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Eine Walfischjagd

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Eine Walfischjagd.

 

W. Belka.

 

„Junger Herr – ich darf’s nicht! Machen Sie mir das Herz doch nicht unnötig durch Ihre Bitten schwer! Wir sollen uns nicht aus Sicht des Landes entfernen. Und an den Befehl Ihres Vaters halte ich mich unbedingt. Ich bin Gehorsam gewöhnt und nicht umsonst acht Jahre Bootsmannsmaat bei unserer Kaiserlichen Marine gewesen, bis ich mir beim Geschützexerzieren die beiden Finger der linken Hand halb abquetschte und Invalide wurde. Wenn einer zu dem alten Heinrich[1] Scharpen sagt: „Bis dahin darfst Du mit dem Motorboot in die See hinaus“, dann geschieht das auch.“

Fritz Parlow wandte den Kopf ärgerlich zur Seite. Die abermalige Ablehnung seines Vorschlages, das prächtige Wetter zu einer Fahrt bis nach den Riffinseln westlich von Apia auszudehnen, wo stets eine Menge Seehunde anzutreffen waren, reizte seinen Zorn. Und heftig rief er dem Alten nach, der eben unter Deck verschwinden wollte, um nach dem Motor zu sehen:

„Sie sind ein rechter Dickkopf, Heinrich! Ihnen ist’s nur zu langweilig, mit uns hier hin und her zu kreuzen. In den Hafenschenken in Apia gefällt’s Ihnen besser!“

Da mischte sich Fritz’ um zwei Jahre jüngere Schwester ein, die neben ihm am Steuer saß.

„Pfui, schäme Dich!“ rief sie ganz empört, indem sie aufsprang und zu Heinrich Scharpen eilte, um sich in dessen Arm zu hängen. „Wie kannst Du nur unseren alten Freund so kränken, der uns jeden Wunsch erfüllt, den er uns nur an den Augen ablesen kann …!“

Der frühere Bootsmannsmaat stand jetzt auf der obersten Stufe der in den kleinen Maschinenraum hinabführenden Treppe. Liebkosend streichelte er die leicht gebräunten Wangen des blonden, hübschen Mädelchens und sagte begütigend:

„Fritz meint’s ja nicht so, Mariechen. Er ist eben ein hitziger Charakter, dem man manches nachsehen muß.“

Dann rief er einem braunen Samoaner, der gleichfalls in Diensten des in Apia auf der Insel Upolu ansässigen deutschen Kaufmannes Parlow stand, den Befehl zu, über das Heck das Sonnensegel aufzuspannen, damit die Kinder vor den Strahlen des heiß herniedersengenden Tagesgestirns auf der Ruderbank Schutz hätten.

Timaiu, der Samoaner, ein junger, schlanker Bursche, der bisher auf dem Vorderdeck langausgestreckt gefaulenzt hatte, erhob sich träge und kletterte durch die Luke ins Vorschiff hinab, um das Sonnensegel und die zugehörigen Holzstangen heraufzuholen.

Das kleine Mädel wollte sich jedoch über die Ungezogenheit des Bruders noch immer nicht beruhigen. Indem sie sich zärtlich an den alten Seemann schmiegte, den sie fest in ihr Kinderherz eingeschlossen hatte, sagte sie zu Fritz, der mit kundiger Hand das Steuer bediente:

„Du solltest Heinrich um Verzeihung bitten …! Er tut nur seine Pflicht, wenn er darauf hält, daß wir die Küste nicht aus dem Gesicht verlieren. Du mußt doch einsehen, daß …“

Plötzlich verstummte sie, um dann sofort den Arm zu heben und, nach Westen deutend, auszurufen:

„Da – Heinrich, – das kann nur ein Walfisch sein …! Jetzt stößt er wieder einen Wasserstrahl aus seinen Spritzlöchern aus!“

Tatsächlich – es war ein Walfisch, wie der Alte sehr bald mit Hilfe eines Fernglases festgestellt hatte.

Die Nähe dieses riesigen Meeressäugetieres brachte Scharpen in die größte Aufregung. Waren doch die Wale im Stillen Ozean sehr selten geworden, hauptsächlich infolge der unvernünftigen Jagd durch amerikanische Fangschiffe, die den tranliefernden Tieren mit Harpunenkanonen nachgestellt und auf diese Weise das kostbare Wild fast ganz ausgerottet hatten.

Als Fritz jetzt, ohne Scharpen weiter um Erlaubnis zu fragen, auf den Walfisch zusteuerte, sagte der Bootsmann kein Wort dagegen, stellte vielmehr den Motor auf die Höchstgeschwindigkeit ein und beobachtete dann wieder durch das Glas den mächtigen Burschen, der sich da vor ihnen an der Oberfläche tummelte und von Zeit zu Zeit einer Fontäne gleich einen dicken Wasserstrahl hoch in die Luft spritzte.

Der im Großen Ozean vorkommende Wal ist etwas kleiner als sein naher Verwandter, der gemeine Walfisch, der sich zumeist in kälteren Zonen aufhält, unterscheidet sich äußerlich von diesem auch durch die breitere Schnauze, die eine höckerartige Erhebung hat, und durch die tiefschwarze Färbung der Haut. Immerhin wird auch dieser südliche Wal bis zu 20 Meter lang.

Das Exemplar dieser Art, das den alten Scharpen dazu verleitete, sich weiter in das offene Meer hinauszuwagen, als ihm gestattet war, mochte etwa 14 Meter messen.

Des früheren Bootsmannsmaates Aufregung steigerte sich noch, als er dann bemerkte, daß das riesige Geschöpf im Rücken eine Harpune stecken hatte, von der noch ein langes Stück der Harpunenleine herabhing. Überhaupt machte es ganz den Eindruck, als ob der Wal schwerkrank und nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte sei. Ließ er doch das Motorboot bis auf achtzig Meter ruhig herankommen, ohne an Untertauchen zu denken. Ebenso waren die Bewegungen seiner Schwanzflosse matt und träge.

Scharpen rief jetzt Fritz zu, im Bogen um den Wal herumzusteuern. Zu nahe durfte man sich ja an das Riesentier nicht heranwagen. Gerade verwundete Fische, das wußte der Alte nur zu gut, sind oft recht angriffslustig. Und ein einziger Schlag der ungeheuren Schwanzflosse hätte vollauf genügt, um das kleine Motorboot zu zertrümmern.

Nachdem die „Borussia“ – so hieß der Benzinkutter des reichen Kaufmannes Parlow – den Wal zweimal umrundet hatte, wurde es immer klarer, daß der Riesenfisch tatsächlich schwerverwundet war und wohl kaum noch die Lust verspürte, das Boot anzufallen. Als Scharpen dieser Überzeugung dem Sohne seines Brotherrn gegenüber Ausdruck gab, befahl Fritz hastig dem jungen Samoaner, ihn am Steuer abzulösen. Er selbst eilte dann auf das Mitteldeck zu Scharpen hin und sagte glühend vor Jagdeifer, indem er auf die kleine Signalkanone deutete, die im Vorschiff der „Borussia“ auf einem eisernen Gestell angebracht war:

„Heinrich, wie wär’s, wenn wir dem Wal mit Hilfe unseres sonst nur den harmlosesten Zwecken dienenden Messinggeschützes irgend ein Geschoß in die Rippen feuerten?! Kartuschen (Patronen mit Pulverladung, aber ohne Kugel) haben wir genug an Bord! Das wäre doch ein Spaß …!“

Inzwischen hatte der Fisch sich langsam nach Westen zu entfernt. Und deshalb fügte Fritz hinzu:

„Wenn daraus aber noch etwas werden soll, müssen wir uns beeilen …! – Ohne Zweifel ist der schwarze Bursche seinem Ende nahe! Helfen wir, seine Leiden abzukürzen!“

Scharpen schlug jetzt den halberwachsenen, schlanken Knaben derb auf die Schulter.

„Junger Herr – das nenn’ ich ’ne feine Idee …!! – Hurra – Walfischjagd …!! Da klopft selbst mein altes Herz schneller – Hm – aber – wo kriegen wir ein passendes Geschoß her …?! Das Kanönchen hat ja kaum fünf Zentimeter Kaliber …!“

Doch Fritz war schon ein Gedanke gekommen.

„Wir nehmen einfach einen der Messingzierknöpfe von der Kajütlampe. Die werden gerade in das Rohr passen.“

„Wieder ’ne feine Idee!“ meinte Heinrich Scharpen ganz begeistert. „Los denn …! Von der Geschützbedienung verstehe ich was …! Und es sollte doch geradezu ein gemeines Pech sein, wenn es uns nicht gelänge, dem Wal eins auf den Pelz zu brennen.“

Das kleine, zierliche Geschütz, dessen Kartuschen durch einen Schlagbolzen zur Entzündung gebracht wurden, war in wenigen Minuten feuerbereit.

Dann mußte Fritz wieder den Platz am Steuer übernehmen, weil auf Timaiu kein Verlaß war.

Bis auf fünfzig Meter ließ der Knabe den Benzinkutter sich dem Wale nähern und beschrieb nun einen engen Kreis um das jetzt regungslos auf den schwachen Wellen schaukelnde Riesentier.

Heinrich Scharpen gab plötzlich Timaiu durch seine Trillerpfeife ein Zeichen, worauf dieser den Motor abstellte, so daß das Boot schnell seinen Lauf verlangsamte und dem Alten Gelegenheit gab, ruhiger zu zielen.

Aus dem blinkenden Messingrohr fuhr ein Feuerstrahl heraus, und donnernd hallte der Schuß über die Wogen hin.

Fritz hatte sich auf die Ruderbank gestellt, um besser beobachten zu können. Ganz deutlich war der Aufschlag des Geschosses zu hören. Und der Wal verschwand dann auch sofort in die Tiefe, – das beste Zeichen, daß er getroffen war.

Scharpen stieß einen lauten Jubelruf aus. Sein braunes, verwittertes Gesicht glänzte vor Freude.

„Dem verabfolge ich noch eine zweite Ladung!“ rief er Fritz über die ganze Bootslänge hin zu. „Lange wird er nicht unten bleiben. Dazu ist er nicht mehr imstande.“

Tatsächlich erfordert das Hinabgehen in größere Tiefen von den Walen außerordentlich viel Kräfte. Sie vermögen allerhöchstes vierzig Minuten unter Wasser zu bleiben und tauchen dann völlig erschöpft wieder auf, wobei der ungeheure Wasserdruck, der auf den riesigen Tieren lastet, die Hauptsache dieser Erschöpfung bildet.

Heinrich Scharpen hatte sich nicht verrechnet. Sehr bald erschien im Osten etwa zweihundert Meter entfernt der Wal wieder an der Oberfläche und blies hier in Gestalt einer Fontäne von gut zehn Meter Höhe aus den Spritzlöchern Wasser und verbrauchte Luft ab.

Immerhin war der schwarze Bursche jetzt aber vorsichtiger geworden.

Er ließ das knatternd daherschießende Motorboot nicht mehr so nahe kommen, daß der von Jagdleidenschaft gepackte alte Seemann auch einen zweiten Schuß hätte abfeuern können.

Eine halbe Stunde verging. Mittlerweile waren die Küstenlinien der zur Samoa-Gruppe gehörigen Insel Upolu längst unter den westlichen Horizont getaucht. Die Uhr ging bereits auf die elfte Vormittagsstunde, und es wäre für die Ausflügler höchste Zeit gewesen umzukehren, wenn sie noch zum Mittagessen wieder in Apia sein wollten. Doch weder der Alte noch die beiden Kinder dachten daran. Ihre ganzen Gedanken gehörten dem Wal. Hegten doch Heinrich Scharpen und Fritz im Stillen die Hoffnung, das mächtige Tier womöglich als Beute nach Apia einschleppen und dem Handelshause Parlow und Kompagnie dadurch einen guten Verdienst verschaffen zu können.

Nur Timaiu, der etwas bequeme Samoaner, brachte der aufregenden Jagd weniger Interesse entgegen. Er verspürte starken Hunger, und deshalb kam es ihm sehr gelegen, als er ein von den anderen ganz unbeachtet gelassenes Wolkengebilde im Norden bemerkte, das ihm als Bewohner der Südsee verdächtig genug erschien, um Scharpen mit ein paar warnenden Worten darauf aufmerksam zu machen.

Timaiu erlebte dann auch die Genugtuung, daß Heinrich Scharpen plötzlich ein sehr bedenkliches Gesicht schnitt und dem Knaben am Steuer sofort zurief, umzukehren und scharf westlichen Kurs zu halten. Dabei zeigte er auf die schwefelgelbe Wolke, die am nördlichen Horizont sich gegen das durchsichtig klare Blau des Äthers scharf abhob, jetzt mit ziemlicher Schnelligkeit wuchs und erst ins Graue, dann in eine bedrohlich blauschwarze Farbe überging.

Die Unvorsichtigkeit, sich mit dem Benzinkutter so weit hinauszuwagen, sollte sich bitter rächen.

In einer knappen Viertelstunde war der Sturm da, blies mit zunehmender Stärke aus Nordost, wo jetzt eine dichte, schwarze Wand den ganzen Horizont bedeckte.

Und wieder zehn Minuten später lagerte über der See tiefe Dunkelheit. Kein einziges helles Fleckchen war mehr am Himmel zu sehen. Der Orkan umheulte das kleine Boot, das rollend und stampfend gegen die gurgelnden, schäumenden Wogen ankämpfte.

Heinrich Scharpen schickte dem Wal eine kernige Verwünschung nach, schalt sich einen leichtsinnigen alten Narren und übernahm selbst das Steuer.

Fritz und Timaiu mußten jetzt den Notmast aufrichten, damit der Segeldruck dem Kutter größere Stetigkeit gab. Die kleine Marie wurde in die Kajüte hinabgeschickt, da fortwährend schwere Spritzer über Bord kamen.

Daran, den Hafen von Apia bei der ungünstigen Richtung des Orkanes anzulaufen, war nicht zu denken. Scharpen ließ vielmehr als einzigen Weg zur Rettung das Boot gerade vor dem Winde nach Südwest mit dem Sturme treiben und, als die Segel erst gehißt waren, auch den Motor abstellen, um für alle Fälle Benzin zu sparen.

Der aus festem Eichenholz gebaute Kutter hielt sich recht wacker. Freilich wurde er jetzt auch von einem Manne gesteuert, der lange genug zur See gefahren war, um mit allen Tücken des Meeres vertraut zu sein.

Stunde um Stunde verrann. Mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes jagte das Motorboot unter dem Druck der bis zum Platzen gefüllten Segel dahin. Unten in der Kajüte lag das Mädelchen schwer seekrank in einer der Kojen. Auch Fritz’ Gesichtsfarbe hatte einige Zeit verdächtig ins Grünliche gespielt. Aber die Energie half. Der Anfall von Seekrankheit kam nicht zum Ausbruch.

So wurde es Nachmittag, Abend. Seit acht Stunden hatten die vier in dem kaum elf Meter langen Boot um ihr Leben kämpfenden Menschen keinen Bissen mehr genossen, obwohl in der kleinen Kombüse allerlei Konserven als eiserner Bestand aufgestapelt lagen. Doch an die leiblichen Bedürfnisse zu denken, dazu war jetzt keine Zeit vorhanden.

Endlich flaute der Sturm gegen elf Uhr abends ab. Aber die See lief noch immer so hoch, daß man denselben Kurs vorläufig beibehalten mußte. Timaiu wurde jetzt in die Kombüse geschickt, um Tee aufzubrühen und eine Mahlzeit vorzubereiten.

Auf eine Frage des Knaben, wo man sich wohl befinden möge, erklärte der Alte, man sei zur Zeit wahrscheinlich zwischen den Fidschi- und Tonga-Inseln.

Kaum hatte man sich dann gesättigt und auch der kleinen Marie, die völlig erschöpft dalag, ein wenig Tee eingeflößt, als der Sturm abermals sich zum Orkan auswuchs. Und erst der anbrechende, neue Tag brachte plötzlich aufkommenden Gegenwind und klaren Himmel. Das Meer glättete sich. Freundlich strahlte wieder die Sonne vom lichtblauen Äther herab.

Scharpen hatte Fritz und Timaiu ebenfalls in die Kajüte geschickt, wo sie ein paar Stunden schlafen sollten.

Er selbst hatte, um sich munter zu halten, seine Pfeife angezündet. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, kamen ihm erst die Folgen seines Leichtsinns so recht zum Bewußtsein. Dieser verd… Walfisch …! Nur durch ihn hatte er sich ja zu dieser Pflichtvergessenheit verleiten lassen! – Und mit traurigem Herzen malte er sich aus, in welcher Sorge sich das Ehepaar Parlow um die beiden Kinder befinden, welche Aufregung es in Apia geben würde, wo jedermann die Geschwister kannte … –

– – – – – – – –

Dem Alten schmeckte die Pfeife nicht. Die Selbstvorwürfe machten den Tabak bitter.

Gerade hatte er sie über Bord ausgeklopft und in die Tasche geschoben, als er im Westen ein entmastetes, treibendes Fahrzeug gewahr wurde.

Schnell kletterte er auf das Heckbrett, reckte sich hoch und warf einen Blick nach dem wracken Fahrzeug hinüber. Das Steuer hielt er währenddessen geschickt mit der einen Fußspitze in der richtigen Lage.

Es war ein Schoner, der da steuerlos auf den Wogen hin und her rollte. Und auf Deck glaubte der Alte auch ein paar Gestalten zu erblicken.

Sofort weckte er Fritz und Timaiu, indem er einen Rettungsring mit aller Kraft gegen die niedrige Tür der Kajüte schleuderte und dann die Namen seiner Gefährten brüllte. Und Heinrich Scharpens Stimme hätte hingelangt, um einen Bär im Winterschlaf munter zu machen.

Schlaftrunken erschienen die beiden, schüttelten dann aber schnell die Müdigkeit ab, als sie das Wrack erblickten.

Fritz mußte jetzt wieder den Platz am Steuer einnehmen. Der Alte aber ließ die Segel von Timaiu einziehen und stellte den Motor an.

Nach zehn Minuten war man dem Schoner bis auf einige fünfzig Meter nahe gekommen.

Zwei Leute standen an der Reling, die Ölkappen tief ins Gesicht gezogen, und winkten und riefen nach dem Benzinkutter herüber.

„Hm“, meinte Heinrich Scharpen verwundert, „mir war’s vorhin doch so, als ob ich auf dem Schoner ’ne ganze Menge Leute sah. Und jetzt sind’s in Wirklichkeit bloß zwei …! – – Rum mit dem Steuer junger Herr …! Wir müssen unter Wind an Backbord anlegen!“

Dann formte er die Hände zum Sprachrohr und brüllte den Schiffbrüchigen in seinem verdorbenen Englisch zu:

„Segler ahoi! – Wir kommen längsseit! Werft uns ein Tau herunter!“

Gleich darauf lag die „Borussia“ dicht neben dem wracken Fahrzeug, an dessen Stern der Name „Mafalda, Marseille“ in goldenen Buchstaben angemalt war.

Dann aber ereigneten sich Dinge, die den Insassen des Motorkutters erst viel später in ihren Einzelheiten klar zum Bewußtsein kamen.

Urplötzlich erschienen droben an der Reling des Schoners etwa zwölf wilde Gestalten, von denen die Hälfte blitzschnell auf das Deck des Kutters herabsprang und sich augenblicklich Fritz Parlows und des alten Bootsmannes bemächtigte.

Diese beiden waren so überrascht, daß sie, förmlich erstarrt vor Schreck, alles mit sich geschehen ließen. Im Nu hatte man ihnen die Hände auf dem Rücken gebunden, warf ihnen nun Stricke um die Brust und hißte sie roh und rücksichtslos an Deck des entmasteten Seglers.

Schlimmer erging es dem armen Timaiu.

Der hatte kaum die glattrasierten Gesichter und die kahlgeschorenen Köpfe der Angreifer gesehen, als er auch schon wußte, mit welchem Gelichter man es hier zu tun hatte. Der Samoaner war mit den Inselgruppen bis nach Australien hin vertraut genug, um in den in grauen, derben Leinenanzügen steckenden, fragwürdigen Gestalten, die jeder eine mit schwarzer Ölfarbe auf den Vorderteil ihrer Jacke aufgepinselte Nummer trugen, entflohene Sträflinge von der französischen Strafkolonie Neu-Kaledonien zu erkennen.

Mit einem Satz sprang Timaiu über Bord, tauchte unter und erschien erst nach gut zwei Minuten ein Stück von den beiden Fahrzeugen entfernt wieder an der Oberfläche.

Dann vom Deck des Schoners her kurz hintereinander zwei Schüsse. Der Samoaner stieß einen wilden Schrei aus, warf die Arme im Todeskampf empor und … versank.

Als dies geschah, hatten Fritz Parlow und der Alte gerade die Reling des Wrackes erreicht. Derbe Fäuste zerrten sie weiter und stießen sie nach der Mitte des Decks zu.

Trotzdem hatte Heinrich Scharpen noch gesehen, wie der arme Timaiu in der Tiefe der grünen Flut verschwand.

Die Wut packte ihn. Ohne an die Folgen zu denken, war er mit ein paar Sprüngen neben dem hageren Burschen, der noch die Doppelbüchse in der Hand hielt, deren Kugeln der braune Insulaner zum Opfer gefallen war. Die Hände waren dem Alten zwar gebunden. Dafür hob er jetzt aber den rechten Fuß und versetzte dem Mörder einen solchen Tritt vor den Unterleib, daß der Sträfling nach rückwärts lang auf die Deckplanken hinschlug und sich heulend vor Schmerzen wie ein Wurm krümmte.

Die Verbrecherbande war einen Augenblick starr über diese unerhörte Keckheit. Dann erhob sich jedoch ein Rachegeschrei, vor dem Fritz Parlow der Angstschweiß auf die Stirn trat. Messer, Beile und Handspeichen drohten in den Händen der wütenden Gesellen. Und sicherlich wären die beiden Deutschen im nächsten Moment niedergeschlagen worden, wenn nicht plötzlich eine helle Kinderstimme schrill den Lärm übertönt hätte.

Mariechen Parlow war’s, die man soeben auf das Deck des Schoners gebracht hatte. Mit fliegenden, blonden Locken und flatternden Röckchen drängte sie sich schützend vor den alten Bootsmann hin. Sie wußte kaum, was sie in ihrer Angst an Worten hervorstieß. Dann faltete sie flehend die Hände und sank vor dem nächsten der Sträflinge in die Knie.

„Tötet sie nicht …! Denkt an Gott, der Euch einst zur Rechenschaft ziehen wird …!“

Sie hatte deutsch gesprochen. Und nur einer der entsprungenen Verbrecher, die sich vor zwei Tagen des Schoners bemächtigt und die Besatzung kaltblütig hingemordet hatten, verstand sie. – Nur einer. Und das war gerade der Mann, vor dem sie jetzt kniete.

Breitschultrig, stark und groß wie ein Hüne, überragte er seine sämtlichen Genossen um mehr denn Kopfeslänge.

Beim Anblick des Kindes, das in seiner Verzweiflung einen so rührenden Anblick darbot, lief über sein finsteres Gesicht ein schmerzliches Zucken hin.

Jetzt hob er gebieterisch den Arm.

„Genug des Blutvergießens!“ sagte er mit einer Stimme, die hart und herrisch klang. „Schafft die beiden unter Deck! – He – was höre ich?! Ihr wagt zu widersprechen …!! Ihr kennt mich! Ich soll Euer Anführer sein! Gestern habt Ihr mir Gehorsam gelobt! Und heute murrt Ihr, wenn ich Euch vor einer neuen Torheit zurückhalten will …?!“

In seiner Rechten blinkte jetzt ein Revolver. Da duckten seine Spießgesellen sich scheu zusammen und gehorchten. Sie wußten, daß mit ihrem Kapitän nicht zu spaßen war. – –

– – – – – – – –

Die Strafkolonie Neu-Kaledonien liegt der Mitte der Ostküste Australiens vorgelagert. Die vierzehn Sträflinge waren von dort vor einer Woche nach sorgfältigen Vorbereitungen, die der jetzige Anführer der Bande in die Hand genommen hatte, auf drei elenden Fischerkähnen in der Absicht entflohen, die nordöstlich gelegene Inselgruppe der Neuen Hebriden zu erreichen, deren südlichste Eilande ganz unbewohnt sind.

Unterwegs hatten sie dann aber einem zu ihrer Verfolgung ausgeschickten Dampfer nach Süden zu ausweichen müssen, waren schließlich dem Schoner in der Nacht begegnet, hatten ihn geentert und an Bord der „Mafalda, Marseille“ denselben Orkan überstehen müssen, der auch dem Benzinkutter beinahe den Untergang gebracht hätte, wenn nicht Heinrich Scharpens seemännische Kenntnisse das Ärgste verhütet haben würden.

Nunmehr im Besitz zweier Fahrzeuge, von denen das eine im Stande war, den entmasteten, aber sonst unversehrten Schoner zu schleppen, beschloß der Kapitän der Sträflingsbande, ein früherer Steuermann, ein paar entlegene Eilande anzulaufen, die mitten in dem von Neu-Kaledonien, den Fidschi-Inseln und Neu-Seeland im Süden gebildeten, riesigen Dreieck lagen und von deren Vorhandensein er auf einer seiner Reisen vor Jahren durch einen Zufall Kenntnis erhalten hatte.

Da niemand von den Verbrechern mit dem Motor des Kutters umzugehen wußte, wurden Heinrich Scharpen und Fritz unter ständiger, strenger Bewachung dazu gezwungen, das Benzinboot zu bedienen und den Schoner nach den Anweisungen des Kapitäns zwei Tage lang in südwestlicher Richtung zu schleppen.

Auch das kleine Mädelchen, das der Anführer der Sträflinge sehr in sein Herz geschlossen zu haben schien, durfte auf den Kutter hinüber, so daß die drei Leidensgefährten wenigstens wieder vereint waren.

Am Abend des dritten Tages kam dann eine langgestreckte, felsige Insel in Sicht, deren steile Küste von einer Unmenge von Korallenriffen umgeben war.

Jetzt mußten die Gefangenen unter Deck und wurden in den engen Maschinenraum des Kutters eingesperrt. Die nötigen Befehle, ob der Motor mit voller oder halber Kraft laufen oder ganz stoppen solle, wurden ihnen von oben zugerufen.

Somit war es klar, daß die Sträflinge verhüten wollten, daß die drei über die nähere Beschaffenheit der Insel sich unterrichteten, besonders über die Einfahrtverhältnisse in einen versteckten Hafen, von dem der Kapitän einmal ein paar Worte hatte fallen lassen, die der des Englischen ebenfalls mächtige Fritz Parlow aufgeschnappt hatte.

Um Mitternacht mußten die drei dann einzeln auf Deck kommen, wo ihnen die Augen verbunden wurden. In einem der beiden Boote des Schoners wurden sie hierauf ein weites Stück über ein ruhiges Gewässer gerudert und schließlich an Land gebracht. Das kleine Mädelchen nahm einer der Leute auf den Arm, Fritz und der Bootsmann aber mußten an das feste Ufer durch zähen Schlamm waten, der ihnen bis an den Gürtel reichte.

Wieder wurden sie nun eine weite Strecke, immer noch mit verbundenen Augen, über teils sandigen, teils steinigen Boden geführt.

Endlich nahm man ihnen die Tücher ab.

Bisher hatten die drei Leute, die die Gefangenen begleiteten, kaum ein Wort gesprochen. Jetzt aber sagte der eine, der in der Bande die Rolle eines Unteranführers spielte, auf Englisch zu Heinrich Scharpen, indem er beim Lichte des heraufdämmernden Morgens mit der Hand nach Norden zu einen Halbkreis beschrieb:

„Bis an jene Hügelkette reicht der Platz, auf dem Ihr Euch frei bewegen dürft. Wir haben Euch großmütig das Leben geschenkt. Seid Ihr ungehorsam, so habt Ihr die Folgen zu tragen! Der Kapitän wollte Euch noch alles Mögliche mitgeben, damit Ihr hier in aller Bequemlichkeit hausen könntet. Aber er ist bei der Beratung überstimmt worden. Wir sind nicht so gutmütig wie er!“

Der kleine, hagere Bursche, dem jetzt um sein Galgenvogelgesicht dichte, schwarze Bartstoppeln sproßten, lachte schadenfroh in sich hinein.

„Ich wünsche Euch denn also hier viel Vergnügen! Und – nochmals: wer die eben genannte Grenze je zu überschreiten wagt, erhält von unseren Wachen eine Kugel!“

Gleich darauf waren die drei Sträflinge hinter der Hügelkette verschwunden.

Heinrich Scharpen schob sich die blaue Leinenmütze ins Genick und kratzte sich hinterm Ohr.

„Eine nette Bescherung!“ meinte er. „Das kommt davon, wenn man auf Wale Jagd macht …!“

Das kleine Mädelchen hatte sich auf einen Stein gesetzt und nickte dem alten Freunde ernst zu.

„Papa wird schön schelten, wenn wir nach Apia zurückkommen“, sagte sie in ihrer Unschuld. „Hoffentlich bringen uns die bösen Menschen bald heim. Sie wollen doch sicherlich nur erst den Schoner wieder ausbessern.“

Heinrich und Fritz wechselten einen Blick. Sie verstanden sich. Und daher erwiderte der Bootsmann halb scherzend:

„Ja ja, Mariechen, das wird ein nettes Donnerwetter geben – das stimmt! Aber vorläufig können wir uns hier erst mal ordentlich ausruhen. Ein paar Wochen kann’s immerhin dauern, ehe die Banditen den Segler wieder mit Mast und Segel ausgestattet haben.“

Mariechen gähnte herzhaft. Sie war so müde, daß ihr die Augen immer wieder zufielen. Hatte sie doch seit beinahe 24 Stunden nicht mehr geschlafen.

Wieder schauten Fritz und der Alte sich vielsagend an.

„Warte, wir bereiten Dir hier ein Lager, Mariechen“, meinte der Bootsmann fast zärtlich. „So – hier wächst gerade so schönes weiches Gras. Da lege ich meinen Rock drüber. Und meine Weste bekommst Du als Kopfkissen. Fritz gibt seine Jacke als Zudeck her. – Nun mache nur gleich die Augen fest zu und träume recht schön. Wenn wir nachher Dich wecken, gibt’s auch was zu essen und zu trinken.“

Mariechen war dann wirklich nach wenigen Minuten eingeschlummert. Sie atmete tief und regelmäßig, und als jetzt die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ihr feines Gesichtchen beschienen, breitete Heinrich schnell sein buntes Taschentuch darüber hin.

„Sonst wacht sie gleich wieder auf, junger Herr“, flüsterte er Fritz zu. „Und es ist doch besser, wenn wir eine Weile allein sind. Es gibt so manches zu besprechen, was sie nicht zu hören braucht.“

Vorsichtig entfernten sie sich dann ein Stück und ließen sich hier nebeneinander auf den Boden nieder. Auch sie merkten jetzt erst, wie erschöpft sie waren. Nach den Aufregungen der letzten Tage kam nun der Rückschlag, als sich ihr Schicksal nunmehr entschieden hatte. Und dieses hieß: Helft Euch selbst, wenn Ihr nicht zugrunde gehen wollt! – Aber das war noch immer besser als die quälende Ungewißheit.

„Was nun?“ begann Heinrich Scharpen, indem er seine leere Pfeife aus der Hosentasche hervorholte und an dem Mundstück sog. „Was nun, junger Herr?“

Fritz zuckte die Achseln. „Erst wollen wir mal zusehen, wo wir uns überhaupt befinden. – Doch – noch eins, Heinrich. Lassen Sie diese förmliche Anrede hübsch unterwegs, alter, braver Freund! Noch vor vier Tagen freute mich dieses „junger Herr“ aus reiner Eitelkeit. Für die Zukunft bin ich einfach „Fritz“ für Sie, und ich denke, der Einfachheit halber sagen wir Du zueinander.“

Heinrich Scharpen schlug in die ihm entgegengestreckte Hand des Knaben kräftig ein.

„Von Herzen einverstanden! Treue Kameraden wollen wir sein! Ich fürchte, das feste Zusammenhalten werden wir recht nötig haben.“

Dann erhob er sich. „Vorwärts, Fritz. Sehen wir uns unser kleines Reich mal genauer an. Wenn Mariechen erwacht, müssen wir ihr doch berichten können, daß es sich hier ganz gut nach Robinsonart wird hausen lassen. Und – natürlich erhalten wir sie bei dem Glauben, daß unser Aufenthalt auf dieser Insel nur ein vorübergehender ist. Sie darf nicht traurig werden, die arme Kleine. Und für sie zu sorgen, ist jetzt unser beider ernste Pflicht.“ –

– – – – – – – –

Inzwischen war die Sonne so hoch gestiegen, daß sie die über dem Lande lagernden leichten Nebelschleier verscheucht hatte.

Die beiden Gefährten vermochten daher bequem die engere und weitere Umgebung zu übersehen. Was sie erblickten, stimmte sie einerseits zuversichtlicher, zeigte ihnen anderseits aber auch, wie schlau die Sträflinge gerade diesen Ort für sie zum Aufenthalt ausgesucht hatten.

Nach Norden zu umschloß ein zerklüfteter, kahler Höhenzug wie ein dunkler Halbkreis diesen Teil des Eilandes, der sich im Süden in weitem Bogen in ein sumpfiges, gut fünfhundert Meter breites Wasserbecken hineinerstreckte, welches wie ein Gürtel sich um die Insel herumzuziehen schien. Jenseits dieses trennenden Gürtels von blinkenden Wasserlachen und grünlich schillernden Sumpfstrecken lagen eine Anzahl hoher Felseilande eng beieinander und versperrten die Aussicht nach der offenen See hin, die man ganz leise in der Ferne branden hörte. Selbst von den Stellen, wo die Ausläufer des nach Norden zu gewölbten halbkreisförmigen Höhenzuges den Strand berührten, konnte man nicht feststellen, wie der nördliche, den drei Gefangenen verbotene Teil des Eilandes beschaffen war.

Das ihnen zugewiesene Gebiet besaß mithin etwa Kreisform, mochte einen Durchmesser von 1500 Meter haben und war stellenweise mit dichten Büschen, besonders am Fuße der Hügel, ferner mit kleinen Grashalden und Gruppen von verschiedenartigen tropischen Bäumen bedeckt, unter denen Kokospalmen, Pandanen und hohe, harzreiche Kaurifichten recht zahlreich vertreten waren. Aber auch genießbare, mehlreiche Knollen- und Wurzelgewächse, so Aron- und Yamswurzeln, entdeckten die beiden Deutschen, schließlich auch an dem Abhang einer Schlucht wilde Bananen und am Ufer eines Baches mit sumpfigen Ausbuchtungen einen hohen Bambuswald.

Der Strand, der einen nach Süden zu gerichteten Bogen bildete, war zumeist von allerlei buntblühenden Pflanzen dicht umrahmt, die in dem brackigen Wasser vorzüglich zu gedeihen schienen.

Von Tieren bemerkten die Gefährten nur einige Beutelratten, eine Menge Papageien und Kakadus, ferner ein paar drosselähnliche Vögel und kleine Eidechsen- und buntschillernde Insektenarten.

Nachdem sie ihr immerhin recht geräumiges Gefängnis durchstreift hatten, schlug Heinrich Scharpen vor, man solle sich jetzt gleich darüber einigen, wo man sich häuslich einrichten wolle. Wegen der ungesunden Nebel, die nachts dem sumpfigen Wassergürtel entsteigen mußten, hielt er den Nordwestrand der Hügelkette zur Errichtung einer Hütte für am geeignetsten. Diese schleunigst zu erbauen, war schon deshalb notwendig, weil man jetzt Anfang Januar täglich mit dem Beginn der Regenzeit rechnen mußte, die in diesen Breiten gewöhnlich drei Monate anhält.

Eine von Kaurifichten umgebene felsige Erhebung wurde dann als Bauplatz bestimmt, da sie mannigfache Vorteile bot, besonders auch den, daß der im Südosten in den Sumpfgürtel mündende Bach hier ganz in der Nähe als kleine, klare Quelle zutage trat. –

– – – – – – – –

Jetzt begaben die beiden Gefährten sich nach dem Orte zurück, wo sie das Mädelchen vorläufig sich selbst überlassen hatten. Es schlief noch fest. Mit sanft geröteten Wangen lag es da, ein Bild holder Unschuld und Sorglosigkeit.

Als Heinrich die Kleine dann sanft rüttelte, wurde sie nur schwer munter.

Er hatte eine Menge Bananen und andere eßbare Früchte mitgebracht, die man nun gemeinsam verzehrte. Hierauf suchten die drei sich in einem kleinen Wäldchen eine schattige Stelle aus und streckten sich abermals zum Schlafe hin.

Der alte Bootsmann und Fritz waren denn auch fast augenblicklich vor Erschöpfung eingeschlummert. Das Kind jedoch lag nur ein Weilchen mit geschlossenen Augen still, erhob sich dann und schlich sich leise davon.

Mariechen wollte nichts anderes, als auch ihrerseits nun so etwas auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen ausgehen, hielt sich hierbei aber doch stets in der Nähe, pflückte Blumen und wand sich einen bunten Kranz ins Haar. Dabei gelangte sie auch an eine Stelle des Baches, wo dieser sich durch eine flache Rinne in felsigem Boden hindurchwand.

Hier kniete sie sich hin, wusch sich in dem angenehm kühlen, klaren Wasser Gesicht und Hände und trocknete diese mit ihrem winzig kleinen Taschentuche ab.

Auf dem Grunde des Bächleins, das hier mit einigem Gefälle murmelnd dahinschoß, erregten einige gelbe Steinchen ihre Aufmerksamkeit, die mit der Zeit recht rund geschliffen worden waren. Diese benutzte sie nachher dazu, um daraus auf einer glatten Felsplatte den Namen ihres lieben alten Freundes zusammenzusetzen.

Als der Bootsmann und Fritz dann gegen drei Uhr nachmittags munter wurden – die Zeit berechnete Scharpen ungefähr nach dem Stande der Sonne, denn die Taschenuhren und alles Sonstige hatten die Sträflinge den beiden Deutschen abgenommen –, führte das Kind sie freudestrahlend zu der Felsplatte hin.

Hier erlebte Mariechen jedoch eine herbe Enttäuschung.

Der Alte hatte kaum die gelben Kiesel erblickt, als er, ohne darauf zu achten, daß sein Name hier so hübsch sorgfältig verewigt war, sich bückte, ein paar der Steinchen aufhob und mit dem Fingernagel darauf herumkratzte.

In sein braunes, faltiges Gesicht war dabei ein solcher Ausdruck von erregter Spannung getreten, daß die Geschwister fast gleichzeitig fragten:

„Aber, Heinrich, was hast Du nur?!“

Und die Kleine fügte noch hinzu: „Deine Hände zittern ja …! Bist Du krank …? – Und auf meine Arbeit gibst Du gar nicht acht! Das e und i sind gar nicht mehr zu lesen. Die beiden Buchstaben hältst Du jetzt in Händen …“

Der Alte schien den leisen Vorwurf ebenso wie die Frage nach seinem körperlichen Befinden ganz überhört zu haben.

„Wo hast Du diese … diese Steinchen her, Mariechen?“ forschte er mit seltsam veränderter Stimme.

„Dort aus dem Bache“, meinte sie leicht gekränkt.

Heinrich ließ sich sofort die Stelle zeigen.

Dann wandte er sich dem Mädelchen zu und sagte ernst:

„Willst Du mir einen Gefallen tun? – Wenn vielleicht mal dieser oder jener der Sträflinge hierherkommen sollte, so erwähne nichts von diesen Kieseln, verstanden?! Und – benutze sie nicht zum Spielen. Es sind Steine, die … die“ – er suchte nach einem passenden Ausdruck – „Verderben demjenigen bringen, der damit nicht umzugehen weiß.“

„Also sind sie giftig?“ fragte die Kleine und rieb sich eifrig die Finger an ihrem noch feuchten Tüchlein ab.

„Giftig …? – Hm – so etwas Ähnliches!“ erklärte der Alte kurz, sammelte dann sämtliche Kiesel von der Felsplatte zusammen und verbarg sie unter einem flachen, großen Felsbrocken.

Dann suchte er die Aufmerksamkeit des Kindes auf andere Dinge zu lenken.

„Wir werden jetzt mit dem Bau unserer Hütte beginnen“, meinte er. „Bambusstangen gibt es da drüben ja genug. Es fragt sich nur, wie wir sie umhauen und auf die für uns nötige Länge bringen sollen. Da ist guter Rat teuer. Werkzeuge besitzen wir nicht. Nicht einmal mein gutes Taschenmesser haben die Banditen mir gelassen.“

Der Alte hatte die Richtung nach dem Bambusgehölz eingeschlagen, dessen kräftigste Stangen gut fünfzehn Meter Länge hatten. Der Boden, auf dem sie wuchsen, war feucht und moorig. Trotzdem drangen der Bootsmann und Fritz in den Bambuswald ein, während die Kleine an einer trockenen Stelle des nahen Bachufers zurückblieb.

Es zeigte sich dann, daß einige der ältesten Stämme, die man an ihrer schrägen Lage leicht erkennen konnte, von der Wurzel aufwärts in Fäulnis übergegangen waren, so daß sie sich unschwer abbrechen ließen. Dies kam den beiden Gefährten sehr gelegen. Bis kurz vor Sonnenuntergang hatten sie dann in der Nähe des Bauplatzes übergenug von dem zähen Baumaterial zusammengeschleppt. Dann benutzten sie den Rest der Tageshelle noch dazu, zähe Schlinggewächse einzusammeln, die, wie sie wußten, auch die Samoaner an Stelle von Stricken benutzten.

Nach einer aus Früchten bestehenden Abendmahlzeit wurden die Lagerstätten unter den Kaurifichten aus trockenem Gras und einer Flechtenart hergestellt, die die Südsee-Insulaner „Bart des alten Mannes“ nennen, weil sie von den Zweigen der Nadelhölzer tatsächlich wie endlos lange, graue Bärte herabhängen. Auch in deutschen Wäldern trifft man ähnliche Flechten an. Nur daß diese eben in tropischen Gegenden weit abenteuerlichere Abmessungen annehmen und fast wie dicke Stoffvorhänge wirken, die jeder Windzug langsam hin und her bewegt.

Das kleine Mädelchen wurde zuerst „zu Bett geschickt.“ Heinrich und Fritz saßen aber noch eine ganze Weile auf und beratschlagten, wie sie die Bambusstangen am besten kürzen könnten.

Dann sagte der junge Parlow plötzlich:

„Ja, wenn wir in der Lage wären, uns ein Feuer anzuzünden …! Wenn …!! Dann könnten wir die Stangen an den betreffenden Stellen durchbrennen.“

Heinrich Scharpen hatte schon wieder seine geliebte Pfeife zwischen den Zähnen. Den Genuß des Rauchens vermißte er nur zu sehr. Jetzt begann er mit den Fingern in der rechten Tasche seiner Jacke herumzusuchen. Und gleich darauf holte er mit einem freudigen: „Dacht’ ich mir’s doch!“ drei Zündhölzchen mit roten Köpfchen hervor, jene Art von Schwefelhölzern, wie sie in Deutschland längst verboten sind, aber in Amerika z. B. noch immer in Massen angefertigt werden, da sie sich an jeder rauhen Fläche anstreichen lassen.

„Ich wußte, daß das Westenfutter kaputt ist“, lachte er vergnügt. „Und da sind eben diese Hölzchen mal in die Tiefe gerutscht. Man sieht also, daß manchmal auch Unordentlichkeit von Vorteil sein kann.“

Da beide noch nicht recht müde waren, beschlossen sie, sofort in der Nähe ein Feuer anzufachen und mit dem Herrichten der Bambusstangen zu beginnen. Ein Zündholz genügte. Das trockene Gras lohte auf, ergriff die harzigen Fichtenzweige und flackerte bald lustig prasselnd und weithin die Umgegend erleuchtend, hoch auf.

Die Gefährten machten sich nun mit einem solchen Eifer an die Arbeit, daß sie völlig die Zeit darüber vergaßen. Der alte Bootsmann hatte schon vorher die Maße der Hütte, die ein richtiges spitzzulaufendes Dach erhalten sollte, festgelegt, und das auf die nötige Länge gebrachte Baumaterial bildete bald einen hohen Haufen.

Während dieser Beschäftigung besprachen die beiden in aller Ruhe und Gründlichkeit ihre Lage, wobei Heinrich die Hoffnung äußerte, daß vielleicht doch einmal ein Walfischfänger an den Inseln anlegen und sie mitnehmen könnte. „Und wenn nicht“, fügte er hinzu, „nun, so wird sich schon ein anderer Weg finden, nach Apia zurückzukehren. Erst muß freilich die Regenzeit vorüber sein. Früher läßt sich nichts unternehmen.“ – Diese zuversichtliche Art wirkte auf Fritz Parlow recht belebend. Ein paar Monate hier Robinson zu spielen, dagegen hatte er ja nichts einzuwenden. Aber der Gedanke, vielleicht jahrelang auf der Insel zubringen zu müssen, machte ihn doch kleinmütig.

Gerade als die Gefährten dann endlich zur Ruhe gehen wollten, erlebten sie noch eine unerwartete Überraschung. Plötzlich erschienen nämlich der Kapitän und der Unteranführer der Sträflinge an der Arbeitsstätte, blieben aber nur kurze Zeit. Offenbar wollten sie in der Hauptsache sich überzeugen, was ihre Gefangenen trieben. Dann aber erteilte der Unteranführer, den seine Spießgesellen stets Estroux genannt hatten, während der Kapitän, wie Mariechen erlauscht hatte, den deutschen Namen Steiner besaß, dem alten Bootsmann barschen Tones ein für allemal den Befehl, nur nach Eintritt der Dunkelheit ein Feuer anzuzünden, ein Verbot, das er noch durch rachsüchtige Drohungen eindrucksvoller zu machen suchte. Gleich darauf entfernten die Verbrecher sich wieder, ohne daß der Kapitän ein einziges Wort gesprochen hatte.

Heinrich schlich den beiden nach einer Weile nach, um festzustellen, auf welchem Wege sie über die Hügelkette in den Nordteil der Insel zurückkehrten. Sehr bald war er wieder da und meldete, die Führer der Sträflingsbande hätten am Oststrande entlanggehend das den Gefangenen zugewiesene Gebiet verlassen. Auf dieselbe Weise waren auch die drei Verbrecher, die die Deutschen morgens hierher geschafft hatten, zu ihren Gefährten zurückgeeilt. Mithin schien es über die Felshügel selbst keine nähere Verbindung nach der anderen Inselhälfte zu geben, wie der Bootsmann betonte.

Jetzt dachten Heinrich und Fritz aber allen Ernstes ans Schlafengehen. Während der Alte noch schnell ein paar starke Äste in die Glut warf, damit das Feuer nicht bis zum Morgen erlösche, meinte er zu seinem jungen Kameraden, der noch eine Bambusstange über den Flammen hin und her drehte, um sie durchzubrennen:

„Wie schlau die Halunken sind! Sie fürchten natürlich, daß eine hier am Tage aufsteigende Rauchsäule ein Fahrzeug herbeilocken könnte! – Ganz leicht wird uns die Flucht also nicht werden! Dumm sind die Banditen nicht!“

Dann schritten sie der Stelle zu, wo das kleine Mädelchen im festen Schlafe der unbekümmerten Jugend auf dem weichen Lager unter des Alten Jacke als Zudeck ruhte.

Vorhin war der Kapitän der Sträflinge, der die Kleine stets mit halb zärtlichen, halb traurigen Blicken betrachtet hatte, allein bis hierher gegangen, ohne Zweifel, um das Mädelchen wiederzusehen und sich von ihrem Wohlergehen zu überzeugen.

Jetzt stolperte Fritz über einen Gegenstand, der halb verborgen in dem spärlichen Grase lag, das hier auf der flachen Spitze der Felsanhöhe wucherte. Er bückte sich … Der südliche Sternhimmel mit seinen Millionen funkelnder Gestirne spendete genügend Licht, um alles leidlich zu erkennen. – Fritz griff mit der Hand in das Gras und stieß einen unterdrückten Jubelruf aus.

Gleich darauf schwang er ein Handbeil mit kurzem, gebogenem Stiel, wie es die Schiffszimmerleute benutzen, über seinem Kopf.

Heinrich Scharpen schüttelte verwundert sein verwittertes Haupt. – „Das kann nur unser vermutlicher Landsmann, der Kapitän, heimlich hier zurückgelassen haben“, meinte er. „Er scheint uns also doch unsere Lage nach Kräften erleichtern zu wollen. Ganz schlecht kann er also nicht sein …! Vielleicht hat Mariechens Anblick in seinem Herzen das wenige Gute geweckt.“ –

– – – – – – – –

Daß der Kapitän der Spender des Beiles gewesen sein mußte, unterlag keinem Zweifel. Am nächsten Morgen fanden die Gefährten dann noch an derselben Stelle zwei starke Messer mit feststehender, breiter Klinge sowie ein Dutzend langer eiserner Schiffsnägel.

Heinrich war über diese Geschenke hocherfreut. Sofort machte er sich daran, aus zweien der Nägel, die er in der glühenden Asche des Feuers erhitzte, durch Hämmern mit Steinen eine Art Bohrer herzustellen, die dann beim Bau der Hütte insofern vorzügliche Dienste leisteten, als man nun die einzelnen Bambusstangen durch Zapfen untereinander verbinden konnte.

Die nächsten Tage gingen ohne wichtigere Ereignisse hin. Das Wetter blieb schön. An einem Freitag waren die drei Gefangenen auf ihrem Südteil der Insel angelangt, und am Mittwoch darauf war nicht nur die Hütte fertig, sondern auch allerlei an Einrichtungsgegenständen hergestellt, so daß die armen Robinsons es jetzt schon leidlich behaglich hatten.

Das Bambushäuschen besaß drei schmale, durch Zwischenwände voneinander getrennte Räume, – zwei Schlafgemächer, eins für das Mädelchen, eins für Heinrich und Fritz, und ein gemeinsames Wohngemach. Das Dach war mit den großen Blättern einer Pandanenart gedeckt, erwies sich jedoch bei einem Platzregen, der die lange Regenzeit anzukünden schien, nicht als wasserdicht. Dieser Übelstand bewog den alten Bootsmann, einen Gedanken zur Ausführung zu bringen, mit dem er sich schon ein paar Tage getragen hatte.

Er beabsichtigte nämlich nichts anderes, als aus dem Holze der harzreichen Kaurifichten, die auch an anderen Stellen vorkamen, durch Verkohlen der Stämme, die zu einem Meiler aufgeschichtet werden, Teer zu gewinnen, wie er dies einmal auf einer Ansiedlung auf den Fidschi-Inseln gesehen hatte. – Zunächst wurde nun in einer Nacht ein Versuch im Kleinen angestellt. Auf einer schrägen Felsplatte wurden dicke, harzreiche Äste zu einem Meiler aufgebaut, rings mit Rasenstücken belegt und dann angezündet. Der Erfolg war überraschend. Der Teer floß als unreine, dicke Masse über die schräge Felsplatte in eine von Heinrich bereitgestellte halbe Kokosnußschale und eignete sich dann vortrefflich dazu, das Dach in der Weise abzudichten, daß man lange Flechten in das noch warme Produkt dieser primitiven Destillationsmethode tauchte und damit die Ritzen verstopfte.

Da das Wetter wieder eine Woche klar und heiter war, wurde nun in jeder Nacht ein Meiler angezündet, auf den man weiter gar nicht achtzugeben brauchte. So gewannen die Gefährten einen Vorrat an Teer, den sie später auch noch zu anderen Zwecken benutzen wollten.

In dieser Zeit der Teerzubereitung erledigten sie tagsüber noch allerlei andere Arbeiten. So fertigte der äußerst geschickte Seemann zwei Bogen nebst Pfeilen an. Letzteren gab er Eisenspitzen, bei denen die Schiffsnägel wieder herhalten mußten.

Mit Hilfe dieser Waffen, deren Sehnen Heinrich Scharpen aus den Därmen einiger mit Steinen erlegter Beutelratten herstellte, wie er dies den Samoanern abgelauscht hatte, erlegte man dann häufiger einige jener drosselartigen Vögel, die sehr wenig scheu waren. Auf diese Weise erfuhr der Küchenzettel unserer Robinsons eine angenehme Ergänzung. Die über dem Feuer gebratenen Vögel gaben ein recht schmackhaftes Essen ab, welches nach dem ständigen Früchtegenuß besonders gut mundete.

Leider trat dann die gefürchtete Regenzeit ein. Der Himmel war jetzt ständig mit dichten Wolken bedenkt, und bei der nur wenig abgekühlten Luft lag jetzt, selbst wenn die Schleusen des Himmels einmal sich schlossen, stets ein feuchtwarmer Brodem über der Insel, der recht erschlaffend wirkte. Gewiß, zuweilen durchdrang auch wieder die Sonne das Gewölk, aber immer nur für wenige Stunden.

So gingen vierzehn Tage hin. Unsere unfreiwilligen Ansiedler waren nun fast dauernd ans Haus gefesselt. Damit sie aber nicht lediglich auf das Wohngemach angewiesen waren, erbauten sie sich vor der Tür eine Art Veranda mit weit überhängendem Dach, so daß sie hier nun allerlei häusliche Arbeiten am Tage verrichten konnten. So stellte der Alte noch einige notwendige Werkzeuge her, während Fritz und das kleine Mädelchen nach seiner Anleitung aus Kokosnußfasern Stricke drehen mußten, die, mit heißem Teer eingerieben, außerordentlich haltbar waren.

An einem Donnerstag abend dann – über die Zeitrechnung führte man auf einer Steinplatte durch Striche für die Wochen- und Kreuze für die Sonntage sehr genau Buch –, als Heinrich soeben die Tür der Hütte von innen verriegelt und ebenso die Fensterläden in die viereckigen Fensteröffnungen eingefügt hatte, wurde laut gegen die Rückwand des Häuschens geklopft.

Fritz, der neben dem auf dem Steinherde glimmenden Feuer saß und an einem Holzlöffel schnitzte, flüsterte dem Alten leicht erschreckt zu, es würden wahrscheinlich wieder ein paar von den Sträflingen sein, die sich inzwischen nicht mehr hatten blicken lassen.

Der Bootsmann ergriff ein brennendes Scheit und trat unter die Vorhalle hinaus. Wer beschreibt aber sein Erstaunen, als jetzt kein anderer als Timaiu, triefend vor Nässe, aus den Regenmassen auftauchte und mit vergnügtem Grinsen an Heinrich vorbei schnell ins Haus schlüpfte.

„Tür zuschließen! Niemand wissen, daß Timaiu leben!“ sagte er dann leise zu dem Alten in seinem wunderlichen Deutsch.

Auch Fritz und Mariechen trauten ihren Augen nicht, als sie den Totgeglaubten mit einem Male vor sich sahen.

Die Geschwister bestürmten den Samoaner dann mit so vielen wirren Fragen, daß er kaum wußte, wem er zuerst antworten sollte. Da legte der Bootsmannsmaat sich schließlich ins Mittel. Und nun erst konnte Timaiu einen zusammenhängenden Bericht erstatten, aus dem folgendes hervorging:

Die beiden auf ihn abgefeuerten Schüsse hatten ihn nicht getroffen. Er hatte vielmehr aus Schlauheit nur den Versinkenden gespielt und war als vorzüglicher Schwimmer unter Wasser bis auf die andere Seite des Schoners gelangt, wo sich an der Reling niemand aufhielt, so daß er unbemerkt in der gerade offenen Vorderluke verschwinden konnte. Im Kielraum verborgen hatte er dann die Fahrt nach der entlegenen Inselgruppe mitgemacht und war hier in derselben Nacht an Land entwichen, als die drei Deutschen fortgeschafft wurden. Sein Schlupfwinkel wurde eine Höhle in derselben Felsenkette, die die Hauptinsel des kleinen Archipels in zwei ungefähr gleich große Teile zerschnitt. Bei Tage hielt er sich dort versteckt und benutzte nur die Nachtstunden dazu, sich mit Nahrungsmitteln und Wasser zu versorgen. Für ihn als halben Wilden bot dieses Dasein keine großen Schwierigkeiten. Mit der Zeit war er dann kühner geworden und dehnte seine nächtlichen Streifereien bis zu dem natürlichen Hafen aus, in den der Kapitän der Sträflinge den erbeuteten Schoner mit sicherer Hand hineingesteuert hatte und wo die Bande alsbald mit der Wiederinstandsetzung des Schiffes begann. Einige Male war es Timaiu sogar geglückt, die Leute zu belauschen, wenn sie abends an Land vor ihren schnell errichteten Hütten am Feuer lagen. So hatte er erfahren, daß die Verbrecher beschlossen hatten, fortan als Freibeuter die Gewässer um Australien herum heimzusuchen, hauptsächlich die Perlengründe bei den Neuen Hebriden und an den Inseln der Torresstraße. Gestern waren die Piraten dann zu ihrem ersten Raubzuge aufgebrochen und hatten auf dem Motorkutter, mit dem sie nicht umzugehen verstanden, nur drei inzwischen am Fieber erkrankte, aber leidlich wiederhergestellte Leute zurückgelassen. Unter diesen befand sich auch der Unteranführer Estroux, ein roher, gewalttätiger Mensch, der offenbar großen Einfluß bei der Bande hatte. –

– – – – – – – –

Nachher stellte Heinrich Scharpen an den zwar trägen, aber sonst recht aufgeweckten Samoaner allerlei Fragen, die sich darauf bezogen, ob die zurückgebliebenen Piraten auf dem Kutter wohnten und ob dieser noch völlig in Ordnung sei. – Beides bejahte Timaiu.

Zunächst mußte jetzt das kleine Mädelchen, die schon recht verdächtig mit den Augen gezwinkert hatte, schlafen gehen, da es für sie die höchste Zeit war ins Bett zu kommen. Dann rückten die drei anderen näher am Feuer zusammen und berieten, ob es nicht möglich sei, auf dem Kutter zu entfliehen.

Timaiu, überhaupt kein großer Held, äußerte allerlei Bedenken, mußte aber zugeben, daß die Piraten keine Schußwaffen besaßen und daß die mit dem Schoner ausgezogenen Freibeuter, die auch nur über eine Doppelflinte verfügten, sich solche erst durch Überfälle auf einsame Niederlassungen an den Küsten der Fidschi-Inseln besorgen wollten.

Der Bootsmann erklärte hierauf, daß der Fluchtplan gelingen müsse, wenn man alles nur sorgfältig überlege und die Einzelheiten des Planes den Gewohnheiten der drei Zurückgebliebenen anpasse. Deshalb befahl er dem Samoaner dann auch, die nächsten Tage dazu zu benutzen, die Piraten scharf zu beobachten und alles Gesehene später zu melden.

Timaiu, der sich inzwischen ein Steinbeil und eine Keule angefertigt hatte, die er als Waffen bei sich trug, beschrieb dem Bootsmann dann noch genau den Weg, wie man quer über die wildzerklüfteten Felshügel auf die andere Seite der Insel gelangen könne und verschwand wieder im Dunkel der Nacht.

Daß der alte Seemann und Fritz noch lange wach lagen und flüsternd immer wieder die Aussichten einer Flucht erörterten, war den ganzen Umständen nach nicht weiter wunderbar. –

– – – – – – – –

Acht Tage vergingen wieder. Mit wachsender Ungeduld harrte man in der Bambushütte auf das Erscheinen des Samoaners.

Aber Timaiu ließ sich nicht wieder blicken. Inzwischen kamen wieder ein paar sonnenklare Tage, die die Gefährten vom Morgen bis zum Abend im Freien zubrachten. Sehnsüchtig schauten sie oft genug nach den schroffen Zacken der Basaltfelsen hin, die ihr Gebiet im Norden begrenzten. Dann fanden sich genau am neunten Tage nach des Samoaners kurzem Besuch der Unteranführer in Begleitung eines anderen Piraten bei den Gefangenen ein. Das Benehmen Estroux’ bewies, daß er irgendeinen Verdacht geschöpft hatte. Zum Glück war die kleine Marie, die gerade allein in der Hütte weilte, so klug gewesen, schnell das Beil sowie die Bogen und Pfeile zu verbergen. – Estroux besichtigte das Bambushäuschen ganz genau und machte dann einen Rundgang durch den ganzen Inselteil hin, als ob er etwas Verdächtiges suche. Bevor er wieder verschwand, stieß er noch allerlei rohe Redensarten aus, und bedrohte den alten Bootsmann mit dem Tode, falls dieser auch nur die geringsten Anstalten zur Flucht treffe, und zeigte dadurch, daß er den Gefangenen nicht mehr recht traue.

Nachher meinte Heinrich Scharpen zu Fritz, daß dieser lästige Besuch unfehlbar mit der Person Timaius irgendwie zusammenhängen müsse, und sprach auch die Befürchtung aus, der Samoaner sei vielleicht von den drei Freibeutern überrascht worden und hätte dann aus Angst vor dem Tode die Absichten seiner Gefährten verraten. Anders könne er sich jedenfalls das merkwürdige Verhalten Estroux’ nicht erklären.

Fritz mußte dem Alten recht geben, wurde sehr nachdenklich gestimmt und schien einem besonderen Gedanken nachzuhängen, ohne sich Scharpen gegenüber jedoch hierüber näher zu äußern.

Abends hatten sie dann, da einige Stellen des Daches besser abgedichtet werden mußten, wieder einen Meiler angezündet, um frischen Teer zu gewinnen. Der Bootsmann legte sich früh schlafen, während der Knabe noch den Meiler besser eindecken wollte.

Mitten in der Nacht wachte der Alte über einem wilden Traum auf. Er war so sehr daran gewöhnt, in nächster Nähe Fritz’ tiefe Atemzüge zu hören, daß es ihm sofort auffiel, als von seines kleinen Gefährten Lagerstatt sich auch nicht das geringste Geräusch vernehmen ließ. Stark beunruhigt erhob er sich und tastete nach Fritz hinüber.

Dessen Bett war leer. Scharpens suchende Hand berührte nichts als den Bambusrand des Lagergestelles und die weichen Gräser und Flechten, die das Polster vertraten.

Dann hatte er sich auch schon eine der aus Harz und Moos gefertigten Fackeln aus dem Wohngemach geholt, zündete sie in der glimmenden Asche des Herdes an und trat damit ins Freie.

Die Nacht war selten dunkel. Dichtes Gewölk bedeckte den Himmel. Von Süden her strich hohl ein warmer Regenwind über die Insel hin.

Der Alte ging zum Meiler. Vielleicht hielt sich Fritz dort auf. Zwischen den Rasenstücken, die die harzigen Hölzer gegen die Luft abschlossen, quollen feine, gelbe Rauchfäden hervor, und im Innern knisterte und prasselte es leise. – Fritz war nicht zu sehen. Da rief Heinrich Scharpen mehrmals des Knaben Namen. Aber Antwort erhielt er nicht.

Immer größer wurden seine Angst und Unruhe. Dann dachte er an das kleine Mädelchen. – Ob etwa Estroux die Kinder fortgeholt hatte …? – Eiligst lief er zur Hütte zurück.

Eine Zentnerlast fiel ihm vom Herzen, als er Mariechen friedlich schlummernd auf ihrem Lager fand.

Wieder stand er nun vor der Hütte und lauschte in die Nacht hinaus.

Plötzlich flüchtige Schritte, das Poltern eines von dem Hügel herabfallenden Steines, und der Erwartete stand, wie nach hastigem Lauf keuchend Atem holend, vor ihm.

„Nicht schelten, Heinrich, – nicht schelten …!“ stieß der Knabe nach Luft ringend hervor. „Es mag ja von mir sehr leichtsinnig gewesen sein, aber – ich wollte mir Gewißheit verschaffen.“

Scharpen dämmerte die Wahrheit auf. Hatte Fritz doch den Rindenköcher mit den Pfeilen umgehängt und den Bogen und die Streitaxt – einen in einen Stiel eingefügten scharfkantigen Stein, die er sich selbst angefertigt hatte, in der Hand.

„Du warst im Piratenlager?!“ fragte der Alte unwillig. „Wie konntest Du nur …! Ich bin Deinetwegen schon in größter Sorge gewesen …!“

Doch Fritz, der jetzt wieder etwas zu Atem gekommen war, lachte unbekümmert.

„Für uns ist’s ein Glück, daß ich mich zu diesem Streich aufgerafft habe. Du wirst das bald einsehen. – Doch die Zeit drängt. Nimm das Beil als Waffe mit, und dann vorwärts. Unterwegs erzähle ich Dir alles. Jedenfalls ist Timaiu frei und erwartet uns.“

Heinrich Scharpen unterließ alle weiteren Fragen. Und dann eilten sie, so schnell dies in der Finsternis möglich war, der Nordostecke ihres Gebietes zu, bogen am Strande des Sumpfgürtels um die letzten Ausläufer der Hügelkette herum und kamen bald über eine steinige Ebene, die sich dann allmählich zum Nordufer der Insel herabsenkte.

Das, was Fritz zu berichten hatte, war bald erzählt.

Vorsichtig war er bis nahe an die Hütten herangeschlichen, die die Piraten sich am Strande errichtet hatten. Hier bemerkte er vor der einen die Gestalten dreier Männer, die Pfeife rauchend und sich in französischer Sprache unterhaltend im Grase lagen. Die Dunkelheit gestattete es dem Knaben, sich ganz nahe anzuschleichen. So hörte er denn Estroux gewaltig auf die schwüle Hitze schimpfen, die einen Aufenthalt in der Kajüte des Kutters unmöglich machte, hörte auch des Unteranführers häßliches Lachen und dessen Bemerkung, daß der Samoaner im Vorschiff des Motorbootes wohl nicht gerade über Kälte klagen würde.

Eine halbe Stunde darauf krochen die drei in die Hütte, und bald schnarchten sie um die Wette. Da hatte Fritze nicht lange gezögert. Der Kutter lag in dem kleinen, natürlichen Hafen an einer Felspartie vertäut, die schroff ins Wasser abfiel. Es war ein leichtes, an Deck zu gelangen, die Vorderluke zu öffnen und in das Vorschiff hineinzusteigen, wo er dann den an Armen und Beinen eng gefesselten Timaiu stöhnend und leise wimmernd vorfand. Die Stricke waren jedoch so fest verknotet, daß Fritz sie mühsam mit der Schneide seiner steinernen Streitaxt durchsägen mußte. Bevor der Samoaner dann wieder seine geschwollenen Hand- und Fußgelenke durch Kneten einigermaßen geschmeidig gemacht hatte, verging abermals eine geraume Weile.

Timaiu schien völlig verwandelt. Der Wunsch, sich an seinen Peinigern, denen er tatsächlich eines Abends aus Unachtsamkeit in die Arme gelaufen war, zu rächen, verscheuchte jede Angst aus seinem sonst so zaghaften Hasenherzen. In der Kajüte des Kutters bewaffnete er sich mit einem langen, eisernen Schraubenschlüssel und folgte dann Fritz an Land, wo er als Beobachtungsposten in der Nähe der Hütte zurückblieb. –

Heinrich Scharpen war mit diesen Anordnungen ganz einverstanden, nur bedauerte er sehr, daß man vielleicht nicht ganz ohne Blutvergießen ans Ziel gelangen werde.

„Freilich – schonen werden wir die Piraten nicht!“ meinte er. „Das kann niemand von uns verlangen. Und wenn nötig, knacke ich mit Gemütsruhe dem Gesindel mit diesem Beil den Schädel auf. Aber – wie gesagt – lieber wäre es mir, wir könnten sie ohne Kampf überwältigen.“ –

Jetzt waren sie dicht bei den Hütten angelangt. Timaiu, der auf ihr Erscheinen sehr sehnsüchtig gewartet hatte – nicht etwa aus Furcht, sondern aus Rachedurst –, tauchte plötzlich vor ihnen auf.

„Alles gut, sehr gut sein. Verbrecher schlafen noch“, berichtete er kurz.

Inzwischen hatte die Morgendämmerung die nächtliche Dunkelheit in ein ungewisses Zwielicht abgeschwächt.

Dann war es der Samoaner, der auf einen vortrefflichen Gedanken kam. – Die Hütte, in der die drei Piraten schliefen, war aus starken Ästen zuckerhutförmig errichtet und mit dem Notsegel des Kutters bedeckt. Wie Timaiu versicherte, ließen sich die Äste leicht aus dem Boden herausziehen, so daß es den Gefährten wohl gelingen mußte, die Schläfer unter der umgestürzten Hütte zu begraben, wo sie dann so gut wie wehrlos waren und nötigenfalls einzeln unschädlich gemacht werden konnten.

Dieser Plan gelang denn auch vollständig.

Die durch das eben überstandene Fieber noch recht geschwächten Freibeuter gaben sofort jeden Widerstand auf, als Timaiu dem Unteranführer, der am meisten zu fürchten war, gegen den Willen Heinrich Scharpens mit dem Schraubenschlüssel einen solchen Hieb über den Kopf versetzte, daß Estroux noch zwei Stunden nachher wie tot dalag.

Jedenfalls behandelte man die Verbrecher genau in derselben Weise, wie sie es mit dem Insulaner getan hatten: sie wurden von Heinrich Scharpen so eng und so kunstgerecht gefesselt, daß man sie, nachdem sie aufrecht an ein paar Bäume gebunden waren, unter Aufsicht des Samoaners zurücklassen konnte.

Der Bootsmann und Fritz aber begaben sich unverzüglich an Bord des Kutters, stellten fest, daß die Benzinkannen noch ebenso unbeschädigt waren wie der Motor, machten eine kurze Probefahrt im Hafen und legten dann wieder an der alten Stelle an. Heinrich Scharpen freute sich besonders darüber, daß er die „kleine Knallbüchse“ noch auf der „Borussia“ vorgefunden hatte, womit er die Signalkanone meinte, die die Piraten nicht auf den Schoner übernommen hatten, weil sie das winzige Geschütz mehr für ein Spielzeug hielten.

Jetzt erst kehrten Heinrich und Fritz nach dem südlichen Teil der Insel zurück. Für den Knaben gab es unterwegs noch eine besondere Überraschung, die in ihrer Art nicht weniger wichtig war als die Erzählung des Knaben über seine eigenmächtige Befreiung des Samoaners.

Der alte Seemann hielt es nämlich für angebracht, seinen kleinen Freund nunmehr über die wahre Beschaffenheit jener gelben Kiesel aufzuklären, die Mariechen in dem Bache gefunden hatte.

Reines Waschgold in Form sogenannter Nuggets war’s, – nichts weniger, nichts mehr! Und der Alte hatte auch festgestellt, woher das Edelmetall stammte. Der Bach floß über eine in Quarzgestein eingebettete sehr reiche Goldader hinweg und hatte im Laufe der Zeit das kostbare Metall von dort fortgespült und besonders in der Regenzeit, wo er zum reißenden Flüßchen wurde, an nicht nur einer, sondern verschiedenen Stellen seines Bettes abgelagert, wobei wie immer bei solchen goldhaltigen Wasserläufen die schwereren Körner dicht bei der wertvollen Quarzschicht in einer Vertiefung sich gesammelt hatten, während die kleineren Stückchen wieder an andere Stellen verschleppt worden waren. Mithin stellte diese Entdeckung ein Geheimnis dar, dessen voller Wert, wie der Alte betonte, sich noch gar nicht abschätzen ließ. Bei regelrechter Ausbeutung dieser Edelmetallader mußte sich jedoch nach seiner Ansicht ein Vermögen hier erwerben lassen.

Fritz glaubte nun nicht anders, als daß Heinrich die Absicht habe, schnell noch vor der Abreise soviel Goldkörner als irgend möglich aus dem Bache zu schöpfen und mit nach Apia zu nehmen.

Aber der Bootsmann war hierzu zu vorsichtig.

„Wir werden lediglich drei oder vier der größten Nuggets als Beweisstücke für unseren wichtigen Fund an Bord des Kutters bringen“, erklärte er. „Du mußt bedenken, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß wir auf der Heimreise, die wir zu unserer Sicherheit auf allerlei Umwegen und unter Benutzung des ersten größeren Schiffes, das wir antreffen, zurücklegen müssen, eine bedeutendere Last der Goldkörner kaum vor fremden Augen verbergen könnten. Gold ist ja nun leider nur zu oft schon die Ursache von Verbrechen geworden, hat schon so häufig habgierige Menschen zu allerlei Schandtaten verführt, daß es, sobald wir eine bedeutendere Menge davon bei uns haben, für uns eine Quelle ständiger Gefahren bilden würde. Aus diesem Grunde werden wir eben vorsichtig sein und nur dafür sorgen, daß an den Stellen, wo die angesammelten Körner im Bachbette zu leicht sichtbar sind, Geröllschutt die Schätze jedem Blicke entzieht. Diese Arbeit erledigen wir jetzt als erste. Und selbstverständlich ist es, daß weder Dein Schwesterchen noch Timaiu etwas von der Goldader erfahren. Je weniger Mitwisser unser Geheimnis hat, desto leichter wird es bewahrt werden.“

Fritz gab dem Alten völlig recht.

Bevor sie dann die Kleine, die ahnungslos bis in den hellen Morgen hinein geschlafen hatte, weckten, wurden die Nuggetansammlungen zugeschüttet, was immerhin eine Stunde Zeit in Anspruch nahm. Dann konnten die Gefährten aber auch sicher sein, daß niemand ihr Geheimnis entdecken würde. –

Die kleine Marie klatschte jubelnd in die Händchen, als sie dann erfuhr, daß man noch an demselben Tage die Insel auf dem Kutter verlassen würde.

Gegen zehn Uhr Vormittags trafen die drei Gefangenen dann wieder an dem Hafen im nördlichen Teil der Insel ein, wo sich inzwischen nichts verändert hatte. Die Piraten standen noch gefesselt und an ihre Bäume gebunden da, während der Samoaner als Wache in nächster Nähe hockte und kein Auge von ihnen ließ.

Die notwendige Verproviantierung des Motorbootes mit Früchten und Trinkwasser dauerte bis gegen zwei Uhr nachmittags. Dann erst erklärte Heinrich Scharpen den Kutter für abfahrtbereit.

Alle begaben sich an Bord, nachdem man die drei Piraten im Vorschiff sicher untergebracht hatte. Erst hatte der Alte sie auf der Insel zurücklassen wollen, war dann aber doch zu einem anderen Entschluß gelangt, indem er sich sagte, daß das Verschwinden der sämtlichen Bewohner des Eilandes der heimkehrenden Besatzung des Freibeuter-Schoners verdächtig vorkommen würde und sie veranlassen würde, sich einen anderen Schlupfwinkel zu suchen, – falls der Kutter eben nicht sehr bald einem Kriegsfahrzeug begegnete, welches man auf das Piratennest aufmerksam machen konnte und das dann für die Gefangennahme des Restes der Seeräuber sorgte. –

Das Auffinden der Durchfahrt durch die vorgelagerten Riffreihen war nicht ganz einfach. So kam es, daß der Kutter erst gegen vier Uhr nachmittags die offene See gewann und mit nordwestlichem Kurse auf die nächste Gruppe der Tonga-Inseln zusteuerte.

Leider sollte jedoch die Heimreise von vornherein von Glück sehr wenig begünstigt sein.

Scharpen merkte bald, daß die Piraten offenbar versucht hatten, auf eigene Faust mit der Maschine fertig zu werden, daran herumprobiert und den Motor etwas in Unordnung gebracht hatten.

Benzinmotoren haben ja ohnehin zuweilen ihre Mucken, und der der „Borussia“ streikte plötzlich ganz, nachdem er erst einige Male ausgesetzt hatte.

Da die See jedoch ruhig war, ließ sich dieses Mißgeschick zunächst noch ertragen. Man befand sich noch in Sicht der Eilande, als Heinrich und Fritz den Motor gründlich nachzusehen begannen, um den Fehler herauszufinden und abzustellen.

Eine halbe Stunde mochten sie schweißtriefend im Maschinenraum gearbeitet haben, als Timaiu ihnen ganz aufgeregt von Deck aus zurief, daß ein Schoner, den er für das Piratenschiff halte, unter vollen Segeln auf den Kutter zukomme.

Eiligst kletterten die beiden nach oben.

Für den alten Seemann genügte ein Blick, um ihn erkennen zu lassen, daß der Samoaner nicht zu Unrecht diese Alarmnachricht gegeben hatte. Es war ohne Zweifel die ehemalige „Mafalda, Marseille“, das jetzige Freibeuterschiff.

Fritz erblaßte, und Timaiu schnitt vor Angst Gesichter, die Grund genug zum Lachen gewesen wären, wenn man sich eben nicht in einer so verzweifelten Lage befunden hätte.

Doch Heinrich Scharpen gab die Sache so leicht nicht verloren. Sozusagen im Handumdrehen waren die Notsegel des Kutters gehißt, der gleich darauf immer mehr in Fahrt kam und jetzt nicht mehr als tote Masse auf den Wogen auf und ab schaukelte.

Timaiu mußte sich ans Steuer setzen, so daß Heinrich und Fritz nun wieder die unterbrochene Arbeit aufnehmen konnten und fieberhaft mit allerlei Handwerkszeug sich abmühten, den Motor wieder zur Vernunft zu bringen.

Gelang ihnen dies nicht, so war die Partie verloren, das wußten beide. Der Schoner segelte ja bedeutend schneller und mußte in spätestens einer halben Stunde den Kutter eingeholt haben. Und was man von den Piraten jetzt zu erwarten hatte, wo man drei von ihnen im Vorschiff als Gefangene mit sich führte, war nicht schwer zu erraten. Dieses Mal würde der Einfluß des Kapitäns Steiner sicherlich nicht hinreichen, um Gewalttätigkeiten, vielleicht gar ein paar Morde, zu verhüten.

Die halbe Stunde war beinahe vergangen, und die Freibeuter hatten sich jetzt bis auf eine halbe Seemeile genähert. Der Motor machte jetzt wohl einige Umdrehungen, versagte aber stets wieder. Immerhin halfen selbst diese wenigen Schraubenschläge dem Kutter schon besser vorwärts.

Wieder verstrichen fünf Minuten. Der Alte hatte eingesehen, daß man dem Schoner kaum mehr entgehen konnte. Fritz mußte daher weiter an der widerspenstigen Maschine sein Glück versuchen, während Heinrich Scharpen mit finsterer Entschlossenheit die Kartuschen für das kleine Geschütz aus der Kajüte hervorholte und dieses fast bis an die Mündung mit langen eisernen Nägeln in Ermangelung anderer Geschosse vollstopfte. Die Nägel waren gut dreißig Zentimeter lang und mußten, aus naher Entfernung abgefeuert, jedenfalls einige Wirkung haben.

Der Schoner war dem Kutter mittlerweile auf hundert Meter aufgerückt und folgte ihm genau im Kielwasser. – Scharpen erteilte jetzt Timaiu genaue Anweisungen, wie er das Boot zu steuern habe.

Noch achtzig, noch fünfzig Meter … Da riß der Samoaner das Steuer herum, der Kutter beschrieb gehorsam einen kurzen Halbkreis und lief nun dem Piratenschiff gerade entgegen, auf dessen Vorschiff die Freibeuter in dichtem Haufen beieinander standen. Sie bemerkten sehr wohl, daß der Alte drüben an dem kleinen Messinggeschütz herumhantierte, faßten dies aber als leere Drohung auf, da sie wußten, daß keinerlei scharfe Munition für das Spielzeug an Bord war, lachten höhnisch und glaubten ihre Beute bereits ganz sicher zu haben.

Da fuhr plötzlich ein langer Feuerstrahl aus der Mündung der Signalkanone heraus. Und der ehemalige Bootsmannsmaat der Kaiserlichen Marine hatte nur zu gut gezielt. Wilde Schmerzensschreie ertönten an Deck des Schoners, an dem der Motorkutter jetzt dicht vorüberglitt.

Und in dieses Gebrüll da drüben mischte sich ein anderes Geräusch, das Heinrich Scharpen, der schon wieder seine „Knallbüchse“ lud, wie die schönste Musik in die Ohren klang: das gleichmäßige Rattern des Motors …!!

Der Alte stieß ein jubelndes Hurra aus. Hinter dem Kutter zog der schäumende Schwall der von der Schraube aufgepeitschten Flut dahin. Und jetzt erschien auch Fritz mit strahlendem Gesicht an Deck. – „An der Zündung hat’s gelegen!“ rief er Heinrich zu. „Nun ist alles in Ordnung …!“

Niemand hatte sich inzwischen Zeit gelassen, den Horizont zu beobachten. Wieder war es Timaiu, der jetzt ein zweites Schiff erspähte, – einen graugestrichenen Dampfer, der von Süden her schnell aufkam.

Schuß auf Schuß feuerte der Alte ab, indem er dem jetzt flüchtenden Schoner hart auf den Fersen blieb. Aber die Nägel als Aushilfsmunition sparte er sich. Er wollte lediglich den Dampfer herbeilocken.

Das gelang auch. Immer deutlicher konnte man die Flagge des grauen Dampfers erkennen. Timaiu besaß wahre Falkenaugen. Als erster rief er, vor Freude auf dem Deck hin und her tanzend: „Deutsches Schiff – hurra! – deutsches Schiff.“ – – Tatsächlich, stolz flatterte das wohlbekannte Tuch der Kriegsmarine dort drüben im Winde. Und dann dröhnte der Knall eines Kanonenschusses über die See hin: das Zeichen zum Beidrehen für den Piratenschoner.

Das Schicksal der Freibeuter hatte sich schnell erfüllt. Dem deutschen Vermessungsschiff „Niobe“ gegenüber wagten sie keinerlei Widerstand. Als die Verbrecher an Bord gebracht wurden, lag der Motorkutter bereits am Fallreep vertäut, und Heinrich Scharpen hatte dem Kommandanten auch schon kurz die Abenteuer der vier Insassen des Benzinbootes berichtet.

Zwei Tage darauf lief die „Niobe“ in den Hafen von Noumea auf Neu-Kaledonien ein, wohin auch der Schoner mit einer deutschen Besatzung an Bord beordert war. Die entflohenen Sträflinge traf die gerechte Strafe. Sie wurden als des Seeraubes überführt gehängt. Ihr deutscher Kapitän befand sich jedoch nicht mehr bei ihnen. Wie sie aussagten, hatte er den Schoner an der Küste der Salomon-Inseln eines Nachts heimlich verlassen. Man hörte nie wieder etwas von ihm.

Dann stach die „Niobe“ nach Apia in See. Hier hatte man den Kutter längst als verloren betrachtet. Desto größer war die Freude über die glückliche Rettung der bereits Totgeglaubten. Und die Goldader der Pirateninsel stellte sogar noch einen überreichen klingenden Erfolg dieser unüberlegten Walfischjagd dar, mit der die seltsamen Erlebnisse der vier Robinsons begonnen hatten.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. „Hinrich“ (10) / „Heinrich“ (49) – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Heinrich“ geändert.