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Das Geheimnis der Sunda-See

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Geheimnis der Sunda-See.

 

W. Belka.

 

Bei der Abendtafel erschienen im Speisesaal der Ersten Kajüte von den 85 Fahrgästen nur noch drei Herren und zwei Damen: die beiden Ehepaare Söllner und Bergstedt und der junge Morwitz. All’ die übrigen hatten es vorgezogen in ihren Kabinen zu bleiben, da den meisten infolge der Seekrankheit schon der Gedanke an Speisen zur Zeit mehr als widerwärtig war.

Heinz Morwitz wandte sich, nachdem die Fleischbrühe gereicht war, an Frau von Bergstedt, die den geschniegelten, eingebildeten Menschen durchaus nicht leiden konnte, ihm aber aus Höflichkeit hin und wieder Rede und Antwort stehen mußte.

„So ein zweitägiger Sturm in der Sunda-See zeigt erst, wer wirklich seefest ist, nicht wahr, gnädigste Baronin? Heute kann man hier mit Recht sagen: In den öden Speisesälen wohnt das Grauen …!“

„Mit dieser Verbesserung seiner „Glocke“ dürfte Schiller kaum einverstanden sein“, meinte die ebenso schöne wie unnahbare Frau von Bergstedt ablehnend.

Ihr Gemahl dagegen, der sich eben ein Glas Wein einzuschenken versuchte, was bei dem starken Schlingern des Dampfers nicht ganz einfach war, lächelte ein wenig, während das Ehepaar Söllner, das den Bergstedts gegenübersaß, wieder so tat, als habe es des schönen Heinz bescheidenen Geistesblitz überhaupt nicht gehört. Söllners, die sich einmal durch eine ziemliche Körperfülle trotz ihrer jungen Jahre, dann aber auch durch überreichen Juwelenschmuck auszeichneten, standen sowohl mit der Baronin wie mit Morwitz auf gespanntem Fuße. Der Baron zählte hier nicht mit, da er ein Mann war, der in diese schlechte Welt überhaupt nicht hineinpaßte. Er suchte sich mit jedem gut zu stellen, milderte die hochmütige Schroffheit seiner Frau bei jeder Gelegenheit nach besten Kräften und kannte nur eine einzige Leidenschaft: Schmetterlinge! Er sammelte diese Insekten seit Jahren mit einem Eifer, über dem er beinahe weltfremd geworden war. Und vielleicht hatte gerade die stete Beschäftigung mit diesen zarten, kurzlebigen und teilweise in so wunderbarer Farbenpracht schillernden Geschöpfen alle Standesvorurteile in ihm beseitigt und sein Herz mir einer Güte und Rücksichtnahme angefüllt, die viele für Unbeholfenheit und mangelndes Selbstbewußtsein hielten.

Söllners also liebten die Baronin und den eitlen Morwitz deshalb nicht, weil sie sehr wohl fühlten, daß diese sich von ihnen als durch Zufall reich gewordenen früheren Kaufleuten absichtlich fernhielten, seit der dicke Herr Söllner einmal die Unvorsichtigkeit begangen hatte zu erzählen, daß er vor noch nicht allzu langer Zeit mit Heringen, freilich im großen, gehandelt habe. Diese mangelnde Wertschätzung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Die Baronin fand die etwas protzigen Söllners einfach unausstehlich, und genau so dachte Heinz Morwitz, der schlauer als der einstige Heringshändler war und keinem Menschen anvertraute, daß sein Vater seine Millionen durch Käse erworben habe. Wen ging das auch etwas an! Jetzt war er, Heinz Morwitz, der Sohn von „August Morwitz, Käse-Export und Import“, schneidiger, übervornehmer Student der Staatswissenschaften, und das mußte selbst adligen Ansprüchen – wenigstens seiner Ansicht nach! – genügen.

Mit einem Wort: es waren nicht gerade dicke Freunde, die sich heute so einsam im Speisesaal des Schnelldampfers „Germania“ zusammengefunden hatten, der auf seiner Gesellschaftsreise um die Welt jetzt von Batavia (Batavia, Hauptstadt der Insel Java) kommend in der insel- und klippenreichen Sunda-See auf dem Wege nach Sydney in Australien von dem bösen Orkan überrascht worden war.

Der schöne Heinz wollte gerade die Baronin durch eine Schmeichelei über deren Seefestigkeit günstiger für sich zu stimmen suchen, als das Schiff durch einen furchtbaren Stoß so stark erschüttert wurde, daß auf der Tafel Gläser, Flaschen und Teller wild durcheinander flogen und des Barons soeben halbgefülltes Rotweinglas seinen Inhalt im Bogen auf das duftige Seidenkleid der stark rundlichen Frau Söllner ergoß.

Wenige Minuten später stießen bereits die schnell zu Wasser gebrachten Boote, angefüllt mit den verängstigten Fahrgästen, von dem Dampfer ab, der sich auf einem verborgenen Riff den Boden aufgerissen hatte und nun mit unheimlicher Geschwindigkeit sank.

Ein Zufall wollte es, daß die fünf einzigen von der Seekrankheit nicht befallenen Reisenden sich in einem der kleineren Rettungsboote wieder zusammengefunden hatten, in dem sich außer ihnen noch ein Fahrgast aus zweiter Kajüte sowie vier der Matrosen der „Germania“ befanden, die jetzt eifrig die Riemen (Ruder) gebrauchten, um von dem dem Untergang geweihten Schiffe wegzukommen.

In der herrschenden Dunkelheit, die noch durch gerade jetzt einsetzenden Regen verstärkt wurde, gerieten die zehn Boote des Schnelldampfers bald auseinander. Dasjenige, in dem auch die schlanke Baronin und die wohlgenährte, pausbackige Frau Söllner nebst ihren Ehemännern saßen, trieb fünf Stunden später in die Bucht einer Insel hinein, nachdem es glücklich die Brandung überwunden hatte, und legte noch in stockfinsterer Nacht an einem Gestade an, das aus einem schmalen Uferstreifen bestand, hinter dem sich eine wie eine Mauer emporragende Steilküste erhob. Zum Glück war in dieser Bucht mit den haushohen Wänden von dem Orkan nur wenig zu merken. Das Wasser schwoll nur zu harmlosen Wellen an, die das Landen in keiner Weise behinderten.

Zwei der Matrosen und der Fahrgast zweiter Kajüte, der sich seinen Leidensgefährten inzwischen als junger deutscher Mechaniker namens Kramer vorgestellt hatte, halfen den beiden Damen jetzt aus dem Boot, die in ihren nassen Kleidern und den wirr um die Gesichter hängenden feuchten Haaren kaum mehr sich selber glichen. Nachdem das Boot dann auf den Strand gezogen war, suchte die ganze Gesellschaft in einer Felsspalte der Steilküste vor den erneut herabströmenden Regenfluten Schutz. Fröstelnd und erschöpft hockte man hier dicht nebeneinander, und die Baronin war froh, daß sie wenigstens in Frau Söllner eine mitfühlende Seele fand, die sie in ihrer Verzweiflung tröstete und nicht wie die männlichen Geretteten ihre Klagen um ihre Koffer mit [all den kost]baren[1] Toiletten und Wäschestücken kaum verstanden. Nur der schöne Heinz, dem in dieser [Unglücksnacht][2] sogar sein Monokel abhanden gekommen war, versuchte ebenfalls den Verlust seiner Garderobe als das Entsetzlichste bei diesem Schiffbruch hinzustellen, wurde aber sehr schnell still, als der junge Mechaniker lässig bemerkte, an derartigem Plunder sei doch wenig gelegen, wenn man nur das Leben gerettet habe.

Endlich begann dann der Morgen zu grauen. Mittlerweile hatte sich bei den Schiffbrüchigen, als erst die furchtbare Nervenanspannung dieser Schreckensnacht vorüber war, ein starkes Hungergefühl eingestellt. Daher wollten jetzt die Matrosen aus den in jedem Rettungsboot in wasserdichten Verschlägen befindlichen Proviantvorräten einige Büchsen Konserven herbeiholen. Sehr bald erschienen sie aber tief niedergeschlagen wieder in der Felsspalte. Das Boot war nicht mehr da. Bei Ebbe hatte man es auf das Land gezogen, und die jetzt zurückkehrende Flut mußte es entführt haben.

Weiter aber brachten die Matrosen noch die wenig erfreuliche Nachricht mit, daß die Flutwelle inzwischen auch, ohne daß einer von den Schiffbrüchigen an die durch die Gezeiten (Ebbe und Flut) bedingte Veränderung in der Wasserstandshöhe der Bucht gedacht hätte, den flachen, kaum 80 Meter breiten Uferstreifen bis zu der Steilküste bereits völlig überspüle, so daß ein Verlassen der Felsspalte erst nach Eintritt der Ebbe möglich sei, mit dem man kaum vor zwölf Stunden rechnen könne, da die Gezeiten in diesen Gewässern nur ein Mal an einem Tage wechseln.

Diese Mitteilung, die nichts anderes bedeutete, als daß man für einen halben Tag in diese enge Felsspalte unwiderruflich eingesperrt war, veranlaßte den Baron dazu, sich die unerfreuliche Lage selbst anzusehen. Er trat aus ihrem Schlupfwinkel auf den von Gesteintrümmern gebildeten Hügel hinaus, über den hinweg man in die schützende Felsöffnung gelangt war, und musterte mit ernstem Blick bei der stets zunehmenden Tageshelle die Umgebung. Zur Rechten war jenseits des Einganges der Bucht der leuchtende Schaumstreifen der wütenden Brandung zu bemerken, deren Toben und Brüllen von den hohen Wänden verstärkt zurückgeworfen wurde. Zur Linken zog sich die Bucht, schnell sich verengernd, mit ihren steilen Abhängen in einem Bogen tiefer in das Land hinein. Zu den Füßen des Barons aber lag der jetzt fast um das Doppelte verbreiterte Wasserspiegel dieses Einschnittes und umschloß den Hügel von drei Seiten, während hinter diesem die reichlich 20 Meter hohe Felswand emporragte. Kleine Flutwellen, die von der See schäumend und gurgelnd sich näherten, leckten immer höher an dem Gestein des Hügels hinauf, ein Beweis dafür, daß die höchste Flutgrenze noch nicht erreicht war.

Als Herr von Bergstedt, ein Mann Anfang der Vierziger mit einem feinen, durchgeistigten Gelehrtengesicht, sich überzeugt hatte, daß die Matrosen nicht zu Unrecht mit so niedergeschlagenen Gesichtern wieder erschienen waren, ging er in die Felsspalte zurück, die sich in kurzen Windungen und allmählich ansteigend ziemlich tief in den Abhang hineinzog. Hier bestürmte ihn seine Gattin mit allerlei Fragen, auf die er nur durch ein Achselzucken antwortete welches mehr sagte als Worte.

Die Baronin begann denn auch sofort verzweifelt zu jammern, wobei der schöne Heinz, der in seinem durchweichten Jackenanzug mit seidenen Aufschlägen und dem zerknitterten Kragen recht trübselig dreinschaute, sie wirksam unterstützte, indem er den Matrosen die Schuld daran zuschieben wollte, daß man in diese traurige Lage geraten sei.

Auch jetzt griff Fritz Kramer, der Mechaniker, ein frischer, hübscher Mensch von zwanzig Jahren, recht tatkräftig ein, um diesem zwecklosen Gestöhn und Gerede ein Ende zu machen. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die hier jedoch ganz angebracht war, erklärte er, durch dieses Gejammer werde die Sache nicht besser. Man müsse vielmehr den Versuch machen, diesen Ort zu verlassen, um anderswo zunächst Nahrungsmittel – Früchte oder dergleichen – zu beschaffen. Er wolle daher jetzt einmal tiefer in die Felsspalte eindringen und zusehen, ob diese nicht vielleicht einen Durchgang nach dem Innern der Insel darstelle.

Frau von Bergstedt warf ihm wegen des „Gejammers“ einen empörten Blick zu, der Kramer jedoch völlig kalt ließ. Morwitz wagte ebensowenig eine Erwiderung. Dieser Mechaniker hatte trotz seiner Jugend etwas in seinem Auftreten, das einen überlegenen Charakter verriet und davor warnte, mit ihm irgendwie anzubinden.

Bevor Kramer dann, begleitet von den Matrosen, in den tieferen Teilen der Spalte verschwand, riet er den Zurückbleibenden noch, sich jetzt im Freien vor dem Eingang niederzusetzen, damit die inzwischen erschienene Sonne die nassen Kleider trockne. Dieser Anregung folgte man denn auch. Jetzt beim hellen Tageslicht sahen die Schiffbrüchigen erst, wie kläglich ihre äußere Erscheinung war. Besonders die Damen mit ihren hellen Seidenfähnchen und den zerstörten Frisuren, unter denen jetzt ungepuderte Gesichter mit erheblich anderer Hautfarbe als früher zum Vorschein kamen, wirkten geradezu mitleiderregend. Dicht nebeneinandergedrängt hatten die fünf sich auf den harten Boden niedergelassen. Alles, was man noch vor kaum zwölf Stunden an gegenseitiger Abneigung in den Herzen getragen hatte, war vergessen. Frau Söllner war froh, daß die Baronin genau so wenig damenmäßig aussah wie sie selbst. Und die schlanke Frau von Bergstedt wieder empfand es als Erleichterung, daß sie wenigstens nicht als einzige weibliche Person dieses schreckliche Abenteuer durchmachen mußte.

Erschöpft, todmüde und gepeinigt von Hunger und Durst starrten diese Menschen jetzt mit matten Augen vor sich hin auf die Wasserfläche der Bucht, wechselten nur hin und wieder einige Worte und waren doch glücklich, daß das Unwetter sich ausgetobt hatte und die Sonne vom klaren Himmel ihre wärmenden Strahlen herabschickte. Söllner, der gleichfalls in einem feinen Jackenanzug steckte, dessen Sitz und Aussehen nunmehr jedoch kaum noch den einst dafür bezahlten teuren Preis verrieten, zeigte sich ganz gefaßt und bewahrte auch hier seine unverwüstliche Hoffnungsfreudigkeit, indem er wiederholt erklärte, dieses Trauerspiel könne ja nicht lange dauern, da die Insel sicherlich bewohnt sei und man bald Gelegenheit finden werde, in „von der Kultur beleckte Gegenden“ zurückzukehren. Gerade diese Bemerkungen waren es, die dem geknickten Mut der Baronin einigermaßen wieder aufrichteten, und sie dankte diese Auffrischung ihrer Lebensgeister dem früheren „Heringshändler im Großen“ durch ein paar „lieber Herr Söllner“, die diesem ein strahlendes Lächeln entlockten.

Vier Stunden später … Frau von Bergstedt war vor Erschöpfung eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte an der Schulter Frau Söllners, die ihren Arm jetzt stützend um die Baronin gelegt hatte. – Heinz Morwitz sah ganz grüngelb im Gesicht aus. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Felswand. Soeben hatte er nach der Uhr gesehen. Gestern um diese Zeit war der Kabinenwärter auf der „Germania“ von ihm grob angefahren worden, weil er ihm nicht wie sonst punkt acht Uhr das Frühstück gebracht hatte. Der Gedanke, daß er gestern auch die weichgekochten Eier bemängelt und die Röstbrötchen zu braun gefunden habe, bereitete dem Ausgehungerten geradezu körperliche Schmerzen. – Eier – Aufschnitt – Brot – – wie würde er heute einhauen, wie würde es ihm schmecken …!! – Aber … – – und der schöne Heinz seufzte laut auf.

Söllner schlief ebenfalls fest. Er schnarchte die ganze Tonleiter herauf und herunter. Dafür hatte der Baron den Seufzer des jungen Millionärs gehört und wandte den Kopf nach ihm hin. Schon öffnete er die Lippen zu einem tröstenden Wort, als er bemerkte, daß Morwitz’ Augen einen anderen, gespannten Ausdruck annahmen. Jetzt hob dieser auch den Arm und deutete über die Bucht hinüber auf eine breite Öffnung in der jenseitigen Steilküste, die einen Ausblick auf ein Stück tropischen Urwaldes freigab.

Vier Wildschweine waren zwischen den vordersten Riesenfarnen erschienen und rasten in kopfloser Flucht auf die Bucht zu. Dann erschien noch ein fünftes, ein mächtiges Tier mit weißen, leuchtenden Hauern hinterdrein.

„Ah – die Schweine werden sicher verfolgt, vielleicht von …“

Der Baron beendete den Satz nicht. Das Wort blieb ihm im Munde stecken.

Drüben war aus dem Grün der Farne ein geschmeidiger, gelbbrauner, von schwarzen Querstreifen bedeckter Körper hervorgeschnellt, dem sofort ein zweiter folgte: ein Tigerpärchen … (Der auf den Sundainseln vorkommende Tiger ist etwas kleiner und dunkler gefärbt als der bengalische (indische) Tiger. Außer diesen beiden Arten (bengalischer und Javatiger) gibt es noch den sibirischen Tiger, der ganz hell gefärbt ist.)

Morwitz stieß einen gellenden Schreckensruf aus, bevor noch der Baron ihn mit einer Handbewegung nach den Damen hin zu vorsichtigem Schweigen ermahnen konnte. Die Baronin erwachte, fuhr empor. Da hatte schon Frau Söllner die Raubtiere erblickt. Ihr kam eine Erinnerung an den Zoologischen Garten in Berlin … Und hier sah sie nun diese Bestien keine dreihundert Meter entfernt in voller Freiheit hinter den armen Wildschweinen herjagen, die jetzt eben in dem aufschäumenden Wasser der Bucht verschwanden, und dann mit hochgereckten Köpfen auf einen Punkt zuschwammen, der etwas seitwärts von der Felsspalte lag.

Frau Söllner kreischte vor Angst in höchsten Fisteltönen, denn auch die beiden Tiger setzten nun in weitem Sprung in die Fluten. Die Baronin begann jetzt laut um Hilfe zu rufen, nachdem sie die Schlaftrunkenheit abgeschüttelt und die Sachlage überschaut hatte. Der schöne Heinz aber war als der Anstifter dieser Schreckensszene längst im Innern des Felsspaltes verschwunden.

Auch Bergstedt und Söllner waren bleich geworden. Die wahnsinnige Angst der beiden Frauen wirkte besonders auf den früheren Heringshändler ansteckend. Er trippelte leichenblaß mit vorquellenden Augen von einem Bein auf das andere und leckte sich in einem fort die Lippen.

Der Baron gewann als erster die Fassung zurück. Schnell drängte er die Damen in die breite Gesteinöffnung hinein, rüttelte den dicken Söllner energisch am Arm und befahl ihm, die Frauen möglichst weit in die Felsspalte hineinzuführen.

Nun war er allein auf dem engen, trockenen Platz. Da – vom Wasser her das angstvolle Aufquieken eines der Wildschweine. Es war der Eber mit den prächtigen weißen Hauern, den der vorderste der Tiger, sich ein Stück aus dem Wasser hochschnellend, mit dem furchtbaren Gebiß gepackt hatte, um mit der noch zappelnden Beute jetzt nach dem Ufer zurückzuschwimmen. Die anderen Schweine hatten sich zerstreut, und eines von ihnen, dem der zweite Tiger dicht auf den Fersen war, strebte plötzlich in höchster Todesangst auf den Felshügel zu, von dessen vom Wasser freigebliebener Spitze der Baron mit kaltblütiger Ruhe dieses aufregende Drama aus dem Tierleben weiterverfolgte.

Blind vor Entsetzen suchte das Wildschwein nur möglichst schnell aus dem Wasser herauszukommen. Die Gestalt des Menschen schreckte es nicht, wo es den schlimmeren Feind hinter sich wußte. Nun faßte es mit den Vorderfüßen Grund, nun schoß es triefend aus dem Wasser heraus und in die Felsspalte hinein, ganz dicht an Bergstedt vorüber.

Der Tiger war vielleicht noch sechs Meter entfernt. Der Baron bückte sich, hob einen schweren Felsbrocken auf, warf und … traf wirklich. Gerade zwischen den schillernden, mordgierigen Katzenaugen prallte der Stein auf, dem sofort ein zweiter, ein dritter folgten. Dieses überraschende Bombardement veranlaßte die braungelbe Katze zur Umkehr. Mit blutiger Schnauze und stellenweise zerfetzter Kopfhaut gab sie den Kampf auf und schwamm zum jenseitigen Ufer hinüber, wo sie zwischen dem grünen Blättervorhang des Urwaldes verschwand. Diesen Weg hatte auch der andere Tiger mit dem erbeuteten Wildschwein im Rachen eingeschlagen.

Baron von Bergstedt aber lehnte einer Ohnmacht nahe an die Felswand. Jetzt nach dem Siege kam der Rückschlag, jetzt versagten seine Nerven – zum Glück erst jetzt! Völlig erschöpft schloß er die Augen, da sich alles um ihn her im Kreise drehte. Als er sie wieder öffnete, lag die Bucht wie vorher da. Nichts erinnerte mehr an die Szenen, die sich hier vor wenigen Minuten abgespielt hatten. Wie ein wilder, wirrer Traum erschien das Ganze dem Baron, so unwirklich, so unmöglich, daß er an dessen Tatsächlichkeit gezweifelt haben würde, wenn ihm nicht die zerkratzte Innenhaut seiner rechten Hand und die von der Anstrengung des Werfens schmerzenden Muskeln desselben Armes als sichere Beweise gedient hätten.

Dann dachte er an seine Gattin, an Söllners und … den schönen Heinz. Das feine Gesicht des Barons überlief ein verächtliches Lächeln. Was er von diesem geschniegelten Schwätzer zu halten hatte, wußte er nunmehr ganz genau. Und weiter fiel ihm das Wildschwein ein, das in derselben Felsspalte vor dem Tiger Zuflucht gesucht hatte, in der dieser Morwitz als erster seine Haut in Sicherheit gebracht hatte. Was war aus dem Tiere geworden?! Sonderbar, daß es vor den in dem Spalte zusammengedrängten Menschen nicht wieder ins Freie zurückgeflüchtet war. Und – wo blieb eigentlich der junge Mechaniker mit den Matrosen?! Die fünf Leute hätten doch längst zurück sein müssen, längst! Die Uhr ging ja bereits auf halb neun. Mithin waren sie bereits mehrere Stunden unterwegs. Ob ihnen etwas zugestoßen sein mochte …?! – Harmlos war diese Insel nicht. Dafür hatte er schon recht deutliche Beweise erhalten.

Bange Sorge um den mutigen, energischen jungen Landsmann und die braven Matrosen trieb Bergstedt in das Halbdunkel des Spaltes hinein. Nun bog er um die erste Ecke, hinter der sie sämtlich die vergangene Nacht auf dem harten Gestein sitzend zugebracht hatten. Niemand da. Weiter drang der Baron vorwärts. Es mußte ja hier eine Fortsetzung dieses unebenen Tunnels geben, die irgend wohin führte – vielleicht aufwärts auf die Höhe der Steilküste. In der Tat lief dieser natürliche Felsengang sehr bald recht steil nach oben, ohne daß es ringsum dunkler wurde. Diese halbe Dämmerung blieb vielmehr bestehen, so daß Bergstedt ziemlich schnell vorwärts kam. Das Licht gelangte von oben herein, wo der lange Felsriß sich im Bogen durch die ganze Uferwand hindurchzog.

Noch immer keine Spur von seinen Leidensgefährten. Dann wurde der Gang vorn heller und heller. Eiliger hastete der Baron voran, von allerlei Befürchtungen stets aufs neue heimgesucht. Nun trat er auf einen schmalen Felsgrat hinaus in das volle Tageslicht, das seine Augen blendete und ihn doch ein wunderbares Bild mit aller Deutlichkeit erkennen ließ.

Hinter ihm ragte das Felsmassiv noch ungefähr fünf Meter senkrecht in die Luft. Er selbst stand auf einem etwa drei Meter breiten, wagerechten Vorsprung, der sich nach rechts und links hin wie ein Gebirgsweg bald auf- bald niedersteigend in den Felsen verlor. Vor ihm aber senkte sich die Wand steil nach abwärts. Wie tief, war nicht zu erkennen, denn unten wucherte ein Urwald in all seiner wilden Schönheit, dessen Baumwuchs seine Äste und Zweige mit ihrer grünen Blätterfülle und ihren Schlingpflanzen, die sich wie Schmuckketten bald im Bogen von Stamm zu Stamm schwangen, bald wie endlose Seile herabhingen, noch über den Pfad hinwegragen ließ. Und gerade vor seinem Standort gewährte ihm eine Lücke den Durchblick auf eine kleine, nicht allzu weit entfernte Lichtung, auf der die ganze üppige Pflanzenwelt der von der Natur so überaus begünstigten Sundainseln sich ein Stelldichein gegeben zu haben schien. In allen Farben leuchteten dort die Blüten und in allen Größen, vom grellsten Rot bis zum schimmernden Gelb. Eine Farbenorgie war’s, wie nur die Tropen sie hervorrufen kann. Und darüber hinweg schwebten nicht minder bunte Schmetterlinge, unter denen blaue Riesenfalter und goldig glänzende kleinere Arten besonders auffielen. In den Zweigen aber flogen unzählige Tauben hin und her, ebenfalls in allen Farbenschattierungen und Größen, da ja gerade die malaiischen Inseln allein gegen achtzig verschiedene Arten beherbergen.

So unendlich viel gab es für den Baron zu sehen, daß er darüber fast die Wirklichkeit vergaß. Sein Sammlerherz erfreute sich hauptsächlich an den buntschillernden Schmetterlingen, von denen er jeden einzelnen mit dem wissenschaftlichen Namen hätte nennen können. Versunken in dieses Bild tropischen Urwaldzaubers hielt er sich ganz regungslos, bis das wilde Kreischen einer aufgescheuchten Meerkatzen-Herde (gehören zur Familie der schmalnasigen Affen, sind hochbeinig, schlank, meist goldbraun gefärbt, haben bunte (rot, blau) Gesäßschwielen und gehören zu den besten Kletterern), die in toller Jagd durch die Baumwipfel turnte, ihn wachrüttelte.

Da erst schaute er nach den Gefährten aus, spähte den Felspfad nach beiden Seiten hin entlang. Nichts – nichts! Seine Unruhe, seine Angst steigerten sich. Hastig verfolgte er auf gut Glück den schmalen Höhenweg erst nach links. Doch sehr bald merkte er, daß es hier kein Weitervordringen gab. Immer enger wurde der Grat, bis er gänzlich in die Steilwand überging. Also zurück und nach der anderen Seite das Suchen fortgesetzt! Jeden Augenblick hoffte er die hellen Kleider der Damen irgendwo auftauchen zu sehen. Jetzt senkte der Pfad sich in die Tiefe hinab. Noch einige Minuten, und der Baron hatte den ebenen Boden erreicht, eine mit Felstrümmern übersäte Terrasse, auf der riesige Farne, meterhohes Alanggras und einzelne Koniferen gruppenweise an fruchtbaren Stellen kleine grüne Inseln bildeten.

Hier erst bemerkte Bergstedt, daß der Weg, auf dem er soeben entlang geeilt war, offenbar häufiger begangen wurde. Niedergetretenes Gras und eine kaum wahrnehmbare hellere Linie auf dem Gestein kennzeichneten die Fortsetzung des Pfades, auf dem der Baron nun weiterhastete. Plötzlich zögerte sein Fuß. Eben hatte er eine der Bauminseln umschritten, als sich vor ihm ein flaches, rings von Wald umschlossenes Tal öffnete, dessen kahler, grauschwarzer Steinboden auch nicht die geringste Spur von Pflanzenwuchs aufwies. Nichts gab es da als toten, starren Fels, traurige, düstere Geröllmassen und … Knochen, weiße, glänzende Knochen von allerhand Tieren, zum Teil noch ganze Skelette bildend. Alles war hier vertreten in letzten, schwerer vergänglichen Überresten: Vögeln Affen, Raubtiere mit langen Fangzähnen, die blank und gelblich aus dem Weiß der Kiefer hervortraten.

Ein seltsames Gefühl des Grauens beschlich Bergstedt beim Anblick dieser Stätte des Todes. Überall schimmerten die hellen Skelette, ein unheimlicher Schmuck für dieses eiförmige, vielleicht hundert Meter breite Felsental. Aber zwischen dem Grauschwarz des Gesteins hob sich noch etwas anderes ab, für die kurzsichtigen Augen des Barons nur große, dunkelblaue Flecke zunächst, die für den Näherkommenden dann bald bestimmte Formen annahmen.

Jeder Blutstropfen wich Bergstedt aus dem Gesicht: die vier Matrosen waren’s in ihren blauen Anzügen … – Still lagen sie da in seltsam zusammengekrümmten Stellungen. Zwanzig Schritt mochte er noch von ihnen entfernt sein. Und der Wunsch festzustellen, was hier geschehen war, trieb ihn näher heran. Da – er begann zu taumeln. Alles drehte sich um ihn. Noch ein letzter Gedanke: „ein Schwächeanfall wirft Dich nieder …!“ noch eine letzte Empfindung, daß irgend etwas ihn von hinten packte und zurückriß, – – dann wurde er ohnmächtig.

* * *

Als er wieder zusichkam, lag er im Schatten einer kleinen Baumgruppe am Boden. Der junge Mechaniker saß neben ihm mit einem frohen Leuchten in den ehrlichen Augen. Und nun sagte Fritz Kramer ernst, indem er Bergstedt half sich mit dem Oberkörper aufzurichten:

„Viel fehlte nicht, und Sie wären ebenfalls ein Opfer des Gifttales geworden, Herr Baron. – Doch nun trinken Sie zunächst von dieser Kokosmilch. Die Kokosnuß habe ich für sie besonders aufgeschlagen.“

Bergstedt war seltsam wirr im Kopf. Aber der süßliche Saft erfrischte ihn. Während er trank, suchte er seine trägen Gedanken zu ordnen. Gifttal … Gifttal … – ja, so hatte Kramer sich ausgedrückt. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Richtig – die Sundainseln waren ja bekannt dafür, daß auf ihnen stellenweise giftige Erdgase, so besonders Kohlensäure und Kohlenwasserstoffgemenge, tiefen Spalten entströmen, die die Luft weithin verpesten und jedes Lebewesen ersticken, das einige Zeit sich an diesen gefährlichen Orten aufhält. Selbst Pflanzen fliehen diese Stellen, über denen die verderblichen Gase sich ansammeln. Und die Skelette der zufälligen Opfer dieser Gifttäler warnen jeden Kundigen, rufen ihm zu: Meide diesen Ort! – –

* * *

Dann erzählte der Mechaniker, was inzwischen geschehen war. Die Matrosen waren ihm ein Stück vorausgeeilt und hatten ahnungslos das Tal betreten. Als er sich ihnen wieder anschließen wollte, um die Suche nach eßbaren Früchten fortzusetzen, hatten die Gase sie bereits betäubt gehabt. Er selbst kannte die Gefahr. Ein volles Jahr hatte er ja in Batavia auf Java in einer Fabrik gearbeitet und genug von den Eigentümlichkeiten des Landes erfahren. Trotzdem versuchte er die Unglücklichen zu retten. Aber schon nach den ersten Atemzügen in der vergifteten Luft merkte er, wie ein Schwindel ihn ergriff, und nur mit äußerster Kraftanstrengung hatte er sich noch bis an den Talrand zu schleppen vermocht, wo er bewußtlos zusammenbrach und gerade erst wieder erwachte, als der Baron das Tal betrat. Rufen konnte er nicht. Die Kehle versagte ihm noch den Dienst. Aber die Angst um das Leben Bergstedts gab ihm doch im letzten Augenblick soviel Kraft, um zu dem bereits Taumelnden hinzueilen und ihn aus dem Bereich der giftigen Gase herauszuschleppen.

Der Baron drückte seinem Retter stumm die Hand. In diesem Händedruck und dem dankbaren Blick, der ihn begleitete, lag mehr als viele Worte zu sagen vermögen.

Dann fragte Bergstedt, der sich zusehends erholte, ob Fritz Kramer nichts von den übrigen Schiffbrüchigen bemerkt habe. Der Mechaniker war ebenfalls lebhaft beunruhigt, als er nun vernahm, daß die vier anderen Gefährten sich offenbar recht weit entfernt hatten. Nicht minder erschreckt zeigte er sich über das Abenteuer des Barons mit dem Tiger. Er erklärte, es sei ihm nicht ganz klar, wie auf diese Insel, denn um eine solche konnte es sich den ganzen Umständen nach nur handeln, so großes Raubwild wie Tiger hingelangt sein könnte. Diese kämen nur auf Sumatra und Java, sonst auf keiner einzigen der Sundainseln vor.

Doch diese Frage jetzt weiterzuerörtern, dazu ließen die beiden Deutschen sich keine Zeit. Für sie gab es Wichtigeres zu tun. Die vier armen Blaujacken waren nicht mehr zu retten. Sie mußten längst erstickt sein. Auch ihre Leichen zu bergen und zu bestatten war vorläufig unmöglich. Alle Sorge vereinigte sich also auf die Überlebenden der kleinen Schar, von denen man jetzt selbst auf Kramers laute Rufe keinerlei Antwort erhielt. Hierdurch noch mehr beunruhigt, begannen die beiden nun die Umgebung in weitem Umkreise ganz planmäßig abzusuchen. Immer wieder ließ der Mechaniker seine kräftige Stimme erschallen. Aber lediglich die zahlreichen Affen, die in den Kronen der Urwaldriesen umhertollten, antworteten durch Quieken und Kreischen, als seien sie über diese Störung tief empört.

Bergstedt war bereits ganz mutlos geworden. Die drückende Hitze – befand man sich doch in den ersten Tagen des Juni, wo auf den Sundainseln mit einer Durchschnittstemperatur von 30 Grad gerechnet werden muß – trieb ihm den Schweiß in Strömen aus allen Poren. Schließlich machte Fritz Kramer, der ebenfalls wenig Hoffnung hatte, daß dieses Verschwinden der vier Personen auf harmlose Weise erklärt werden könne, den Vorschlag, man solle einmal ganz sorgfältig die Umgebung des Gifttales nochmals absuchen. Einen Grund hierfür gab er nicht an. Doch der Baron konnte sich selbst sagen, woran sein junger Landsmann dachte, eben daß die verpestete Luft vielleicht noch mehr Opfer gefordert haben könnte, die irgendwo im Dickicht schon halb bewußtlos umgesunken seien.

Auch diese Streife durch das unwegsames Unterholz blieb völlig ergebnislos und brachte den beiden Schiffbrüchigen nur insofern schwere Nachteile ein, als sie sich unter dem dichten Blätterdach des hier zumeist aus Feigenbäumen, Palmen, Pandanen und Rasamalabäumen (der Rasamala kommt hauptsächlich auf den malaiischen Inseln vor, wird über 50 Meter hoch und überragt mit seiner kugeligen Krone weit die anderen Urwaldriesen. Seine lederartigen Blätter wechselt er nie. Sein wohlriechendes Harz ist sehr gesucht) bestehenden Urwaldes, durch das kein Sonnenstrahl zu dringen vermochte, schließlich verirrten und erst nach einer halben Stunde glücklich auf eine weite Lichtung gelangten, wo sie sich sofort ermattet im Schatten einer Riesenfarngruppe niederwarfen. Keuchend, stumm und in Schweiß gebadet lagen sie da, kaum noch fähig zu denken. Die unter den Bäumen lastende Schwüle hatte selbst Fritz Kramers Kräfte völlig erschöpft. Ohne es selbst zu wissen waren sie dann in kurzer Zeit fest eingeschlafen.

Der junge Mechaniker erwachte zuerst und zwar infolge des furchtbaren Lärmes, den eine Herde von Makaken in drei in nächster Nähe stehenden Kokospalmen verübte. Diese mit einem starken Gebiß versehenen, äußerst kräftigen und dem bekannteren Mandrill ähnlichen Affen gebärdeten sich derart toll, daß Kramer sofort argwöhnte, irgend ein Feind dieser ebenso schlauen wie vorsichtigen Tiere müsse von ihnen bemerkt worden sein. Behutsam stand er daher auf und versuchte das schilfartige, sehr hohe Alanggras mit den Blicken zu durchdringen. Er sah, daß die Makaken jetzt sogar unreife Kokosnüsse abrissen und nach einem kaum zwanzig Meter entfernten Gebüsch zu schleudern suchten. Eine Lücke in dem Grasmeer gestattete ihm, auch die unteren Teile dieser Sträucher da vor ihm zu überblicken. Und was er zwischen dem grünen Blättervorhang erst nur wie einen gelben Fleck, dann aber ganz deutlich sah, war der prächtige Kopf eines Tigers, der lüstern nach den Palmen hinaufschaute.

Sofort ließ er sich wieder zu Boden fallen, weckte den Baron und zog ihn halb kriechend mit sich fort dem nahen Urwald zu. Bergstedt brauchte gar nicht zu fragen, ob ihnen irgend eine Gefahr drohe. Das bleiche Gesicht seines Gefährten sagte genug. Schweigend rannten sie jetzt tief gebückt dahin. Nun hatten sie die erste Pandane erreicht, an deren meterhohen Luftwurzeln sie bequem emporklettern konnten.

Und keinen Augenblick zu früh kamen sie auf den untersten der Äste an. Kaum hatten sie sich, schwer nach Atem ringend, auf diesen luftigen Sitz nieder gelassen, als der gelbe Körper des Tigers aus dem Grase hochschnellte und seine Tatzen in die rissige Rinde eingrub, die unter dem Gewicht des Tieres sich jedoch in einem großen Stück abschälte, so daß die Riesenkatze wieder zurückfiel. Ohne Zweifel hatte der Tiger sie gewittert und war ihnen nachgeschlichen, hier leichtere Beute erhoffend als unter dem flinken Affenvolk, das in den Palmen drüben noch immer schnatterte und kreischte.

Eilig waren die beiden waffenlosen Männer noch höher in den Ästen emporgestiegen, bis sie von dieser ersten auf eine zweite Pandane hinüberturnen konnten, die mit ihrem Blätterdach bereits mitten in dem Zweiggewirr des Urwaldes stand. Dann übernahm Kramer die Führung. Mit forschendem Blick suchte er einen möglichst bequemen Weg durch die Baumkronen, der sie, bald tiefer, bald höher über der Erde, in guter Deckung stets unweit des Randes der Lichtung weiterführte. Eine gute halbe Stunde kletterten sie, mehr als einmal in Gefahr abzustürzen, auf diesem schwankenden Pfade nach Osten zu, wie der Mechaniker mit Hilfe seines kleinen Taschenkompasses, den er an der Uhrkette trug, feststellte. Absichtlich hatte Kramer gerade diese Richtung eingeschlagen, da er berechnet hatte, daß nach dorthin die Bucht und die Felsspalte zu suchen sein müßten, die den Schiffbrüchigen die erste Aufnahme gewährt hatten. Einmal machten sie während dieses anstrengenden Marsches auch kurze Rast, um mit den orangeförmigen Früchten der Pandanen ihren Hunger zu stillen.

Von dem Tiger hatten sie nichts mehr gehört und gesehen. Und doch sollten die Schrecken dieses Tages für sie noch lange nicht vorüber sein. Dieses Mal war es der Baron, der trotz seiner schlechten Augen plötzlich ein dunkles Tier bemerkte, das gerade mit genau abgepaßtem Sprung keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt sich von einem Ast eines kleinen Rasamalabaumes in die Gabel eines anderen schnellte, wo es dicht an den Stamm geschmiegt liegen blieb und jede Bewegung der beiden Deutschen mit funkelnden Augen belauerte.

Fritz Kramer, von dem Baron auf diesen neuen Feind aufmerksam gemacht, hauchte mehr als er sprach nur die schwerwiegenden Worte: „Ein schwarzer Panther …“ worauf Bergstedt, mehr ergrimmt als ängstlich erwiderte:

„Diese Insel ist ja wahrhaftig die reine Raubtier-Menagerie! Auf Schritt und Tritt stößt man hier auf allerlei Bestien … Ich wünschte nur, ich hätte meine gute Kugelbüchse hier …! Die liegt ja aber leider mit unserer schönen „Germania“ auf dem Grunde der Sunda-See.“ –

* * *

Der schwarze Panther ist als vorzüglicher Kletterer bekannt, wagt aber kaum am Tage den Menschen anzugreifen. Wenn dieses Tier nun in seinem ganzen Verhalten deutlich Angriffsabsichten verriet, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß es die Scheu vor dem Menschen längst verloren hatte, wahrscheinlich durch mehrere gut geglückte Überfälle auf in den Feldern arbeitende Malaien oder Früchte suchende Frauen und Kinder.

Kramer versuchte nun, wagemutig wie immer, den unbequemen Nachbar durch einen fühlbaren Wink zu verscheuchen. Mit wenigen Worten teilte er dem Baron seinen Angriffsplan mit. Während er dann aus langen, bartähnlichen, trockenen Baumflechten, die er um einen abgebrochenen Ast lose herumschlang, sich eine Art Fackel herstellte, überzeugte sich Bergstedt, ob sich an seinem kleinen Benzinfeuerzeug der Docht in Brand setzen ließ. Dies glückte, und sofort flammten dann auch die Baumflechten knisternd auf, als der Mechaniker seine primitive Fackel dem Dochte nahebrachte.

Kaltblütig, diese brennende Waffe in der Linken haltend, schwang sich Kramer gewandt von Ast zu Ast und näherte sich so immer mehr dem Panther, der mit glühenden Augen und zum Sprung zusammengeduckt in der Astgabel jetzt etwa in gleicher Höhe mit dem menschlichen Feinde lag. Auch der junge Deutsche ließ seinen durchdringenden Blick nur mit kurzen Unterbrechungen ständig auf dem Raubtiere ruhen. Noch vier Meter leerer Raum trennte die beiden Gegner nun. Kramer stand auf dem bogenförmig gekrümmten Stamm einer schief gewachsenen Pandane, hielt sich mit der linken Hand an dem Zweige eines anderen Baumes fest, nahm die Fackel in die rechte rückte so mit kleinen Schritten dem Panther näher, an dessen Ruheplatz der krumme Pandanenstamm dicht vorüberlief.

Plötzlich schnellte der Panther empor und flog wie ein Pfeil durch die Luft auf den Angreifer zu, – so plötzlich, daß der Baron als einziger Zuschauer dieses tollkühnen, und doch so schlau berechneten Wagnisses einen lauten Schreckensruf ausstieß. Und doch kam der Feind für Fritz Kramer keineswegs überraschend angesaust. Der Panther hatte sich kurz vor dem Sprunge noch mehr zusammengekrümmt, und diese Bewegung war es gewesen, die den jungen Deutschen gewarnt und veranlaßt hatte, zwei Schritte zurückzutreten, so daß das Raubtier nun dicht vor seinen Füßen auf dem Stamm landete und kratzend die Krallen in die Rinde schlug, um einen sicheren Halt zu finden. Da drückte ihm Kramer aber auch schon die brennende Lohe der Flechten gerade auf den glänzend schwarzen Kopf. Ein Aufheulen, und im nächsten Augenblick ließ das halb geblendete Tier vor Schmerz den Stamm fahren und fiel sich überschlagend aus gut acht Meter Höhe auf eine vom Sturme früher einmal entwurzelte Fächerpalme, schlug gerade mit dem Rücken auf den schrägliegenden Baum auf und verschwand dann in dem rauschenden und brechenden Unterholz.

Nach diesem glücklich verlaufenen Zusammenstoß mit einem der geschmeidigsten und gerade deshalb so sehr gefährlichen Vertreter der Raubtiere aus der Familie der Katzen setzten die beiden Leidensgefährten ihren Weg durch die Baumwipfel weiter fort. Eine Stunde später hatten sie sich wirklich zu dem Gifttal wieder zurückgefunden, von dem aus die Felsspalte und die Bucht leicht zu erreichen waren. An diesem Orte nun, dessen Nähe alles Getier ängstlich zu meiden schien, wagten sie es festen Boden zu betreten. Schon während des letzten Teiles ihres seltsamen Marsches hatte Kramer angeregt, man solle auf keinen Fall länger ohne Waffen den Gefahren dieser von Raubwild offenbar stark bevölkerten Insel trotzen und sich zunächst aus passenden Bambusschößlingen Lanzen herstellen, um wenigstens etwas in Händen zu haben, womit man sich zur Wehr setzen könne. Er übernahm es jetzt auch, diese Lanzen anzufertigen, für die er als Spitzen starke, lange Röhrenknochen benutzte, die er sich aus den am Rande des Gifttales liegenden Tierskeletten heraussuchte, an einem Ende mit einem Stein aufspaltete und an einem rauhen Felsen schärfte. Der Baron half ihm bei diesen Arbeiten so gut er es vermochte, und nach zwei Stunden besaß dann jeder von ihnen zwei feste, gut vier Meter lange Lanzen, deren weiße Knochenspitzen Kramer sehr sinnreich durch Holzkeile an den Bambusschäften unverrückbar angebracht hatte.

Etwa in der Mitte des Gifttales lagen noch immer regungslos und starr die Leichen der vier bedauernswerten Matrosen, ein Anblick, der auf Bergstedt und den jungen Mechaniker so niederdrückend wirkte, daß sie nunmehr beschlossen, die Toten auf irgend eine Weise herauszuholen und zu beerdigen. Nachdem sie sich darüber einig geworden waren, wie man am gefahrlosesten die armen Kameraden herausschaffen konnte, fertigten sie aus Schlingpflanzen lange Taue, die sie schließlich miteinander verknüpften, so daß sie nun ein Seil von der nötigen Länge erhielten, an dessen einem Ende eine Schlinge geknotet wurde. Diese legte Kramer, in schnellem Lauf zu dem schaurigen Platz hineilend, einem der Toten um die Füße, um sofort wieder ebenso hastig der betäubenden Luft dieser Stätte zu entfliehen. Gemeinsam zogen sie den Körper dann bis nach dem Talrande hin, eine Arbeit, die sie viermal wiederholen mußten, bis sie die sterblichen Reste der braven Blaujacken geborgen hatten.

Kramer durchsuchte dann die Taschen der Toten und nahm alles an sich, was sie bei sich trugen, um die Wertsachen, besonders das Geld, später den Angehörigen vielleicht zustellen zu können. Die Namen der Leute waren ihm bekannt, und der Baron schrieb sie sich nun in sein Notizbuch ein und ebenso die einzelnen Gegenstände, die man bei jedem vorfand. Unter diesen waren auch drei große Taschenmesser mit einer aufklappbaren, feststehenden Klinge, die als Stichwaffen recht gut verwendet werden konnten.

Dann begann der junge Deutsche den Toten die Anzüge auszuziehen, auch die Stiefel, desgleichen nahm er jedem die derben Tragbänder ab und legte alles dieses auf einen Haufen zusammen. Der Baron wollte zuerst gegen diese Ausplünderung der Leichen Einwendungen erheben, verstummte aber schnell, als Kramer ernst erklärte, daß man nicht wissen könne, wie lange man auf dieser Insel einsam zu hausen gezwungen sei und wozu man die Sachen noch brauchen werde.

Bergstedt[3] merkte, daß sein vorsorglicher Landsmann einen bestimmten Grund haben müsse, an einer baldigen Befreiung aus dieser keineswegs angenehmen Lage zu zweifeln, erbat auch Aufschluß über diesen Punkt, wurde jedoch von Kramer auf später vertröstet.

Die Matrosen trug man dann in eine Felsspalte dicht am Rande des Gifttales, bettete sie hier nebeneinander, deckte sie mit Zweigen und Farnen zu und häufte in Ermangelung von Erde erst kleinere, dann größere Steine darüber, bis ein gewölbter Hügel entstanden war, auf dem der Mechaniker noch vier Kreuze aus Bambusrohr anbrachte. Ein stilles Vaterunser zum Schluß, und auch diese traurige Pflicht war erfüllt. – –

* * *

Inzwischen war es vier Uhr nachmittags geworden. Über der Flucht vor dem Tiger, dem Erlebnis mit dem Panther und der Bestattung der Toten hatte der Baron die Angst um seine verschwundene Gattin zwar nicht vergessen, war aber doch von diesen bangen Befürchtungen etwas abgelenkt worden. Jetzt packte ihn die Sorge aufs neue. Und er machte auch seinem Begleiter gegenüber kein Hehl daraus. Kramer tröstete ihn so gut er konnte. Heute dürfe man die Suche nach den vier Personen nicht wieder aufnehmen, meinte er. Man müsse zuerst für ein Unterkommen für die Nacht sorgen, damit man morgen früh mit frischen Kräften die Nachforschungen weiter fortsetzen könne. Jetzt seien sie beide so übermüdet, daß ihnen der Schlaf dringend nottue.

Bergstedt sah ein, daß Kramers Vorschlag auch jetzt das Richtige traf. So folgte er denn dem Gefährten, dessen größerer praktischer Lebenserfahrung er sich willig unterordnete, nach dem Felsenpfade hin, der zu der die Steilküste durchbrechenden Spalte führte. Während sie langsam, jeder beladen mit einem aus den Sachen der Matrosen zusammengeschnürten Bündel und den beiden Lanzen nebeneinander den Grat erklommen, kam der Baron wieder auf jene Äußerung seines Landsmannes zu sprechen, aus der er so wenig aussichtsvolle Schlüsse gezogen hatte.

Kramer glaubte Bergstedt die Wahrheit nicht länger verheimlichen zu dürfen.

„Als Sie mir heute vormittag ihr Abenteuer mit dem Tiger erzählten, Herr Baron“, erwiderte er diesem ohne Umschweife, „sprach ich bereits mein Erstaunen darüber aus, daß diese Insel diese Raubtie[rart][4] überhaupt beherbergt. Inzwischen haben wir nun den Beweis erhalten, daß Tiger hier offenbar recht zahlreich und außer ihnen auch noch Panther vorhanden sind, deren Verbreitungsgebiet ebenfalls auf Sumatra und Java beschränkt ist, soweit die malaiischen Inseln in Betracht kommen. Ich habe mich nun während des einen Jahres, das ich in Batavia zubrachte, viel mit der Geschichte der zum holländischen Kolonialbesitz gehörigen Sundainseln beschäftigt, habe auch mit gebildeten Eingeborenen verkehrt und kenne daher mancherlei, was auch gebildeteren Menschen wie ich es bin nicht geläufig sein dürfte. Einschalten möchte ich noch, daß ich ein Technikum in Deutschland besucht habe und daß mich eigentlich mehr die Sehnsucht, fremde Länder kennenzulernen, die Stellung in Batavia annehmen ließ, als die Aussicht auf leichten Verdienst. Mir steckt eine gewisse Abenteuerlust im Blut, die lediglich durch eine strenge Erziehung zur Arbeit und Pflichttreue in einen verständigen Wandertrieb verwandelt worden ist. Mit dieser Abenteuerlust mag es zusammenhängen, daß ich mich gerade mit alledem näher beschäftigte, was in der Geschichte der Sundainseln so etwas nach Absonderlichem und Geheimnisvollem schmeckte. Daher auch meine Kenntnis von Dingen, die selbst für Sie, Herr Baron, neu sein dürften. – Als wir auf unserer „Germania“, von Batavia kommend, von dem Orkan überrascht wurden, befanden wir uns ungefähr nordwestlich der zu den Kleinen Sundainseln gehörigen Insel Sumbawa (Sumbawa ist berühmt durch den Ausbruch des Vulkans Tambora im Jahre 1815, bei dem 42 000 Menschen den Tod fanden und der Vulkan selbst von 4300 Meter Höhe auf 2760 Meter zusammensank. Diese Erdbebenkatastrophe ist eine der furchtbarsten der neueren Zeit), die in fünf Eingeborenen-Reiche zerfällt, deren Sultane unter Oberaufsicht eines niederländischen Residenten eine gewisse Selbständigkeit behalten haben. Der reichste dieser Sultane ist der von Sangar, das an der Nordküste liegt. Das Vermögen dieses Fürsten an Gold und Edelsteinen – beides ist ja auf den Sundainseln zu finden – soll nun die berühmten Schätze des Schahs von Persien weit hinter sich lassen. Bisher hat jedoch niemand einen Blick in die Schatzkammer des Sultans von Sangar werfen können, ja, man weiß nicht einmal mit Bestimmtheit, wo diese Reichtümer aufbewahrt werden. – Ich sehe, Sie werden bereits ungeduldig, Herr Baron. Aber diese Einzelheiten sind tatsächlich nötig, damit Sie das Weitere verstehen. – Zu dem Sultanat Sangar gehört nun seit Jahrhunderten eine in der Sunda-See ganz einsam liegende Insel von etwa acht Quadratmeilen Bodenfläche, auf der die Fürsten von jeher die für ihre Tierkämpfe nötigen Raubtiere in Freiheit wie in einem riesigen Zoologischen Garten aufgezogen haben, besser gesagt, sich von selbst vermehren ließen, so daß sie jeder Zeit leicht durch Einfangen dieser Bestien in Bambusfallen das nötige lebende Material zur Verfügung hatten. Die Tierkämpfe, wie die malaiischen Fürsten als Belustigung für sich und ihr Volk veranstalten, genießen ja eine gewisse Berühmtheit. Zumeist läßt man dabei entweder Tiger, Panther und malaiische Bären mit wilden Büffeln oder gegeneinander kämpfen. Was nun jene Raubtierinsel der Sultane von Sangar anbetrifft, so soll diese unter der Obhut einiger vertrauter Diener des Fürstengeschlechtes stehen, die mit ihren Familien allein auf der Insel hausen sollen. Weiter soll sich in der Mitte der Insel ein uralter Tempel befinden, in dessen verborgenen Gewölben, wie man annimmt, die Schatzkammer der Sangar-Herrscher liegt. Alles dies sind jedoch bloße Vermutungen, da bisher noch kein einziger Europäer die Insel betreten hat, die auch von den Malaien ängstlich wegen der überaus zahlreichen Raubtiere gemieden wird. Die niederländische Regierung hat den Fürsten von Sangar den freien Besitz und die Unantastbarkeit dieser Insel in einem Vertrage zugesichert, dessen Bestimmungen sie streng einhält.“

Als Kramer hier eine kleine Pause machte, um sein Bündel auf der Schulter zurechtzurücken, meinte der Baron eifrig:

„Ich verstehe bereits, wo Sie hinauswollen. Sie meinen, daß dies hier die berühmte Raubtierinsel ist, nicht war?“

„Allerdings, Herr Baron. Alles spricht für diese Annahme: ungefähr in der Nähe der Insel haben wir Schiffbruch gelitten, wie mir einer der armen Matrosen zu berichten wußte, und nirgend anderswo dürften einem an einem Tage gleich vier Vertreter der großen Katzenarten in den Weg laufen! – Ich bin fest überzeugt, daß dies die sagenumwobene Insel Boliwana ist, wie sie bei den Malaien genannt wird.“

Der Baron war stehen geblieben und hatte sich an die Felswand gelehnt. Mit zusammengepreßten Lippen und traurigem Blick nickte er schmerzlich mit dem Kopf.

„Es wird wohl so sein, lieber Kramer“, sagte er dann. „Und die nächste Folgerung aus dieser Tatsache wäre die, daß – ich mag es gar nicht aussprechen! – daß meine Frau, das Ehepaar Söllner und der junge Morwitz unter den Krallen der Bestien ein furchtbares Ende gefunden haben …! – Nein, nein – suchen Sie mir das nicht auszureden! Wie soll man sich sonst deren Verschwinden erklären?!“

„Es gibt doch noch eine zweite Möglichkeit“, entgegnete Kramer zuversichtlichen Tones. „Nämlich die, daß unsere vier Leidensgefährten von den Wächtern, die auf dieser Insel wohnen sollen, gefangen genommen worden sind, Herr Baron! Bedenken Sie, daß, wenn Raubtiere unsere Freunde überfallen hätten, dies sicherlich ganz in der Nähe des Felsenpfades geschehen wäre, auf dem wir uns jetzt befinden. Nirgends aber haben wir frische Blut- oder sonstige Spuren eines solchen Angriffs durch wilde Tiere gefunden – nirgends! Nein – unsere Gefährten leben sicherlich noch, und morgen werden wir sie zu finden wissen!“

In den Augen Bergstedts leuchtete die Hoffnung wieder auf. Stumm, aber erfüllt von Dankbarkeit gegen den jungen Landsmann, der ihm die Sachlage in hellerem Lichte gezeigt hatte, drückte er Kramer bewegt die Hand.

Dieser schritt jetzt wieder rüstiger aus, indem er aufmerksam die Felswand musterte, um dort vielleicht eine kleinere Spalte oder Aushöhlung zu entdecken, in der sie die Nacht in Sicherheit zubringen konnten. Die große Felsspalte, die den Durchgang durch die Steilküste nach der Bucht hin bildete, erschien ihm für diesen Zweck ungeeignet, da sie sich allzu schwer verbarrikadieren ließ. Und dies hielt er für durchaus notwendig, nicht nur der Raubtiere, sondern auch der malaiischen Wächter wegen, an deren Anwesenheit auf der Insel er nicht mehr zweifelte.

Wenige Minuten später entdeckte er dann wirklich drei Meter oberhalb des Grates eine höhlenartige Vertiefung in dem Gestein, die er nun sofort untersuchte und die sich als in jeder Beziehung passend herausstellte. Diese kleine Grotte hatte einen nur schmalen Eingang, der sich durch Felsstücke leicht verbauen ließ, besaß einen trockenen, ebenen Boden und – die Hauptsache! – war von dem Pfade aus nur mit Hilfe einiger vorspringender Zacken zu erreichen.

Nachdem die beiden ihre Bündel in diesem Schlupfwinkel abgelegt hatten, begannen sie sofort Felsstücke zu sammeln, die sie dann, indem sie sich dieselben zureichten und die schwersten durch die zusammengebundenen Tragbänder der Matrosen hochhißten, nach oben in die Höhle schafften und zu einem festen Wall aufschichteten, der ihnen genügten Schutz gewährte, zumal sie ihre kleine Feste ja noch mit den Lanzen verteidigen konnten.

Dann stillten sie mit den mitgebrachten Früchten – Feigen hauptsächlich und Pandanen, ihren Hunger, tranken Kokosnußsaft dazu und streckten sich auf den auf dem Felsboden ausgebreiteten Anzügen der Matrosen zum Schlafe aus. Ihre Waffen, die Lanzen und die geöffneten Messer, legten sie griffbereit neben sich. Und sehr bald waren sie fest eingeschlafen.

Kurz nach Mitternacht wachte der Baron, den wirre Träume, die wahrscheinlich durch die Sorge um das Schicksal seiner Gattin hervorgerufen waren, ängstigten und oft munter machten, durch ein Geräusch auf, das wie das Poltern eines herabfallenden Steines klang. Er richtete sich auf und lauschte. In der Höhle war es völlig dunkel. Nur durch die Lücke zwischen dem Rande der Steinmauer und der Felsdecke des Einganges fiel in schmalem Streifen das bläuliche Licht des am Nachthimmel stehenden Vollmondes hinein.

Wieder vernahm Bergstedt ein Geräusch, das jetzt wie ein Scharren klang Und nun sah er auch, wie oben aus der Steinmauer plötzlich eines der Felsstücke verschwand – ganz lautlos, wie von Geisterhänden entfernt.

Er wußte genug. Vorsichtig weckte er den Gefährten, indem er ihm warnend die Hand auf den Mund drückte und ihm dann die nötigen Erklärungen ganz leise zuraunte.

Fritz Kramer war sofort klar, daß die Leute, die da von draußen eine Bresche in die Mauer zu legen suchten, irgend einen heimtückischen Angriff planten, da sie, wenn sie sich nur der beiden Deutschen hätten bemächtigen wollen, weit sicherer zum Ziel gekommen wären, indem sie sie in der Höhle belagerten und aushungerten.

Er nahm daher zur Vorsicht die eine Lanze in die Hand, hob die Spitze bis zur Höhe der Öffnung empor, aus der soeben ein weiterer Stein verschwand, und forderte den Baron durch Zeichen auf ein Gleiches zu tun. Auf diese Weise waren sie jeden Augenblick bereit, einem Überfall auf das Wirksamste zu begegnen.

Sekunden verstrichen. Wieder wurde geräuschlos ein Stein entfernt. Mit angehaltenem Atem standen die beiden im Hintergrunde ihres Schlupfwinkels und harrten der ferneren Entwicklung der Dinge.

Dann – sie bemerkten es gleichzeitig und stießen auch gleichzeitig zu! – war plötzlich vor dem hellen Streifen über der Mauer ein Männerarm erschienen, der ein sich windendes und krümmendes Etwas offenbar in die Höhle hineinwerfen wollte. Doch dieser teuflische Plan, die Schlafenden durch ein giftiges Reptil zu beseitigen, mißlang vollkommen.

Kramers Lanze hatte mit der ganzen Länge ihrer Spitze die Schlange aufgespießt, während des Barons Waffe dem unsichtbaren Feinde mit voller Kraft in die Hand fuhr.

Draußen ein lauter Schrei, das dumpfe Aufschlagen eines schweren Körpers auf harten Boden und ein Wutgebrüll. Dann wurde alles still …

Nur das Reptil wand sich hin und her und machte die verzweifeltesten Anstrengungen, von der Lanze loszukommen. Da holte der Baron zum zweiten Stoße aus. Ein Mal traf er vorbei. Der dritte aber saß. Dicht unter dem unförmig breiten Kopf der Schlange fuhr die Knochenspitze hinein. Nun hatte man das Gewürm sicher. Und während Bergstedt die beiden Lanzen hielt, steckte Kramer mit Hilfe des Feuerzeuges eine der Fackeln an, die er aus den braunen Fasern der äußeren Kokosnußschale noch vor dem Schlafengehen für alle Fälle gedreht hatte.

Hell flammten die trockenen Fasern auf, und nun erkannten die Gefährten auch, mit welch einer Art Reptil sie es zu tun gehabt hatten und welch furchtbarer Gefahr sie entronnen waren.

Eine Brillenschlange war’s von fast drei Meter Länge, die ihre das brillenförmige Zeichen tragende Haube vor Wut prall gespannt hatte und deren Augen in dem rötlichen Licht wie Diamanten glitzerten.

Der Baron mußte jetzt die beiden Lanzen mit dem daran festgenagelten Reptil auf den Boden stemmen, so daß Kramer mit einem der Matrosenmesser ganz gefahrlos mit ein paar Schnitten den Kopf vom Rumpfe trennen konnte.

„Diesen scheußlichen Schädel wollen wir uns aufbewahren“, meinte er. „Ich habe gute Verwendung dafür. Den Leib des Gewürms aber werfen wir hinaus.“

Gleich darauf flog der in drei Stücke zertrennte Schlangenkörper durch die Öffnung über die Mauer hinweg ins Freie, während der Kopf in eine Ecke der Höhle gelegt wurde.

Mittlerweile hatten die Feinde draußen sich ganz ruhig verhalten. Nun löschte Kramer die Fackel aus und trat auf eine Felskante, um von diesem erhöhten Standpunkt einen Blick ins Freie werfen zu können.

Das Mondlicht lag mit vollem Glanz auf dem Pfade und der steilen Wand. Nichts Lebendes war zu erblicken. Leise bewegte der Nachtwind die Kronen der Urwaldriesen hin und her, und die Blätter der Fächerpalmen rieben sich mit einem seltsamen Geräusch aneinander, das das feine Rauschen der anderen Bäume vernehmlich übertönte.

Die beiden Gefährten kamen überein, daß Kramer die nächsten vier Stunden die Wache übernehmen solle. Dann wollte der Baron ihn ablösen.

Doch der Rest der Nacht verging ohne jede weitere Störung.

Der junge Mechaniker schlief dann bis in den hellen Vormittag hinein. Und geduldig saß der Baron neben ihm und wartete, bis er von selbst erwachen würde. Endlich reckte Kramer sich, gähnte, öffnete blinzelnd die Lider und fuhr mit dem Oberkörper empor.

„Nichts passiert inzwischen, Herr Baron?“ fragte er halb beschämt darüber, daß er so lange geschlafen hatte.

„Nichts. – Nun aber erst mal: Guten Morgen, Kamerad!“

Sie tauschten einen kräftigen Händedruck.

Kramer erhob sich, kletterte wieder auf den Vorsprung und schaute hinaus.

„Alles in Ordnung!“ berichtete er. „Ich denke, der Feind ist vorläufig abgezogen. Wir können ruhig einen Teil des Steinwalles wegräumen, damit wir etwas mehr Licht für unser Frühstück haben.“

Während sie aßen – wieder Feigen und Pandanenfrüchte –, berieten sie, wie sie ihr Vorhaben, weiter nach den Verschwundenen zu suchen, am gefahrlosesten durchführen könnten. – Kramers Vorschläge fanden auch jetzt den vollen Beifall des Barons.

Der Mechaniker wollte zunächst ihre Bewaffnung dadurch vervollständigen, daß er für jeden einen Bogen und Pfeile anfertigte, worin er nach seiner Behauptung deswegen einige Erfahrung besaß, weil er gelegentlich einer längeren Arbeit auf einer Plantage außerhalb Batavias sich zu seinem Vergnügen nach dem Muster der malaiischen Bogen selbst sich einen solchen aus dem Holze des Duriang-Strauches hergestellt und damit auch sehr gute Trefferergebnisse erzielt hatte. Als Sehnen gedachte er die festen Ledersenkel der Matrosenschuhe zu benutzen, während die Pfeilspitzen wieder aus Knochenstücken gefertigt und mit dem Inhalt der Giftdrüsen des Brillenschlangenkopfes vergiftet werden sollten. Auf diese Weise erhielt man Schußwaffen, die auch auf größere Entfernung und in jedem Falle bei der geringsten Verletzung tödlich wirkten.

Der Baron sah ein, daß man gegenüber diesen zweifachen Feinden, den zahlreichen Raubtieren und den fast noch schlimmeren Menschen, einen größeren Streifzug ohne gute Waffen nicht wagen dürfe. So zügelte er denn seine nur zu leicht begreifliche Ungeduld, die Nachforschungen nach seiner Gattin und deren drei Begleitern wiederaufzunehmen, und folgte Kramer den Felspfad hinunter nach dem Gifttale, wo der junge Deutsche am Tage vorher einige Duriang-Sträucher bemerkt hatte.

Nur mit äußerster Vorsicht bewegten die beiden sich weiter, oft stehen bleibend, um erst die Umgebung aufs sorgfältigste zu mustern, oft hinter Bäumen Deckung nehmend, wenn irgend etwas ihren Argwohn erregte.

Doch unbehelligt langten sie nach einer Stunde wieder in ihrer Höhle an, beladen mit dem notwendigen Material für die neuen Waffen und mit allerlei eßbaren Früchten.

Kramer machte sich dann sofort an die Arbeit, die Äste des Duriang zurechtschnitzeln. Inzwischen trennte der Baron die Giftdrüsen aus dem Schlangenkopf heraus, was ihm sehr leicht gelang, da ihm als eifrigem Liebhaber-Naturforscher eine derartige Tätigkeit nicht ganz fremd war. Nachher befestigte er nach Anweisung Kramers die spitzen Knochenstücke in den vorher sauber geglätteten Schößlingen eines dünnen, aber sehr widerstandsfähigen Rohres, schnitt am anderen Ende Kerben in die Pfeile und fertigte so zwei Dutzend Geschosse an, deren Spitzen er schließlich mit dem Schlangengift bestrich, das in der Sonne schnell antrocknete und sich in den feinen Einschnitten festsetzte, die er an der Spitze angebracht hatte.

Kurz nach der Mittagstunde waren Bogen, Pfeile und auch zwei Köcher aus frisch abgeschälter Rinde einer Weidenart fertig. Die Köcher besaßen sogar Tragriemen, die aus den Hosenträgern der braven, bedauernswerten Blaujacken hergestellt waren. Zum Schluß arbeiteten sie sich noch jeder drei Pfeile ohne vergiftete Spitzen, die sie besonders zeichneten und die zum Erlegen von Vögeln dienen sollten.

Gegen drei Uhr nachmittags brachen sie dann zu einem kurzen Erkundungsgang nach der Bucht auf. Unbelästigt durchschritten sie die breite Felsspalte, die den Zugang nach dem Meereseinschnitt hin bildete. Da gerade Ebbezeit war, konnten sie trockenen Fußes am Rande der Bucht weiter ins Innere der Insel vordringen. Auch jetzt ließen sie es nicht an der nötigen Vorsicht fehlen. Doch obwohl sie gut eine halbe Stunde lang dem Ufer der Bucht folgten, die in zahlreichen Windungen sich in einer Breite von vielleicht zehn Meter in das Land hineinerstreckte, oft offene Grasflächen durchquerend, bemerkten sie nichts Verdächtiges.

Dieser Ausflug brachte ihnen einen doppelten Gewinn: erstens stellten sie fest, daß das Wasser eine leichte Strömung nach dem Meere zu besaß. Es handelte sich also um einen Fluß, der nur an seiner Mündung infolge des Eindringens des Seewassers den Anschein einer Bucht hervorgerufen hatte. Dann aber fand Fritz Kramer am Ufer eine umgestürzte, trogartig ausgehöhlte Pandane, an der man nur die äußeren Aststümpfe und die Wurzelreste wegzuschneiden brauchte, um ein recht plumpes, aber doch brauchbares Kanu zu erhalten.

Den ausgefaulten Baumstamm befestigten sie an einem Schlingpflanzentau und schleppten ihn mit bis zur Flußmündung, wo sie ihn in dem Felsendurchgang in Sicherheit brachten. Den Rest des Tages benutzten sie dann dazu, dem hohlen Baum ein etwas mehr bootsähnliches Äußeres zu geben. Da dieser trogähnliche Kahn mit seinem runden Boden aber sehr leicht kentern mußte, stellten sie noch einen sog. Ausleger her, wie er in der ganzen Südsee und auch von den malaiischen Fischern benutzt wird, um das Umkippen ihrer Fahrzeuge unmöglich zu machen.

Die Nacht über wachten sie wieder abwechselnd. Nichts ereignete sich. Noch vor Sonnenaufgang brachen sie dann auf, nahmen all ihre Habseligkeiten mit, brachten das Kanu zu Wasser und traten die Reise in das Innere in der Hoffnung an, daß sie auf dem Flusse bis zu jenem alten Tempel würden vordringen können, von dem Kramer in Batavia allerlei Merkwürdiges von Leuten gehört hatte, deren Wissenschaft auch nur auf ihnen zugetragenen Gerüchten beruhte. Dort würden sie dann sicher die verschwundenen Gefährten, falls diese eben von den Inselwächtern ergriffen und fortgeschleppt waren und falls der Tempel überhaupt vorhanden war, wiederfinden, wie der junge Mechaniker dem Baron auseinandergesetzt hatte, der sich nur zu gern an diese Hoffnung, so gering sie auch schien, anklammerte.

Der Fluß war nicht tief, und da auch die Strömung sehr schwach blieb, kamen sie mit ihren Bambusstoßstangen gut vorwärts, durch die sie ihr plumpes Fahrzeug weiterschoben. Diese Fahrt hatte ihre eigenen Reize. Der ständige Wechsel des Landschaftsbildes, bald gras- und buschbewachsene kleine Ebenen, bald hohe Urwaldkulissen an den Ufern, dann wieder Waldblößen mit ihrer bunten Farbensymphonie all der mannigfachen Blüten, dazu die Tierwelt mit ihren gerade in den Tropen so eigenartigen Vertretern, schließlich als bestes Mittel, um alles das mit stiller Bewunderung genießen zu können, die Unberührtheit und Ursprünglichkeit der Natur, – dies zusammen genommen erfüllte die Seele der beiden einsamen Männer, die auf ihrem schwerfälligen Kanu ins Ungewisse hinein vorwärtsstrebten, mit frommen Schauern.

Hier und da erweiterte der Fluß sich auch zu breiten Sumpfstrecken mit unzähligen Nebenarmen und Inselchen, und hier war es, wo sie dann auf die ersten Krokodile und Rhinozerosse stießen.

Als sie dann wieder in den Schatten des Urwaldes einbogen, dessen Baumkronen über ihnen sich zu einem grünen Dom zusammenschlossen, vernahmen sie aus der Ferne ein seltsames, dumpfes Brüllen, das zuweilen schwächer wurde, dann aber urplötzlich zu Tönen anschwoll, die in ihrer Mächtigkeit geradezu beängstigend wirkten. Noch ein paar Biegungen des Wasserlaufes, und die beiden Gefährten sollten Zeugen eines Kampfes werden, wie der Reichste der Erde ihn sich nicht als aufreizendes Schauspiel vorführen lassen kann.

Auf einem Ast eines dicht am Ufer stehenden Rasamalabaumes befand sich das aus großen Zweigen und Grasbüscheln gefertigte Nest eines Orang-Utan (nicht Utang! Der Ausdruck ist malaiisch und bedeutet Waldmensch. Die Malaien halten diesen Riesenaffen für eine besondere Menschenart, die nur deshalb nicht spricht, um nicht als Sklaven zur Arbeit herangezogen zu werden) etwa sieben Meter über dem Boden. In dem Nest hockte ein Weibchen, das ein Junges schützend an die Brust gedrückt hielt. Auf einem anderen Ast desselben Baumes aber lag langausgestreckt ein schwarzer Panther, der seinen Schweif wie einen Pendel hin und her bewegte. Raubtier und Affe ließen sich nicht auf den Augen. Zuweilen blies dann das Orang-Utan-Weibchen seine beiden großen Kehlsäcke, die bis zu neun Liter Wasser zu fassen vermögen, voll auf und verstärkte so das dumpfe Brüllen zu einem Hilferuf, der den grünen Blätterdom mit einem in die Ohren gellenden Tongewirr erfüllte. Plötzlich erschien ein neuer Waldbewohner auf der Szene: ein riesiges, altes Orang-Utan-Männchen! Lautlos war es auf das Alarmsignal herbeigeeilt, machte nun einen Augenblick über dem ahnungslosen Panther auf einem höheren Aste halt und sprang der schwarzen, großen Katze dann aus gut fünf Meter Höhe herab auf den Rücken, umfing das Raubtier mit seinen starken Riesenarmen und preßte es mit solcher Kraft gegen den Ast, daß die beiden Deutschen unten in ihrem Kanu deutlich das Krachen der brechenden Rippen des Panthers hörten. Noch ein letztes klagendes Winseln stieß dieser aus, dann packte ihn der Orang-Utan mit einer Hand und schleuderte ihn im Bogen als leblose Masse in den Fluß hinab.

Eilig gebrauchten die Kanufahrer jetzt ihre Stoßstangen, um schleunigst aus der Nähe des wütenden Affen fortzukommen. Bald lag auch dieser Urwald hinter ihnen, und der Fluß durchschnitt nun eine buschreiche Ebene, die von beiden Seiten parallel mit dem Wasserlauf von zwei waldbedeckten Höhenzügen eingeschlossen wurde. Und wieder einige Minuten später blinkte vor ihnen der im Sonnenlicht schimmernde Spiegel eines Sees auf, in dessen Mitte auf einer kahlen Felsinsel sich die mit buntblühenden Schlinggewächsen über und über bedeckten Ruinen eines uralten Tempels erhoben.

Schon wollten die beiden Gefährten in den See einlenken, als sie noch zur rechten Zeit die Gestalten einiger Männer erblickten, die gerade sich anschickten, von dem Tempel aus nach dem Ufer überzusetzen. Ein paar Stöße genügten, um das Kanu in den Fluß hinter ein paar Büsche zurückzudrängen.

Drüben hatten inzwischen vier Leute, die nur mit Turban und Sarong (hemdähnliches Kleidungsstück) bekleidet waren, den Nachen bestiegen und ruderten nun gemächlich dem Nordufer zu, wo sie ihr Fahrzeug ans Land zogen, ihre Waffen, Gewehre und Lanzen, ergriffen und verschwanden.

Fritz Kramer hatte das Tun der Malaien mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtet. Jetzt verständigte er den Baron kurz von dem Plan, den er soeben erst entworfen hatte, um möglichst unbelästigt die Ruinen des Tempels durchsuchen zu können.

Noch fünf Minuten warteten sie, dann brachten sie ihr Kanu eiligst nach der Stelle hin, wo der Nachen lag, nahmen diesen ins Schlepptau und umruderten nun einmal den See, der vielleicht vierhundert Meter Durchmesser besaß und fast kreisrund war. So überzeugten sie sich, daß ein zweiter Nachen nicht vorhanden war, auf dem die Malaien hätten nach dem Tempel zurückkehren können. Außerdem stellten sie aber auch fest, daß der See von zahlreichen Krokodilen bevölkert war, die mithin auch ein Hinüberschwimmen nach der kleinen Insel unmöglich machten.

Nun erst landeten sie, nachdem sie vorsichtig die Ruinen gemustert hatten, um nicht durch einen unerwarteten Angriff überrascht zu werden, an derselben Stelle, die den Malaien offenbar als ständiger Liegeplatz für ihren Nachen diente. Von hier führte ein ausgetretener Pfad zu einem verfallenen Tore hin, das sich in der stellenweise noch recht hohen Mauer befand, die den Tempel, dicht am Ufer der Insel hinlaufend, rings umschloß.

Von dem früheren Heiligtum, einer langgestreckten Halle mit einem Säulenvorbau, war nicht viel übriggeblieben. Immerhin konnte man noch in die Halle hineingelangen. Sie war leer. Unkraut wucherte zwischen den zerbrochenen Steinfliesen des Bodens, und in den Ecken standen vier greuliche, aus Holz geschnitzte Götzenbilder, deren Farbenanstrich aber noch merkwürdig frisch aussah.

Dann umschritten die beiden Deutschen, da der Tempel im Innern nirgends ein Versteck oder dergleichen bot, in dem die vier Gesuchten hätten gefangen gehalten werden können, die Ruinen des Heiligtums, um auch den dahinter liegenden Tempelhof in Augenschein zu nehmen.

Kaum aber waren sie um die Trümmer eines kleinen Seitenanbaues gebogen, kaum hatten sie mit einem Blick des Staunens und zugleich des Schreckens das merkwürdige Bauwerk überflogen, das bisher durch den Tempel ihnen entzogen worden war, als ein schriller Schrei aus einer weiblichen Kehle ihnen entgegenschallte, dem sofort das heisere, in ein dumpfes Knurren ausklingende Brüllen eines Tigers folgte.

Ein merkwürdiges Bauwerk, besser, ein schlau ersonnenes Gefängnis war’s, aus dem es kein Entrinnen gab …

Ein riesiger, aus in die Erde eingegrabenen und oben zugespitzten Bambusstangen bestehender, ringförmiger Käfig umgab einen kleinen, freien Platz, auf dem zwei Hütten aus Bastmatten standen. In dem Käfig tummelten sich sechs ausgewachsene Tiger als Wächter für die Unglücklichen, die in den Innenraum, von den Bestien nur durch das innere Bambusgitter getrennt, eingesperrt waren und denen die Hütten als Aufenthalt für die heißen Tagesstunden und die Nacht dienen sollten. Die scharfe Ausdünstung der Raubtiere drang dem Baron und Kramer widerwärtig und aufdringlich in die Nasen. Wie erstarrt standen die beiden da. Aber ein neuer Schrei, den Frau von Bergstedt ausstieß, mahnte sie zu schnellem Handeln. Sie eilten bis an das Gitter hin, riefen den Wiedergefundenen ermutigende[5] Worte zu und begannen dann nach einem geschützten Durchgang durch den Käfig zu suchen. Es gab keinen. Doch der junge Mechaniker wußte schon, wie er mit den Tigern fertig wurde. Mit ruhiger Hand jagte er jeder der Bestien – und Fehlschüsse gab es auf diese kurze Entfernung nicht! – zwei der vergifteten Pfeile in den Leib. Das Wutgebrüll der Tiger, die sich mit den Zähnen die Geschosse wieder herauszureißen suchten und tobend immer aufs neue gegen die festen Bambusstäbe ansprangen, hätte selbst die stärksten Mannesnerven erschüttern können. Frau Söllner und die Baronin fielen in Ohnmacht, und Morwitz und der Gatte der ersteren bemühten sich um sie, während ihnen selbst vor Entsetzen die Schweißperlen über die kreidebleichen Gesichter rannen.

Dann begann das Gift zu wirken, das durch die doppelten, tiefen Wunden schneller als bei einem gewöhnlichen Schlangenbiß sein Vernichtungswerk vollendete. Einer der Tiger nach dem andern verstummte, legte sich nieder, verfiel in Krämpfe und verendete. Inzwischen hatte Kramer sich durch eine an Söllner gerichtete Frage bereits darüber Gewißheit verschafft, daß nur vier Malaien hier die Wächter spielten. Und denen war ja durch die Wegnahme des Nachens die Rückkehr nach dem Tempel fürs erste unmöglich gemacht.

In den beiden Gitterwänden befanden sich starke Türen, die durch Riegel und Ketten verschlossen waren. Schnell hatte Kramer die äußere geöffnet, eilte nun durch den Käfig hindurch auf die innere zu, öffnete sie ebenfalls, und … schon kniete der Baron neben seiner Gattin, die dann ebenso wie Frau Söllner bald zum Bewußtsein kam.

Kramer duldete es nicht, daß man sich hier der Freude des Wiedersehens hingab, drängte vielmehr zu eiligem Aufbruch. Und bald darauf setzten das Kanu und der Nachen sich mit den Wiedervereinigten nach dem Flusse zu in Bewegung. Zwei Stunden später erreichte man ohne Zwischenfall die Bucht und die Felsspalte.

Die vier Geretteten befanden sich in der traurigsten Verfassung. Seit die Wächter der Raubtier-Insel sie gefangen davongeführt hatten, waren sie nicht eine Sekunde mehr aus der Angst um ihr Leben herausgekommen. In ihrem Kerker, von den sehr bald nach ihnen in den Käfig hineingeschafften Tigern nur durch das Bambusgitter getrennt, fanden sie keinen Schlaf. Die Früchte, die ihnen die Malaien hohnlachend zuwarfen, vermochten sie nur mit Mühe hinunterzuschlingen. Am schlechtesten stand es mit Heinz Morwitz. Er war in diesen letzten Tagen tatsächlich um Jahrzehnte gealtert. –

* * *

Wenn das Schicksal den Schiffbrüchigen bisher recht übel mitgespielt hatte, so schien es jetzt alles wiedergutmachen zu wollen. Am Nachmittag desselben Tages fuhr nämlich ganz unerwartet eine Dampfbarkasse eines holländischen Kolonialkreuzers in die Flußmündung ein, der auf ein paar der Rettungsboote der gesunkenen „Germania“ gestoßen war, die Insassen an Bord genommen hatte und nun die Gestade der Raubtier-Insel nach weiteren vielleicht hier an Land gelangten Fahrgästen oder Matrosen des Schnelldampfers absuchte.

Vier Tage später trafen alle glücklich in Batavia ein, wo die niederländische Kolonialregierung sofort ein gerichtliches Verfahren gegen die vier Untertanen des Sultans von Sangar einleitete. Dieser spielte sehr geschickt den Tiefempörten, ließ die Wächter sofort ablösen und lieferte sie den Gerichten aus, die sie zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilten.

Kramer durchschaute diese Komödie. Und als Bergstedts mit dem nächsten Schiff nach Europa abreisten und ihn dringend baten, sich ihnen anzuschließen, da der Baron ihm aus Dankbarkeit die Stelle eines technischen Direktors eines seiner großen Güter übertragen wollte, da lehnte der junge Mechaniker dieses Anerbieten mit dem Bemerken vorläufig ab, daß seines Erachtens die Raubtier-Insel noch mehr Geheimnisse berge, die aufzudecken er für seine Pflicht halte. Später würde er dann gern seine Arbeitskraft dem Baron zur Verfügung stellen. Das, was Fritz Kramer noch weiter als freiwilliger Robinson auf jener Insel erlebte, wird in einem der nächsten Hefte dieser Sammlung veröffentlicht werden.

In Batavia trennte sich die kleine Gesellschaft, die miteinander so viele aufregende Stunden durchgemacht hatte, freilich Stunden, die auch ihr Gutes insofern gehabt hatten, als sie einige dieser Personen für immer von allerlei Vorurteilen und kleinen Schwächen befreiten und ihnen in Gestalt Fritz Kramers einen Menschen zeigten, der, mit natürlichen Gaben des Körpers und Geistes reich ausgestattet, sich zu ihrem Retter aufgeschwungen und dadurch bewiesen hatte, daß in dem Auf und Ab des Lebens allein der Mann, der ganze Mann etwas gilt.

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Der „Zyklop“ auf der Katzeninsel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Verlagswerbung:

 

Erlebnisse einsamer Menschen.

Von der Sammlung „Erlebnisse einsamer Menschen“,
sind bisher folgende Bände erschienen:

 

1. Das Eiland der schwarzen Diamanten.

2. Die Insel im Sargassomeer.

3. Das weiße Eiland.

4. Die Zauberinsel.

5. Kapitän Merling und seine Familie.

6. Die Überlebenden der „Skandinavia“.

7. Die Pirateninsel.

8. C. 15.

 

 

Anmerkungen:

  1. Die Vorlage ist an dieser Stelle unleserlich, Text sinngemäß ergänzt.
  2. Wort unleserlich, sinngemäß ergänzt.
  3. In der Vorlage steht: „Bergfeldt“.
  4. Wort teilweise unleserlich.
  5. In der Vorlage steht: „ermutige“.