank zu erbrechen, in dem sich gerade die wertvollsten Gegenstände befanden. Sie mußten sich also in Besitz der Schlüssel bringen. Zu diesem Zweck war es Ihre nächste Aufgabe den Juwelier zu bewegen, von der Fahrt nach Werder Abstand zu nehmen. Dies erreichten Sie durch den Brief, den Sie Brückner durch einen Dienstmann ins Haus bringen ließen. Dann haben Sie sicherlich in der Nähe irgendwo – vielleicht in Ihrer Verkleidung – gewartet und aufgepaßt, ob vielleicht auch die Dienstboten ausgehen würden. Sie bemerkten die beiden Mädchen wirklich und begaben sich nun nach oben, läuteten und wurden von Brückner eingelassen, dem in dem Briefe ohne Zweifel irgendein Besuch angemeldet war. Nachdem Sie den Juwelier ausgehorcht hatten, ob etwa mit der Rückkehr des Sohnes oder der Dienstboten zu rechnen sei, spielte sich das eigentliche Drama ab. Unser Polizeiarzt hat bekundet, daß Brückner etwa in der Zeit zwischen zwei und halb vier Uhr nachmittags den Tod gefunden haben müsse. Wir wissen ja aber durch den telephonischen Hilferuf des Juweliers, daß dieser noch um einviertel vier Uhr gelebt hat. Jedenfalls haben Sie ihn schon vor zwei Uhr niedergestochen, ihm die Schlüssel abgenommen und den Tresor und den Laden eiligst geplündert. Mit der Beute gingen Sie dann in Ihre Wohnung, aßen Mittag und überdachten das Geschehene. Hierbei muß Ihnen nun irgendetwas eingefallen sein, das Sie zwang, nochmals an die Stätte Ihres Verbrechens zurückzukehren. Vielleicht sind Ihnen Zweifel aufgestiegen, ob Brückner auch wirklich tot sei, vielleicht hatten Sie vergessen ihm den Brief abzunehmen, der ihn veranlaßte, daheim zu bleiben, und den Sie sicherlich so aufgesetzt hatten, daß der Juwelier sich bewogen fühlte, den Inhalt und den Absender niemandem gegenüber zu erwähnen. Dieser Brief ist nämlich ebenso wenig auffindbar wie der, den Sie erhalten haben wollen. Natürlich sind Sie es, der ihn dem Toten abgenommen und vernichtet hat. –
In der Brücknerschen Wohnung merkten Sie dann, daß der Juwelier noch die Kraft gefunden hatte, das Telephon zu erreichen. Aus Vorsicht – überflüssiger Vorsicht, da Brückner inzwischen tatsächlich verschieden war – zerstörten Sie die Apparate im Herrenzimmer und im Kontor und wollten dann wieder heimkehren. Sie hatten jedoch den Entreeschlüssel, den Sie dem Juwelier abgenommen und aus irgend einem Grunde bei Ihrem ersten Besuch zu sich gesteckt hatten, in der Eile im Schloß gelassen, so daß ich mit meinen Beamten überraschend eintreten konnte. In dem Bewußtsein, daß die Beute längst in Ihrer Wohnung versteckt lag und daß Sie eine gute Ausrede für Ihre Anwesenheit bereithatten – das Mitnehmen Ihrer Arzttasche sollte die Sache noch wahrscheinlicher machen! – traten Sie mir ziemlich gefaßt entgegen. Trotzdem schöpfte ich Verdacht. Und jetzt sind Sie eben überführt.“
Mehr staunend wie ängstlich hatte Termitz diese Schilderung des Verbrechens, bei der alle Einzelheiten so fein ineinandergriffen und ihn schwer belasteten, mitangehört. Jetzt aber, wo Wendler ihm Zeit ließ, diesen so glänzend aus Tatsachen und Kombinationen aufgebauten Bericht auf sich als Ganzes wirken zu lassen, kam tiefste Mutlosigkeit über ihn. Er sah ein, daß der Kommissar hier ein Netz geknüpft hatte, aus dem es nur eine Möglichkeit des Entrinnens gab: Die Preisgabe seines jahrelang sorgsam gehüteten Geheimnisses. –
Sollte er nun wirklich diesen furchtbaren Verdacht dadurch von sich abschütteln, daß er zu diesem letzten Mittel griff? Oder – sollte er nicht lieber noch damit warten? Vielleicht brachte ein Zufall die Wahrheit, seine Unschuld eben, ans Tageslicht. – noch bevor Wendler wieder zu sprechen begann, war er mit seinem Entschluß fertig.
Und auf des Kommissars Frage, ob er jetzt gestehen wolle, sagte er daher verbissenen Tones:
„Ich habe nichts zu gestehen!“
Dabei blieb er.
Der Juwelier Gustav Brückner wurde am folgenden Nachmittag beerdigt. Nach dem Begräbnis fand sich die Familie Brückner mit einigen vertrauten Freunden um die im Speisezimmer sauber gedeckte Kaffeetafel zusammen.
Ernst Brückner, der in diesen letzten Tagen durch den schweren Schicksalsschlag das letzte jugendlich Unfertige seines Wesens mit einem Male abgeschüttelt hatte, sorgte in gewandter Weise für das Wohl der wenigen Gäste, da Mutter und Schwester noch immer förmlich fassungslos waren.
Abends zogen die beiden Damen, nachdem die Gäste gegangen waren, sich frühzeitig zurück.
Salten blieb mit seinem Schwager, der sich entschlossen hatte sein Studium aufzugeben und das väterliche Geschäft zu übernehmen, noch im Herrenzimmer bei einer Zigarre sitzen. Daß dieses gerade der Raum war, wo der Tote vor wenigen Tagen seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte, störte sie nicht, obwohl sich ihrer doch unwillkürlich eine gewisse weihevolle Stimmung bemächtigte.
Daß ihr Gespräch sich um den Raubmord und Doktor Termitz’ Verhaftung drehte, war umso natürlicher, als sie in den verflossenen Tagen zu einem eingehenden Gedankenaustausch nicht gekommen waren.
Salten hatte heute Vormittag abermals seinen Kollegen Wendler aufgesucht, um zu erfahren, was alles gegen den jungen Arzt an Verdachtsgründen vorlag.
Diese Unterredung, bei der Wendler jetzt, nachdem Termitz verhaftet war, ganz offen alles berichtet hatte, machte auf Salten zunächst einen ziemlich niederschmetternden Eindruck. Er konnte sich nicht verhehlen, daß sein Schöneberger Kollege mit großer Geschicklichkeit das Belastungsmaterial zusammengetragen hatte und daß die Lage seines Freundes eine ziemlich verzweifelte war.
Dann aber kam er, als er allein durch die Straßen schritt und das eben Gehörte nochmals sorgsam überdachte, doch zu einem wesentlich anderen Resultat. Manches, was für Wendler als unumstößliche Tatsache galt, erschien ihm doch noch recht anzweifelnswert. Und so gelangte er denn zu dem Entschluß, baldigst seinen Freund im Polizeigefängnis aufzusuchen, um durch eine persönliche Rücksprache sich über verschiedene Punkte Klarheit zu verschaffen.
Ernst Brückner, der der dienstlichen Tätigkeit seines Schwagers stets das regste Interesse entgegengebracht hatte, wollte ganz genau wissen, wie der Verdacht gegen Termitz, den er ja auch sehr gut kannte, aufgetaucht sei und wie der Doktor die Anschuldigungen zu entkräften versucht habe.
Salten konnte jetzt ohne Gewissensskrupel alles sagen, was er wußte, da Wendler ihn von jeder weiteren Schweigepflicht entbunden hatte, nachdem Termitz völlig überführt war, wie der Schöneberger Kommissar stolz behauptete.
Der Student fragte jetzt unsicher, da er selbst sich weder für noch gegen Termitz zu entscheiden vermochte:
„Wie denkst du denn über die Sache, Egon? Meinst du, daß der Doktor wirklich fähig ist, auf so raffinierte Art einen Raubmord zu begehen?“
Salten zuckte die Achseln. „Termitz ist ein sehr kluger, gewandter Mensch – ohne Frage! Die Erfahrung lehrt, daß auch aus den gebildeten Ständen gerade geistvolle Köpfe zu Verbrechern geworden sind. Trotzdem glaube ich an meines Freundes Schuldlosigkeit. Ich habe das Gefühl, daß bei diesem Verbrechen gleichzeitig ein zweites begangen worden ist, – ein Schurkenstreich gegen Termitz eben, den man durch Heimtücke hat als Täter hinstellen wollen.“
Der Student wußte nicht recht, worauf sein Schwager hinauswollte. Fragend blickte er ihn daher an. Diese stumme Aufforderung zum Weitersprechen genügte.
„Wenn Termitz wirklich den Mord so begangen hat, wie Wendler sich es zurechtlegt,“ fuhr Salten fort,“ so ist es unbegreiflich, daß der Doktor so dumm gewesen sein soll, die Beute ausgerechnet in seinem Wartezimmer im Sessel zu verstecken, wo doch immerhin die Möglichkeit vorlag, daß einer der Patienten zufällig sich mit der Hand – vielleicht um einen hineingerutschten kleinen Gegenstand herauszuholen – zwischen Rücken- und Sitzpolster verirrte. –
Dies ist nur einer von verschiedenen Punkten, die die ganze Sache in ein recht eigentümliches Licht rücken. Kurz gesagt: Ich rechne stark damit, daß ein Dritter die Schmuckstücke dort verborgen hat – eben der wahre Mörder!“
„So, nun begreife ich. Also darauf willst du hinaus. Du denkst, daß dieser Dritte ein Mensch ist, der Termitz haßt, und ihn zu verderben sucht. – Aber – hm – wird wohl jemand aus diesem Grunde einen Mord begehen und den Verdacht dann auf einen anderen abzuwälzen suchen? Ist dieses Wagnis nicht zu groß? Und weiter – wird er dann gerade den wertvollsten Teil des Raubes dazu benutzen, um seinen Feind als den Mörder hinzustellen? – Ich weiß nicht, diese deine Theorie gefällt mir nicht sehr, lieber Egon.“
Der Kriminalkommissar seufzte.
„Und doch ist es die Einzige, die uns zu Termitz’ Schuldlosigkeit hinführt. Gewiß – auch sie hat ihre sehr schwachen Seiten. Und deswegen will ich auch gleich morgen zu Termitz gehen. Die Erlaubnis zum Betreten seiner Zelle werde ich mir schon erwirken. Ich bin überzeugt, daß eine Unterredung mit dem Doktor mir volle Klarheit darüber gibt, ob er schuldig oder schuldlos ist. Außerdem muß er mir als seinem Freunde erklären, was diese Geschichte mit der zweiten Wohnung und der Verkleidung auf sich hat. Wendler befindet sich in dieser Beziehung ohne Frage sehr auf dem Holzwege. Ich habe das Vernehmungsprotokoll gelesen und daraus den bestimmten Eindruck gewonnen, daß Termitz geschwindelt hat, als er angab, er habe mit einem Manne Zusammenkünfte gehabt. Ich denke, daß hier viel eher ein Weib mit im Spiel ist. – Doch das sind Dinge, die erst geklärt werden müssen.“
Ernst Brückner hob zweifelnd die Schultern.
„Lieber Egon – ein Weib?! Und dazu die Verkleidung als älterer Mann der unteren Volksschichten?! Nicht sehr wahrscheinlich! – Außerdem sagtest du ja, daß Termitz das Zimmer in der Chausseestraße erwiesenermaßen bereits drei Jahre unter dem Namen Hans Müller innehat und dort bei seiner Wirtin stets als Privatdetektiv gegolten hat, – eben weil er sich in verschiedener Gestalt zeigte.“
Salten warf ärgerlich den Zigarrenrest in die Aschenschale.
„Stimmt! Die Zimmervermieterin hielt ihn für einen Detektiv. Polizeilich gemeldet hat er sich als Kolporteur. – Wirklich eine Geschichte, aus der kein Mensch klug wird. Die Frau hat ja außerdem noch bekundet, daß dieser Hans Müller das Zimmer auch nicht ein einziges Mal zum Schlafen benutzt hat, sondern täglich dort stets um dieselbe Zeit, und zwar jedes Mal nur für etwa zehn Minuten, erschienen ist: Vormittags gegen einviertel elf, nachmittags gegen halb zwei und halb fünf und abends gegen sieben Uhr. – Hieraus geht hervor, daß Termitz sich dort nur regelmäßig verkleidet, bzw. seine Verkleidung wieder abgelegt hat. –
Ich stehe hier vor einem vollkommen Rätsel. Alles Grübeln hilft nichts. Die Geschichte bleibt dunkel und unergründlich. Trotzdem muß ich dahinter kommen, muß! Ich werde mir Urlaub nehmen und mich dann ausschließlich dieser Sache widmen. So wird zum Beispiel Wendler noch heute auf meinen Vorschlag hin mit den Nachforschungen nach jenem Dienstmann beginnen, der den Brief mittags unserem armen Vater überbrachte. Ich wieder beabsichtige, falls ich aus der Unterredung mit Termitz die Überzeugung von dessen Schuldlosigkeit und damit auch von der Wahrheit seiner Angaben gewinne, mit allen Mitteln jenen Jungen zu suchen, der dem Doktor das jetzt nicht mehr auffindbare Schreiben zustellte, auf welches hin dieser hierher geeilt sein will.“
Bald darauf verabschiedete Salten sich, da sein junger Schwager schon verschiedentlich heimlich gegähnte hatte.
Der Kommissar wohnte in der Nähe des Alexanderplatzes. Die Untergrundbahn brachte ihn in zwanzig Minuten an sein Ziel. Aber seine stille Junggesellenklause bereits aufzusuchen, dafür verspüre er noch keine Lust. Das Gespräch mit Ernst Brückner, durch das ihm wieder so recht all die sonderbaren Nebenumständen dieses Kriminalfalles zum Bewußtsein gekommen waren, hatte ihn nur zu munter gemacht.
So begab er sich denn in die kleine Weinstube in der Alexanderstraße, wo hauptsächlich die Beamten des nahen Polizeipräsidiums verkehrten und wo Salten, Marchowski, Termitz und noch einige andere Kommissare sich zu einem steten Stammtisch regelmäßig zusammenfanden.
Heute war jedoch nur Marchowski anwesend. Die beiden Beamten kamen sehr bald auf den Mord zu sprechen. Salten war dies ganz angenehm, da er gern Marchowskis Ansicht hören wollte.
Dieser ließ sich die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung zunächst ganz genau erzählen. Zum Teil war er auch schon durch die ausführlichen Berichte, die die heutigen Abendzeitungen gebracht hatten, leidlich informiert. Wendler, der die Presse mit diesem Stoff versorgt hatte, war allerdings so vorsichtig gewesen die Geschichte von Termitz’ Doppelleben vorläufig noch zu unterschlagen, da der jetzt sein Hauptaugenmerk darauf richtete den Mann auszukundschaften, mit dem der Doktor die Zusammenkünfte gehabt hatte und da er alles vermeiden wollte, wodurch dieser offenbare Hehler vorzeitig gewarnt werden könne.
Marchowski, der recht bleich und krank aussah und dessen Augen auch heute wieder in ungesundem Glanze flimmerten, schien von der Schuldlosigkeit des Doktors nicht viel zu halten.
„Bedenke,“ sagte er zu Salten, während seine Hände nervös ein Stück Zeitung in kleine Fetzen zerissen, „daß auch wir die Lebensführung unseres Freundes schon immer in einem Punkte merkwürdig gefunden haben: Niemand von seinen Bekannten wußte, was er eigentlich den ganzen Tag über trieb. Nur abends konnte man seiner habhaft werden. Seine spärlichen Patienten können ihn nie und nimmer so in Anspruch genommen haben. Nun ist endlich festgestellt, daß er außer seinem Dasein als Doktor Termitz noch ein zweites als Hans Müller lebte. Womit beschäftigte dieser Hans Müller sich? Mit harmlosen Dingen wohl kaum! Sonst hätte er Wendler gegenüber alles offen zugegeben und auch nicht beim Aufsuchen seines Zimmers in der Chausseestraße so auffällige Umwege gemacht, wie dieser Siegert beobachtet hat.“
Salten mußte das Treffende dieser letzten Bemerkungen zugeben.
„Aber ich bitte dich, Marchowski,“ stieß er dann hervor, „was in aller Welt tat Termitz nur in seiner Verkleidung als Hans Müller?! Die Zimmervermieterin in der Chausseestraße hat ja ausdrücklich betont, daß er ihr nur in diesen beiden Gestalten bekannt ist, – eben so, wie Termitz tatsächlich aussieht und dann in der Verkleidung als ärmerer, älterer Mann. Daß Termitz Arzt ist, hat sie nie geahnt. Auch seinen wirklichen Namen kannte sie nicht. Ihre Aussage läuft darauf hinaus, daß er sich täglich bei ihr die Verkleidung anlegte. Täglich, auch sonntags, hat er mithin vormittags und nachmittags einige Stunden als einfacher, graubärtiger Mann sich mit Sachen befaßt, die sich unserer Kenntnis entziehen und die …“
„… .recht fragwürdiger Natur sein müssen,“ vollendete Marchowski.
Seine in fieberhaftem Glanz leuchtenden, unstäten Augen, ruhten dabei mit einem Ausdruck höhnischen Triumphes auf Salten, der mit gesenktem Kopf vor sich hinstarrte.
Dann fuhr er fort, wobei eine seltsame Erregung seine Stimme durchzitterte:
„Besinnst du dich noch auf unser Gespräch damals, als wir von der Hinrichtung des Schiel-Maxe kamen? Wir erörterten das Thema von der Verbrecherdummheit. Ist Termitz der Mörder Brückners, so haben wir in ihm einen neuen Beweis dafür vor uns, wie schwer es selbst für den intelligentesten Menschen ist, ein Verbrechen wirklich fehlerlos auszuführen. Dazu gehört eben mehr als Intelligenz, dazu gehört ein wahres Verbrecher-Virtuosentum – ja – Virtuosentum!!“
„Zum Glück!“ ergänzte Salten. „Zum Glück für die ganze Menschheit! Sonst müßten wir eben auch Kriminalvirtuosen sein, um den Kampf gegen diese gefährlichen „Künstler“ aufnehmen zu können. Und solche Kriminalvirtuosen schaffen nur die Schriftsteller in ihren am Schreibtisch gut durchdachten Romanen – vergleiche Sherlock Holmes und ähnliche Phantasiefiguren.“
Wieder lächelte der bleiche Marchowski höhnisch, ohne daß Salten es bemerkte.
Dann gesellten sich ein paar Kollegen, die eben vom Dienst kamen, zu ihnen, und die Unterhaltung lenkte in andere Bahnen über.
„Salten – endlich!!“
Wie ein unterdrückter Jubelruf klangen diese Worte.
Der Kommissar warf nur einen Blick in des Freundes Gesicht. So sah kein Verbrecher aus, so hätte ihn Termitz nie begrüßt, wenn sein Gewissen mit dieser Blutschuld wirklich belastet gewesen wäre.
Beide Hände streckte er dem armen Doktor entgegen.
„Lieber Kerl, das Schicksal spielt dir übel mit!“
Termitz drückte des Freundes Hände fest und lächelte traurig.
„Ich wußte, daß du kommen würdest,“ sagte er einfach.
Dann setzten sie sich auf die beiden Holzstühle an den kleinen Tisch. Durch das Zellenfenster drang jetzt am Vormittag das Tageslicht in breitem Strom in den engen, ungemütlichen Raum mit den grau gestrichenen Wänden hinein.
Dann besprachen sie das Vorgefallene.
Termitz erzählte mit allen Einzelheiten, wie er durch den Brief veranlaßt worden war, zu Brückners zu eilen, schilderte ebenso eingehend die Begegnung mit den Beamten im Flur und erwähnte auch, daß er sehr bald das Empfinden gehabt hätte, daß Wendler irgend einen Verdacht geschöpft habe.
„Jetzt, wo ich mir so und so oft die Ereignisse jenes Sonntags bis ins Kleinste ins Gedächtnis zurückgerufen habe,“ fuhr er etwas erregter fort, „ist es mir zur Gewißheit geworden, daß ich damals jenes Schreiben tatsächlich auf den Tisch in meinem Wartezimmer geworfen habe. Dies habe ich auch Wendler gegenüber heute Morgen bei einer erneuten Vernehmung erklärt. Gleichzeitig sagte ich ihm auch, daß die Handschrift jenes Briefes eine gewisse Ähnlichkeit mit der meinigen gehabt hat, was mir sofort auffiel. Die Schrift sah aus, als habe sich jemand die erdenklichste Mühe gegeben meine eigene nachzuahmen. – Wendler lächelte hierzu ebenso ungläubig wie zu allem, was ich angeben kann. In seinen Augen bin ich völlig überführt. Auch sein Vorgesetzter, der Polizeirat Schulte, ist derselben Ansicht. Die Akten sollen ja auch nun der Staatsanwaltschaft übergeben werden, damit diese Anklage gegen mich wegen Raubmordes erhebt.“
Salten schaute den Freund etwas erstaunt an, da Termitz diesen letzten Satz mit einer Gleichgültigkeit hinsprach, als habe er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Der Doktor bemerkte den Blick und fügte daher hinzu:
„Die Polizei begeht einen schweren Fehler, der sich wohl kaum wieder wird gutmachen lassen. Während sie sich auf mich als ihr einziges Opfer stürzt, entgeht ihr der wahre Mörder. Ich habe das auch deinem Kollegen erklärt, der mich aber grob anfuhr und etwas von „unerhörter Frechheit“ murmelte. Wendler läßt sich eben nicht davon überzeugen, daß ich völlig schuldlos bin und daß hier nichts als ein raffinierter Streich vorliegt, den die Polizei den Hauptbelastungsbeweis gegen mich, den Fund eines Teiles der geraubten Schmuckstücke, verdankt.“
„Und das Zimmer in der Chausseestraße?“ warf Salten ernst ein.
Termitz errötete leicht.
„Lieber Salten,“ sagte er schnell, „ich gebe dir mein Wort, daß Hans Müller, wie ich mich nebenbei noch nannte, nicht das Geringste mit dem Morde zu tun hat – – ebensowenig wie Hans Termitz. – zu welchem Zweck ich dieses Doppelleben führte, das muß freilich mein Geheimnis bleiben. Es ist jedoch ein harmloses Geheimnis.“
„Man hat dir Geldausgaben nachgewiesen, die größer sind als deine Einnahmen,“ meinte der Kommissar zögernd. „Und in deinem Schreibtisch fand Siegert bei einer nochmaligen Hausdurchsuchung sogar drei Sparkassenbücher über zusammen achttausend Mark.“
„Das hat Wendler mir auch vorgehalten,“ entgegnete der Doktor gelassen. „Das Geld ist ehrlich verdient. Glaube es mir.“
„Auf welche Weise denn aber?“ fragte Salten gespannt.
„Das hängt mit meinem Geheimnis zusammen. Näheres darüber will und kann ich nicht angeben. Dringe auch nicht weiter in mich. Die Scham verschließt mir den Mund. Nichts anderes. Und wenn du mein Freund bist, so setze alle Hebel in Bewegung, um mir die Freiheit wieder zu verschaffen: entdecke den Mörder! Diese Arbeit ist es wert, daß du sie übernimmst. Der, der mir während meiner Abwesenheit die Schmuckstücke in die Polster des Sessels schob, der mir den Brief zuschickte und der denselben Brief dann wieder in seinen Besitz brachte, ist meiner Überzeugung nach der Mörder Brückners! Auf dieser Grundlage baue deinen Feldzugsplan auf.“
„Denselben Gedanken hatte ich auch bereits,“ erklärte Salten, dieses Thema mit Eifer aufnehmend. „Laß uns näher darauf eingehen. Vielleicht erhalten wir noch irgend einen wertvollen Fingerzeig, der uns weiterhilft.“
„Ich habe diese Lösung bereits nach allen Richtungen hin erwogen,“ fuhr Termitz fort. „Zeit und Ruhe genug zu scharfem Nachdenken hat man hier ja. Die beste Gelegenheit, die Schmuckstücke in den Sessel zu schieben und den Brief zu stehlen, war dem Unbekannten gegeben, als ich damals am Sonntag zum ersten Mal in der Wohnung bei Brückners weilte. Der Mann kann auf der Straße gewartet haben, bis ich auf den Brief hin das Haus verließ und mit der Tasche in der Hand davoneilte. Dann drang er in meine Wohnung ein und tat das, was er sich vorher genau zurechtgelegt hatte. Freilich – ob er den Brief gleich finden würde, stand ja dahin. Ich behaupte nun, daß er mit dieser Ungewißheit gerechnet und deshalb auch meine Handschrift nachgeahmt hat. Entdeckte er den Brief nicht und war ich daher in der Lage ihn vorzuzeigen, so hätte die Polizei sicherlich bemerkt, daß meine Handschrift und die des Briefes einander recht ähnlich sahen, und dann wäre derselbe Verdacht aufgetaucht, den ja auch Wendler mir gegenüber äußerte.“
Salten sprang auf.
„Termitz, Freund, – was du da soeben als Theorie entwickelst, verdient die allergrößte Beachtung. – Aber erkläre mir eins: Wer haßt dich denn derart, daß er zu so teuflischen Mitteln greift, um dich zu verderben? Es muß doch ein Mensch sein, der dich gut kennt und der dein erbitterter Feind ist!“
„Ich kenne keinen,“ erwiderte der Doktor bestimmt.
Der Kommissar begann in der engen Zelle auf und abzugehen.
„Den Botenjungen müssen wir haben – unbedingt!“ meinte er. „Er wird uns die Person seines Auftraggebers beschreiben und wird uns auch mitteilen können, wo der Mann ihm den Brief übergab. All das ist wichtig. Noch heute lasse ich in sämtlichen Zeitungen einen Aufruf erscheinen und verspreche dem Jungen fünfzig Mark Belohnung, wenn er sich bei mir meldet. Das zieht sicher.“
„Denselben Vorschlag wollte ich ebenfalls machen,“ erklärte Termitz. „Lege die Kosten vorläufig für mich aus.“
„Schon gut. Das ist Nebensache. – Kommen wir jetzt nochmals auf die Person Deines geheimnisvollen Feindes zurück. Soeben ist mir da etwas eingefallen. Wendler hat ja so wunderbar klar nachgewiesen, daß den Mord nur ein Mensch verübt haben kann, der wie dies bei dir zutraf, gewisse Bedingungen erfüllte. Er muß gewußt haben, daß Brückners den Ausflug vorhatten, weiter, daß mein Schwiegervater gezwungen war vormittags noch daheim zu bleiben, und schließlich muß er ein guter Bekannter unseres lieben Toten gewesen sein. Sonst hätte dieser auf das Schreiben, das der Dienstmann brachte und meinen Schwiegervater veranlaßte, nicht mittags nach Werder nachzufahren, nicht so prompt angebissen. Auch dieser Brief stammte von dem Mörder, das ist klar. Auch er ist verschwunden. Der Täter hat ihn eben gleichfalls beiseitegeschafft, als er Brückner ermordet hatte. –
Wir haben mithin diesen Unbekannten nicht allzuweit zu suchen. Ich kenne ja die Leute, die bei meinem Schwiegervater verkehren, sämtlich. Gehen wir sie mal der Reihe nach durch.“
Aber alles Suchen war hier umsonst. Das sahen die beiden Freunde bald ein.
Dann schnitt Termitz eine andere Frage an.
„Ist eigentlich zweifelsfrei nachgewiesen,“ meinte er zögernd, da es ihm widerstrebte gegen einen Dritten einen Verdacht zu äußern, „daß der Geschäftsreisende, der deinen Schwiegervater am Sonntag aufsuchte, tatsächlich sofort nach Hamburg weitergereist ist?“
Salten winkte mit der Hand ab.
„Der Mann ist über jeden Argwohn erhaben,“ sagte er verdrießlich. „Mehrere Zeugen sind vorhanden, die bekunden, daß er längst im Zuge saß, als der Mord verübt wurde.“
Dieser letzte Satz des Kommissars leitete den Doktor auf einen neuen Gedanken hin.
„– Als der Mord verübt wurde –, sagtest du eben,“ begann er nachdenklich. „Ja – wann wurde er nun eigentlich verübt? Oder genauer ausgedrückt, – wann hauchte Brückner seinen letzten Seufzer aus? – Erörtern wir einmal diese Frage. Auch in dieser Beziehung vermag ich dir eine Theorie zu entwickeln, die von der deines Kollegen Wendler ganz erheblich abweicht. Wendler hat ausgeklügelt, daß der Juwelier noch bis gegen einviertel vier nachmittags gelebt haben muß, da um diese Zeit angeblich Brückner selbst die Polizei telephonisch um Hilfe angerufen hat. Dies ist nun ein heller Unsinn! Um halb vier ungefähr war ich ja bereits in der Brücknerschen Wohnung. Und da wies das Gesicht des Toten schon derartige Veränderungen auf, daß ich als Arzt jeden Eid darauf schwören will, daß dein Schwiegervater bereits gut eine Stunde eine Leiche war. Er kann also gar nicht telephoniert haben.“
Salten, der noch immer, getrieben von den auf ihn einstürmenden Gedanken, auf- und abgewandert war, blieb plötzlich stehen.
„Donner noch eins – wenn du Recht hättest!“ entfuhr es ihm.
„Ich habe Recht!“ erwiderte der Doktor bestimmt. „Der, der das Präsidium Schöneberg anrief, war sicher niemand anders als der Mörder selbst. – Gib acht, wie genau sich diese meine Vermutung in meine Ansicht von diesem Kriminalfall einpaßt. Mein unbekannter Feind ermordet deinen Schwiegervater gegen halb drei, raubt die Schmucksachen, steckt den an Brückner durch den Dienstmann gesandten Brief zu sich, ebenso den Entreeschlüssel, verläßt die Wohnung, bringt den Raub in Sicherheit, schickt den Jungen mit dem Schreiben an mich fort, folgt dem Knaben, um sich zu überzeugen, daß der Brief auch richtig abgeliefert wird, eilt dann wieder zu Brückners, öffnet mit Hilfe des Entreeschlüssels, telephoniert an die Polizei, zerstört die Apparate, geht wieder davon, läßt den Schlüssel aber von außen stecken, paßt vor meinem Hause auf, ob ich dem Rufe folge, sieht mich forteilen, betritt meine Wohnung, und so weiter. –
Mit einem Wort: Er telephonierte an die Polizei, damit diese mich, was ja auch geschah, in der Brücknerschen Behausung antreffen solle, und er ließ den Schlüssel in der Entreetür stecken, um es mir zu ermöglichen in die leere Wohnung hineinzugelangen. – Das ist meine Theorie.“
Salten fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Himmel – mir wird ganz schwindlig! Aber – die Sache hat Hand und Fuß, ohne Frage! – Welch’ ein Schurkenstreich!! Welch’ verbrecherisches Genie hat dies alles erdacht?! – Sage, hast du denn nicht Wendler diese Gedanken genau so entwickelt, wie du es soeben mir gegenüber tatest? Er muß doch einsehen, daß …“
„Nichts sieht er ein, nichts,“ unterbrach Termitz ihn. „Heute Morgen hielt ich ihm genau denselben Vortrag. Er lachte mich aus. Ich solle doch einen Menschen nennen, der mich so haßt, daß er zu meinem Verderben diese „Komödie“ in Szene setzte. Das konnte ich nicht. Er ist eben so vollkommen in seine Idee verrannt, daß ihm nicht beizukommen ist.“
„So müssen wir uns selbst helfen!“ meinte Salten energisch.
Kurz darauf verabschiedete er sich. Termitz’ Geheimnis hatte er mit keinem Wort mehr berührt.
Auf seinen mündlichen Vortrag bei seinem Abteilungsvorsteher erhielt er dann sofort einen achttägigen Urlaub zugebilligt. So konnte er sich denn schon am Nachmittag seiner neuen Aufgabe widmen.
Zunächst fuhr er nach der Chausseestraße 106 hinaus.
Es war ein altes, verräuchertes Haus, in dem Termitz unter dem Namen Hans Müller nun schon jahrelang das Zimmer mit dem Flureingang bei der Witwe Babkuhl bewohnt hatte.
Salten hatte Glück. Die Frau war zu Hause.
Er sagte offen, wer er sei, zeigte seine Legitimation vor und wurde daraufhin von der nicht gerade übermäßig sauber gekleideten Witwe in die „gute Stube“ geführt, wo Salten die Frau bat, ihm das Zimmer des Freundes zu zeigen.
Das zweifenstrige Zimmer lag nach der Straße hinaus. Salten interessierten nur der Anzug und der Mantel. Er nahm die Sachen aus dem Schrank heraus und durchsuchte die Taschen sehr genau.
„Na, so eingehend hat’s der Siegert nicht gemacht,“ meinte Frau Babkuhl.
Salten erwiderte nichts. Er hatte gerade in der oberen linken Tasche der Weste ein Stückchen Papier gefühlt, das er nun, ohne sich etwas anmerken zu lassen, geschickt zusammenknüllte und in der Hand verbarg. Im Übrigen waren sämtliche Taschen leer.
„Nichts zu machen!“ sagte er scherzend zu der dicken Witwe und hängte die Weste weder weg. „So – nun will ich Sie nicht länger stören. Leben Sie wohl, Frau Babkuhl!“
Unten auf der Straße glättete er den Zettel, der von einem Notizblock abgerissen war, und fand darauf mit Bleistift folgendes geschrieben:
18. 11. 191…
Erna Haskel, 19, Turm 112. Kakodyl 5 M.
Dann wurde der Zettel sauber zusammengelegt und in Saltens Brieftasche verwahrt.
Ohne Zweifel war’s eine Notiz, die nicht der geheimnisvolle Herr Hans Müller, sondern der Doktor Hans Termitz sich gemacht hatte. So sagte Salten das eine Wort Kakodyl. Dies war, wie er wußte, ein Arsenikpräparat, welches die Ärzte bei ganz schweren Fällen von Blutarmut zu Einspritzungen verwenden. Irgend welchen Wert hatte der Zettel mithin nicht. Aber Salten war als Kriminalbeamter so etwas Pedant. Er bewahrte jede, selbst die unscheinbarste Kleinigkeit auf, auf die er bei einer Untersuchung stieß.
Zwei Tage waren wieder vergangen.
Wieder war’s ein Sonntag. – Egon Salten hatte sich heute einmal gehörig ausgeschlafen und saß jetzt gegen zehn Uhr vormittags in seiner Junggesellenbude, einem großen, behaglich eingerichteten Zimmer, in dem das Bett hinter einem türkischen Vorhang stand, bei weit offenen Fenstern beim Frühstück.
Vor ihm lagen drei Morgenzeitungen, Ausgaben verschiedener Blätter, die er sich seit Jahren hielt.
Soeben hatte er nachgesehen, ob die Anzeige auch wieder eingerückt war, in der dem Jungen fünfzig Mark Belohnung zugesichert wurden, falls er sich melde. – Bisher war niemand bei ihm erschienen, obwohl sein Name und seine Adresse deutlich unter der Annonce standen, die bereits ein ganz nettes Stück Geld gekostet hatte.
Dann hörte er draußen die Flurglocke schrillen und gleich darauf die schlurfenden Pantoffeln seiner Wirtin, die öffnen ging.
Wenige Sekunden später klopfte es, und die Wirtin steckte den Kopf herein.
„Herr Kommissar, ein Junge will Sie sprechen.“
„Herein mit ihm!“
Ein etwa zehnjähriger, dürftig gekleideter Knabe mit magerem Gesicht und den altklugen Augen des Großstadtkindes schob sich ängstlich ins Zimmer.
„Na, mein Sohn,“ fragte Salten gemütlich, „was bringst du denn?“
„Ich bin der Robert, Herr Kommissar,“ meinte der Junge zögernd.
„So, der Robert. – Na, Robert, und dein Anliegen?“
„Von wegen die Annonce im Anzeiger, Herr Kommissar,“ erwiderte der Knabe recht zaghaft.
„Dann bist du also der Junge, der dem Doktor Termitz vorigen Sonntagnachmittags gegen drei Uhr etwa den Brief gebracht hat?“
„Ne, der bin ick nich.“
Salten vermochte seine Enttäuschung kaum zu verbergen.
„Aber du sagtest doch eben, daß du wegen der Annonce kämest. Ich meine die Anzeige, in der …“
Robert nickte eifrig mit dem Kopf.
„Det stimmt schon allens, Herr Kommissar. Ick bin nämlich der Freund von den Heinrich Gerstenhauer. Und der hat den Brief dem Doktor hingebracht.“
„Ach so. – Na – da setz’ dich, Robert. Was wir zu besprechen haben, wollen wir in aller Gemütlichkeit abmachen. – Wie wär’s mit einer belegten Semmel? Schinken oder Wurst?“
„Schinken!“ entschied der Junge sich nach einem prüfenden Blick auf den Teller mit Aufschnitt.
Salten reichte dann seinem kleinen Besucher die dick belegte Semmel und sagte dazu freundlich:
„Iß nur. Wir können uns dabei ruhig unterhalten.“
Robert ließ sich nicht lange nötigen. Seinen Strohhut legte er unter den Stuhl auf den Fußboden, und bald kaute er mit Wohlbehagen und strahlendem Gesicht, aus dem jede Spur von Ängstlichkeit geschwunden war.
Das hatte Salten auch gewollt. Er verstand es eben, Menschen richtig zu behandeln.
„Sag’ mal, Robert, weswegen ist denn dein Freund nicht selbst zu mir gekommen?“ begann der Kommissar nun das Verhör.
Der Junge lächelte pfiffig.
„Det is ’n Jeheimnis. Und wenn die Witwe Gerstenhauer zu hören kriegt, daß ick wat verraten habe, kriege ick Keile von ihr, janz sicher. Aber der Heinrich wird ihr nicht davon erzählen, daß er mir die Jeschichte erzählt hat. Aber meine Mutter is jetzt och so for drei Jahre Witwe mit uns vier Rangen. Vater sitzt nämlich in Plötzensee. Aber sie haben ihn zu Unrecht eingespunnt. Und da wollte ick och wat for meine Mutter tun, wo doch die olle Gerstenhauern schon hundert Märker durch den lumpijen Brief jeschluckt hat.“
Salten schüttelte den Kopf.
„So recht klug bin ich aus dieser Schilderung nicht geworden. Was heißt das? Die Gerstenhauer hat einhundert Mark durch den Brief verdient?“
„Na, sie hat doch ’nen Brief ohne Unterschrift jekriegt, daß der Heinrich sich nicht melden soll auf die Annonce. Und in det Kuhwert lagen die hundert Märker mit bei.“
Salten war förmlich starr vor Überraschung.
„Junge, ist das wahr?“ fragte er ungläubig.
„Na so wat saucht man sich doch nicht aus die Finger, Herr Kommissar!“ meinte Robert beleidigt.
Es dauerte aber doch noch eine ziemliche Weile, bis Salten aus dem kleinen Burschen alles herausgeholt hatte, was er wissen wollte. Dieses Ergebnis war folgendes:
Frau Gerstenhauer hatte gestern mit der Nachmittagspost einen Brief erhalten. Ihr Sohn Heinrich war gerade in der Stube, als der Bote das Schreiben abgab. Beim Öffnen des Umschlages fielen der Frau sofort fünf Zwanzigmarkscheine entgegen. Dann mußte Heinrich ihr den beigefügten Zettel vorlesen, da sie selbst nur Gedrucktes entziffern konnte. Der Zettel hatte keine Unterschrift. Sein mit Tinte geschriebener Inhalt besagte, daß Frau Gerstenhauer ihren Sohn dazu bestimmen solle, sich auf die Annonce hin – diese war näher bezeichnet worden! – nicht zu melden. Dann würde sie nach zwei Monaten weitere zweihundert Mark erhalten. Die Witwe – sie war, wie Robert sich ausdrückte, „eine richtige Witwe mit drei Kindern“ – drohte nun sofort ihrem Sohne, ihn windelweich zu prügeln, wenn er sich je einfallen lasse, ohne ihr Wissen jemandem von dieser Sache etwas zu erzählen. Daraufhin hatte Heinrich feierlichst Schweigen gelobt und fünfzehn Pfennig für den „Kientopp“ erhalten. – Eine Stunde später traf er dann mit seinem Freunde Robert zusammen, der ebenfalls in der Mellentinstraße ein paar Häuser weiter wohnte. Frau Gerstenhauer ahnte nicht, daß Robert Pelzer von dem Briefe, den ihr Sohn am Sonntag besorgt hatte, ebenfalls etwas wußte, da Heinrich ihr versichert hatte, er habe niemandem etwas von diesem Gange, für den er das Fahrgeld bis zur Barbarossastraße und außerdem noch eine Mark erhielt, mitgeteilt. In Wahrheit aber war er dem Befehl des Fremden, der ihm den Brief übergab und verlangte, er solle keinem Menschen von diesem kleinen Geschäft etwas sagen, nicht nachgekommen, sondern hatte Robert gegenüber alles ausgeplaudert, der ja auch von weitem zugesehen hatte, wie er mit dem Manne unterhandelte und gleich darauf davonlief. Dies hatte natürlich Robert Pelzers Neugier erregt, der, als Heinrich wieder in der Mellentinstraße nach Erledigung seines Auftrages erschien, durchaus wissen wollte, wo der Freund inzwischen gewesen sei. Schon um mit der leicht verdienten Mark prahlen zu können, hatte der Junge dann alles haarklein, freilich unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit, Robert Pelzer berichtet. –
Jetzt nun, wo jener Brief für ihn und seine Mutter zur neuen Geldquelle geworden war, überkam ihn aber die Angst, Robert könne womöglich zufällig die auf dem Zettel erwähnte Annonce zu Gesicht bekommen und daraus Vorteil zu schlagen suchen. Er hielt es daher für richtiger, den Freund auch in diese neue Wendung der Dinge einzuweihen und dessen Schweigen mit den soeben von seiner Mutter erhaltenen fünfzig Pfennigen zu erkaufen. Robert Pelzer nahm das Geld und schwor einen fürchterlichen, aus einem Hintertreppenroman entlehnten Eid, daß er stumm sein wolle wie das Grab. Nachher aber überlegte er sich die Sache anders, borgte sich bei einem Kaufmann die neueste Nummer des Berliner Anzeigers und suchte sich die Annonce heraus. Nach einigen Gewissenskämpfen kam er dann zu dem Entschluß, den er gleich im Auge gehabt hatte: Er wollte zu dem in der Annonce genannten Herrn gehen und versuchen, ob er nicht auch sein Wissen in Kapital umsetzen könne. Ohne jemandem etwas von seinem Plan mitzuteilen, war er dann heute Morgen zu Fuß nach dem Alexanderplatz gewandter und hatte auf diese Weise Salten eine Überraschung bereitet, von deren Wichtigkeit er keine Ahnung hatte.
„Nun beantworte mir aber noch ein paar Fragen,“ lenkte Salten wieder auf ein ernsteres Thema über. „Besinnst du dich vielleicht, wie der Mann aussah, der am vergangenen Sonntag Heinrich den Brief gab?“
„Ne, wirklich nich! Wir spielten jerade Kreisel. Und der Heinrich war ’n jutes Stück von mir und den anderen wej, als der Mann ihn anrief und mit ihm zu reden bejann. Dabei drehte er uns den Rücken zu.“
„Um welche Zeit kann das gewesen sein?“
Robert dachte angestrengt nach.
„So kurz vor dreie,“ meinte er dann. „Um drei wurd’ nämlich der olle Schimanski aus Nr. 18 beerdigt. Und wie sie den Sarj raustrugen, war Heinrich schon unterwejens.“
„So, mein Junge,“ sagte Salten nun ernst, „jetzt höre mal genau zu. Vorläufig darfst du von dieser ganzen Geschichte niemandem, auch deiner Mutter nicht, ein Wörtchen erzählen, – keine Silbe, nichts! Bist du gehorsam, so erhält deine Mutter ebenfalls hundert Mark. Darauf gebe ich dir mein Wort. Wenn du aber unvorsichtig bist, und plauderst so – gibt es nichts! Gar nichts! Das merke dir!“
Dann wurde Robert entlassen.
Salten aber lehnte sich tief in den bequemen Sessel zurück und vergegenwärtigte sich nochmals die weittragende Bedeutung des eben Gehörten. Zufrieden lächelte er vor sich hin. – Wenn sein Schöneberger Kollege etwas hiervon ahnen würde …! Der würde ein schönes Gesicht machen …! Diese Bestechung der Frau Gerstenhauer warf ja Wendlers ganzes, so künstlich aufgeführtes, Kartenhaus von Verdachtsgründen gegen den Doktor über den Haufen, bewies eben, daß der wahre Mörder noch frei umherlief und aus Angst vor einer Entdeckung der Witwe die hundert Mark hatte zukommen lassen.
Der Kommissar hielt es nicht länger allein in seinen vier Wänden aus. Er fühlte das dringende Bedürfnis, mit jemandem über diese neue Wendung der Dinge sich auszusprechen.
Daher beendete er schnell seine Toilette und begab sich dann nach dem Untergrundbahnhof Alexanderplatz, um von dort zu Brückners zu fahren, wo er mit seinem Schwager zusammenzutreffen hoffte.
Gerade als der Zug einlief, bemerkte er Marchowski; der mit einer Aktentasche unter dem Arm den Bahnsteig entlangkam. Der Kommissar, der am Karlsbad in der Nähe der Potsdamer Straße ein seinen Vermögensverhältnissen entsprechendes, vornehm ausgestattetes Junggesellenheim bewohnte, schien nicht in der rosigsten Laune zu sein.
In dem ziemlich leeren Wagen zweiter Klasse begann er dann sofort mit vor Erregung bebender Stimme Salten mitzuteilen, daß der Chef ihm soeben nahegelegt habe, einen längeren Urlaub zu beantragen.
„Der Bericht, den ich vorgestern über die Entdeckung der internationalen Falschmünzerbande eingereicht habe, soll vollkommen unbrauchbar sein und konfuses Zeug enthalten, behauptet der Regierungsrat,“ flüsterte er Salten zu. „Ich soll krank und überarbeitet aussehen – lächerlich! Nie habe ich mich so wohl gefühlt wie jetzt!“
Salten schwieg. Er wollte Marchowski nicht noch mehr in Harnisch bringen, da er der Wahrheit gemäß nur hätte erklären können, daß der Kollege tatsächlich mit seiner ungesunden Gesichtsfarbe und den flackernden Augen alles andere als frisch ausschaute.
Schließlich mußte er aber doch irgend etwas sagen und meinte teilnehmend:
„Vielleicht wäre es wirklich ganz angebracht, wenn du mal einige Zeit ausspannst. Termitz riet dir ja auch dazu, als wir damals von der Hinrichtung des Schiel-Maxe kamen. Natürlich mußt du am besten wissen, wie es um dein Befinden bestellt ist.“
Marchowski, der nicht imstande war seine Hände auch nur einen Augenblick ruhig zu halten, lachte bitter auf.
„Laß mich mit den Doktoren in Ruhe! Termitz wird wohl jetzt alle Ursache haben, sich nur um seine eigene Person zu sorgen. Ich sprach gestern mit Wendler, und der erklärte mir, die Sache käme sicher noch im Juli vor das Schwurgericht.“
Salten antwortete mit einem sehr gedehnten: „So …?!“ Worauf Marchowski ihn eine Weile durchdringend musterte.
„Du zweifelst an Termitz’ Schuld?“ fragte er dann.
„Allerdings. Und – wenn du mir zu schweigen versprichst, will ich dir eine Neuigkeit mitteilen, die mir der heutige Morgen brachte. Aber auch Wendler darf vorläufig davon nichts wissen – niemand!“
„Schon gut. Ich bin wirklich neugierig und wünsche wahrhaftig, daß du Glück hättest und unseres Freundes Schuldlosigkeit beweisen könntest.“
Der Zug fuhr gerade die Hochbahnstrecke über die Geleise des Potsdamer Bahnhofs entlang und das Dröhnen der Eisenkonstruktion verschlang für die entfernter Sitzenden jedes Wort, so daß Salten unbesorgt sprechen konnte.
So erzählte er denn dem Kollegen ganz ausführlich von dem Besuch Robert Pelzers und von den Schlußfolgerungen, die man notwendig an die Tatsache der erfolgten Bestechung der Witwe Gerstenhauer knüpfen könne.
Marchowski zappelte jetzt mit Händen und Füßen.
„Salten – das nennt man Glück haben! Ich gratuliere – ich gratuliere! – Freilich, wenn du Wendler diese Neuigkeit berichtest, wird er sicher sagen, daß die hundert Mark an die Gerstenhauer von einem Helfershelfer des Doktors nur zu dem Zweck abgeschickt sind, um die Polizei irrezuführen.“
Diese Bemerkung, die ganz zutreffend war, dämpfte Saltens Freude recht beträchtlich.
„Mag er!“ meinte er trotzdem siegesgewiß. „Jedenfalls ist’s aber immerhin ein kleiner Erfolg, den ich klug ausnutzen werde.“
Der Zug lief in den Bahnhof Bülowstraße ein, wo Marchowski aussteigen mußte.
Mit einem Händedruck trennten sich die beiden Kollegen. Und eine Viertelstunde später war Salten bei Brückners.
Salten fand sich am Dienstag um sieben Uhr morgens in der Mellentinstraße ein und beschaute sich zunächst mal von außen das große Vordergebäude, durch das eine breite Einfahrt auf die Höhe hindurchführte. In dieser Einfahrt mündete auch der Treppenaufgang zu den Wohnungen des Vorderhauses. Daneben lag ein Fenster, das zu der Loge des Hausmeisters gehörte, der als Nebenbeschäftigung das ehrbare Schusterhandwerk betrieb und, vor dem Fenster auf seinem Schemel hockend, alles beobachten konnte, was die Einfahrt passierte.
Salten mochte sich nicht stundenlang auf der Straße herumdrücken und hielt es auch aus anderen Gründen für ratsamer, sich dem Hausmeister anzuvertrauen und in dessen Loge auf den Postboten zu warten.
Der Schuster, ein noch junger, kräftiger Mensch, besah sich Saltens Legitimation genau, wurde dann aber sehr höflich und zog für den Kommissar einen Stuhl herbei.
„Machen Sie es sich bitte bequem,“ meinte er. „Als Portier eines Hauses mit zweiundvierzig Wohnungen muß man auf Ordnung halten. Und wenn Sie daher hier ein Geschäft vorhaben, Herr Kommissar, finden Sie bei mir bereitwilligste Unterstützung. Ich wäre froh, falls Sie hier so einige zweifelhafte Herrschaften aufstöberten. In der Mellentinstraße haust allerlei Gesindel – leider, leider.“
Der Mann gefiel Salten. Trotzdem wollte er sich nicht in die Karten sehen lassen. Aber einer Unterhaltung war er nicht abgeneigt.
So plauderten sie denn von diesem und jenem, bis die Frau des Hausmeisters erschien und, ohne von Salten weiter Notiz zu nehmen, ihren Eheherrn fragte, ob er schon den Auktionator Seligson wegen der Sachen der Gerstenhauer antelephoniert habe.
Der Kommissar horchte bei diesem Namen hoch auf.
„Das hat doch nicht solche Eile,“ meinte der Schuster gelassen.
„Ja, das stimmt schon. Aber ich hab’s doch auf den einen Schrank abgesehen. Den brauchen wir nötig,“ erwiderte die Frau, die ebenso stattlich wie ihr Gatte aussah.
„Gut – ich werde dem Seligson nachher Bescheid sagen. Wenn Ihr Weiber was kaufen wollt, dann muß es aber doch stets gleich sein.“
Die Hausmeisterin verschwand befriedigt.
„Wohl eine Mietspartei, die mit der Miete im Rückstand ist?“ meinte Salten gleichgültig.
Der Schuster schüttelte den Kopf.
„Nein. Die Witwe Gerstenhauer läßt nur deshalb ihre wenigen Möbel verkaufen, weil sie gestern von Berlin fortgezogen ist. Ein Bruder ihres verstorbenen Mannes, der bei Potsdam ein Grundstück mit kleiner Landwirtschaft besitzt, hat sie zu sich genommen. Das kam alles sehr plötzlich. Und da hat die Gerstenhauer mich damit beauftragt, ihre Sachen versteigern zu lassen. Miete und alles sonst ist richtig bezahlt.“
Salten saß wie versteinert da. – Das war eine böse Überraschung für ihn. An diesen Schwager, der der Frau Gerstenhauer so plötzlich Unterkunft angeboten hatte, glaubte er nicht. Vielmehr argwöhnte er, daß der unbekannte Spender der hundert Mark hier seine Hand im Spiele habe. Vielleicht hatte der Mann gefürchtet, man könne dem Überbringer jenes Briefes an Doktor Termitz doch auf die Spur kommen und hatte daher die ganze Familie irgendwo anders untergebracht.
Jedenfalls war Salten unter diesen Umständen gezwungen, sich dem Hausmeister anzuvertrauen, da er über diesen plötzlichen Fortzug der Gerstenhauer ganz genau unterrichtet sein mußte, wenn er diese Schlappe wieder wettmachen wollte.
Der Schuster erzählte denn auch bereitwilligst alles, was er wußte. Viel war es nicht.
Am Sonntagabend war der Schwager bei der Frau Gerstenhauer erschienen und hatte das Nötige mit ihr besprochen. Der Hausmeister hatte auch noch ein paar Worte mit dem Manne gewechselt, als dieser in Begleitung seiner Schwägerin über den Hof ging. Gestern, Montag, früh gegen sieben Uhr war dann die Gerstenhauer mit ihren drei Kindern unter Mitnahme der notwendigsten Kleidungsstücke abgezogen, nachdem sie dem Schuster noch wegen des Verkaufs der Möbel Bescheid gesagt, ihre Wohnung gekündigt und die Miete für den nächsten Monat mitbezahlt hatte. Ihre neue Adresse hatte sie nicht angegeben. Sie wollte das Geld für ihre Möbel nächstens holen kommen.
Das war alles, was der Hausmeister wußte.
Auf Saltens Frage, wie denn dieser Schwager ausgesehen habe, erklärte er noch, der Mann sei mittelgroß und mager gewesen und habe einen dunklen Vollbart gehabt. Seine Kleidung sei anständig, wenn auch etwas ländlich, gewesen und die Sprache ein unverfälschter Berliner Dialekt.
Der Kommissar verabschiedete sich. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. Aber bei näherer Überlegung schüttelte er diese Enttäuschung schnell wieder von sich ab.
Eine Frau mit drei Kindern, dazu noch mit Bündeln beladen, konnte unmöglich spurlos verschwinden, sagte er sich. Wenn er jetzt sofort sämtliche Beamten, die gestern auf den Bahnhöfen Dienst gehabt hatten, anfragen ließ, so fand sich vielleicht eine Fährte, die sich weiterverfolgen ließ. An das Grundstück in der Nähe von Potsdam glaubte er ebensowenig wie an die Existenz dieses Schwagers. Außerdem konnte er dies ja sehr bald feststellen.
Der Chef Saltens, Regierungsrat Martin, den er um Unterstützung bat, indem er ihn in die Sachlage einweihte, brachte dann selbst den ganzen Polizeiapparat in Tätigkeit, um der Familie Gerstenhauer nachspüren zu lassen.
Aber der Dienstag verging, der Mittwoch verging, ohne daß eine einzige Nachricht von all den Beamten, die nach der Witwe mit ihren drei Kindern fahndeten, einlief. Nur das Eine wurde ermittelt, daß der verstorbene Maurer Franz Gerstenhauer überhaupt keinen Bruder gehabt habe und daß es in der Umgegend von Potsdam keine ländliche Besetzung gab, die seit kurzem vier Personen als Gäste beherbergte.
Am Mittwochabend war’s dann, als Salten auf dem Flur im Polizeipräsidium am Alexanderplatz unverhofft mit Marchowski zusammentraf, der schließlich doch den deutlichen Wink des Regierungsrates befolgt und für sechs Wochen Urlaub genommen hatte.
„Wie, du bist noch immer in Berlin?“ fragte Salten ehrlich erstaunt. „Ich glaubte dich längst in Tirol. Wenigstens erzählte mir unser Chef gestern Vormittag, daß du seit Montag Urlaub und die Absicht geäußert hättest, ins Gebirge zu gehen.“
Marchowski stierte den Kollegen wie einen Wildfremden an. Sein wachsbleiches Gesicht mit den dunklen, glühenden Augen darin wirkte beinahe unheimlich.
„Gebirge? Habe ich das wirklich gesagt?“ meinte er zerstreut. „Richtig – ich besinne mich jetzt. Ja – ich wäre schon unterwegs, aber der Schuhmacher hat meine Bergschuhe noch nicht fertig. Ja, so ist’s. – Und wie geht es dir?“
„Danke, nicht besonders. Die Sache Termitz macht mir böse Kopfschmerzen.“
„Kopfschmerzen – ja, Kopfschmerzen … daran leide ich jetzt auch sehr oft. Termitz mag doch so ein wenig im Recht gewesen sein. Ich hätte früher ausspannen sollen. Schlaflose Nächte sind furchtbar.“
In seiner Stimme zitterte ein Unterton, der wie bange Furcht klang. Und seine Blicke waren starr auf eine der Flurlampen gerichtet und die Augen dabei unnatürlich weit aufgerissen.
„Das wird sich in der Gebirgsluft schon alles verlieren,“ tröstete Salten, der mit Entsetzen wahrnahm, in welcher Verfassung Marchowski sich bereits befand, den Kollegen.
Dann trennten sie sich. Salten hatte es eilig, da er rechtzeitig bei Brückners zum Abendessen sein wollte.
Dort hatte das Leben mit seinen täglichen kleinen Sorgen und Anforderungen inzwischen die Trauer um den geliebten, stets so heiteren Vater in ruhigere Bahnen gelenkt. Ernst war tatsächlich als Lehrling bei der Juwelierfirma eingetreten und fühlte sich in dem neuen Wirkungskreis vollkommen wohl.
Nach dem Abendessen besprach Salten mit seinem Schwager abermals den Fall Termitz.
„Du wolltest mir doch immer mal den Zettel zeigen, den du in der Weste von unserem Doktor zweitem Ich gefunden hast,“ sagte der frühere Student lebhaft. „Meinst du, daß er für dich ganz wertlos ist?“
Salten entnahm das Blatt Papier seiner Brieftasche und reichte es Ernst Brückner hin.
„Erna Haskel – Erna Haskel,“ brummte jener nachdenklich vor sich hin, indem er auf den Namen dieses weiblichen Wesens starrte, die, wie das Papier verriet, von Doktor Termitz mit dem Arsenikpräparat Kakodyl behandelt worden war. – „Hm – diese Erna sollte ich eigentlich kennen,“ fügte er lauter hinzu.
Kätchen Marlow, die gerade mit Hilde die neueste Nummer einer Modenzeitschrift durchblätterte, fuhr mit dem Kopfe hoch.
„Untersteh dich …“ meinte sie scherzend. „Du sollst keine Erna kennen! – Was ist das überhaupt für ein Zettel in deiner Hand.“
„Bitte – zur gefälligen Ansicht, Jungfer Neugier!“ erwiderte Ernst heiter.
Kätchen Marlow riß ihm das Papierblatt förmlich aus der Hand. Und nach einem kurzen Blick darauf rief sie:
„Natürlich kennst du Erna Haskel. Nun bin ich beruhigt. Das ist ja meine Schulfreundin. Ihre Adresse steht hier ja auch: Turmstraße 11, 2 Treppen. So ist die 112 zu deuten.“
Salten fragte jetzt ohne besondere Absicht:
„Erna Haskel hat sich mal bei Doktor Termitz behandeln lassen, – nicht wahr?“
„Weiß ich nicht. Halt – da fällt mir ein: Das kann nicht stimmen. Ernas Eltern wollen nichts von den studierten Ärzten wissen. Meine Freundin war lange krank, Blutarmut und beginnende Schwindsucht. Ein Naturheilkundiger hat ihr dann geholfen, und seit einem halben Jahre ist sie wieder völlig hergestellt. – Haskels sind sehr reiche, aber einfache Leute,“ fügte sie hinzu. „Ernas Vater hat mit Fellen gehandelt. Jetzt ist er Rentier. Und er hat mir oft genug gesagt, daß er von den Doktoren nichts halte. Nein – Doktor Termitz kann also meine Freundin gar nicht behandelt haben.“
Salten schob den Zettel jetzt wieder in seine Brieftasche, ohne über die Sache ein weiteres Wort zu verlieren. Desto lebhafter arbeitete sein Kopf.
Wie kam Termitz zu diesen Aufzeichnungen – was sollten diese Notizen, wenn Erna Haskel nicht seine Patientin gewesen war …? – Jedenfalls mußte er dies aufklären. Man konnte ja gerade bei Kriminaluntersuchungen nie wissen, was sich aus einer noch so unbedeutenden Kleinigkeit entwickeln würde.
Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr gab Salten bei Haskels seine Karte ab.
Das Dienstmädchen führte ihn in den Salon, und gleich darauf rauschte Frau Haskel, eine imponierende Dame von nicht unter zwei Zentner Gewicht, herein, die sich nachher in der Unterhaltung mit dem Kommissar die redlichste Mühe gab, den geliebten Berliner Dialekt nach Möglichkeit zu unterdrücken.
„Gnädige Frau,“ begann Salten, nachdem beide Platz genommen hatten, „ich möchte Sie in dienstlicher Eigenschaft um eine Auskunft bitten.“
„Sehr gern. Wenn’s in meiner Macht steht. Sie sind ja wohl der Bräutigam von Fräulein Brückner, deren Vater, wie die Zeitungen schreiben, von diesem Doktor Termitz umgebracht worden ist.“
„Wegen dieses Doktor Termitz bin ich hier,“ erklärte Salten. „Kennen Sie den Herrn?“
„Ne – Gott sei Dank nicht.“
„So. – Dann muß ich etwas indiskret werden. Ihr Fräulein Tochter Erna war doch eine Zeitlang recht krank.“
„Stimmt. Jetzt ist sie aber wieder frisch und munter und wird sich nächstens mit dem Assessor von Rheinberg verloben, der Reserveoffizier bei der Garde ist.“
„Wer hat Ihr Fräulein Tochter denn behandelt?“
„Na jedenfalls kein studierter Arzt, Herr Kriminalkommissar. Die schätzen wir nicht. Ein Naturheilkundiger hat schließlich geholfen. Den kann ich mit gutem Gewissen empfehlen. Der Mann hat einen kolossalen Zuspruch und ist dabei sehr billig. Wenn Sie mal irgend einen Knax weggekriegt haben, – der flickt Sie wieder zurecht. Er wohnt Müllerstraße 198 und heißt Müller. Da oben im Norden nennen sie ihn nur den alten Müller. – Also Müller, – Müllerstraße 198, – merken Sie sich nur die Adresse. Die ist besser wie die Adresse aller Berliner Professoren zusammen.“
Salten schwirrte förmlich der Kopf. Aber er war durch seinen Beruf daran gewöhnt, in allen Lagen sich geistesgegenwärtig zu zeigen.
So machte er denn noch einige höfliche Redensarten, bedankte sich für die Auskunft, die ihm leider nichts genützt habe, und verabschiedete sich.
Als er wieder unten auf der lebhaften Turmstraße stand, holte er tief Atem. Und dann winkte er ein gerade vorüberfahrendes leeres Auto herbei und rief dem Führer zu:
„Müllerstraße 198.“
Der Kraftwagen sauste davon. Und in Saltens Kopf schwirrten die Gedanken wie ein Schwarm aufgescheuchter Rebhühner.
Wer hätte das gedacht …?! Also das war Hans Termitz’ Geheimnis gewesen …!!
Er war noch nicht mit sich einig geworden, als das Auto schon vor dem Hause Müllerstraße 198 hielt.
Es war eine riesige Mietskaserne, die hier unter den alten, kleinen Häuschen wie ein amerikanischer Wolkenkratzer wirkte.
Und wieder nahm Salten seine Zuflucht zu dem Hausmeister. Dieser Mann, dick, behäbig und doch ein Schwätzer, dienerte vor Ehrfurcht, als Salten ihm seine Legitimation vorwies.
Dann saßen sie in dem Wohnzimmer des dicken Herrn Kulicke, und der Kommissar begann die Unterhaltung, die ihm die näheren Einzelheiten über den naturheilkundigen Müller bringen sollte.
„Hier bei Ihnen wohnt doch der „alte Müller“, nicht wahr?“
„Na, wohnen tut er hier gerade nicht. Aber er hat über Eingang 1 die linke Dreizimmergelegenheit gemietet, wo er seine Sprechstunden abhält.“
„Hans heißt er mit Vornahmen, so weit ich weiß.“
„Sehr richtig, Herr Kommissar.“
„Wie lange wohnt der alte Müller hier bereits?“
„Drei Jahre werden’s im August. – Sagen Sie, Herr Kommissar, ist etwa die Sache mit dem nicht so ganz richtig?“
„Seien Sie unbesorgt. Es handelt sich um etwas anderes. – Wenn nun der alte Müller hier nicht schläft, so muß er doch noch eine zweite Wohnung haben. Kennen Sie die?“
„Nein. – Sehen Sie, Herr Kommissar, um so was kümmert sich unsereiner nicht. Müller bezahlt ja regelmäßig die Miete und läßt mir hin und wieder auch mal ein Trinkgeld zukommen. Polizeilich gemeldet ist er hier, ganz wie es sein muß. Er hat sich auch eines der Zimmer als Schlafstube eingerichtet. Morgens um acht kommt dann seine Aufwartefrau, die er auch schon die ganze Zeit über hat, bringt die Zimmer in Ordnung, heizt im Winter und öffnet, wenn die Patienten erscheinen. Sprechstunden sind immer von halb elf bis halb zwei vormittags und von halb fünf bis halb sieben nachmittags. Jetzt ist Herr Müller seit dem vorletzten Dienstag verreist. Im Sommer erholt er sich regelmäßig einige Wochen.“
„So – verreist. – Schade, ich hätte ihn gern gesprochen. Wann kehrt er denn zurück?“
Der dicke Kulicke hob die Schultern.
„Weiß ich nicht, Herr Kommissar. Frau Marholt erzählte mir, daß Müller ihr am vorletzten Montagnachmittags gesagt habe „Hören Sie, Frau Marholt, es ist möglich, daß ich einige Tage verreisen muß. Bin ich morgen nicht pünktlich hier, so hängen Sie das Schild an die Flurtür.“ – auf dem Schild steht nämlich groß und deutlich „Verreist“. Also weiß auch die Marholt nicht, wann ihr Herr wiederkommt.“
„Ob die Aufwärterin jetzt wohl in der Wohnung ist?“ forschte Salten gespannt. Er hätte sich nämlich zu gern einmal die Zimmer angesehen, in denen der „alte Müller“ seine Sprechstunde abhielt.
„Sie ist oben,“ erklärte Kulicke bestimmt. „Wollen Sie sie sprechen, Herr Kommissar?“
„Ja. Bitte kommen Sie mit. Aber verraten Sie nicht, wer ich bin. Am besten ist, Sie sagen ich sei ein Beamter der Gasanstalt.“
„Schön – wird gemacht.“ –
Oben in der ersten Etage hing an der linken Entreetür ein glattes Messingschild mit der Aufschrift „Müller, Naturheilkundiger“, daneben, mit einem Nagel an der Türfüllung befestigt, die Papptafel „Verreist“.
Kulicke klingelte, und gleich darauf erschien auch Frau Marholt, ein kleines, verhutzeltes Weiblein mit einer Nickelbrille auf der winzigen Stupsnase.
„Können Sie nicht lesen,“ fuhr sie Salten sofort giftig an, auf die Papptafel deutend. „Wir sind verreist. Deutlicher kann man’s doch nicht machen.“
Salten lächelte belustigt, und Kulicke, der sich in der Ecke versteckt hatte, rief grinsend:
„Herr Gasinspektor, die Grobheit der Marholten gehört mit zum Geschäft. Aber sie frißt niemanden.“
„Halten Sie’s Maul, Kulicke!“ fauchte das Weiblein. „Was wollen Sie denn nun eigentlich?“
Der Hausmeister gab den nötigen Aufschluß. Und so gelangte Salten glücklich in die Wohnung, die von dieser seltsamen Aufwärterin versorgt wurde.
In den Zimmern fand er nichts, was bemerkenswert gewesen wäre. Die Einrichtung war sogar mehr als ärmlich. Im Wartezimmer standen nur vier lange Holzbänke, eine hinter der anderen mit geringem Abstand. Gardinen, Bilder – nichts davon war vorhanden. Ähnlich primitiv zeigte sich das Sprechzimmer.
Salten gewann den Eindruck, daß der „alte Müller“ absichtlich seiner Behausung den Stempel größter Dürftigkeit aufgedrückt habe – zu Reklamezwecken. Bei der ganzen Einrichtung war alles sorgfältig vermieden worden, was auch nur im entferntesten an einen studierten Arzt erinnern konnte.
Sehr bald entfernten sich der „Gasinspektor“ und Kulicke wieder.
Als Salten von diesem denkwürdigen Besuch in der Müllerstraße heimkehrte, meldete ihm seine Wirtin, daß derselbe Junge vor etwa einer Stunde da gewesen sei, der schon am letzten Sonntag all den schönen Schinken auffutterte und nach dem Kommissar gefragt habe.
„So gegen drei Uhr will er wiederkommen,“ fügte sie hinzu.
Salten ahnte sofort, daß Robert Pelzer ihm Wichtiges werde mitzuteilen haben. Ungeduldig wartete er daher auf das Erscheinen des Knaben.
Robert stellte sich pünktlich ein. Er fand bei seinem Vertrauten einen gedeckten Kaffeetisch vor, und sein Blick ruhte strahlend in Vorahnung reicher Genüsse auf einem wohlgefüllten Kuchenteller, der mitten auf der Tischplatte stand.
Salten reichte dem Jungen die Hand und schob ihm dann einen Stuhl zurecht.
„Bediene dich, Robert. Die Kuchen kannst du alle allein aufessen,“ meinte er freundlich. – „Was bringst du denn Neues? Ohne Grund bist du doch sicher nicht zu mir gekommen.“
„Det stimmt, Herr Kommissar. Ich weiß nämlich, wo der Heinrich Jerstenhauer jetzt steckt.“
„Wirklich?!“ – Salten war so überrascht, daß er zunächst nur dies eine Wort über die Lippen brachte.
Dann mußte Robert erzählen. Er tat’s auf seine Art, – ziemlich unklar und unübersichtlich, so daß Salten häufig mit ergänzenden Fragen eingreifen mußte.
Robert Pelzer hatte sich am vergangenen Sonntagabend gerade in der Mellentinstraße umhergetrieben, als Frau Gerstenhauer mit dem angeblichen Bruder ihres verstorbenen Mannes vor der Einfahrt des Hauses Nr. 4 erschienen war, wo beide noch eine Weile bei einander standen und eifrig flüsterten. Robert, ein heller Kopf wie all diese Straßenjungen der Großstadt, war dann die Gestalt und die Kleidung des „Schwagers“ aufgefallen, die ihn sofort an den Fremden erinnerten, der damals seinen Freund Heinrich mit dem Briefe weggeschickt hatte. Da er nichts zu tun hatte, schlich er dem Manne heimlich nach, der zunächst nach dem nahen Anhalter Bahnhof ging und sich dort die größte Mühe gab, in dem Menschengedränge eines eben angekommenen Zuges zu verschwinden. Robert merkte sehr bald, daß der Fremde alles versuchte, um Verfolger, die er vielleicht fürchtete, irrezuführen. Desto aufmerksamer wurde er aber und sehr geschickt wußte er unbemerkt dem Manne auf den Fersen zu bleiben. Dieser schaute sich sehr oft argwöhnischen um und bog nach mannigfachen Umwegen in die Straße am Karlsbad ein, wo er in Nr. 9, einem alten, vornehmen Hause, verschwand.
Als der Junge diese Nummer genannt hatte, war Salten in ungläubigem Schreck merklich zusammengezuckt. – Nr. 9 – gerade Nr. 9 – welch’ merkwürdiger Zufall, dachte er. – Aber diesen seinen Gedanken verlieh er durch nichts Ausdruck. –
Robert war, nachdem er dies festgestellt hatte, nach Hause geeilt. In den nächsten Tagen nahmen ihn die Schule und Austrägerdienste für einen Kaufmann so völlig in Anspruch, daß er sich um seine Entdeckung nicht weiter kümmern konnte. Aber vergessen hatte er sie nicht. In ihm war die Abenteuerlust erwacht, die in jedem echten Jungen schlummert, und auch der Ehrgeiz, über den Fremden noch mehr zu erfahren und dann dem Kommissar hiervon Nachricht zu geben, der ihn sicher für wichtige Mitteilungen belohnen würde. –
Gestern wurde dann Roberts Volksschule wegen mehrerer Scharlachfälle vorläufig geschlossen. Nun war er frei, nun konnte er zusehen, ob der Mann auch wirklich dort am Karlsbad wohnte. Inzwischen hatte es sich ja auch in der Mellentinstraße herumgesprochen, daß Frau Gerstenhauer das große Glück gehabt hatte, bei ihrem Schwager ein neues Heim zu finden, der am Sonntag bei ihr gewesen sei und alles mit ihr verabredet habe. Robert war dies ebenfalls zu Ohren gekommen, auch daß dieser Schwager aus Potsdam gerade abends die Witwe aufgesucht habe, und von dieser Tatsache zu der Folgerung zu gelangen, daß jener von ihm verfolgte schwarzbärtige Mann der erwähnte Schwager gewesen sein müsse, war weiter kein Kunststück. –
Der Junge hatte sich dann gestern Vormittag erst in der Straße am Karlsbad herumgetrieben und es schließlich auch gewagt, das Haus Nr. 9 zu betreten, um sich dort einmal umzusehen und die Namen auf den Türschildchen zu studieren. Etwas Bemerkenswertes entdeckte er jedoch nicht. Trotzdem trieb ihn der Tatendrang dann heute Vormittag abermals in die stille Straße, die als ein Stück des alten Berlins eine gewisse Berühmtheit genießt. Und jetzt hatte er mehr Glück als am vergangenen Tage. In einer sehr anständig gekleideten Frau, die das Haus Nr. 9 verließ, ohne seiner ansichtig zu werden, erkannte er trotz des dichten schwarzen Schleiers Frau Gerstenhauer, die mit einer Markttasche in der Hand nach der Richtung der Potsdamer Brücke zu davonging. Geduldig wartete Robert nun auf ihre Rückkehr, indem er sich in dem Eingang eines gegenüberliegenden Hauses verborgen hielt. Nach einer Stunde etwa tauchte sie wieder auf und verschwand in Nr. 9. Robert huschte schnell über die Straße, folgte ihr leise und hörte, wie sie in der zweiten Etage eine Tür aufschloß. Und in demselben Augenblick vernahm er auch eine wohlbekannte Stimme, die seines Freundes Heinrich, der seiner Mutter offenbar an die Entreetür entgegengeeilt war und sie mit den Worten empfing:
„Es ist niemand inzwischen hier gewesen, Mutter.“
Worauf Frau Gerstenhauer ärgerlich erwiderte:
„Halt’s Maul! Du sollst doch nicht …“
Das Weitere entging dem heimlichen Lauscher, da die Tür eben ins Schloß fiel.
Robert war nicht wenig stolz darauf, daß er seinem Gönner dann noch die Namen der beiden Bewohner der zweiten Etage mitteilen konnte, die er sich nachher, wagemutig in das Haus nochmals eindringend, aufgeschrieben hatte.
„Regierungsrat Dr. jur. Wilutzki und Kriminalkommissar Marchowski.“ – –
Salten hörte nur noch halb hin. Seine Gedanken waren schon mit anderen Dingen beschäftigt – ziemlich plötzlich verabschiedete er den Jungen daher, nachdem er ihm ein Dreimarkstück in die Hand gedrückt hatte.
Dann machte er sich zum Ausgehen fertig. Er mußte unbedingt sofort feststellen, ob Roberts Angaben auf Wahrheit beruhten. Dessen Mitteilungen hatten ja einen Sturm in seinem Innern entfesselt, der sich erst legen würde, wenn er in diesem Punkte völlig klar sah. –
Wie kam Frau Gerstenhauer in jenes Haus? Wer hielt sie dort verborgen? – Der Regierungsrat etwa?! Dies erschien so gut wie ausgeschlossen. – Und Marchowski …?! – Wenn Salten an diesen seinen Kollegen dachte, wenn er all die Merkwürdigkeiten dieses Kriminalfalles in Betracht zog, so eröffneten sich ihm nunmehr Möglichkeiten, die er gar nicht zu Ende verfolgen mochte. – Klarheit brauchte er daher. – Klarheit um jeden Preis! Er war oft genug Gast in seines Kollegen elegantem Junggesellenheim gewesen, er wußte, daß dieser seit Jahren eine erprobte, ältere Frau als Wirtschafterin hatte. Sollte Marchowski diese etwa ins Vertrauen gezogen haben, falls sich die Gerstenhauer wirklich bei ihm befand?! –
Salten sah sich, wenn er über die Sache näher nachdachte, so vielen Unwahrscheinlichkeiten gegenüber, daß er sich förmlich wie in einem Irrgarten umhertappend vorkam. Hier gab es nur ein Mittel einen Ausweg zu finden: Selbst hingehen und an Ort und Stelle sich überzeugen! –
Eine halbe Stunde später klingelte er bei Marchowski. Nach einer Weile hörte er hinter der Entreetür vorsichtige Schritte. Dann hatte er das bestimmte Gewühl, daß er durch das Guckloch prüfend gemustert wurde.
Er klingelte nochmals und recht nachdrücklich.
Drinnen wurde jetzt die Sicherheitskette gelöst. Und nun tat sich die Tür auf. Eine ihm unbekannte Frau stand ihm gegenüber, die sofort unfreundlich sagte:
„Der Herr Kommissar ist auf fünf Wochen nach Tirol gereist.“
„So? Wann denn?“ fragte Salten erstaunt.
„Heute Morgen um sieben. – Aber Sie entschuldigen, mein Herr, ich habe gerade die Milch auf dem Feuer.“
Das war ein ziemlich deutlicher Wink. Doch Salten tat, als verstehe er ihn nicht.
„Herr Marchowski ist mein Freund,“ meinte er die Frau mit absichtlich übertriebenem Mißtrauen ansehend. „Was tun Sie denn in seiner Wohnung hier? Die Wirtschafterin Marchowskis kenne ich.“
„Die frühere – das glaube ich!“ erwiderte die Frau patzigen Tones. „Ich bin die Nachfolgerin nämlich,“ fügte sie hinzu.
„Das ist etwas anderes – entschuldigen Sie,“ lächelte Salten höflich. „Seit wann sind Sie denn hier, Frau …“
„Pfender heiße ich, Pfender mit ’n „e“ geschrieben,“ beeilte sie sich zu erklären. „Und zugezogen bin ich am letzten Montag.“
Salten war sich inzwischen über sein ferneres Verhalten klar geworden.
„Hören Sie, liebe Frau Pfender,“ sagte er vertraulich, „Sie könnten mir einen Gefallen tun. Ich muß notwendig ein paar Minuten in Marchowskis Arbeitszimmer, wo ich Tinte und Feder vorfinde.“
Mit offenbarem Argwohn blickte sie ihn jetzt am.
„Wie heißen Sie eigentlich, Herr?“ fragte sie gedehnt.
Salten lachte harmlos auf.
„Halten Sie mich etwa für einen Spitzbuben? – Ich bin der Redakteur Schmidt vom Berliner Anzeiger.“
„So! – Ich dachte, Sie wären der Kriminalkommissar Salten. Von dem will mein Herr nämlich nichts wissen.“
„Glaube ich gern. Ich schätze ihn auch nicht sehr. Ein aufgeblasener Mensch, dieser Salten!“ –
Frau Pfender war jetzt völlig beruhigt. Sie ließ den „Redakteur Schmidt“ ins Arbeitszimmer, blieb aber doch vorsichtig dabei, als dieser nun sich einen Zettel suchte und die Feder zur Hand nahm. Zum Schreiben kam es aber nicht.
Plötzlich lehnte der „Redakteur“ sich nämlich in den Schreibtischsessel zurück, legte den Federhalter hin und sagte:
„Ich habe Lust mich mit Ihnen etwas zu unterhalten, Frau Pfender. Die Milch wird ja inzwischen ohnehin angebrannt sein.“
Es lag etwas in dem Ton von Saltens Stimme, das die neue Wirtschafterin stutzig machte. In ihren Augen glomm abermals das Mißtrauen auf. Aber bevor sie noch etwas erwidern konnte, sprach „Herr Schmidt“ schon weiter.
„Wie lange führen Sie eigentlich den Namen Pfender?“ fragte er jetzt mit offenem Spott.
Die Frau wurde erst rot, dann blaß.
„Mir ist so, als ob Sie noch letzten Sonntag Gerstenhauer hießen und in der Mellentinstraße Nr. 4 wohnten,“ fuhr er unerbittlich fort.
Die Hände des Weibes ballten sich zu Fäusten.
„Sie sind doch Herr Salten!“ schrie sie mit überschnappender Stimme.
„Allerdings! Und Sie Frau Gerstenhauer. Ihr Sohn Heinrich befindet sich auch hier.“
Bei den letzten Worten hatte er den Hörer des auf dem Tische stehenden Telephons in die Hand genommen und klingelte das Polizeipräsidium an, indem er zwischen Anruf und der auf dem Amt erfolgenden Verbindung der Frau strengen Tones erklärte:
„Setzen Sie sich dort auf jenen Stuhl – bitte, sofort!! Das Weitere wird sich finden.“
Dann sprach er in den Hörer hinein: „Hier Kommissar Salten. Sofort zwei Beamte in Zivil nach Karlsbad 9 senden per Auto. Eilt sehr!“
Frau Gerstenhauer saß zusammengeduckt auf ihrem Stuhl und schaute den falschen „Schmidt“ mit giftigen Blicken an.
„Nun zu Ihnen!“ sagte Salten scharf und legte den Telephonhörer weg. „Ich werde Ihnen mal vorhalten, was ich über Sie erfahren habe. Sie haben sich bestechen lassen und sich auf die Anzeige in den Zeitungen nicht gemeldet.“
Er teilte ihr dann ausführlicher mit, was er von dem Briefe, mit den darin befindlichen hundert Mark, wußte.
Da rief sie kreischend dazwischen: „Der Heinrich hat schöne Keile dafür gekriegt, daß er diesem Lumpen, dem Robert Pelzer, die Geschichte erzählt hat. Wenn ich den Robert nur zwischen die Finger bekäme, dem sollte es gut gehen!“
„Lassen Sie diese Wutausbrüche!“ fuhr Salten sie grob an. „Sie haben alle Ursache recht bescheiden aufzutreten. Und wenn Sie mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagen, so verhafte ich Sie auf der Stelle. Sie haben ja gehört, daß ich mir zwei Beamte herbestellte.“
Bei dem Wort „verhaften“ knickte Frau Gerstenhauer ordentlich zusammen. Ihre bisherige Frechheit verwandelte sich in winselnde Angst. Und ihn dieser Stimmung legte sie ein unumwundenes Geständnis ab.
„Ich werde wahrhaftig nicht lügen, Herr Kommissar,“ beteuerte sie. „Mag jetzt kommen, was da will. Wohl habe ich mich hier sowieso nicht gefühlt. Immer fürchtete ich, man könnte mir auf die Spur kommen. Außerdem glaube ich auch, daß man mich in mancher Hinsicht belogen hat. Jedenfalls verhielt sich die ganze Sache folgendermaßen: Am letzten Sonntag so gegen halb acht kam ein Herr zu mir, der mir seinen Namen nicht nannte, mir aber erklärte, er sei derselbe, der mir die hundert Mark geschickt habe. Er teilte mir mit, daß mein Sohn Heinrich die Geschichte von dem Brief mit dem Gelde doch trotz strengster Verwahrung dem Robert Pelzer weitererzählt und daß dieser dem Kriminalkommissar Salten wieder dieses Geheimnis verraten habe, um dabei für seine Mutter Geld herauszuschlagen. Der Fremde äußerte nun weiter, daß ich sicher ins Gefängnis käme, falls Kommissar Salten meiner habhaft würde. Ich solle also zusehen, daß ich schleunigst aus Berlin fortkäme, und hierbei wolle er mir behilflich sein. In meiner Angst überlegte ich nicht lange, sondern sagte zu allem ja und amen. Er schlug mir nun vor, ich müsse, um die Polizei auf eine falsche Spur zu locken, so tun, als ob ich zu dem Bruder meines Mannes ziehen wolle. Er gab mir dann außer den genauesten Verhaltungsmaßregeln noch zweihundert Mark und befahl mir, schon am nächsten Morgen meine Wohnung zu verlassen und nur das Nötigste mitzunehmen. Fürs erste solle ich mit Heinrich bei einem Bekannten von ihm, der heute seine bisherige Wirtschafterin entlassen habe, einen Unterschlupf finden, während meine beiden anderen, jüngeren Kinder bei einer zuverlässigen Frau in der Linienstraße untergebracht werden, bis die Polizei die Suche nach uns aufgegeben hätte und wir dann alle zusammen nach Stettin ziehen könnten, wo mir eine Hökerei eingerichtet würde. Über diese Aussicht war ich natürlich sehr froh. Der Fremde sagte dann noch, sein Bekannter, der Am Karlsbad 9 wohne, und zwar im zweiten Stock, sei selbst Kriminalkommissar, heiße Marchowski und stehe mit Ihnen, Herr Salten, sehr schlecht. Nur aus diesem Grunde wolle Marchowski sich auch meiner annehmen. –
Am Montagmorgen tat ich dann alles, was mir von dem Manne mit dem Vollbart vorgeschrieben worden war. Auf dem Potsdamer Platz vor Aschinger sollte mich Herr Marchowski in Empfang nehmen. Er war auch pünktlich um halb acht da, tat sehr freundlich und erklärte, er werde jetzt zunächst meine beiden Jüngsten nach der Linienstraße bringen. Ich und Heinrich, wir sollten so lange bei Aschinger auf ihn warten. Er fuhr dann in einem geschlossenen Auto davon und fand sich nach einer knappen Stunde wieder ein. Nun ging’s in einem anderen Auto nach seiner Wohnung, wo er mir und Heinrich das bisher von seiner Wirtschafterin innegehabte Zimmer anwies. Hierauf erklärte er mir, ich müsse mich fortan Frau Pfender nennen, da er Ausweispapiere mit diesem Namen für mich und die Kinder besorgt habe. Er gab mir auch hundert Mark, damit ich mich und den Heinrich neu einkleiden könne. Dies tat ich denn gleich am Vormittag. Auf der Straße sollte ich mich möglichst wenig blicken lassen und wenn, dann nur dicht verschleiert. Für Heinrich, der in der Wohnung bleiben mußte, kaufte er dann selbst allerlei Indianerbücher und Spielzeug ein, damit der Junge sich die Zeit vertreiben könne. Im Hause galt ich nun für die neue Wirtschafterin. Und ich hätte mich auch ganz behaglich gefühlt, wenn nicht die ewige Angst gewesen wäre. Besonders warnte Herr Marchowski mich vor Ihnen, Herr Kommissar. Er sprach sehr schlecht von Ihnen, stellte Sie als einen hartherzigen Beamten hin, der niemand schone und der mich unweigerlich ins Gefängnis schicken würde, falls er meinen Aufenthaltsort entdecke. –
Als ich dann hier erst so etwas zur Ruhe gekommen war und meine Gedanken ordentlich sammeln konnte, stiegen mir doch so verschiedene Zweifel an dem auf, was der Schwarzbärtige und der Herr Marchowski mir über die Gründe erzählt hatten, weswegen ich mich verborgen halten solle. Aber – die Hoffnung, daß ich in Stettin nachher behaglicher werde leben können und das viele Geld, was ich bekommen hatte, ließen mich schweigen. Vorgestern habe ich denn auch meine beiden Jüngsten in der Linienstraße Nr. 204 besucht, wo sie bei einer dicken Dame wirklich sehr gut untergebracht sind. Gestern kamen dann gegen Abend Herrn Marchowskis Bergstiefel vom Schuhmacher, und er selbst reiste wie gesagt heute Morgen nach Tirol zwar nach Salzburg, wohin ich ihm postlagernd schreiben soll, wenn was Besonderes passiert. Er ließ mir fünfhundert Mark hier, und davon hätten wir bis zu seiner Rückkehr auch sehr fein leben können.“ –
Daß diese Beichte wirklich der Wahrheit entsprach, merkte Salten sofort. Und daher fragte er jetzt ganz freundlichen Tones:
„Frau Gerstenhauer, ist Ihnen denn nie in diesen Tagen der Verdacht aufgestiegen, daß der schwarzbärtige Fremde und Marchowski ein und dieselbe Person sein könnten? Und – haben Sie denn nichts von dem Morde an dem Juwelier Brückner gehört, den doch derselbe Doktor Termitz umgebracht haben soll, zu dem Heinrich damals den Brief hintrug?“
Wie versteinert saß die Gerstenhauer da. Und dann stotterte sie:
„Ein und dieselbe Person …? … Mord …? Ja, gehört habe ich davon, doch nur wenig. Unsereiner hat mit seinen eigenen Sorgen genug zu tun und kümmert sich nicht um solche Dinge.“
Draußen im Flur schrillte die Glocke. Es waren die beiden Kriminalbeamten, die Salten herbeordert hatte.
Aber Frau Gerstenhauer brauchte sie nicht zu fürchten. Erklärte ihr der Kommissar doch, daß sie vorläufig ruhig hier wohnen bleiben könne, wenn sie wolle. Und darauf ging sie freudig ein. Nach der Mellentinstraße mochte sie nicht zurück. Sie scheute die Fragen der lieben Nachbarn nach dem gastfreien Schwager. Und – was hätte sie dann antworten sollen?!
Am nächsten Vormittag.
Kriminalkommissar Wendler kam gerade aus dem Amtszimmer des Polizeipräsidenten, der ihm viel Schmeichelhaftes über die schnelle Ergreifung des Täters im Falle Brückner gesagt hatte, als er auf dem Flur vor seinem eigenen Dienstzimmer auf Egon Salten traf.
„Morgen, Kollege. Könnte ich Sie eine halbe Stunde allein sprechen?“ fragte dieser offenbar sehr gut gelaunt.
„Hm – wenn’s sein muß,“ brummte Wendler. „Dienstliches?“ fügte er kurz hinzu.
„Sehr sogar!“ meinte Salten.
Dann saßen sie sich an dem großen Schreibtisch Wendlers gegenüber.
„Sind Sie noch immer von der Schuld des Doktors überzeugt?“ begann Salten mit seltsamem Lächeln.
„Merkwürdige Frage!“ knurrte der Schöneberger.
„So. – Dann gestatten Sie wohl, daß ich Ihnen hier einzelne Aufzeichnungen aus einem Tagebuch vorlese, das ich gestern in dem Schreibtisch eines Mannes in einem Geheimfach fand, – eines Mannes, den wir beide recht gut kennen.“
Salten zog aus der Brusttasche seiner Jacke ein schmales, ziemlich langes und in Leder gebundenes Buch hervor, blätterte einen Augenblick darin und fragte, Wendler eine leichte Verbeugung machend:
„Darf ich anfangen?“
Und Salten las. – –
„Freitag, den … Mai, elf Uhr abends.
Heute fand die Hinrichtung des Schiel-Maxe statt. Als ich den bleichen Mörder mit der von Angstschweiß feuchten Stirn und den halbirren Augen den Hof betreten sah, erstarrte mir das Blut in den Adern. Der Gedanke, daß der Kopf dieses Mannes in wenigen Minuten in den mit Sägespänen gefüllten Korb fallen würde, jagte mir Eisesschauer über den Leib.
Zwei Uhr nachts.
Das Grauen hat mich aus dem Bett getrieben. Die fürchterlichen Gesichter wollen nicht weichen. Lauter abgeschlagene, grinsende Menschenköpfe tauchen vor mir auf. Ich hätte nicht zu der Hinrichtung gehen sollen. Der verd… Termitz hat nicht so ganz Unrecht gehabt. Es war zu viel für meine Nerven …
Meine Mutter ist in einem Irrenhause gestorben. Daß mir das gerade jetzt einfällt …!
Am folgenden Abend dreiviertel zwölf Uhr.
Mit dem Schlafen wird’s auch wohl heute nichts werden. Ich fiebere förmlich, meine Pulse rasen, und die Gedanken rasen. Die Schreckbilder sind verschwunden … Dafür sehe ich anderes, – Szenen mit größter Deutlichkeit, bei denen ich selbst eine Rolle wie auf dem Theater spiele …
Salten sprach gestern so wegwerfend von Verbrecherdummheit, wodurch er seine eigene Genialität als Kriminalbeamter in das hellste Licht rücken wollte … Eingebildeter Narr!! Ich werde Dir den Beweis liefern, daß es doch Verbrecher gibt, die keine Fehler begehen, die Dir über sind …
Laut herauslachen möchte ich vor Freude, daß mir diese Idee gekommen ist …
Morgen machen Brückners und Salten einen Ausflug nach Werder. Der Juwelier selbst bleibt bis Mittag daheim und fährt dann nach. Das erzählte Salten heute Abend am Stammtisch … Mein Plan ist fertig. Und wenn nicht gerade ganz unvorhergesehene Umstände eintreten, führe ich ihn aus. Er ist glänzend …
Drei Personen will ich treffen, die ich hasse: Hilde werde ich den Vater nehmen! Warum wies sie mich zurück?! – Und Termitz, dieser Schleicher, der mich immer so mitleidig betrachtet, wird das zweite Opfer sein. Ich weiß, daß es in seinem Leben irgend ein Geheimnis gibt. Zu bestimmten Tageszeiten ist er nie anzutreffen, nie! Und das, was er dann tut, scheut irgendwie das Licht des Tages. Ohne weiteres wird er dieses sein Geheimnis nicht verraten. Erst in der höchsten Not wird er vielleicht sein Alibi nachweisen. Mag er …! Jedenfalls habe ich ihm dann böse Stunden genug bereitet! – Nummer drei ist Salten, der geniale Salten, der geniale Salten …! Natürlich wird er, da es sich ja um seinen Schwiegervater handelt, auch seinerseits den Täter zu entdecken suchen … Er wird ihn nicht finden, wird sich blamieren! Die Verbrecherdummheit triumphiert endlich …!!
Sonntag, abends neun Uhr.
Es ist geglückt …! Großartig geglückt!
Von halb elf an drückte ich mich in meiner Verkleidung vor dem Brücknerschen Hause herum. Unter der Jacke hatte ich die Dienstmannbluse und die zugehörige Mütze verborgen. Und in der Tasche trug ich die beiden Briefe bei mir, die ich so schlau erdacht habe. – Ernst Brückner und der Reisende verließen gegen halb zwölf Uhr vormittags das Haus. Nun wurde es Zeit. In einem nahen dunklen Kelleingang verwandelte ich mich in einen Dienstmann und gab dann den einen Brief bei Brückner ab. Er lautete kurz:
„Wir haben erfahren, daß für heute ein Einbruch in Ihr Geschäft beabsichtigt wird. Ich werde Sie, um mit Ihnen die Maßnahmen zum Ergreifen der Einbrecher auf frischer Tat genau zu besprechen, nachmittags besuchen. Aus dienstlichen Gründen dürfen Sie zu niemandem über diese Mitteilung sprechen. – Görner, Kriminalkommissar.“
Ob Salten wohl auch auf diese glänzende Idee gekommen wäre?! –
Nachdem ich mich wieder in einen unauffälligen, dunkelbärtigen Herrn verwandelt hatte, bezog ich abermals meinen Posten vor dem Brücknerschen Hause. Gegen ein Uhr trat das ein, worauf ich gerechnet hatte. Die Dienstboten entfernten sich. Wahrscheinlich hat der Juwelier sie fortgeschickt, um mit dem Kommissar Görner ungestört zu sein. Das hatte ich auch erwartet. –
Um dreiviertel zwei klingelte ich bei Brückners. Der Juwelier ließ zunächst noch die Sicherheitskette vorgelegt. Ein vorsichtiger Mann! – Als ich mich ihm dann zu erkennen gab und sagte, ich käme gleichfalls wegen des geplanten Einbruchs, ließ er mich sofort ein. Zunächst lockte ich aus ihm heraus, wo er den Brief des Kollegen „Görner“ gelassen habe und ob sein Sohn bald zurückkommen würde. Ahnungslos gab er mir Bescheid. Der Student wollte nachmittags eine Fußtour machen! Ich jubelte innerlich! Alles klappte vorzüglich!
Um halb drei war Brückner eine Leiche. Mein dünner, indischer Dolch traf mitten ins Herz. Dann räumte ich mit Hilfe der Schlüssel, die ich dem Juwelier abnahm, den Tresor und die Kästen aus. Vor drei verließ ich die Wohnung. Den Entreeschlüssel und den Brief sowie meine Beute an Schmuckstücken nahm ich mit. Von der Mellentinstraße aus schickte ich dann einen Jungen mit dem zweiten vorbereiteten Brief zu Termitz. Auch dieses Schreiben war ein Meisterstück! Absichtlich hatte ich darin des Doktors Handschrift nachgeahmt. Kam der Brief der Polizei in die Hände, so mußte die Ähnlichkeit der Handschrift sofort den Verdacht entstehen lassen, daß Termitz ihn selbst geschrieben habe, um einen Grund angeben zu können, weswegen er zu Brückners gegangen sei! –
Der Junge mit dem Brief war kaum um die nächste Ecke, als in einem Auto nach der Barbarossastraße fuhr, die Polizei anläutete und so tat, als ob der schwerverletzte Brückner um Hilfe rufe. Dann zerstörte ich die beiden Telephonapparate und eilte wieder von dannen, indem ich den Entreeschlüssel von außen stecken ließ. Ich sah Termitz seine Wohnung verlassen, schlich nach oben, öffnete geräuschlos die Flurtür mit einem Dietrich, huschte ins Wartezimmer und schob einen Teil der Schmuckstücke zwischen die Polster eines Sessels. Und – auf dem Tisch zwischen den Zeitschriften sah ich hier auch den Brief liegen! Er wanderte in meine Tasche. Unbemerkt verließ ich das Haus. Mein Plan war geglückt – geglückt! Und nun mag Salten nach dem Mörder suchen. Von Termitz’ Schuld wird er ja nicht leicht zu überzeugen sein. –
Ich jubele innerlich! Es gibt auch geniale Verbrecher, Herr Salten!
Mittwoch, den ..., abends.
Termitz ist verhaftet! Salten hat angebissen auf den Köder. Er gibt sich Mühe, eine Stecknadel aus einem Heuhaufen herauszuklauben.
Trotzdem – meine Freude ist nur halb. Schiel-Maxe und all die anderen Totenfratzen haben sich wieder eingefunden. Der Schlaf flieht mich. Nur so lange die Aufregung vom Sonntag noch in mir nachwirkte, blieben die Gespenster weg.“
Salten klappte das Tagebuch zu.
„So, Kollege, nun wissen Sie, wer der Mörder war. In Marchowskis Schreibtisch fand ich auch den Rest der Beute.“
Wendler kämpfte schwer mit sich. Dann reichte er Salten die Hand.
„Sie haben also recht gehabt! Termitz ist tatsächlich durch einen raffinierten Schurkenstreich in die Sache verwickelt worden.“
„Nicht durch einen Schurkenstreich,“ sagte der Berliner Kommissar ernst. „Es war die Tat eines Wahnsinnigen, der jetzt bereits gebüßt hat. – Hier – lesen Sie! Diese Depesche traf vor zwei Stunden bei uns auf dem Präsidium ein.“
In dem aus München abgeschickten Telegramm stand, daß Marchowski sich vom Turme der Ludwigskirche in die Tiefe gestürzt habe. Nach Aussage des Küsters, der ihn begleitete, habe er plötzlich gerufen „Schiel-Maxe – ich komme!“ und sei dann durch eines der Fenster gesprungen, ehe der Küster noch hatte zugreifen können.
* * *
Bereits wenige Stunden später wurde Doktor Termitz in Freiheit gesetzt. Salten ließ es sich nicht nehmen, den Freund aus dem Untersuchungsgefängnis abzuholen.
Auf dem Wege nach dem Brücknerschen Hause, wo Termitz mit einem schnell vorbereiteten kleinen Abendessen empfangen werden sollte, gab dieser dem Kommissar dann auch Aufschluß darüber, wie er auf den Gedanken gekommen war, die Rolle des naturheilkundigen Hans Müller zu spielen.
„Mir ging es pekuniär sehr, sehr schlecht … Meine Mutter lebte in größter Dürftigkeit. Da kam mir eines Tages die Idee. Ich wußte ja, daß die Leute, selbst Gebildete, oft mehr Vertrauen zu Kurpfuschern als zu uns Ärzten haben. Ein Zufall brachte mich in Besitz der Legitimationspapiere eines Landstreichers, die auf den Namen Hans Müller lauteten. So begann ich denn meine Praxis als Naturheilkundiger in der Müllerstraße. Niemand ahnte, weshalb ich als dieser so großartige Heilerfolge hatte, – eben weil ich Arzt war. Dabei benutzte ich, um den Anschein eines Originals zu erwecken, allerlei kleine Mittelchen. Ich war grob zu den Patienten, meine Aufwärterin noch gröber. Die Leute liefen mir trotzdem in Scharen zu. Ich habe sehr viel Geld verdient, – mehr, als die Polizei ahnt. Außer den Sparkassenbüchern besitze ich noch ein Bankguthaben von zwölftausend Mark. – Jetzt wird der naturheilkundige Müller verschwinden. Das war schon meine Absicht, bevor dieses Ereignis, meine Verhaftung, eintrat. Ich hoffe mich nun, mit Hilfe meiner Ersparnisse, auch als Doktor Termitz durchzusetzen, da ich warten kann, bis auch die Leute in der Barbarossastraße und Umgegend merken, daß man sich mir schon anvertrauen darf.“
Sie waren vor dem Brücknerschen Hause angelangt. –
Alle begrüßten dann den Doktor mit warmem Händedruck und herzlichen Worten. Ernst Brückner aber benutzte die erste eintretende Stille, um freudestrahlend Kätchen Marlow dem Arzte als Braut vorzustellen. Seine Mutter hatte jetzt auch hierzu ihre Zustimmung gegeben. –
Am folgenden Tage erhielt Robert Pelzer einen Wertbrief über dreihundert Mark.
Frau Pelzer fiel aus allen Wolken.
Aber Robert sagte nur:
„Ick wußte ja, daß mein Freund, der Kommissar, ’n anständiger Kerl is! Siehste, Mutter – nu sagtest du immer ick sei nischt wert! Bitte – drei blaue Lappen bin ick wert, und det is ’n kleenet Vermögen.“