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Das Eiland der Toten

 

 

Harald Harst: Aus meinem Leben

 

Band: 184

 

Das Eiland der Toten

 

Erzählt von

Max Schraut (Walther Kabel)

 

1. Kapitel.

Der Thar-Trapper[1].

Über und über flimmerte das ausgestirnte Firmament in all seiner stillen, erhabenen Pracht …

Um uns her war das Schweigen der Wüste …

Nur aus weiter Ferne drangen zuweilen heisere, kläffende Töne, vom sanften Nachtwind bis zu unserem Lagerplatz geleitet, wie häßliche Geisterstimmen herüber …

Von dorther, wo Harald nachmittags am Rande des ausgetrockneten Flußbettes den stämmigen Samba-Hirsch mit sicherer Büchsenkugel niedergestreckt hatte, dessen eine Keule nun kunstgerecht am Spieß über dem Feuer schmorte, häufig gedreht von Doktor Amalgis kundiger Hand …

Wir lagen auf unseren Decken um das knisternde Feuer herum … Wir waren vorgestern abend zu fünfen von der Stadt Amber am Südostrande der indischen Thar-Wüste[2] hoch zu Dromedar und mit zwei Lastkamelen aufgebrochen, um in kürzester Zeit den Großen Salzsee zu erreichen, in dessen Mitte sich einige kahle, felsige, zerklüftete Inselchen erheben, von denen die eine das Geheimnis barg, dessenwegen Miß Honoria Goord zwölf Jahre im Kerker geschmachtet hatte, wie ich bereits im vorigen Bande angedeutet habe.

Außer Harald, Doktor Amalgi und mir zählten zu unseren Gefährten noch Miß Goord und Amalgis Diener Hubert Enoch, ein buckliges Männchen mit dünnem Bart- und Kopfhaar und einem verwitterten, einem verschrumpelten Bratapfel nicht unähnlichen Gesicht.

Amalgi hatte mit seiner Hirschkeule genügend zu tun. Harald rauchte bereits in tiefem Sinnen die fünfte Mirakulum, und Miß Goord, die in ihrem Herrensportanzug und mit dem sonngebräunten, früh gealterten Antlitz vollkommen einem schlanken, sehnigen Manne glich, ließ in zerstreutem Spiel den feinen, gelblichen Wüstensand immer wieder durch die Finger gleiten und beobachtete ebenso zerstreut den alten Hubert, der einen Sattelriemen flickte.

Ich selbst äugte bald hierhin, bald dorthin in die Wüste hinaus. Unser Lagerplatz befand sich inmitten einer Menge von Felsen, die sich nach Süden zu im Halbkreise öffneten und uns nicht nur den Vorteil einer Rückendeckung, sondern auch die Annehmlichkeit einer kleinen Quelle boten, deren Wasser freilich schon nach wenigen Metern im Sande versickerte. Immerhin genügte diese Bodenfeuchtigkeit, hier in diesem Halbrund von Felsen Sträucher, Büsche, und Gras in frischer Üppigkeit hervorschießen zu lassen, so daß auch unsere sieben Dromedare sich nach Herzenslust stärken konnten.

Mit einem Male brach Harald das bisherige Schweigen und wandte sich an Miß Goord …

„Da Amalgi nicht zum Reden zu bewegen ist, Miß Goord,“ sagte er mit leichter Gereiztheit im Ton, „könnten Sie uns jetzt schildern, wie und was Sie auf der Insel im Salzsee vorfanden …“

Amalgi rief sofort: „Miß Goord, lassen Sie sich nicht durch Harst dazu bewegen, ihm, seinem Freunde Schraut und meinem alten Hubert die Überraschung zu vereiteln, die das Geheimnis der kleinen Insel jedem bietet … Mag Harst doch mit eigenen Augen sich überzeugen, wie schlau der Radscha Gadwuri von Jaisulmir die Goldader oder besser den Zugang zu ihr für jeden Blick verborgen hat …! Mag Harst doch der geringen Mühe sich unterziehen, die richtige Insel und den Eingang zu den Grotten selbst herauszusuchen … – Nicht wahr, bester Harst, – es hieße Sie doch geradezu einer Gelegenheit, Ihren Spürsinn aufs neue zu beweisen, leichtfertig berauben, wenn …“

Harst fiel ihm hier ins Wort …

„Das alles haben Sie schon einmal erklärt, Doktor … Genau wie ich Ihnen darauf erwidert habe, daß Umstände eintreten könnten, die es ratsam erscheinen lassen, wenn Hubert, Schraut und ich nicht erst nach der Insel und den Grotten umständlich zu suchen brauchen …“

„Umstände?! Welche?!“ meinte Amalgi achselzuckend. „Wir haben hier in der Thar zu fünfen und tadellos bewaffnet, nichts zu fürchten, und …“

„Gestatten Sie, Doktor,“ sagte Harald da mit einer sehr energischen Handbewegung, „– Sie sind nicht ganz im Bilde …!“ Seine Hand reckte sich nach Südost, wo im Dämmerschein der Tropennacht etwa tausend Meter entfernt aus der flachen Sandtenne der Thar der Dschebel Hammak herauswuchs, jenes ungeheure Felsmassiv, in dessem hohlen Innern die Tochter des Radscha Gadwuri als von den Behörden mit allem Eifer gesuchten Flüchtling mit wenigen Getreuen längere Zeit gehaust hatte und wo diese für eine Inderin berückend schöne Frau ihre Liebhaber und auch Miß Honoria Goord eingekerkert gehalten hatte …

Wie die Rani Arowa, diese vertriebene Fürstin von Jaisulmir, im Innern des Dschebel Hammak infolge übergroßen Schreckes tot umgesunken, ist meinen Lesern und Freunden aus dem vorigen Bande bekannt. Wir hatten die junge, gewissenlose Fürstin, der man mit Recht den Namen einer Semiramis der Thar beigelegt hatte, im Dschebel Hammak begraben, bevor wir mit den Befreiten nach Amber aufgebrochen. Als wir dann heute beim Abendgrauen den Felskoloß erreicht hatten, war Harald allein in das Innere dieses seltsamen Felsgebildes eingedrungen und erst nach anderthalb Stunden wieder zu uns gestoßen. Als Amalgi ihn dann gefragt hatte, ob er im Dschebel Hammak alles in Ordnung gefunden, war seine Antwort gewesen:

„Ja – alles in Ordnung …!“

Und damit war das Thema scheinbar erledigt.

Nun aber fügte er nach kurzer Pause hinzu:

„Nicht ganz im Bilde, Doktor … Wenn ich vor zwei Stunden Ihnen antwortete, es sei im Dschebel … alles in Ordnung, so hieß das nur, daß ich dort alles so vorgefunden habe, wie ich’s erwartet hatte …“

Wir schauten Harst neugierig an …

Wir ahnten ja, daß das, was er uns jetzt mitteilen würde, nur etwas Unangenehmes sein könnte …

Und ich, der ja schließlich durch meinen langjährigen Verkehr mit Harald ein wenig von ihm gelernt hat, rief hastig:

„Die … Leiche der Rani Arowa ist verschwunden!“

Er nickte ernst …

„Ja … – Äußerlich war das Grab unberührt. Aber bei genauerem Hinsehen merkte ich, daß die Felsplatte, die wir über das Grab gelegt hatten, nicht mehr in derselben Richtung mit dem spitzen Ende lag. Ich hob sie empor, schaufelte mit den Händen den losen Sand weg und stieß … auf eine Leiche, die in die Gewänder der Rani gehüllt war. Es war jedoch einer der erschossenen Diener der Fürstin, die wir nebenbei in eine gemeinsame Gruft gelegt hatten. Hätte ich mich nicht der Mühe unterzogen und das Gesicht gleichfalls freigemacht, würde ich mich haben täuschen lassen …“

Miß Goord sagte da achselzuckend:

„Was tut’s, wenn ein paar der ehemaligen Untertanen der Fürstin die Tote mit sich genommen haben!“

Harald warf ihr einen eigentümlichen Blick zu … Bevor er jedoch noch etwas erwidern konnte, meinte Doktor Georg Amalgi mit Nachdruck:

„Ich glaube Harsts weitere Gedanken zu erraten … Und wenn das zutrifft, was ich nun ebenfalls vermute, dann …“

Schwieg plötzlich …

Hinter den Büschen hervor eine fremde Stimme – in tadellosem Englisch:

„Gestatten Sie, daß ich nähertrete …?“

Unsere Köpfe fuhren herum …

Wir sahen nur den Oberkörper eines blondbärtigen Mannes, der einen jener breitrandigen Lederhüte trug, wie die Tharhirten sie noch als Sonnenschutz über ihren leichten Turbanen zu tragen pflegen …

„Bitte – Sie sind uns willkommen,“ erklärte Harald …

Worauf der Mann um die Sträucher herumkam und sich uns in seiner ganzen verblüffenden Länge und Magerkeit repräsentierte.

Wenn wir hier nicht in Indien gewesen wären, hätte ich und jeder andere bestimmt geglaubt, dieser Fremde sei einer jener nordamerikanischen Trapper, die sich ihre Kleidung aus gegerbten Hirschhäuten selbst herstellten …

Tatsache: dieser John Wiscont, wie er sich nannte, war ganz in Leder gekleidet, trug Jagdtasche, einläufige Büchse, Rucksack, Revolver, langes Messer in Lederscheide – – kurz: er war wirklich Jäger und verdiente sich seinen Lebensunterhalt dadurch, daß er die Tharhirten mit Fleisch versorgte …

Dies erzählte er uns, nachdem er kaum am Feuer Platz genommen hatte … Und wie er das erzählte, war eigenartig genug …

Dieses Unikum hatte nämlich ursprünglich zur frommen Gilde der Geistlichen der anglikanischen Kirche gehört, war als Missionär mit 25 Jahren nach Indien geschickt worden und hatte hier unter der heißen Sonne des Wunderlandes und unter dem Einfluß glutäugiger indischer Mädchen alle strengen Grundsätze vergessen und … war mit Schimpf und Schande seines Amtes enthoben worden …

Ahnungslos, daß die so männlich ausschauende Miß Goord eine Dame sei, berichtete John Wiscont Einzelheiten aus seiner „erfolgreichen“ Missionstätigkeit, die dem Kaiserreich Indien zu ein paar Dutzend neuer Mischlingsbewohner verholfen hatte … Alles, was er sagte, brachte er im Kanzelrednerton und verbrämt mit frommen Sprüchen vor …

Der Mann war ein Original …!

Und – – fraß für sechs …! Die Hirschkeule war inzwischen gar geworden, und wenn wir anderen nicht so mäßige Fleischesser gewesen, wäre der lange John, der nun bereits zehn Jahre in der Thar lebte, hungrig geblieben.

So nebenbei erfuhren wir auch noch von ihm, daß er sein Dromedar und sein Lastkamel drüben am Dschebel Hammak zurückgelassen habe, um sich zu Fuß an unser Lager anzupirschen …

„Leuchten doch die Sterne über Gerechten und Ungerechten,“ fügte er zur Erklärung seines vorsichtigen Verhaltens hinzu. „Gott hat es gefallen, die Thar einer Bande von Räubern als Schlupfwinkel zu gewähren, und diese Heiden ziehen in der Wüste umher, mordend und raubend, so daß ein großer Schrecken über die ehrlichen Hirten und einsamen Viehzüchter gekommen ist …“

Harst reichte dem langen John jetzt eine Zigarette, fragte: „In Amber war vor drei Tagen noch nichts von dieser Räuberbande bekannt … Warum haben sich die Hirten nicht an eins der englischen Wachkommandos gewandt?“

„Wer tot ist, holt keine Hilfe mehr … Ich sah diese Banditen nicht, sah aber ihre Taten … Ich bin auf dem Wege nach Amber, damit die …“

„Wie stark schätzen Sie diese Räuberhorde?“ unterbrach Harald ihn …

„Fünfzehn Dromedare, fünfzehn Mann, fünfzehn Lastkamele … So las ich’s aus den Spuren …“[3]

„Wo?“

„Einen Tagesritt nördlich von hier … Dort hatten die Heiden ein schreckliches Blutbad angerichtet … Ihre Fährte verschwand in einem steinigen Tale. Sie hatten die Künste [eines][4] Höllenfürsten angewandt und ihren Tieren die Hufe umwickelt … Ich konnte die Spuren nicht wiederfinden, obwohl ich doch, ohne mich rühmen zu wollen, ……“

Oh – – Fluch unserer Leichtfertigkeit!!

Ein Schuß knallte aus den Büschen …

John Wiscont schnellte hoch und schlug schwer wieder in den Sand …

Weitere Schüsse …

Kugeln pfiffen uns um die Ohren …

Wir waren eingekreist …

Eine überlaute Stimme warnte uns, nach unseren Waffen zu greifen …

Das wenig angenehme Kommando „Hände hoch!“ zwang uns zu schnellem Gehorsam …

Dieser Überfall war zu plötzlich gekommen …

Zerlumpte hohe Gestalten, tadellos bewaffnet, erschienen hinter den Büschen und hatten uns fünf im Nu gefesselt …

Dem toten John versetzte der Anführer der Bande nur einen Fußtritt …

 

2. Kapitel.

Der Cholerafriedhof.

… Hatten uns gefesselt und uns zugleich stinkende Lappen vor die Augen gebunden …

So war ich denn am Sehen verhindert, hielt dafür aber die Ohren desto besser offen …

Wenn man einige Übung darin besitzt, lediglich aus Geräuschen das Tun und Treiben von Gegnern zu beurteilen, so schadet eine solche Augenbinde nicht viel, falls sie eben nicht, wie es hier der Fall war, recht unliebsame Düfte ausströmte, etwa wie das durchschwitzte Hemd eines Stromers, das der Besitzer seit einem Jahre nicht gewaschen, zuweilen aber auch noch zum Reinigen einer Pfeife und ähnlichen duftenden Verrichtungen benutzt hat.

Der Lappen stank pestilenzianisch … Ärmere Inder „riechen“ schon an sich. Tharräuber noch mehr … Und dieses Dutzend Kerle, mit denen wir es hier zu tun hatten, waren dem hohen Wuchse und den langen schwarzen Bärten nach Ratschputen der untersten Volksschicht, kannten ein Bad wohl nur vom Hörensagen, und den Begriff saubere Wäsche erst recht nicht …

Meinen Leidensgefährten erging es offenbar ähnlich wie mir. Amalgi nieste verschiedentlich und protestierte energisch gegen die Augenbinde, worauf man ihm fraglos einen Rippenstoß versetzte, denn er brach mitten in seinem erregten Geschimpfe ab und murmelte etwas von „brutales Pack“ …

Dann wurde das weiche Stampfen von Dromedarhufen und das Schnauben der Tiere der Banditen vernehmbar … Ohne Zweifel befand sich unter diesen Tieren ein Kamelhengst (zumeist benutzt man nur Stuten zum Reiten), denn ich hörte das heisere, seltsame Röcheln und ein lebhaftes Hin und Her, Stockschläge und Zurufe: Haralds Kamelhengst mußte mit dem Räubervieh in Zwist geraten sein!

Wenig später band man mich im Sattel eines Reittieres fest, und dann ging’s weiter – in die Wüste hinein …

Da der Nachtwind von Nordost geweht hatte, und da ich ihn nun gerade von vorn spürte, schlug die Bande mit uns also dieselbe Richtung ein, und im Nordwesten war der Salzsee zu suchen, der sowohl Harald wie auch mir bisher unbekannt war, obwohl wir jetzt zum sechsten Male in der Thar „beruflich“ zu tun hatten. In diesen Südwinkel der Wüste waren wir eben bisher nicht gekommen.

Kaum hatte unser Trupp einige Kilometer im flotten Trab zurückgelegt, als es zu regnen begann – in den Randgebieten der Thar um diese Jahreszeit keine Seltenheit … Stand doch der indische Winter, die Regenperiode, dicht vor der Tür, und mit dieser Regenzeit auch das Schreckgespenst Indiens, die Seuchengefahr: Cholera, Beulenpest und Malaria!

Es regnete nicht …

Es goß …Und da ich die Regentropfen von vorn ins Gesicht bekam, schützte der große Schirm meiner leichten, wasserdichten Sportmütze sehr wenig, so daß mein stinkender Gesichtslappen sehr bald triefte und mir übelschmeckende Jauche bis zum Munde herabrann.

Abgesehen von dieser Qual, dauernd … spucken zu müssen, hat auch ein Kamelritt für einen Gefesselten wenig Genußreiches an sich. Man ist nicht imstande, die Stöße des trabenden Tieres durch Körperbewegungen genügend auszugleichen, und die Sitzpolster und das Rückgrat schmerzen in kurzem derart, daß man … alle Engel im Himmel singen hört …

Und … kein Ende dieser Folter!! Ich schätzte, daß wir bereits zwei Stunden unterwegs waren … Noch immer ging’s vorwärts, nur jetzt mehr nördlich scheinbar …

Dann Steinboden …

Schritt …

Die Hufe der Tiere klapperten … Geröll knirschte unter den Hufen … – Noch fünf Minuten etwa …

Plötzlich halt …

Man hebt mich vom Rücken des Tieres …

Bindet mir die Füße …

Trägt mich fort …

Und … legt mich auf harten Boden …

Ein Fußtritt … rolle einen Abhang hinab … Schlage mir das Gesicht an Steinkanten blutig …

Liege still …

Es … gießt …

Es ist Nacht …

Liege still … Horche …

Da – ein Poltern neben mir …

Einer der Gefährten scheint auf dieselbe Weise abwärts befördert worden zu sein …

Ich rufe:

„Harald … du?!“

Ein Fluch … „Nein, Schraut, – Amalgi ist’s …!“

Und wieder ein Poltern …

Nur entfernter …

Nochmals – nochmals …

„Teufel, wo mögen wir sein?“ läßt der Doktor sich wiederum vernehmen …

„Keine Ahnung … Offenbar in einem Felsentale …“

„Ich fühle Grasbüschel, Schraut …“

„Ich auch …“

„Es stinkt hier so merkwürdig …!“ Und Amalgi niest wieder …

„Das ist der Augenlappen, Doktor …“

„Irrtum – das ist … Leichengeruch … Jede Wette gehe ich ein: menschliche Leichen im Zustand vorgeschrittener Verwesung!“

Hm – er mag recht haben …!

Ja – wo sind wir eigentlich …?!

Da – abermals Amalgi:

„Schraut, hier in der Nähe müssen mehrere Tote liegen … Der Regen läßt nach … Der Gestank ist kaum auszuhalten …“

Ich zaudere nicht länger, rolle mich näher an ihn heran.

Wir verständigen uns schnell …

Ich beginne ihm die Knoten der Handfesseln zu lösen …

Mühsame Arbeit: es sind Riemen, nasse Riemen, und die Knoten sehr fest zugezogen.

Einige Fingernägel gehen flöten …

Meine Fingerspitzen schmerzen …

Endlich!!

Amalgi sagt:

„So – nun herunter mit den Lappen!“

Er reißt mir die verd… Stänkerbinde ab … Ich sitze aufrecht … Blicke rundum …

Tiefste Finsternis …

Nicht die Hand vor Augen zu sehen …

Amalgi hockt wie ein Schatten neben mir, müht sich nun mit meinen Lederriemen ab …

Hat weder Messer noch sonst was in den Taschen … Die Tharbanditen haben uns vollkommen ausgeplündert.

Dann habe auch ich die Hände frei …

Wir knoten unsere Fußfesseln auf …

Sehen noch immer nichts …

Kein Sternlein am Himmel …

Ringsum alles wie mit schwarzen Tüchern verhängt …

Nur der Leichengeruch mahnt uns zur Eile …

Leichengeruch bei dieser Treibhausluft: das kann irgendwie böse Folgen haben …!

Da – plötzlich scheint Bewegung in die schwarzen Vorhänge zu kommen …

Aus der Finsternis löst sich eine Gestalt …

„Schraut?“

„Harald – – du?!“

Er bückt sich, meint seltsam gepreßt:

„Dieser John Wiscont hat uns bewiesen, daß in einem Europäerhirn doch noch niederträchtigere Gedanken ausgebrütet werden können als in dem eines Asiaten …“

Amalgi fragt erstaunt:

„Wiscont, – der ist doch …“

„… der lebt und hat uns die Bande auf den Hals geschickt,“ ergänzte Harst. „Beeilt euch, – wir müssen schleunigst von hier fort … Ich fürchte, daß wir hier in einem … Cholerafriedhof eines Dorfes stecken, in einem abgelegenen Felskessel, in den man die Leichen der Verstorbenen …“

Amalgi und ich schnellen hoch …

„Cholera?!“ brüllt der Doktor …

„Ja, – schon in Amber ging doch das Gerücht um, daß in einigen Randdörfern der Thar die Cholera herrsche … Folgt mir jetzt … Drüben stehen Miß Goord und der alte Hubert … Wir müssen ins Freie, raus aus dieser verpesteten Luft, bevor wir noch durch die Nähe der Leichen infiziert werden …“

Ich fühle, daß ich blaß werde …

Gehe wie in furchtbarem Traume hinter Harald drein …

Hinein in die Schrecken der Finsternis …

Bis ich zwei Gestalten dicht vor uns bemerke …

Miß Goord sagt beruhigend:

„Ich habe in Jaisulmir zwei Choleraepidemien mitgemacht … Es ist nicht so schlimm … Wenn wir nur erst im Freien sind, zeige ich Ihnen ein einfaches Mittel, jede Ansteckungsgefahr abzuwenden …“

Ins Freie!!

Gut gesagt – bei dieser Finsternis!!

Aber Harst spielt den Führer, findet den Abhang, den wir hinabgerollt wurden, und prüft die Möglichkeit, kletternd nach oben zu gelangen.

Das Gestein ist zu glatt …

So steigen wir denn einer auf die Schultern des anderen … Harald bildet die unterste Stufe der menschlichen Leiter, dann ich, Amalgi, Hubert und zu oberst Miß Goord …

Sie ruft frohlockend:

„Ich kann mich emporschwingen …! Hier ist am Rande ein überhängender Strauch …!“

Wir atmen erleichtert auf …

Wenn nur erst einer von uns oben ist, können wir unsere Jacken zusammenknoten … Dann ist’s ein leichtes, dieses Choleratal zu verlassen … –

Doch – zu früh gefreut …

Eine rauhe Stimme droht …

Ein Schuß knallt …

Und die Engländerin gleitet hastig an unseren Leibern wieder zu Boden …

Wir fünf stehen wieder nebeneinander …

Stumm … verzweifelt …

Wir werden bewacht …

Wir sollen hier … krepieren, hier in dieser Pestluft …

Stumm stehen wir …

Bis Harald flüstert:

„Der Wind ist auch hier zu spüren … Wir müssen dorthin, wo der Leichengeruch durch den Luftzug davongetragen wird …“

Und er tappt voran …

An der Felswand entlang …

Der Gestank wird schwächer …

Verschwindet …

Wir hocken nebeneinander auf Steinen … Es regnet sacht … Hocken so noch eine Stunde etwa … Dann zeigt sich im Osten am Himmel ein fahler Schein …

Der Morgen bricht an … Das Tageslicht wächst …

Wir erkennen, was um uns her ist …

Ein steiles, kleines Tal … Mehr eine Schlucht …

Und … in diesem Felsloche überall dicht an den Wänden Tote: Männer, Frauen, Kinder! Vielleicht dreißig! Ich habe sie nicht gezählt … Ich folgte Haralds Mahnung, diesem grauenvollen Bilde den Rücken zuzukehren …

Aber kaum fünf Schritt links von uns drei Leichen … Rechts gar sechs auf einem Haufen …!!

Wir sitzen und stieren das Gestein an …

In unseren Hirnen ist eine Leere wie Todesahnen …

Und – – am Rande des Kessels oben zwei Kerle mit Flinten – zerlumpte Kerle: die Wächter!!

Grinsen Hohn …

Grinsen – – rufen uns Schmähungen zu …

Der in jedem Inder versteckt lebende Haß gegen die Europäer findet hier Worte gemeinster Bedeutung …

Wir fünf sitzen … stieren die Felswand an … Der Wind schläft ein … Der Gestank wird wieder lebendig …

Übelkeit würgt mir in der Kehle …

Da – – bückt Honoria Goord sich …

 

3. Kapitel.

Einer von den Eingeweihten.

Bückt sich zu der knorrigen Staude mit den kleinen, gelben Blüten hinab, die da in einer Spalte am Fuße der Steinwand Wurzel geschlagen hat.

Bückt sich …

Reißt die Staude vorsichtig heraus – mit der Wurzel …

Es ist jetzt ganz hell geworden, wenn auch der Regen alles ringsum noch mit seinen Schleiern überzieht …

Sagt Doktor Georg Amalgi da, der Indien vielleicht besser kennt als Harald und ich:

„Ah – eine Kumussa!! Sie wissen also auch Bescheid.“

Die Goord nickt und bricht die lange, fingerdicke Wurzel in fünf etwa gleich große Stücke …

Meint: „Abbeißen, gut zerkauen und im Munde behalten …!“

Für viele Worte ist Honoria nicht zu haben.

Wir auch nicht …

Nur der alte Hubert Enoch fragt:

„Und das hilft gegen die Cholera?“

„Gegen die Ansteckung … Schmecken Sie nur!“

Schmecken …!!

Nun – daß die Cholerabazillen vor dem Geschmack dieser Kumussa streiken, ist kein Wunder …

Bittersalz, vermischt mit Petroleum und Karbol mundet fraglos besser!

Aber wenn man rechts und links neben sich entstellte Tote liegen hat, wenn die Nase rebellisch wird über so starkem Leichengeruch, dann – dann ist Kumussawurzel eine Wohltat, dann ist man froh, daß sie ebenso intensiv riecht wie schmeckt …

Ich zerkaue ein Stückchen meines Wurzelendes und schiebe die Fasern als Priem in die Backe … Den Rest der Wurzel stecke ich in die Westentasche.

Die braunen Schurken von Wächter haben nicht beachtet, was wir tun … Sie stehen jetzt beieinander und rauchen …

Sagt Harald nun: „Einer von uns muß mit der Komödie beginnen …“

Amalgi fragt: „Komödie?“

Ich weiß, was Harst im Sinne hat … Antworte:

„Ja – – mit dem Sterben!“

Die andern begreifen …

„Nur so werden wir die Wächter los,“ erklärt Harald. „Ich werde also zuerst … erkranken … Euch anderen wird es dann leichter werden, die Schufte zu täuschen …“ –

Leider kann ich hier nicht im einzelnen schildern, wie Harst uns das schwierige Kunststück vormachte, Cholera zu simulieren …

Jedenfalls: er tat’s so schlau und geschickt, daß die beiden Kerle uns höhnend allerlei Liebevolles zubrüllten …

Er entfernte sich taumelnd, sank zu Boden, … ich wollte ihm beispringen, er winkte ab …

Und – nachmittags gegen fünf Uhr, dem Stande der Sonne nach zu urteilen, erlag als letzte auch Miß Goord der furchtbaren Seuche, die ja in so mannigfacher Weise ihre Opfer mordet – oft in wenigen Stunden, oft sogar in einer einzigen!

Was wir fünf, die wir nun zusammengekrümmt regungslos dalagen, erhofft hatten, geschah auch wirklich: die beiden zerlumpten Ratschputen verschwanden, nachdem sie uns noch mit Steinwürfen von oben bedacht hatten, die zum Glück nicht trafen …

Still lagen wir …

Ganz still … Im Regen … Es regnete noch immer …

Wenn ich vorsichtig zur Seite lugte, schaute ich gerade einer wirklichen Toten in das entsetzlich entstellte Gesicht.

Sah auch die Schwärme von Aasgeiern und Tharkrähen über dem Felsenkessel kreisen …

Wunderte mich, daß die beiden Ratschputen nicht noch gewartet hatten, bis die Aasfresser sich zu eklem Mahle vollends hier niedergelassen hatten … Wäre doch der beste Beweis gewesen, daß wir tatsächlich tot …

Die Vögel kreisten weiter …

Ihr Instinkt verriet ihnen, daß fünf von den stillen Gestalten doch noch atmeten … –

Harald warnte mit halblauter Stimme von neuem:

„Keiner rühre sich …! – Dort naht eine schwarze Wolke …“

Die Wolke spendete Sintflut, Dunkelheit …

Harst erhob sich …

Im Nu waren wir an der Ostwand …

Im Nu die menschliche Leiter fertig …

Im Nu die Jacken zusammengeknotet …

Und als letzten hißten wir Harald empor, unseren Retter.

„Kumussa!!“ befahl oben am Schluchtrande die Goord.

Wir kauten, schluckten, spien, husteten …

Es goß in Strömen …

Aus der Regenfinsternis kam das Krächzen der eklen Vögel …

Aus der Tiefe des Leichentales drang das Kreischen und gierige Fauchen der Aasgeier empor, die bereits unsere Abwesenheit gewittert und sich zum Kampfe gegeneinander gerüstet hatten …

Wir fünf, ohne Waffen, ohne Lebensmittel, ohne jede Ortskenntnis, hatten nur eine Hoffnung: Harst!

Keiner sprach ein Wort …

Zusammengeduckt standen wir da, ließen die Fluten des Himmels an uns herabrieseln, und warteten, was der eine tun würde, der noch immer selbst aus der verzweifeltsten Lage einen Ausweg gefunden hatte …

„Suchen wir das Dorf,“ sagte Harald dann … „Wir müssen die Gefahr der Ansteckung nochmals auf uns nehmen … Wir brauchen Reittiere, Waffen … – Jeder möge einen Rest der Kumussawurzel für später aufheben …“

Die schwarze, schwere Regenwolke war vorübergezogen.

Im Lichte des scheidenden Tages schritten wir im Gänsemarsch dahin … Harald voran … Ich hinter ihm, dann Miß Goord, Hubert, und zum Schluß Amalgi.

Harald schlug ein sehr lebhaftes Tempo an. Ich wunderte mich, daß er in dieser Steinwildnis von Hügeln, Schluchten und Abgründen so zuversichtlich nach Norden sich wandte …

Bis der Abendwind auch an meine weniger scharfen Ohren die kennzeichnenden Laute großer, weidender Herden trug, – bis gleich darauf eine endlose Hochebene im rötlichen, dunstigen Abendhimmel vor uns sich ausbreitete …

Rinderherden, Schafherden und Trupps von Kamelen punktierten die mit spärlichem Grase bestandene Savanne und bewiesen die Nähe einer größeren menschlichen Niederlassung.

Harald machte halt – hinter einer jener Steinmauern, wie sie von den Tharhirten zum Schutz gegen den gefürchteten Buwalu, eine Art Sandsturm, errichtet werden.

„Dort links liegt das Dorf,“ meinte er und hob den Arm … „Wir müssen bis zur Dunkelheit warten, da wir stehlen werden, was wir brauchen … Meiner Schätzung nach muß dieses ausgedehnte Dorf bereits im Gebiet des Fürstentumes Jaisulmir liegen, und wir haben daher alle Ursache, vorsichtig zu sein, zumal ja bekannt ist, daß die Rani Arowa von ihren Untertanen sehr verehrt wurde, und weil diese Rani meines Erachtens noch lebt …“

„Lebt?!“ meinte Miß Goord zweifelnd …

Amalgi antwortete an Stelle Haralds:

„Ich habe dies ebenfalls vermutet … Harst hat das Grab leer gefunden, und …“

„… dazu Spuren, die mir bewiesen, daß die Rani nur von einer Art Starrkrampf befallen war, als wir sie begruben …“

Amalgi räusperte sich … „Hm – ich spreche über diese Dinge sehr ungern, lieber Harst,“ sagte er sichtlich zögernd … „Aber in diesem Falle muß ich wohl ein Thema berühren, das ich stets vermeide: die sogenannten altindischen Geheimwissenschaften! Ich habe Ihnen anvertraut, daß ich hier in Indien mich gerade mit …“

Harald unterbrach ihn höflich … „Ich weiß, wo Sie hinauswollen, Amalgi … Sie wollen uns klarmachen, daß es sich nicht um einen Starrkrampf, sondern um jene seltene Kunst – wenn man diesen Ausdruck hier anwenden darf – handelte, die Funktionen des Leibes lediglich durch eigenen Willen und durch ein Übermaß von Energie auszuschalten. Sie glauben, daß die Rani zu den wenigen Auserwählten gehörte, die von den Gütern der tiefsten drawidischen Geheimnisse, den Yogis aus der Samur-Kaste, mit diesen für menschliches Denken fast unbegreiflichen Fähigkeiten vertraut gemacht wurde … Sie heuchelte nur den ungeheuren Schreck, heuchelte nur ein jähes Ende durch Herzlähmung, weil sie sich eben verloren sah, – wandte das einfachste und doch auch schwierigste Mittel an, uns zu entgehen: den künstlichen Scheintod!“

„So ist’s!“ bestätigte Amalgi mit sonderbar geistesabwesend klingender Stimme. „Es gibt so sehr wenige vollends Eingeweihte – sehr wenige …! Daß die Rani mit dazu gehörte, hätte ich nie geglaubt, da Frauen bisher niemals von den Samur-Yogis für würdig befunden wurden, jene uralten Überlieferungen kennen zu lernen, die …“

„… die Sie, Amalgi, beherrschen …,“ vollendete Harald mit sichtlicher Spannung, wie der Doktor diese Behauptung hinnehmen würde.

Doktor Georg Amalgis schmales, geistvolles Gesicht war dorthin gerichtet, wo soeben die ersten Sterne am Abendhimmel sichtbar geworden …

Seine Antwort klang noch eigentümlicher, noch geistesabwesender …

„Ich leugne es nicht, lieber Harst, daß ich mit zu den Wissenden gehöre … Doch – wie gesagt: es ist dies ein Thema, das ich ungern anschneide, denn ich habe Verschwiegenheit gelobt … – Hätte ich auch nur im entferntesten damals vermuten können, daß die Rani … eine von den sehr wenigen ist, dann … würde sie uns nicht so schlau entschlüpft sein, obwohl …“

Er beendete den Satz nicht, senkte den Kopf und starrte vor sich hin …

Wir anderen vier, die wir um ihn herumstanden, spürten in diesem Moment wohl alle dasselbe: das unsichtbare Wehen dunkler, unbegreiflicher Mächte, denen einer von uns gebieten konnte: Amalgi!

Eine Weile Stille …

Die Metallglocken der drüben weidenden Dromedare klangen hell und fein bis zu uns herüber …

Ein melodisches Geläute, – in keiner Weise aber zu vergleichen mit dem von Dichtern so oft besungenen Klingen der Almglocken – – in keiner Weise!

Die Glöckchen der Dromedare sind kleiner, geben zartere Töne … Wirken nachts ein wenig spukhaft …

Und die Nacht war bereits da …

Eine Nacht der Wunder …

Tropischer Wunder …

Der Regen hatte aufgehört … Im Westen versank die Sonne fahlgelb … Wie ein Mond fast – – kraftlos, aller Leuchtstärke beraubt … Nur einige ihrer Strahlen schossen noch über die schwarze Wolkenbank hinweg, die uns vorhin den rettenden Regenguß gebracht …

Und über der Hochebene lag ein gelblicher Schimmer, kämpfte mit der heranziehenden Dunkelheit und gab dem Landschaftsbilde etwas Unwirkliches, Phantastisches … – Ich dachte unwillkürlich an das Gemälde eines Künstlers von der Art Böcklins[5]

Spukhaft dieses Bild, spukhaft die Töne …

Spukhaft dieser überschlanke Amalgi, dessen Antlitz jedem Menschenkenner verriet, daß hier ein Mann Gewalt über den sterblichen Leib gewonnen durch künstlich gesteigerte Willenskraft, durch den alles beherrschenden Intellekt … –

Eine Weile Stille …

Und ich – ich hätte all diese Dinge auf den letzten anderthalb Seiten hier nicht berührt, wenn ich nicht in den folgenden Bänden noch weiterhin mit Amalgi zu beschäftigen haben würde – mit ihm als Hauptperson, mit seinem geheimnisvollen Tode und seinem noch geheimnisvolleren Vermächtnis … – Davon später also! Immerhin sind meine Leser und Freunde jetzt ein wenig vorbereitet und werden sich einiges von dem Inhalt dieser hier soeben wiedergegebenen Äußerungen Amalgis fraglos merken … –

Stille … Und um uns das Wehen einer anderen Welt …

Bis Miß Goord plötzlich erklärte:

„Meine Augen haben sich jetzt an diese schwache Beleuchtung gewöhnt … Ich erkenne dieses Hochplateau wieder … Es liegt keine drei Meilen von Jaisulmir entfernt, Herr Harst … Ich habe ja lange genug in der kleinen Residenz gelebt, um deren weitere Umgebung auf meinen Jagdzügen durchstreifen zu können …“

Harald nickte nur … „Dachte ich mir, diese Nähe …! Dachte mir’s genau so wie den Zusammenhang zwischen John Wiscont und der noch lebenden Rani … Der Thar-Trapper hatte seine Geschichte von der Räuberbande nur erfunden … Er handelte im Auftrage der Fürstin, wird ihr nun gemeldet haben, daß wir fünf für alle Zeit stumm gemacht sind … – Wenn Sie hier Bescheid wissen, Miß Goord, so könnten Sie uns vielleicht auch nach einem kleineren Dorf in der Nähe führen, wo wir ebenfalls das uns aneignen können, was wir so unbedingt brauchen …“

Honoria Goord überlegte …

„… Ein kleineres Dorf … Womöglich ohne Choleragefahr … Ja … Da gibt es eine Stunde vom Nordufer des Salzsees entfernt in den Bergen, die den See einrahmen, eine kleine Niederlassung von Afghanen …“

Harald war genau so überrascht wie wir …

„Afghanen, Miß?! – Wie kommen denn Afghanen hier in die Thar?“

„Sie kamen nicht freiwillig her … England hat sich lange genug mit den wilden Bergvölkern der Grenzgebiete Afghanistans herumgeschlagen. Kriegsgefangene wurden dort in dem öden Tale angesiedelt, so um 1850 herum … Diese Afghanen haben sich völlig rein erhalten, und ihr Dorf zählt heute etwa fünfhundert Einwohner, untersteht auch nicht der Oberhoheit der Fürsten von Jaisulmir, sondern lediglich dem englischen Gouverneur in Bikaner. Diese Afghanen[6] werden uns freiwillig mit allem versorgen, denn sie verachten und hassen die Ratschputen, die Inder … – Gut – – brechen wir auf … Wir müssen uns nach Südost wenden … In drei Stunden können wir das Dorf erreicht haben.“

 

4. Kapitel.

Der Steinwall.

Honoria Goord wartete Haralds Entscheidung gar nicht weiter ab, sondern wollte schon hinter dem Steinwalle hervortreten, um den Nachtmarsch als Führerin zu beginnen.

Harst hielt sie zurück … „Einen Augenblick noch … – Wir müssen uns unbedingt etwas Eßbares verschaffen … Ich werde hinüber zu der ersten der Schafherden schleichen und ein Lamm zu erbeuten suchen … Vielleicht gelingt es mir auch, einem der Hirten sein Luntenfeuerzeug abzunehmen, damit wir den Braten auch rösten können … – Schraut mag mich begleiten … Sie drei bleiben hier … Und, Schraut und mir kann kaum etwas zustoßen. Immerhin wollen wir für alle Fälle uns dahin einigen, daß, falls wir beide etwa erwischt werden, wir uns in dem Afghanendorfe später treffen … Auf Wiedersehen also …“

Honoria Goord rief uns noch leise nach: „Seien Sie vorsichtig! All diese Hirten hier sind gut bewaffnet, der Tharwölfe wegen …“

Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden … Die trübe Sonne war verschwunden … Auf der Hochebene leuchteten überall rote Pünktchen: Hirtenfeuer!

Der vorhin zum Teil wolkenlose Himmel war wieder leicht bedeckt … Es rieselte sacht aus dünnem Gewölk – ein lauer Regen, der im Verein mit der Tropenwärme die Gräser in kurzem zu doppelter Höhe emportreiben würde … Wie stets zu Anfang der Regenzeit …

Wir brauchten uns nicht sonderlich in acht zu nehmen, um nicht unversehens auf einen Hirten zu stoßen, denn das Kläffen der die Herden umkreisenden Hunde verriet uns genau, wo einer der Hirten die ihm anvertrauten Tiere für die Nacht enger zueinander scheuchte. Immerhin ließen wir uns auch zu keinerlei Unvorsichtigkeit verleiten, da gerade die Tharhunde außerordentlich wachsam sind und eine tadellose Nase besitzen.

Harald befahl mir dann, hinter einem Steinhaufen zurückzubleiben, nachdem er sich aus dem Felsgeröll ein langes scharfkantiges Stück ausgesucht hatte …

Kam mir sehr bald aus den Augen …

Erschien auch sehr bald wieder … schleifte ein frisch getötetes Lamm hinter sich her und … verwischte dadurch gleichzeitig seine Spuren.

Tief gebückt hasteten wir nun der fernen Steinmauer wieder zu …

Den Gedanken, auch ein Luntenfeuerzeug zu beschaffen, hatte Harald aufgegeben …

„Wäre zu gefährlich gewesen,“ meinte er nur … –

Ich räume ohne weiteres ein, daß ich die Steinmauer niemals gefunden haben würde …

Harald blieb plötzlich stehen, raunte mir zu:

„Dort links ist die Mauer … Wir müssen jetzt kriechen … Das Lamm lassen wir hier liegen … Ich finde es schon nachher …“

„Wozu das?! Kriechen?!“ meinte ich ein wenig verdutzt …

„Weil … es nötig ist …“

Und – er ließ sich auf die Knie nieder … Machte einen großen Bogen nach Osten, so daß wir von Süden auf die Stelle zukamen, wo die Gefährten uns erwarteten …

Kein Vergnügen, bei Nacht und Regen zwanzig Minuten auf allen Vieren über Steine, Disteln, scharfe Gräser und … Herdenkot zu krauchen …

Erschien mir sehr überflüssig, diese Kriechtour …

Fluchte zuweilen in meinen Bart hinein …

Bis ein fester Handgriff Haralds mich platt auf den Boden preßte …

„Da sind sie!“ raunte er mir zu …

Und – – da sah auch ich vor mir über dem schwarzen Strich der Steinmauer zwei Flintenläufe hinausragen … Hoben sich gegen den helleren Himmel ziemlich scharf ab, diese beiden Flinten …

Ein Licht ging mir auf …! Nichts war überflüssig gewesen …!! Harald mußte irgendwie gemerkt haben, daß unsere drei Gefährten inzwischen von den Banditen dieses elenden Thar-Trappers wieder überrumpelt worden waren – irgendwie!

Die beiden Flintenläufe bewegten sich zuweilen … Dann aber verschob sich das Gewölk am Himmel, und die hellere Fläche des Firmaments, die bisher über der Steinmauer sich ausgebreitet hatte, verschwand, gleichzeitig auch die stummen Zeugen der Gegenwart zweier Feinde.

Ich hatte in den letzten Minuten meine Aufmerksamkeit nur auf die Mauer und den helleren Streifen des Firmaments konzentriert …

Vielleicht zu sehr … Denn mir war infolgedessen vollständig entgangen, daß Harald von meiner Seite sich lautlos entfernt hatte …

Meine vorsichtig geflüsterte Frage, ob wir die beiden Flintenbesitzer nicht sofort hinterrücks überfallen und niederschlagen sollten, blieb unbeantwortet.

Harald war nicht mehr da …

Und die Mauer etwa fünfzehn Schritt vor mir – jetzt nur noch ein schwarzer Streifen ohne jede erkennbaren Einzelheiten.

Bevor ich dann noch zu einem Entschluß kommen konnte, was ich unternehmen sollte (denn untätiges Abwarten erschien mir durchaus angebracht), vernahm ich aus der Richtung des schwarzen Streifens ein paar unklare Geräusche, von denen ich nur eins seiner Natur nach erkannte: es war das kurze, laute Röcheln eines Menschen, dem ganz überraschend die Kehle zugepreßt wird!

Gleich darauf eine halblaute Stimme:

„Schraut – – hierher!“

Und drüben blinkte ein Flämmchen auf …

Flackerte – erlosch …

Fraglos ein Benzinfeuerzeug – – fraglos!!

Ich war mit ein paar langen Sätzen drüben …

Prallte zurück …

War jemandem auf die Füße getreten …

„Das war mein bestes Hühnerauge,“ hörte ich den alten Hubert Enoch sagen, der zuweilen einen ganz netten Humor entwickelte …

Und dann Doktor Amalgis weicheres Organ:

„Ich habe den Kerl schon gefesselt, lieber Harst … – Miß Goord, lassen Sie Ihr Licht doch bitte nochmals aufleuchten! Ich muß mir die Gesichter der Schufte ansehen! Wenn’s wirklich unsere Wächter von der Choleragrube sind, sollen die Burschen …“

Schwieg …

Das Benzinflämmchen flackerte …

Reichte gerade hin, die nächste Umgebung bescheiden zu bestrahlen …

Ich sah die Gefährten … Sah am Boden die beiden bewußtlosen Ratschputen – Haralds Werk!

„Es sind die Halunken!“ rief Amalgi da … „Harst, ich …“

„Sie werden sich an den Leuten nicht vergreifen,“ fiel ihm Harald sehr scharf ins Wort …

Amalgi, der über die Gefangenen gebeugt dastand, richtete sich wieder auf …

„Zu spät,“ meinte er gleichmütig … „Durchsuchen wir ihre Lumpen, nehmen wir ihnen die Waffen ab und dann …“

Das Flämmchen erlosch wieder …

Finsternis …

Ganz sacht herabrieselnder Regen …

Und … Haralds unsichere Frage:

„Weshalb zu spät, Doktor?“

„Weil die beiden bereits tot sind, lieber Harst … Wenn Sie wollen: von mir ermordet, obwohl man in diesem Falle nicht gut von Mord sprechen kann … Auge um Auge, Zahn um Zahn, – das ist nun einmal das ungeschriebene Gesetz der Wildnis, und wenn ich dieses Gesetz hier auf eine Weise erfüllt habe, die weder Kugel, noch Dolch noch Strang oder dergleichen braucht, so ist das … meine Sache, die … vorläufig mein bleibt …“

Und das Letzte sprach er in jener uns schon bekannten energischen Art, die selbst von Haralds Seite keinen Widerspruch duldete …

Unwillkürlich dachte ich da an unser erstes Erlebnis mit Amalgi – an seinen Spiegelapparat, an diese unheilvolle und geheimnisvolle Waffe. Und doch konnte er dieses Instrument, seine ureigenste Erfindung, hier nicht benutzt haben, denn jener Apparat tötete nicht, sondern versetzte lediglich in einen starrkrampfähnlichen Zustand, war außerdem auch zu umfangreich, um unauffällig am Leibe verborgen zu werden. Mithin mußte Amalgi eine weit kleinere und[7] noch schrecklichere Waffe bei sich führen, von deren Existenz wir noch nichts wußten und die auch den räuberischen Händen unserer Feinde entgangen war, als sie uns nach der Gefangennahme ausgeplündert hatten. –

Harald äußerte sich zu dem Tode der beiden Ratschputen nicht weiter, sondern meinte nur, daß wir nunmehr ohne Zögern den Marsch nach dem Dorfe der Afghanen am Salzsee antreten könnten … „Einige Waffen, Feuerzeuge und Lebensmittel haben wir … Und die Reittiere der beiden werden wir auch noch finden …“

Wir fanden sie … Keine dreihundert Meter nach Süden zu in einer Schlucht. Honoria Goord und der alte Hubert mußten die Tiere besteigen. Auch das Lamm war geholt worden. So ging’s denn nun südwärts unter Führung der Engländerin, die trotz der Dunkelheit mit verblüffender Sicherheit ihren Weg nahm …

 

5. Kapitel.

Im Afghanendorf.

Der Große Salzsee der Thar-Wüste liegt etwa 360 Meter über dem Meeresspiegel, und die ihn umgebenden Anhöhen und Berge bilden für den Geologen eins der interessantesten Gebiete des weiten indischen Reiches. Leider aber sind diese meist kahlen Höhenzüge außerordentlich schwer zu durchqueren, weil die Täler und Schluchten überaus schroffe Wände haben und das Gelände jeden Reisenden zu großen Umwegen zwingt.

Nach vierstündigem beschwerlichem Marsche und einer Ruhepause von einer halben Stunde, langten wir im Morgengrauen am Nordrande des weiten Tales an, in dessen Mitte zwischen Feldern und vereinzelten Baum- und Gebüschgruppen die Niederlassung der ehemaligen Kriegsgefangenen sich befinden sollte …

Sollte, – – denn dichte Regennebel lagerten wie tief ziehende Wolken auf der Talsohle und machten es uns unmöglich, auch nur das geringste von Hütten, Menschen oder sonstigen Anzeichen eines Dorfes zu entdecken. Lediglich ein paar Hunde hörten wir kläffen …

Vorsichtig kletterten wir die Tallehne hinab … Ebenso vorsichtig schlichen wir dann weiter, nachdem wir den alten Hubert mit den beiden Dromedaren an geschützter Stelle zurückgelassen hatten.

Harst schritt jetzt voran …

Das Jaulen, Heulen und Bellen der Köter war verstummt …

Durch dicksten Nebel, durch eine fast unheimliche Totenstille bewegten wir uns langsam vorwärts … Allmählich beschlich mich das unklare Gefühl einer unsichtbaren, großen Gefahr. Auch Harald schien immer wieder zu zögern, blieb stehen, horchte und setzte den düsteren Weg dann noch bedächtiger fort …

Dunkle, schwarze Massen tauchten vor uns auf – waren nur harmloses Buschwerk, dessen nebelfeuchte Blätter wie kalte nasse Finger über unsere Gesichter glitten …

Dann hemmte uns ein Zaun aus in die Erde gebohrten Dornenästen … – nur ein eingehegtes Hirsefeld … Wir bogen nach rechts ab, und nach weiteren hundert Schritten blieben wir vier wie auf einen unhörbaren Befehl mit angehaltenem Atem stehen …

Wir vernahmen ein Gemurmel von Stimmen, dann eine einzelne lautere Stimme …

Die einer Frau – unverkennbar …

Unverkennbar die Stimme der totgeglaubten Fürstin Gadwura Arowa von Jaisulmir …

Harald, dicht neben mir, wandte den Kopf zu Miß Goord und Amalgi zurück …

„Warten Sie beide hier!“ flüsterte er …

Die Goord trat näher …

„Es ist das Beratungshaus des Dorfes,“ erklärte sie ganz leise … „Wir sind bereits mitten im Dorfe – auf dem freien Platz inmitten der Steinhütten der Afghanen … – Lassen Sie uns besser umkehren, Herr Harst, denn die Rani scheint hier Anhang zu werben, und …“

Die Stimme der Fürstin, scheinbar aus dem Nebel aus einiger Entfernung hervordringend, übertönte jetzt der Engländerin gedämpftes Raunen … Und die Rani bediente sich der englischen Sprache – wohl deshalb, weil die Afghanen das Ratschpu, die Mundart der Thar, nicht genügend beherrschten …

„… Ich will euch in eure Heimat zurückgeleiten,“ rief die entthronte Herrscherin von Jaisulmir jetzt mit allem Nachdruck … „Ihr sollt eure Heimat wiedersehen, und Schätze will ich euch mitgeben, die euch für alle Zeit reich machen …! Seht her …!! Gold – – reines Gold, – – reinste Stücke Goldes …!! Seht – all dies soll euer bereits jetzt sein, und zehnmal so viel sollt ihr noch erhalten, wenn eure waffenfähigen Männer mich begleiten wollen! Ihr wißt, daß die Fremden, die oft in ganzen Trupps aus Neugier den heiligen Salzsee besuchen, jetzt der Cholera wegen sich nicht werden blicken lassen, und daß selbst die Eisenbahn, die am Salzsee vorüberführt, seit fünf Tagen nicht mehr verkehrt … Nur noch der ständige Posten des Kamelreiterkorps liegt in den Baracken am Nordwestufer – nur zwanzig Mann! Helft mir, diese gefangen zu nehmen, und eure Aufgabe ist erfüllt …!“

Sie schwieg …

Abermals erhob sich das dumpfe Gemurmel zahlreicher Stimmen …

Und über uns vieren, die wir hier im wallenden Nebel standen, wurde es heller und heller …

Wie lange noch, und die grauen, feuchten Schleier würden zerflattern …

Was dann, – – was dann, wenn wir entdeckt wurden?!

Vor mir erblickte ich die verschwommenen Umrisse von Haralds Gestalt …

Neben mir Miß Goord und Amalgi …

Harald flüsterte: „Meine ausgestreckte Hand berührt die Mauer des Beratungshauses … Und hier – – eine Öffnung …!!“ – Mit einem Male schien seine Gestalt zu zerfließen …

Ballte sich wieder zusammen …

Er war dichter an die Öffnung herangetreten gewesen, raunte nun von neuem:

„Ein Fensterloch, das mit einem Fell verhängt ist … – Ah … da spricht einer der Afghanen …“

Eine alte, tiefe, brüchige Stimme sprach …

Warnte davor, der Rani Gefolgschaft zu leisten …

„… Kehre zurück, woher du gekommen, Fürstin! Du bist eine Landflüchtige, wirst gesucht … Noch immer haben die Engländer, die Allah verdammen möge, ihre Spione über dein einstiges Reich verteilt … Verlockt nicht unsere Männer durch den Glanz des Goldes! Versprich nicht Dinge, die du nicht halten kannst! Bis zu unserer Bergheimat ist’s endlos weit! Mancher von uns entfloh von hier und … kehrte siech und krank zurück – mancher, auch ich! Geh, Fürstin, – du hast zwölf Stunden mit deinen Leuten unsere Gastfreundschaft genossen! Damit ist’s genug! Nimm deine Leute mit fort, deine Getreuen! Ihr seid mehr denn zwanzig, und ihr werdet mit den Soldaten des Vizekönigs fertig werden!“

Wieder Schweigen … Gemurmel …

Wir vier hatten uns dichter an das Fenster herangewagt …

Schweigen … Gemurmel …

Dann der Rani durchdringende Stimme …

„Feiglinge seid ihr Alten hier, Feiglinge, denen die Sehnsucht nach den heimatlichen Bergen längst verdorrt ist! Ich, die Rani von Jaisulmir, schwöre bei Schiwas heiligem Antlitz: Ich selbst werde euch führen – ich selbst! Ich begleite euch! Denkt daran, daß ihr gegen hundertfünfzig waffenfähige Männer seid, daß ich euch Gewehre beschaffen will, die …“

Gewehre … Sie meinte natürlich moderne Repetierbüchsen …

Das schoß mir so durch den Kopf, bevor eine Faust mich packte und zur Seite riß …

Ich flog wie ein lebender Sandsack gegen ein paar bisher unsichtbare Kerle …

Die Kerle taumelten …

Die Faust riß mich weiter … Schleifte mich … Hinein in die schützenden Nebelmassen – hinein in ein Feld mit hohen, rauschenden Pflanzen …

Hinter mir schnell wieder verstummender Lärm eines kurzen Handgemenges …

Die Faust gab mich frei …

Harald flüsterte:

„Rasch – mir nach! Zurück zum alten Hubert … In wenigen Minuten haben wir die Meute hinter uns …“

Wie wir uns damals durch das Feld hindurchgearbeitet, wie wir damals die Stelle gefunden haben, wo … Hubert Enoch mit den beiden Dromedaren zurückgeblieben war, – wie wir drei dann glücklich aus dem Tale hinaus in die Bergwildnis gelangten – ohne die Reittiere, die uns hier nur behindert hätten, – wie die Hunde des Afghanendorfes, Hunde von der hochbeinigen, schlanken Tharrasse, mit Gebissen schlimmer als Wölfe, unsere Fährte dank Haralds Umsicht verloren und wir nach einer Stunde völlig erschöpft in einer Schlucht mitten im Dornendickicht halbtot niedersanken, – all das lebt in meiner Erinnerung nur in ganz schwachen, verwischten Bildern fort, etwa wie ein Traum, auf den man sich am Morgen nur bruchstückweise besinnt …

In einer Schlucht – – umgeben von Dornen – – da lagen wir drei … schwitzend, keuchend – – dem sicheren Tode entronnen, denn daß unsere Verfolger uns nicht geschont hätten, daß auch die Afghanen uns Fremdlinge für alle Zeit hätten verschwinden lassen, war uns vollkommen klar …

Unsere Lungen beruhigten sich wieder … Selbst der alte Hubert erholte sich allmählich …

Wir waren vorläufig geborgen …

Vorläufig …! Und wir hatten zwei Büchsen, einen Revolver, ein Messer und ein Feuerzeug zur Verfügung …

„Nun heißt es, die Miß und Amalgi wieder heraushauen!“ meinte Harald, und entnahm der Dromedar-Satteltasche, die er bis hierher mitgeschleppt hatte, eine Schachtel Zigaretten, Fabrikmarke Amber … – Die Zigaretten waren Pestnudeln … Wir rauchten trotzdem … In der Not frißt der Teufel Fliegen … Und der Rauchhunger des menschlichen Gaumens hat im Weltkriege sogar ganze uralte Seegrasmatratzen vertilgt …

Wir rauchten …

 

 

Auf dem See des Schweigens

 

1. Kapitel.

Die Kamelreiterstation.

Es war längst heller Tag geworden …

Aber hier in dieser engen Schlucht – mehr Felsspalte als Schlucht – herrschte trotzdem ein unsicheres Halbdunkel, da beide Schluchtränder mit jenen merkwürdigen, zumeist nur in den gebirgigen Gegenden der Thar vorkommenden Randosio-Büschen dicht bestanden waren, deren Luftwurzeln gleichfalls große Seitenäste mit fahlem Blattschmuck besitzen. Und diese Wurzeln hatten sich allmählich von beiden Seiten her vereinigt und so die Schlucht gleichsam mit einem Dache überspannt, das den Sonnenstrahlen jeden Zutritt verwehrte …

Wir hockten also in einer winzigen Lichtung des Dornengestrüpps eng nebeneinander. Seit mehr als einer Stunde hatten wir von den Verfolgern nichts mehr bemerkt. Harald erklärte jetzt nochmals, daß er durchaus nicht etwa fürchte, die Hunde der Afghanen könnten vielleicht unsere Fährte wiederfinden …

„Davor sind wir sicher …,“ fügte er sinnend hinzu. „Denn der bescheidene Trick, in dem Wäldchen ein Stück Weges in den Baumkronen zurückzulegen und vom letzten Baume auf die den Hunden unerreichbare Felsterrasse zu springen, hat uns die Meute vom Halse geschafft … Nur … nur das Heranschleichen an das Dorf wird uns eine böse Nuß zu knacken geben …“ Er versuchte, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, um unsere Laune ein wenig aufzubessern. „Und – lange zögern dürfen wir nicht … Die Rani wird zweifellos die Afghanen für ihre Pläne gewinnen, und sie wird alles daran setzen, auch uns in ihre Gewalt zu bekommen, zumal sie uns bereits tot wähnte und genau weiß, daß wir nicht nur ihre Absichten durchkreuzen, sondern auch mit ihr selbst wenig zart umspringen werden. Mithin müssen wir damit rechnen, daß sie hier in den Bergen überall Posten verteilt, die uns insbesondere den Weg nach dem Salzsee zu und nach der Station der Kamelreiter versperren sollen …“

Ich nickte nur. Meine Gedanken weilten schon seit einiger Zeit lediglich bei der bedeutungsvollen Frage, ob die Rani etwa das Gold, mit dem sie die Afghanen gefügig machen wollte, jener Goldader zu entnehmen gedachte, die nach den übereinstimmenden Aussagen Amalgis und Miß Goords in einer sehr schwer auffindbaren Grotte einer der kleinen Inseln mitten im Salzsee zu suchen war …

Als ich diese meine Gedanken jetzt Harald mitteilte, erwiderte er sofort:

„Die Fürstin kennt die Goldader bestimmt … Der Goldader wegen hat der Vater der Rani unsere Gefährtin Honoria Goord all die Jahre eingekerkert gehalten … – Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Rani möglichst viel von diesem Edelmetall mit sich nach Afghanistan nehmen will – mit Hilfe ihrer gewissenlosen Getreuen, zu denen leider auch der Thar-Trapper John Wiscont gehört, ein Mann, mit dessen Verschlagenheit und Tatkraft wir sehr rechnen müssen. Wiscont war es ja auch, der uns dort im Nebel vor dem Beratungshause entdeckt hat … Seine Gestalt, sein Gesicht tauchten plötzlich vor mir auf, nachdem ich schon vorher das unbestimmte Gefühl gehabt hatte, daß wir eingekreist seien. Ich konnte dich, mein Alter, gerade noch aus dem Ringe der Feinde auf etwas rücksichtslose Art hinausbefördern … Amalgi und die Miß ebenfalls zu retten, war unmöglich. Jeder Versuch hierzu hätte auch uns beide zu Gefangenen gemacht, und unsere Lage wäre verfahrener denn je gewesen … – Doch – genug der Worte …! Brechen wir wieder auf … Vielleicht gelingt es uns gerade jetzt, wo man fraglos noch mit den Hunden uns nachspürt, irgendwie in das Dorf zu gelangen … vielleicht! – Ich werde stets zwanzig Schritt voranschleichen … Ihr beide bleibt zusammen … Werde ich abgefaßt, so entflieht, ohne euch auf einen Kampf einzulassen … Flieht wieder hier in die Schlucht, die ihr unschwer längere Zeit verteidigen könnt …“

Mir behagten diese Befehle recht wenig. Aber Harald widersprechen, – – völlig zwecklos! Er weiß schon, was er tut …

Aufbruch also …

Der alte Hubert und ich nahmen die Ratschputenbüchsen, Harst den Revolver …

Nun hinaus aus der Dämmerung in den hellen, wenn auch regnerischen Tag.

Schweres Gewölk hing in den Tälern … Die Gipfel der Berge waren kaum zu erkennen … Die ganze Natur schien in eine unbestimmte, milchig graue Farbe getaucht zu sein … –

Wenn ich ehrlich sein soll: ich hätte nicht einmal die Richtung gewußt, in der das Afghanendorf zu suchen war, da unsere Flucht uns kreuz und quer durch diese Felswildnis geführt hatte …

Harst zögerte nicht eine Sekunde, wohin er sich zu wenden hatte, nachdem wir erst einmal ein größeres Hochplateau erreicht hatten.

Von der Sonne war nichts zu sehen …

Der warme Regen kam in dünnen, gleichmäßigen Schnüren herab – der richtige Tropenregen …

Auf der Hochebene hier konnte man etwa fünfzig Schritt weit undeutlich das Vorgelände erkennen …

Wir schritten sehr langsam dahin. Sobald Harald stehen blieb, den wir nie aus den Augen verloren, machten auch wir halt und lauschten. Es war, als ob drei gute Jagdhunde ihre feinsten Instinkte aufboten, um von einem gefährlichen Wilde Witterung zu erhalten, – nur daß hier in unserem Falle das „Wild“ unsere Verfolger waren … –

Das Plateau war glücklich überquert …

Jetzt hinab in ein steiniges, breites Tal …

Es kam mir bekannt vor …

Tatsächlich – das war ja das Nachbartal des Afghanendorfes! Da standen ja die drei elenden Palmen, die mir aufgefallen waren, als wir nachts unter Miß Goords Führung dem Dorfe zustrebten! – Wir hatten also vorhin auf der Flucht unbedingt einen Halbkreis ohne unser Wissen beschrieben, und unser Schlupfwinkel, die Dornenschlucht, hatte keine halbe Meile von dem Dorfe entfernt gelegen!

Auch Harald hatte die Palmen bemerkt …

Drehte sich um, winkte mir …

Ich verstand ihn … Auch er war über diese Nähe unseres Zieles sehr überrascht!

Jedenfalls war’s ein Glücksfall, daß wir so schnell bis an den Nordrand des Afghanentales gelangen konnten, und diese Glücksfügung gab mir die Hoffnung, daß auch der schwierigste Teil unseres Unternehmens, die Befreiung der beiden Gefährten, gelingen würde.

Nun kletterte Harst den Abhang hinab … Und dort vor uns in den Nebelschleiern, mußten die Steinhütten des Dorfes liegen, dort würde …

Meine Gedankenreihe zerriß jäh …

Aus dem düsteren Gebräu der Regenschwaden erscholl ein seltsamer Laut …

Kein Schrei – kein Ruf, – – nichts von einer menschlichen Stimme war in dieser Reihe von Tönen, die unvermittelt abbrachen, wieder auflebten und abermals sich scheinbar allmählich in der Ferne verloren …

Wir standen, lauschten …

Bis Harald, der Kundige, leise erklärte:

„Es können nur die beiden Dromedare sein, die wir bei unserer Flucht hier zurückgelassen haben … Dieses merkwürdige keuchende Pfeifen ist bei den hochbeinigen Tieren stets ein Zeichen aufs höchste gesteigerter Angst … Eilen wir … Sehen wir zu, was die Dromedare, die uns noch außerordentlich nützlich werden können, so in Schrecken setzt …“

Sehr bald hatten wir die kleine Felsgruppe und das dichte Gestrüpp gefunden …

Bei dieser miserablen Tagesbeleuchtung war es schwer, irgend etwas zu erkennen …

Wir sahen trotzdem die verschwommenen Umrisse der beiden Reittiere, die wütend nach einem anderen, weit kleineren, sehr unförmigen Geschöpf fortgesetzt bissen …

Wieder sagte Harald da gedämpften Tones:

„Wahrhaftig – – eine Riesenschildkröte!!“

Ich traute meinen Ohren nicht …

Mir war es tatsächlich neu, daß es hier in der Thar Landschildkröten und noch dazu von solcher Größe, geben sollte …

Harst fuhr schon fort: „Es stimmt schon – eine der Riesenschildkröten aus dem Salzsee … Es ist eine Seltenheit, daß sich ausgerechnet diese Riesenpanzertiere in dem so stark natronhaltigen Wasser des Salzsees zu halten vermögen … Offenbar haben sich die Afghanen dieses Dorfes ein paar von den Schildkröten in jungem Alter hierher geholt und benutzen sie, wie dies auch an der Küste der malaiischen Inseln üblich, als Gesundheitspolizei in ihren Dorfstraßen, da diese Art Schildkröten allen Unrat wahllos vertilgen … – Helft mir, das Tier aus der Nähe der Dromedare fortzuschaffen …“

Gut gesagt – – fortschaffen!!

Die Schildkröte wog ihre anderthalb Zentner, und nur unseren vereinten Kräften gelang es, das Tier aus dem Dickicht hervorzubringen, eine Arbeit, die uns derart beschäftigte, daß wir darüber völlig vergaßen, auf die Umgebung zu achten …

Wir schraken denn auch nicht wenig zusammen, als plötzlich neben uns eine leise und doch klare Stimme fragte:

„Was macht ihr denn hier?!“

Amalgi war’s – – Doktor Georg Amalgi und … Miß Honoria Goord!

Kein Wunder, daß wir drei die Schildkröte, die Dromedare – alles vergaßen … alles!

Harald drückt den beiden die Hand …

Der alte treue Hubert Enoch hätte seinen Herrn am liebsten umarmt …

Amalgi wehrt merkwürdig ernst all diese Äußerungen unserer Freude ab …

Sagt: „Leider ein Irrtum, daß die Miß und ich frei sind und Sie begleiten können … – Nein, wir haben dem Dorfältesten feierlich versprochen, dieses Tal nicht zu verlassen, bevor die Frage nicht geklärt ist, ob die Afghanen auf die Vorschläge der Fürstin eingehen … Die Männer des Dorfes und der Anhang der Fürstin befinden sich noch jetzt außerhalb des Tales und suchen nach Ihnen … Nur das Geschrei der Dromedare lockte uns hierher … Sonst …“

Harst unterbrach ihn …

„Erledigen wir erst das Wichtigste, Amalgi … Wie nahm sich die Rani Ihnen beiden gegenüber?“

„Wenn’s nach ihr gegangen wäre, hätte man uns in die Choleraschlucht zurückgeschleppt … Dieses Weib ist nichts als fleischgewordener Haß. Ich merkte, daß sie für ihr großes Geheimnis fürchtet … für … die Insel im Salzsee! Sie verstehen, lieber Harst!“

„Ob ich verstehe – – die Goldader!!“

„Oh – nicht das allein, Harst,“ flüsterte Amalgi erregt … „Es muß da noch etwas anderes geben – – noch ein Geheimnis … Die Rani schien in höchster Angst zu sein, daß Sie und Schraut den See erreichen könnten … Ich vermute, daß …“

In diesem Augenblick in nicht allzu großer Entfernung von Norden, woher wir drei soeben gekommen, das Kläffen zahlreicher Rüden …

Ohne Zweifel die Verfolger …

Und – auf unserer Fährte fraglos …

Da gab’s kein Zaudern …

Jetzt hieß es fliehen – – unverzüglich …

Die Hunde hätten uns alle zerrissen!

Amalgi überschaute sofort richtig die Sachlage …

„Nehmen Sie beide die Dromedare, Harst …,“ rief er … „Hubert bleibt bei uns … Begeben Sie sich nach der Station der Kamelreiter und …“

Harald hatte mich bereits mit sich fortgezogen …

Im Nu saßen wir im Sattel …

Verstanden nur noch, daß Amalgi etwas von „Schildkröten“ und „bewachsene Insel“ rief …

Sprengten davon … Verließen uns völlig auf den Instinkt der Reittiere, Hindernissen rechtzeitig auszuweichen …

Undeutlich erkannten wir neben uns dann plumpe Steinhäuser … Weiber, Kinder kreischen … stoben auseinander.

So ging’s dem Südausgang des Tales zu …

Eine Hetzjagd ohnegleichen …

Daß wir damals nicht den Hals gebrochen, nicht stürzten – – ein Wunder!!

Dann ein kleiner Bach, der offenbar dem Großen Salzsee sich zuschlängelte …

Hinein in das Bachbett …

Nun mußten selbst die feinen Nasen der Hunde versagen …

Versagten auch …

Nach einer Stunde konnten wir im Schritt weiter …

Im Regen …

Gen Südwest – ungefähr …

Noch drei Stunden …

Dann … ein heller Streifen wie Schnee …

Das Gestade des weiten Natronsees …

Schnee … Salzablagerungen …

Und noch eine Stunde am Ufer hin …

Wellblechbaracken hier …

Die Station …!!

Gewonnen … gewonnen …!!

 

2. Kapitel.

Die unsichtbare Insel.

Gewonnen?!

… Wir springen von den Tieren …

Eilen der größten Baracke zu …

Stutzen …

Pesthauch weht uns entgegen …

Leichengeruch …

Eine heisere Stimme schreit uns aus den Regennebeln entgegen:

„Hilfe … Um Allahs willen – – Hilfe!!“

Wir ahnen: Cholera!!

Auch hier schon der furchtbare Würgeengel …

Auch hier schon das Schreckgespenst Indiens …

„Kumussa!“ ruft Harald …

Und wir schieben die Reste der rettenden Wurzelstücke in den Mund …

Wir finden in der offenen Tür der Wohnbaracke einen Sterbenden, den letzten noch Lebenden des kleinen Kommandos, das hier an einsamer Stelle bisher treu seine Pflicht getan …

Der Mann ist ein farbiger Unteroffizier … Hat gerade noch Kraft genug, uns mitzuteilen, daß vorgestern die Seuche deshalb hier plötzlich ausbrach, weil der Brunnen neben den Baracken durch einen Choleratoten infiziert worden, was man leider zu spät entdeckt hatte …

Der Mann stirbt …

Wir verlassen sofort wieder diesen Ort des Schreckens …

Bis zum Seeufer hinab sind’s zweihundert Meter …

Über körniges Salz schreiten unsere Tiere …

Jetzt haben wir Zeit … Jetzt versuchen wir, etwas von den Inseln zu erspähen … Der Tropenregen hat ein wenig nachgelassen …

Und da erst werde ich gewahr, welche Ausdehnung dieser Natronsee hat, den die Eingeborenen Sambhar[8] nennen, eigentlich Samb Har, See des Schweigens …

Unsere Dromedare stehen dicht am Wasser …

Schnauben …

Machen keinen Versuch, die widerliche Salzlake zu trinken …

Sagt Harst gleichmütig:

„Von Ost nach West etwa zwölf Meilen, von Nord nach Süd etwa sieben Meilen – ein recht ansehnliches Gewässer! – Strenge deine Augen nicht unnötig an, mein Alter … Die Inseln wären auch bei klarem Wetter nur mit dem Fernglase zu erkennen … Du mußt bedenken, daß der See des Schweigens sogar von größeren Schiffen befahren wird, die von dem Orte Chattu im Westen Frachten aller Art nach dem Ostufer schaffen … Außerdem gibt es hier zahlreiche Fischer, die lediglich von dem Fange der Riesenschildkröten leben … Ferner las ich auch in einem Reisehandbuch im Hotel in Amber, daß hier auch irgendwo eine kleine Jacht oder dergleichen vorhanden sein muß, die die Touristen in ruhigen Zeiten nach den Inseln bringt … Ein Bahnhof muß gleichfalls in der Nähe liegen, und wenn die Beamten auch infolge der Stillegung der Strecke der Cholera wegen geflüchtet sein dürften, so …“

Schwieg … Hatte den Kopf gewandt …

Der Regen hatte noch mehr nachgelassen …

Wir erkannten rechts von uns eine weit in den See hineingebaute Steinmole … Daran vertäut Boote und ein größeres Fahrzeug …: die Jacht!!

Harst lenkte seine Tiere dorthin …

Ließ es niederknien … Stieg aus dem Sattel …

„Bleib!!“ befahl er …

Schritt die Mole entlang …

Abermals begann da von Südost her pechschwarzes Gewölk heraufzuziehen …

In wenigen Minuten schüttete die finstere Wolkenwand ihre warmen Wassermengen wie mit Eimern aus …

Nichts mehr war zu sehen …

Ich wartete …

Triefte …

Die Tiere trieften …

Die Erde schien zu dampfen …

Drückende Schwüle … Und noch dazu ein merkwürdig fader Geruch in der Luft, der nur von der Nähe des Natronsees herrühren konnte …

Und Totenstille ringsum …

Ich dachte an die Choleraleichen dort drüben in den Baracken … An den verpesteten Brunnen – fraglos ein Werk der Rani Arowa, die den Militärposten hatte beseitigen wollen …

Ich dachte an die drei Gefährten, die wir im Afghanendorfe hatten zurücklassen müssen … Dachte an Amalgi, den großen Erfinder, der mit seinem uns noch unbekannten Apparat Herr über Tod und Leben war …

Die beiden Ratschputen hatte er blitzschnell sterben lassen.

Wie – – wodurch?!

Weshalb hatte er von seiner unheimlichen Waffe nicht auch im Afghanendorfe Gebrauch gemacht?!

Da – – Harst kehrte zurück …

Triefend …

Sagt: „Selbst die vier Leute der kleinen Benzinjacht sind tot … Ich habe die Leichen über Bord geworfen … Im übrigen ist dort genug Benzin vorhanden … Wir werden unsere Tiere in eine der Baracken bringen und dann nach der Insel fahren, denn … wir dürften dort ebenso nötig sein wie im Afghanentale – vielleicht noch nötiger.“

„Inwiefern?“ – Meine Frage war berechtigt …

Er nahm sein Dromedar am Zügel …

Wir schritten gen Nordost, der Station zu …

„Inwiefern …,“ wiederholt Harst nachdenklich, während noch immer Regen niederprasselt … „Du hast ja Amalgis Andeutung gehört, und du weißt, mein Alter, daß im Dschebel Hammak eine große Anzahl der unterirdischen Zellen leer war, aber daß diese Zellen ganz den Eindruck machten, daß sie Insassen gehabt hätten … Wir nahmen an, die Opfer der Semiramis der Thar seien zum Teil gestorben und verscharrt worden … Wie viele Europäer sie überhaupt an sich gelockt hat und dann verschwinden ließ, steht nicht recht fest … Auch nicht, seit wann diese Megäre dieses grauenvolle Handwerk betrieb, ihre Liebhaber nach kurzem Liebesglück einzukerkern … Ich vermute, daß ……“

Wir rannten fast auf eine Schuppenwand auf …

Harald verstummte …

Rasch stellten wir hier unsere Tiere unter, gaben ihnen zu saufen und zu fressen, und warfen ihnen genügend Vorrat hin, daß sie auch ohne uns es hier ein paar Tage aushielten.

Bis auf die Haut längst durchweicht, traten wir den Rückweg zur Mole an …

Stolperten dann über die Steine der Mole, kletterten an Bord der Jacht …

War gar kein übles Schifflein, diese Benzinjacht … War recht komfortabel … Der Besitzer mochte mit seinen Fahrten ein ganz nettes Geld verdient haben … War jetzt wohl tot, der Mann: Cholera!!

Und wir beide, noch immer an den Kumussastückchen kauend und lutschend, die uns Mund und Kehle gründlich desinfizierten und auch Magen und Darm gegen die Bazillen immun machten, – wir schauten uns zunächst mal den Motor an, füllten den Benzinbehälter, ließen den Motor zur Probe laufen und begaben uns dann in die Kombüse und die Vorratskammern, aßen, tranken, fanden ein paar Flaschen Rum, tranken uns einen ganz leichten Schwips an und wechselten dann die Kleider … In der winzigen Kajüte des nicht mehr vorhandenen Kapitäns entdeckten wir übergenug reine Wäsche und Anzüge, auch Ölmäntel und Ölhüte.

Harald schätzte die Tageszeit auf etwa fünf Uhr nachmittags. Und das stimmte mit dem noch tickenden Chronometer in der Kapitänskajüte überein.

Um halb sechs (es goß ununterbrochen) warfen wir die Taue der Jacht los und glitten langsam von der Mole ab in freies Wasser.

Der Motor ratterte leise …

Harst steuerte …

Gen Süden ging’s …

Über den See des Schweigens hinweg in ruhiger Fahrt.

Ich hatte zuerst noch in dem kleinen Maschinenraum gestanden … Da Ölzufuhr und Benzinzufuhr – überhaupt der ganze Motor tadellos in Ordnung waren, begab ich mich an Deck …

Harst fuhr nur mit halber Kraft …

Das Wetter war zu unsichtig. Wir mußten Vorsicht walten lassen, hatten ja keine Ahnung von den Wasserverhältnissen des weiten Beckens …

Fragte ich Harald, an einer der Kapitänszigarren saugend:

„Was vermutest du also?“

„Gedankenfaul, mein Alter!! Sehr sogar!!“

„Hm – vielleicht nimmst du an, daß die Rani einen Teil der Gefangenen nach der Goldinsel gebracht hat …“

„Nun also!! – Ja, das vermute ich! Aber nicht nach der Goldinsel, sondern in die schwer auffindbare Höhle, in der die Goldader zu Tage tritt … Vielleicht müssen diese Ärmsten dort arbeiten, das Edelmetall lossprengen, werden natürlich überwacht … werden’s nicht gut haben dort …“

Ich nickte nur zustimmend …

Und mit einem Male befiel mich eine nervöse Unruhe, der heiße Wunsch, recht schnell Klarheit zu gewinnen, ob wir wirklich diese Unglücklichen würden retten können … ob diese Gefangenen der Fürstin wirklich vorhanden und in den Tiefen der Erde das Gold loshackten, damit das gewissenlose Weib mit unendlichen Reichtümern in die wilden Berge Afghanistans entkommen könnte …

Unruhe, die immer mehr wuchs …

Ich merkte, auch Harald war nervös …

Der Motor ratterte … der Regen knatterte auf die gefirnisten Deckplanken … Vor uns graues Halbdunkel: Regen!

Und drückende Schwüle und fader Geruch und Benzinduft.

So fuhren wir zwei Stunden …

Sagte Harst: „Wir müssen die Mitte des Sees bereits hinter uns haben … Wir sind an den Inseln vorübergefahren … Ich werde wenden …“

Er blickte auf den Kompaß, drückte das Steuerrad herum … Die Jacht wandte sich gen Westen, immer mit derselben vorsichtigen Geschwindigkeit …

Und – – es regnete … regnete …

Eine trostlose Stimmung lag über der weiten Wasserfläche, über dem See des Schweigens …

Trostlos diese Stille, dieses Glucksen des Wassers an den Bordwänden, dieses eintönige Rattern des Motors und die Geräusche der flink sich drehenden Schraube …

Harst, eine der elenden Zigaretten im Mundwinkel, ganz Statue …

Hinauslugend in die graue Dämmerung, horchend, jede Sekunde bereit, uns vor einem Auflaufen auf eins der Felseilande zu bewahren …

Horchend … Worauf?!

Und er schien meine Gedanken zu erraten, erklärte halblaut:

„In dem Reisehandbuch war auch zu lesen, daß auf den kleinen Inseln allerhand Vögel nisten, und daß eine der Inseln an der Ostseite von Bäumen und Büschen bestanden ist – nur eine der Inseln, und es gibt deren acht … Die Vögel werden uns rechtzeitig warnen, hoffe ich, daß wir nicht etwa stranden … Du könntest dich immerhin vorn auf die Spitze begeben, mein Alter. Dort wirst du besser hören als hier – die Vogelstimmen hören … Sieh’ auch mal nach dem Motor …“

Ich ging … Ich war müde und abgespannt. An meinem leichten Ölrock lief das Wasser hinab … Meine Brillengläser bekamen leichte Spritzer …

Der Motor war in Ordnung.

Dann lehnte ich vorn an dem kleinen Bugspriet und … horchte … und fühlte immer stärker das Niederdrückende dieser eintönigen Fahrt ins Ungewisse …

Mancherlei ging mir in flüchtigen Gedanken durch den Kopf …

Ob Haralds Vermutung wohl zutreffen würde? Ob diese Inderin mit dem Liebreiz einer Frau von Welt und mit der Gewissenlosigkeit einer Verbrecherin wirklich dort in der Goldgrotte weiße Sklaven für sich arbeiten ließ? Ob wir die Grotte finden würden? Und – was wohl Amalgis letzte halb verwehte [Worte][9] von „Insel“ und „Schildkröte“ zu bedeuten haben mochten … was wohl?! …

Es regnete … regnete …

Es regnete immer toller …

Es war jetzt tatsächlich keine Hand vor Augen mehr zu sehen …

Und die Fortsetzung dieser Fahrt auf unbekanntem Gewässer wäre wahnwitzigste Leichtfertigkeit gewesen …

Dies erkannte Harald genau so gut und so schnell wie ich …

Die Jacht (sie hatte übrigens den indischen Namen Dragari, was so viel wie Sperber heißt) verlangsamte ihren Lauf immer mehr …

Und als diese Vorwärtsbewegung kaum mehr wahrnehmbar war, – – da – – in demselben Moment schrak ich zusammen …

Gerade unter mir ein Knirschen und Scharren … Eine leise Erschütterung geht durch den Schiffsleib …

Der Kiel schrammt über Grund … über Felsen …

Ich werfe mich herum …

Will, die Hände als Sprachrohr vor dem Munde, Harald zubrüllen, daß er die Schraube rückwärts schlagen lassen soll …

Will …

Jeder Ton bleibt mir in der Kehle stecken …

Denn von dort, wo eine der Inseln in der Regenfinsternis liegen muß, – von dort, wo unsichtbares Land dem Schifflein Vernichtung droht, erhebt sich ein Gebrüll wie von einer Rotte wilder Tiere …

Ein Gebrüll, das doppelt schauerlich klingt, weil man nichts – wirklich absolut nichts sieht …

Nur dieses irrsinnige, schrille Geheul, das sich allmählich in einzelne Stimmen zu zerteilen scheint, – – diese wahrhaft infernalische Musik umweht meine entsetzten Ohren.

Und … rückt näher …

Näher …

Trotz des Geräusches des fallenden Regens vernahm ich im Wasser dicht vor dem Bug Plätschern und Keuchen.

Das Gebrüll verstummt …

Und vor mir über den Rand der Reling schiebt sich jetzt ein Schatten hinweg …

Nur ein Schatten in diesem ewigen Hinabströmen der himmlischen Schleusen …

Ich vermute nur, wo sich der Kopf, das Gesicht dieses Angreifers befinden dürfte …

Schlage zu …

Mit geballter Faust …

Mit aller Kraft …

Spüre, daß meine Faust etwas Weiches, Knorpliges breit schlägt …

Vielleicht eine Nase …

Und der Schatten verschwindet lautlos in der Tiefe …

Neues Gebrüll …

Ein neuer Ruck durch den Schiffsleib …

Die Jacht läuft rückwärts …

Ich atme auf …

Und vor mir … unsichtbar … die unbekannte Insel … mit unbekannten Menschen, die unser Fahrzeug haben kapern wollen …

 

3. Kapitel.

Flucht.

Rückwärts zieht die Kraft der wütend das Wasser peitschenden Schraube die Jacht in das Dunkel des düsteren Salzsees hinein …

Vorwärts – alles still …

Als ob die Horde von Irrsinnigen durch meinen einen Fausthieb nunmehr endgültig zum Schweigen gebracht worden sei …

Ich komme nach dieser sekundenlangen übergroßen Erregung wieder zu mir …

Fragen springen in meinem Hirn auf – – Fragen, die durchaus berechtigt sind, die sich mir sofort hätten aufdrängen müssen, wenn dieses satanische Konzert der tollen Rotte meinen Gedankenflug nicht gebremst haben würde …

Inder waren das niemals gewesen, die sich von der Inselküste ins Wasser geworfen hatten, um schwimmend unser Schifflein zu erreichen … – angelockt fraglos durch das Geräusch des Motors, das sie bestimmt gehört und richtig gedeutet haben mußten …

Nein – – keine Inder! Denn jetzt, wo wieder Klarheit in meine Gedanken kam, wo ich mich auf einzelne Laute, halb zerflatterte Worte dieses Angriffsgeschreis besann, hätte ich darauf schwören mögen, sogar ein paar deutsche Silben mit meinen verwirrten Ohren aufgefangen zu haben.

Und – wenn’s keine Inder gewesen, dann konnte man doch nur an die Leute, an jene Ärmsten denken, mit denen sich Haralds Vermutung beschäftigt hatte: die Gefangenen der Rani!!

Unruhe – mehr noch: förmliches Fieber goß diese Erkenntnis in mein Blut …

Mein jagender Herzschlag wollte sich nicht beruhigen …

Was sollte ich noch hier am Bug?! Die Jacht lief ja noch immer rückwärts in das ferne Wasser des weiten Salzsees hinein …

Was sollte ich hier länger auf zwecklosem Posten ausharren, wo doch alles in mir danach brannte, mich mit Harald über das Geschehene auszusprechen?!

Und – – da vernahm ich auch bereits seinen Zuruf vom Heck, wo er genau wie ich in dieser Sintflut ausharrte, am Steuerrad, an den Hebeln, die den Motor dirigierten.

Ich eile über das schlüpfrige Deck der Dragari, des Sperbers …

Es regnet … regnet …

Trostlos …

Wir sind ohne Positionslaternen gefahren – ohne jedes Licht an Deck. Wozu auch die Laternen anzünden?! Sie wären ja doch erst auf wenige Schritt zu bemerken gewesen, und außerdem wußten wir genau: der See war leer! Kein Fischer, kein Frachtschiff würde jetzt in der Cholerazeit den sicheren Port verlassen!

Ich erkenne Haralds Gestalt …

Er steht halb gebückt …

Der Motor verstummt, meldet sich wieder … Die Jacht läuft im Schneckentempo vorwärts …

Harst sagt nur: „Die Gefangenen der Rani – wahrscheinlich! Sie haben die Wächter vielleicht überwältigt und die Höhle verlassen, ohne dadurch etwas zu gewinnen. Ein Fahrzeug dürfte ihnen nicht zur Verfügung stehen, und wenn zum Beispiel die Belieferung mit Lebensmitteln und Trinkwasser ausgeblieben ist, so kann man’s begreifen, daß die Bedauernswerten halb toll geworden sind, da sie ja selbst schwimmend nicht einmal zum nächsten Eiland, geschweige denn ans Festland gelangen können … Der starke Natrongehalt des Wassers würde ihnen die Haut zerfressen …“

So spricht Harald – ein paar Sätze, die alles besagen … – Keine Lebensmittel: auch der Seuche wegen! Und deshalb verzweifelter Versuch der Gefangenen, die Wächter zu überwinden. Der Versuch gelingt, und doch bleibt alles umsonst: die Insel hält die Ärmsten fest, als ob sie von glühenden Lavafluten umspielt würde! –

Ich erzähle Harald Einzelheiten, erwähne, daß ich deutsche Worte zu hören glaubte …

Er schweigt erst …

„Schon möglich,“ nickt er dann. „Die Nachkriegszeit hat hunderttausende von Landsleuten über die ganze Erde zerstreut … Das Auswanderungsfieber packte die besten, packte die starken, abenteuerlustigen Naturen, die sich mit dem Gedanken nicht abfinden konnten, daß Deutschland besiegt und doch nicht besiegt war … Vielleicht haben sich ein paar der unruhigen Geister, denen vier Jahre Krieg die Energie in Landsknechtssehnsucht verwandelte, bis hierher verirrt, wo sie dann dieser indischen Blutsaugerin in die schönen Krallen geraten sein mögen. Jedenfalls also für uns doppelte Pflicht, die Insel sofort nochmals anzulaufen und zu retten, was noch zu retten ist …“

Wieder ein paar Sätze nur … Wieder aber ein treffendes Bild dessen, was sein konnte und was sich auch wahrscheinlich tatsächlich so verhielt.

Harst schickt mich auf meinen Posten am Bug zurück …

„Nimm den langen Bootshaken dort, halte ihn so, daß wir nirgends auflaufen können, mein Alter … Und – rufe den Leuten zu, wer wir sind … Sie werden sich beruhigen …“

Nun – ganz behaglich ist der Gedanke nicht, den gut sechs Meter langen Bootshaken sozusagen als Fühler vorzustrecken und gleichzeitig dadurch ein paar gewandten Kerlen die Möglichkeit zu geben, an der Stange an Bord zu klettern!

Ich gehorche …

Und die Jacht schleicht vorwärts …

Es regnet …

Und ich hatte die Stange aufgestützt auf die Reling, – halte sie schräg nach unten … Große, schwere Regentropfen schlagen klatschend auf meine Hände auf … immerfort … Die Finsternis ist beängstigend … Die Ungewißheit zerrt an den Nerven … Die Nerven haben seit Tagen mehr geleistet, als ihnen dienlich … Ich fühle: sie sind wie allzu straff gespannte Geigensaiten, vibrieren bei dem geringsten Anstoß …

Und die Dragari schleicht weiter … Durch das salzige Wasser, das nicht einmal Schwimmer duldet, in dem kein Fisch lebt – nur die Riesenschildkröten …

Schleicht …

Ich denke, daß es wohl ein Zufall sein müßte, wenn wir die Insel wiederfinden …

Denke es – und fühle einen harten Stoß unten an der Eisenspitze der Stange …

Land – – Felsen …

Brülle zum Heck: „Stoppen!!“

Stemme mich gegen die Stange …

Der Motor schweigt …

Ganz sacht schrammt der Kiel über steinigen Grund.

Der Sperber liegt still …

Harst ist neben mir …

Wir horchen …

Nichts …

Zu sehen erst recht nichts …

Es regnet, gießt, strömt vom Himmel wie aus Bottichen …

Horchen …

Horchen …

Nichts …

Harald ruft:

„Hallo – hier zwei Deutsche!! Hallo!!“

Wiederholt’s in drei Sprachen …

Nichts …

Und sagt:

„Weißt du, mein Alter, an Land zu gehen wäre doch ein zu großes Risiko. Wollen den kleinen Heckanker auswerfen und dann ein paar Meter vom Ufer entfernt liegen bleiben, damit die Leute nicht etwa heimlich entern …

Wir tun’s …

Und ich habe das wenig angenehme Gefühl, daß jeden Augenblick an Bord eine Horde Halbverrückter erscheinen könnte, mit denen jedes friedliche Unterhandeln unmöglich.

Harst trägt sich wohl mit ähnlichen Bedenken … Wir halten unsere Gewehre (es sind die der Ratschputen) für alle Fälle bereit, umrunden dauernd das Deck …

Die Insel ist vielleicht dreißig Meter entfernt, schätze ich.

Harald ruft in Pausen sein Hallo!! stets aufs neue …

Nichts meldet sich … –

Dann gehe ich in die Kombüse hinab und stärke mich, sitze neben dem elektrischen modernen Schiffsherd unter der elektrischen, von Fliegenschmutz bedeckten glühenden Birne, deren Lichtkreis nach der Finsternis dort oben an Deck etwas Trauliches, Behagliches hat …

Zu meinen Füßen bildet sich infolge des triefenden Ölzeugs eine Wasserlache …

Ich esse, trinke Alkohol …

Wenn ich mich hier erquickt habe, wird Harald ein Gleiches tun …

Harald, der jetzt oben Wache hält … Der das Deck umrundet …

Umrundet?!

Noch immer?!

Ich … höre nichts mehr von seinen Schritten, deren gleichmäßiges Tapp-Tapp bisher so ruhevoll mir an die Ohren drang …

Verstummt …

Ob er es für überflüssig hält, die Jacht noch zu bewachen?! Ob er in die Kajüte im Mittelaufbau getreten ist und eine der Stänkerzigaretten raucht?!

Ruhevoll, beruhigend, war bisher das Tapp-Tapp …

Nun melden sich die allzu straff gezogenen Saiten – die Nerven …

Vibrieren … stärker … Teilen ihre Unrast dem Herzen mit …

Ich höre mein Herz pochen …

Stehe auf, greife nach der Flinte, ziehe die Ölkappe tiefer, steige die enge Treppe empor …

Regen peitscht mir ins Gesicht …

Die Jacht wiegt sich leicht vor dem Heckanker …

Wind ist aufgekommen …

Auch das noch!

Ganz lustig bläst’s aus Nordost …

Und warm ist dieser Wind, stammt aus den Ebenen der Thar … Wärmer als die Luft bisher, schwüler als die Schwüle, die uns bis jetzt den Schweiß aus den Poren trieb … –

Kajüte?!

Nein – leer …

Kein Harst …!

Ich rufe …

Keine Antwort …

Packe meine Waffe fester …

Ein umgearbeitetes Militärgewehr ist’s …

Ich stehe im Schutz des etwas überhängenden Kajütgemaches …

Rufe nochmals …

Nichts …!!

Eile zum Heck – zum Bug …

Kein Harst …

Meine Nerven schwingen …

Was ist aus Harald geworden?!

Sollte er etwa wieder, ohne mich vorher zu benachrichtigen, eine seiner beliebten … Extratouren gewagt und sich auf die Insel begeben haben?!

Wieder zum Heck …

Dort hatten wir im Schlepptau das kleine Beiboot mitgeführt.

Es fehlt …

Also: Harst an Land!

Einen Moment spüre ich den aufquellenden Ärger über Haralds Rücksichtslosigkeit …

So ist er ja leider stets … Hat uns dadurch schon so manches eingebrockt!! Ist ihm nicht abzugewöhnen … Er bleibt selbstherrlich …

Gedanke, Entschluß, Ausführung! Das ist eins bei ihm! Dann läßt er sich keine Zeit, mich irgendwie zu benachrichtigen. Hat nachher schon seine Ausreden, wenn ich einschnappe …!

Ich warte …

Umrunde den Sperber, horche …

Meine Uhr zeigt zehn … zehn Uhr abends …

Dann – – ein lautes Hallo …

„Bin wieder da, mein Alter …,“ und schwingt sich über die Reling … „Die Insel ist leer … Es ist die bewaldete Insel … Wir sind gerade in eine Bucht hineingeraten …“

Er hält in der Hand eine der großen Karbidschiffslaternen … „Nach einer Stunde wird der Wind das Gewölk verjagen … Dann fahren wir hinüber …“

 

4. Kapitel.

Auf der Insel.

Die Laterne in Harsts herabhängender Hand beleuchtet seine durchweichten Schnürschuhe. In den Ösen der Schuhe haben sich Grashalme verfangen, sind abgerissen – grüne, frische Halme …

„Also wirklich bewaldet?“ frage ich, und der Anblick der grünen Gräser ist mir wie ein Zeichen einer anderen, freundlicheren Welt …

„Alles, was du haben willst, lieber Alter,“ erwidert er gutgelaunt. „Palmen, Buschwerk, Gras, blühende Bäume … Es stimmt schon: die eine Insel ist nicht kahl und öde … Vielleicht ist es gar die Schatzinsel. Und dann liegt dort weiter nach Norden zu hier in derselben Bucht ein Wrack – ein Lastschiff mit zwei Maststümpfen, – ein Beweis, daß der Sambhar-See seine Tücken hat … Wenn der Sturm über die Thar fegt, soll der Salzsee haushohe Wellen aufwerfen, die schon so manchen Schiffer und Fischer in die Tiefe rissen …“

„Und – fandest du Spuren von Menschen?“ frage ich unüberlegt …

„Spuren?! – Bei diesem Regenguß?! Ich bitte dich!! – Jedenfalls ist zur Zeit auf dieser Insel keine lebende Seele, – – wenigstens nicht sichtbar,“ schränkt er seine Behauptung ein. „Nur Schildkröten sah ich … Mindestens ein Dutzend … Riesenviecher darunter, Staatsexemplare … – Doch jetzt wollen wir den Anker lichten und die Jacht neben dem Wrack, das ich trotz der Dunkelheit schon finden werde, festmachen … Falls der Wind zum Sturm anwächst, bietet uns das in den Sand tief eingebettete Wrack genügend Schutz, und außerdem den Vorteil einer bequemen Landungsbrücke … – Los denn …! Du merkst ja, mein Alter, der Wind nimmt an Stärke zu … Unser Sperber tanzt schon recht nett hin und her …“

Zehn Minuten drauf waren wir und die Jacht geborgen … Auch die pechschwarzen Wolkenvorhänge, die bisher noch nicht einen einzigen Stern freigegeben hatten, zeigten breite Lücken und ließen das ausgestirnte Firmament und den Glanz des noch unsichtbaren Mondes erkennen.

Der Sperber war dicht am Heck des Wracks vertäut, vollkommen unter Wind, – und dieser Wind hatte offenbar die größte Neigung, sich zum tüchtigen Orkan auszuwachsen.

Die von Harst angekündigte Stunde war noch nicht völlig vergangen, als der größte Teil des Himmels auch schon wolkenfrei war. Was der Sturm an Fetzen von Gewölk noch vorüberjagte, brachte weder neuen Regen noch abermalige Finsternis.

Wir sahen nun vom Deck des Wrackes aus, hinter dessen Reling wir kauerten, das bewaldete Buchtufer der Insel dicht vor uns. Die Beleuchtung durch die zahllosen Lämpchen des Weltalls genügte vollauf die tropische Üppigkeit dieses grünen Strandstreifens genügend würdigen zu können.

Jenseits des schmalen, felsigen Uferstriches gab es einen Streifen hellen Sandes, der allmählich in grasbewachsenen, fruchtbaren Boden überging. Dann kamen Büsche, Bäume und Sträucher, und dahinter schien sich die Mitte des Eilandes zu einer flachen, steinigen und mit Felsstücken besäten Kuppe aufzutürmen.

„Worauf warten wir?“ fragte ich, als Harald noch immer nicht Miene machte, die Insel zu betreten, deren Geheimnisse mich mit aller Macht anlockten.

Harst erwiderte kühl: „Ich warte darauf, mein Alter, daß die Gefangenen der Rani vielleicht wieder aus ihrem Versteck vorkommen und uns das Suchen ersparen. Ich denke, sie werden durch deinen Fausthieb, und dadurch, daß ich die Jacht wieder rückwärts laufen ließ, zu der irrigen Überzeugung gekommen sein, daß wir vielleicht Leute der Fürstin, ihrer Peiniger, sind. Deshalb haben sie sich wieder in die Höhle verkrochen, wo sie sich am besten verteidigen können. Sie fürchten Strafe wegen der Überwältigung ihrer Wärter, und sie beabsichtigen fraglos, ihr armseliges Leben so teuer wie möglich zu verkaufen …“

Ich pflichtete Harald in alledem vollständig bei, zwang meine Nerven, die förmlich nach irgendeinem wilden Erlebnis fieberten, zur Ruhe und äugte dauernd nach dem grünen Uferstrich hinüber.

Der warme Wüstensturm machte uns dieses Ausharren hinter der Reling leicht. Wir hatten das Ölzeug abgelegt. Unsere schweißfeuchten Anzüge trockneten schnell.

Und kurz nach Mitternacht, als der Mond schräg über uns stand, – als noch immer kein menschliches Wesen sich zeigen wollte und nur die Riesenschildkröten faul über den Strandstreifen wie ungeheure Wanzen krochen, da sagte Harald unvermittelt: „Los denn …! Wollen aber für alle Fälle uns nicht in ganzer Größe zeigen …“

Wir richteten uns auf … Hatten am Bug gekauert … Sprangen herab aufs Trockene, warfen uns sofort der Länge nach hin und krochen den Büschen zu.

Während des Sprunges vom Wrackdeck hatte ich noch einen flüchtigen Blick rundum geworfen und einige weitere Inselchen bemerkt, die jedoch von diesem grünen Eiland hier mehrere hundert Meter entfernt waren.

Harald schob sich auf allen Vieren flink vorwärts und gerade auf eine einzelne kräftige Kokospalme zu, die unwillkürlich ins Auge fiel, weil sie völlig frei dastand. Ihr schlanker, hoher Stamm wiegte sich unter den Sturmstößen hin und her, und in Schulterhöhe bemerkte ich an ihr eine Art Auswuchs, der sich jedoch beim Näherkommen als ein … an den Stamm angenageltes Rückenschild einer Riesenpanzerkröte entpuppte.

Vor dieser seltsamen Tafel aus Schildpatt erhob sich Harald …

Schaute vorsichtig nach allen Seiten … Meinte …:

„Was hältst du hiervon, mein Alter?“

Nun – auch Max Schraut hat seine guten Tage, seine Stunden und Minuten erhöhter geistiger Regsamkeit … Mir fiel jetzt abermals Amalgis Bemerkung über „Insel“ und „Schildkröten“ ein … Und ich antwortete daher prompt:

„Der Doktor hat diesen Rückenpanzer gemeint, und es muß mit dieser … Tafel mithin eine besondere Bewandtnis haben …“

„Vielleicht … Zunächst ist dieser Rückenschild mit vier mächtigen Schiffsnägeln an den Stamm befestigt worden, wie du siehst. Ferner ist es ein Schild von außerordentlichem Umfang. Regen und Flugsand von der Wüste her haben die Oberfläche gründlich gesäubert und förmlich poliert. Man kann die Struktur des Schildpatts genau erkennen. Ich habe hier vor diesem … „Ding“ bereits vorhin eine ganze Weile gestanden und es bewundert, … mir den Kopf zerbrochen, was es wohl zu bedeuten haben mag …“

„Schwer zu sagen …“

„Gewiß … – Vertrödeln wir nicht die kostbare Zeit … Denn dort hinten zieht abermals eine Wolkenwand herauf … Beeilen wir uns … Suchen wir nach den Gefangenen, nach der Höhle … Und – – halten wir unsere Waffen wieder bereit …“ –

Wir suchten …

Die Insel war fast kreisrund und mochte einen Durchmesser von etwa fünfhundert Meter haben. Ganz besonders zog uns die felsige Kuppe in der Mitte des Eilandes an. Aber gerade hier gab es eine derartige Wildnis von mächtigen Steintrümmern, daß unsere Arbeit sehr erschwert wurde, zumal wir keinerlei Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen durften.

Ich möchte hier nicht Einzelheiten dieses mühseligen Forschens nach dem Eingang zu der Goldgrotte bringen. Nach einer Stunde trieb uns ein neuer Regenguß auf die Jacht zurück. Weiteres Suchen wäre auch zwecklos gewesen.

Der Sturm war abgeflaut. Die Natur erlaubte sich den Scherz, den Wind wieder völlig einschlafen zu lassen und uns zu beweisen, daß jetzt die Regenperiode an der Herrschaft war. Es goß in Strömen. Das freundliche Bild des ausgestirnten Himmels war verschwunden – verschwunden auch die Insel … Finsternis ringsum …

Und wir in der Kajüte der Jacht, deren Fenster wir dicht verhängt hatten, bei einer abermaligen Mahlzeit, bei Zigarren und Zigaretten – – und verschlossener Tür …

Beide todmüde … Bei beiden kam die Abspannung … Wir nickten in den Ecken des bequemen kleinen Ledersofas ein … Wir durften uns ein paar Stunden Ruhe gönnen, denn Haralds Schlaf ist stets so leicht, daß jedes außergewöhnliche Geräusch ihn aufweckt …

Der Regen trommelte gegen die kleinen Fenster des Kajütaufbaus, auf das Dach …

Und bei dieser eintönigen Jazzmusik schliefen wir bis zum hellen Morgen …

Wirklich bis zum … hellen Morgen …

Ich wurde munter …

Neuer Scherz der Natur: draußen Sonne – – Sonnenschein!

Harald erwacht …

Und da – – aus der Nähe ein Gebrüll, ein Kreischen und Heulen – – genau wie in der Nacht bei dem unsichtbaren Angriff …

Im Nu sind wir mit unseren Büchsen an Deck …

Nichts zu sehen … Bis Harald die Jacht ein wenig hinter der schützenden Wand des Wracks hervorschiebt, und uns so ein neues Gesichtsfeld freimacht …

Da … sehen wir …

Und Grauen, Entsetzen und Mitleid weiten uns die starren Augen …

 

5. Kapitel.

Das große Grab.

Wir sehen … –

„Eiland der Toten“ wählte ich zum Titel …

Eiland der geistig Toten – so hätte es lauten müssen.

Wir sehen: ein Dutzend nur noch mit armseligsten Resten von Lumpen bekleidete, fast zu Skeletten abgemagerte Europäer …

Männer mit wirren, verwilderten Bärten, mit farblosen, fleischlosen Gesichtern …

Männer, die vom Grabe entstiegen zu sein scheinen mit ihren kittgrauen Wangen und den tief eingesunkenen Augen … Männer, die sich mit scharfen Steinen anstelle von Messern um eine Schildkröte drängen, deren Fleisch ihren bestialischen Hunger stillen soll …

Wirklich wie Bestien, diese zwölf …

Schreien, schnattern, brüllen durcheinander … Kümmern sich nicht um die drei Gefährten, die sich nicht mehr vollends bis zur Stätte der eklen Mahlzeit haben schleppen können, die da im Sande liegen, die entfleischten Arme, dürr wie Knüttel, flehend hochrecken und – doch nicht beachtet werden …

In all diesen Augen der kittgrauen Gesichter flackert der Wahnsinn … In jedem Ton, den diese brüchigen, hungrigen, dürstenden Lippen ausstoßen, verrät sich eine traurige, unheilbare geistige Zerrüttung …

Eine Horde von Halbtieren feiert dort bei den Palmen ein halb kannibalisches Fest …

Felsstücke schmettern einzelne auf den dünneren Bauchpanzer der Schildkröte … Wühlen in Blut und Eingeweiden … –

Grauen, Ekel, Mitleid, streiten in meiner Brust …

Selbst Harald bleibt stumm …

So vergehen Minuten …

Und ich denke mit Schaudern daran, was geschehen wäre, wenn diese Unglücklichen nachts an Bord der Jacht gelangt wären … Was sie wohl mit uns beiden angestellt hätten – welch ein aussichtsloser Kampf unserem unausbleiblichen Ende vorangegangen wäre …

Und dann … – die zwölf schnellen hoch … Stieren hinaus auf den See … Schweigen …

Haben doch noch genug klaren Verstand sich bewahrt, um den Segler zu erkennen, den auch wir jetzt erst bemerken …

Jetzt erst …

Noch nicht zu spät, um den Sperber rasch wieder hinter dem Wrack verschwinden zu lassen …

Und um ebenso rasch das Deck des gescheiterten Zweimasters zu erklimmen, von wo aus wir hinter der Reling hervor das nahende Schiff und die armen Irren beobachten …

Lautlos verschwindet die Horde im Buschgrün … Nimmt noch die drei völlig Erschöpften mit …

Verschwindet so schnell, daß urplötzlich der Strand leer ist … Nur die zerfetzte, zerschlagene, halb aufgefressene Schildkröte liegt dort unweit der einen Palme – jener Palme, an der die ovale, leicht gekrümmte Tafel aus Schildpatt befestigt ist …

Die Sonne scheint noch … Aber, als ob der Himmel dem, was nun folgt, die klare Beleuchtung versagen will: über See, Inseln und Strand gleitet ein Riesenschatten, – eine neue Regenwolke, ein schwarzes Ungeheuer mit regengeschwollenem Bauche, verschluckt das strahlende Himmelsgestirn, öffnet seinen Rachen, speit Regenmassen … Es regnet, gießt … gießt …

„Ganz erwünscht,“ meint Harald nur, der sich lediglich um den rasch näherkommenden Segler gekümmert hat … „Wenn uns auch das Wrack gedeckt hätte, mein Alter, – diese Sintflut ist noch wirksamer! Drüben auf dem großen Kutter befindet sich eine ganze Menge Leute, und wenn meine guten Augen nicht getrogen haben, so dürften auch Ihre Exhoheit die Rani und der Lump von Thar-Trapper dort an Bord sein … Vielleicht hat die Fürstin mit den Afghanen den Militärposten überfallen wollen, hat die Leute als Leichen vorgefunden und glaubt nun, in aller Bequemlichkeit hier die Vorbereitungen zu ihrer Flucht nach Afghanistan vollenden zu können – durch die Mitnahme des Goldes, das die fünfzehn unglücklichen Weißen für sie von der Goldader lossprengen mußten … Und dann: ich schätze, wir werden hier auch ein Wiedersehen mit Amalgi, Miß Goord und Hubert Enoch feiern. Sollte mich wundern, wenn die Rani Arowa die drei nicht mit hierher geschleppt hat … Von unserer Anwesenheit dürfte sie keine Ahnung haben, denn das Fehlen der Jacht an der Mole neben der Militärstation wird ihr kaum irgendwie auffallen, da der Sperber ja auch anderswo ankern könnte …“

Er sprach das alles mit größter Gelassenheit, während wir jetzt vor den niederstürzenden Wassermassen unter dem Vorderdeckaufbau des Wracks Schutz gesucht hatten … Er schien seiner Sache völlig sicher zu sein, daß wir unsere drei Gefährten hier auf der Insel genau so würden befreien können wie die fünfzehn weißen Sklaven der Fürstin, denen die Freiheit allerdings leider wohl kaum mehr für den Verlust ihrer gesunden fünf Sinne irgendwie Ersatz bieten konnte. –

Nachdem wir noch eine volle Stunde gewartet hatten, benutzten wir eine kurze Regenpause dazu, sowohl nach dem Kutter Ausschau zu halten als auch aus der Jacht unser Ölzeug zu holen. Der Kutter war dicht am Ufer in einem Südwinkel der Bucht vor Anker gegangen, wie wir während des nur Sekunden dauernden Nachlassens des Regens unschwer feststellten. An Deck war niemand zu bemerken, so daß wir nunmehr zwar vorsichtig, aber doch in beschleunigtem Tempo am Strande entlangeilten, um das Fahrzeug der Rani und ihrer Begleiter mehr aus der Nähe zu beobachten.

Es goß wieder in Strömen …

Und unbemerkt und ungehindert gelangten wir bis zu der Laufplanke, die vom Kutterdeck auf einen hohen Uferfelsen führte.

Tatsächlich – der Kutter war hier ohne jede Wache zurückgelassen worden, war leer. Die Durchsuchung nahm nur wenige Minuten in Anspruch, da es sich um ein einfaches Frachtschiff von ziemlich plumper Bauart handelte.

Wir verließen es wieder – ziemlich enttäuscht, da wir im stillen damit gerechnet hatten, unsere drei Freunde in dem Kutter gefesselt vorzufinden und ohne besondere Mühe befreien zu können – eine trügerische Hoffnung, deren Fehlschlagen uns um so schwerer traf, als wir nun unbedingt abermals nach dem Höhleneingang suchen mußten, schon um einem Kampf zwischen den Wahnsinnigen und den Leuten der Rani vorzubeugen, wie Harald mit besonderem Ernst betonte, während wir dem Uferwalde zustrebten … Auffallenderweise schlug Harst die Richtung nach der einzelnen Palme mit der Schildkrötentafel ein, – noch auffallender, daß er trotz der völligen Unmöglichkeit, sich bei diesem Regen irgendwie zu orientieren, den Baum ohne jeden Umweg erreichte, wieder ein Beweis dafür, wie ungewöhnlich scharf seine Sinne sind …

Mich freilich wunderte es, weshalb er gerade dieses Ziel gewählt hatte, weshalb er nun vor dem schlanken Palmenstamm stehen blieb und mir leise zurief: „Halte den Zipfel deines Ölmantels über den Schild, mein Alter …!“

Ich tat’s … Und beobachtete, wie er rasch die kleine Blendlaterne anzündete, die er aus der Kajüte der Jacht mitgenommen hatte … – wie er jetzt den schwachen Lichtschein auf die feine Maserung des nassen, triefenden Schildpatts fallen ließ, und mit dem Zeigefinger der rechten Hand nun in ein paar Rillen entlangfuhr …

„Eingeritzt,“ sagte er … „Eingeritzt – nicht Natur! Vielleicht hat der Vater der Rani einst diesen Rückenpanzer hier befestigt – für seine Tochter, damit sie den Weg zu der Goldader fände … – Sieh, mein Alter, einen Zweck mußte dieser Schild doch haben … Und – Amalgi kannte diesen Zweck, deshalb sprach er von „Insel“ und „Schildkröte“ … – Hier – – diese eingekerbten Linien besagen genug … Folge mir jetzt … Ich habe mir diese Skizze genügend eingeprägt …“

Quer durch den Waldstreifen ging’s …

Büsche und Sträucher überschütteten uns mit dicken Tränen ihrer regennassen Blätter …

Hinein in diese Felswildnis der Mitte der Insel ging’s … Hinein in diese natürlichen Gassen zwischen mächtigen Steinblöcken … Und nicht einen Moment zögerte Harald, – – bis wir einen fast kreisförmigen freien Platz erreicht hatten, bis Harst sich nach links zu einer schroffen, glatten Felsmauer wandte …

Und – – es regnete, regnete …

Undeutlich vor uns diese Felsmauer, an deren Fuß drei kleinere Blöcke ruhten …

Undeutlich nur – hinter den Schleiern der stürzenden Wasser verborgen, – – und dennoch jetzt von dort her ein grell aufblitzender Lichtschein …

Einer der drei Blöcke hatte sich verschoben, hatte ein Loch im Boden freigelegt, – – den schrägen Zugangsschacht einer größeren Grotte … Aus diesem Schacht sprang ein Mensch hervor, riß einen zweiten nach sich … Ein dritter folgte: unsere drei Gefährten!

Amalgi mit einer Karbidlaterne in der Hand erkennt uns.

Brüllt – – brüllt heiser wie ein Besessener:

„Fliehen – – fliehen – – Dynamitpatronen!“

Und im selben Moment aus dem Schacht wie aus dem Trichter eines ungeheuren Lautsprechers ein wahnwitziges Gelächter …

Dieses irrsinnige Lachen wird abgelöst von einem ohrbetäubenden Knall …

Wir fühlen den Luftstoß der Explosion … Unter uns bebt die Erde … Über uns sausen Felstrümmer hinweg … Steinregen prasselt herab, als wir bereits unter einer überhängenden Wand Schutz gesucht haben …

Hier bleiben wir …

Amalgi berichtet kurz … Wie die Rani mit ihren Begleitern und den drei Gefangenen in die Grotte hinabstieg … Wie die fünfzehn Unglücklichen die Schar zunächst unbelästigt ließen, dann aber aus ihrem Versteck hervorquollen, den Rückweg versperrend … Wie Amalgi aus Not noch im letzten Augenblick sich den Rückzug durch seinen winzigen und doch so verderblichen Strahlapparat erkämpfte, fünf der Irrsinnigen niedersanken und die Flucht gelang, bevor die Sklaven der Rani noch die Kiste mit den Dynamitpatronen, die zur Freilegung der Goldader benutzt worden waren, hatten zur Explosion bringen können … –

Und dann wir fünf dorthin, wo es einst unterhalb der Felswildnis der Kuppe die Goldhöhle gegeben hatte … Sie existierte nicht mehr … Nicht einmal der Zugang war noch aufzufinden. Mit unheimlicher Kraft hatte der Sprengstoff hier einen gewaltigen Grabhügel zerfetzten Gesteins geschaffen, unter dem all die für immer verschwunden waren, denen des Schicksals unbarmherzige Lebensuhr hier ein Ziel gesetzt hatte, – – alle, alle, – – auch das Gold verloren – – für immer!!

Zwecklos kletterten wir noch auf dieser Stätte der Verwüstung umher … Das große Geheimnis der Insel der Toten war zugleich mit diesen geistig Gestorbenen und den Schuldigen vernichtet – – für immer! –

Und hiermit will ich diesen Band schließen …

Was ich noch über Doktor Amalgi zu berichten habe – und das Geheimnisvolle dieses genialen Menschen sollte uns noch so manches Rätsel aufgeben –, erfährt der Leser im folgenden Band, für den ich keinen treffenderen Titel ersinnen kann als den schlichten:

Wie Doktor Amalgi starb …

Seltsame, seltsamste Geschehnisse verknüpften sich mit Amalgis Tod zu einem Kriminalproblem eigenartigster Absonderlichkeit, – ein Problem, wie es nur Indien dem spürenden Sinn des geistvollen Detektivs zu bieten vermag …

Auf … Wiedersehen also … in den Vorbergen des „Daches der Welt“, des Himalaya-Gebirges …

 

Nächster Band:

Wie Doktor Amalgi starb …

 

Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Thar-Trapper“ / „Thartrapper“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Alles auf „Thar-Trapper“ geändert.
  2. „Thar-Wüste“ / „Tharwüste“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Alles auf „Thar-Wüste“ geändert.
  3. In der Vorlage ist „aus den Spuren …“ “ doppelt gedruckt.
  4. Hier fehlt in der Vorlage ein Wort und wurde sinngemäß ergänzt.
  5. Siehe auch Wikipedia: Arnold Böcklin (1827–1901).
  6. Die folgenden zwei Zeilen sind in der Vorlage vertauscht.
  7. In der Vorlage ist das Wort „und“ doppelt.
  8. Siehe auch Wikipedia: Sambhar Salt Lake.
  9. Hier fehlt in der Vorlage ein Wort und wurde sinngemäß ergänzt.