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Drei Mumien

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Drei Mumien.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Der Seminolen-Schatz.

Mitte Mai kann es in der Gegend der Halbinsel Florida schon recht unangenehm warm sein, besonders an einem windstillen Tage.

Und ein solcher war der 15. Mai 1908. – Deshalb sagte jetzt auch Thomas Alverson, der auf der Kommandobrücke des Küstendampfers „Vanderbilt“ neben Austin Jenkins stand, prustend und sich mit dem Taschentuche Luft zufächelnd:

„Eine Bombenhitze! – Eigentlich eine Verrücktheit, hier bei 32 Grad auf diesem alten, dreckigen Kohlenkasten herumzugondeln, nur weil ein demnächst dem Säuferwahnsinn verfallener Seminole allerhand von einem Schatz und von einer öden Insel zusammengefaselt hat …! – Tatsächlich – ich hätte mir die Sache besser überlegen und nicht mein schönes Geld für diese abenteuerliche Fahrt zum Fenster hinauswerfen sollen …!!“

Thomas Alverson litt mehr unter der Hitze als sein Freund Jenkins. Dieser war mager wie ein Windhund, hatte ein bartloses Gesicht und eine Habichtsnase, dazu ein Paar stechende dunkle Augen und ein stetes Lächeln um den breiten, brutalen Mund. Alverson dagegen wog mindestens seine zwei Zentner. Der rötliche Vollbart, die hellen, nichtssagenden Augen und die Riesenglatze, die sich fast bis in das feiste Genick hinabzog, ließen ihn weit harmloser und gutmütiger als den anderen erscheinen. Und doch waren die beiden Ehrenmänner sich in jeder Beziehung ebenbürtig.

Ihres Zeichens Rechtsanwälte aus Atlanta im Staate Georgia, waren sie vor vier Tagen plötzlich in Miami, der Hafenstadt an der Südostküste Floridas, aufgetaucht, hatten hier einen alten Dampfer für eine vierzehntägige Vergnügungsfahrt nach den Bahama-Inseln gemietet und selbst eine Besatzung angeworben, – zumeist Neger. Nur der Kapitän und der Steuermann waren Weiße, jedoch ihren Charaktereigenschaften nach vielleicht noch weniger zuverlässig als die fünf Farbigen. Dies störte aber die beiden Herren aus Atlanta nicht. Im Gegenteil! Mit vollem Bedacht hatten sie sich eine derartige Begleitung ausgewählt, die von dem schwarzen Koch bis hinauf zu Kapitän Lublerby alle gleichmäßig dem Alkohol ergeben waren. Und ebenfalls aus schlauer Berechnung führte der „Vanderbilt“ auch eine solche Menge Spirituosen an Bord, daß ein Schiff mit einer weniger trinkfrohen Besatzung mit diesem Vorrat ein halbes Jahr gereicht hätte.

Austin Jenkins zuckte zu dem Stoßseufzer seines Freundes nur die Achseln. Dann nahm er wieder das Fernglas zur Hand und suchte damit den nördlichen Horizont ab.

Alverson ärgerte diese kühle Ruhe.

„Tausendzweihundert Dollar betragen die Unkosten bis jetzt!“ knurrte er. „Dafür könntest Du mir immerhin wenigstens ein Trostwort der Hitze wegen spenden!“

Jenkins ließ das Glas sinken.

„Sechshundert Dollar für jeden von uns“, meinte er geschäftsmäßig. „Und, wenn Du durchaus willst, ändern wir unsere schriftlichen Abmachungen dahin ab, daß Du Dich nur mit einem Viertel oder Sechstel am Gewinn oder Verlust beteiligst. Ich locke niemandem gern das Geld aus der Tasche.“

„Edle Seele!“ brummte der dicke Alverson. „Leider bist Du aber Rechtsanwalt, und …“

„… und zwar einer von denen, die nicht mal das Geld für dieses Unternehmen flüssig hatten, sondern Dich ins Vertrauen ziehen mußten!“ vollendete Jenkins grinsend, um dann hinzuzufügen: „Also – wie ist’s? Ändern wir den Vertrag?“

„Nie und nimmermehr!“ erklärte Alverson mit schlauem Augenzwinkern. „Gerade diese Deine Großmut beweist mir, daß unsere Aussichten doch wohl besser sind, als ich annehme.“

Jenkins schlug den Freund derb auf die Schulter.

„Ich sehe – wir beide machen einander nichts vor! Und, da ich Dich nicht übers Ohr hauen kann, will ich jetzt auch alle meine Trümpfe aufdecken. – Der Seminole ist nämlich nicht der einzige, besser, nicht der erste, von dem ich etwas über den Schatz hörte. – Du wirst wissen, daß der Indianerstamm der Seminolen ursprünglich im heutigen Staate Georgia seine Jagdgründe hatte. Um das Jahr 1760 herum entzweiten sich einige Unterhäuptlinge mit dem damaligen Oberhäuptling Mino-Tova, der wie seine Vorgänger den stolzen Titel „König der Seminolen“ führte. Jedenfalls wurden die Gegensätze schließlich so groß, daß Mino-Tova mit einigen sechstausend Seminolen nach Florida zog und hier sein Volk bald zum mächtigsten der Floridastämme machte. Sein Nachfolger, die Große Schildkröte, war es, der dann fast zehn Jahre lang einen erbitterten Krieg gegen die Amerikaner führte. Hierbei wurde er von einem gebildeten Weißen unterstützt, dem er seine Tochter zur Frau gegeben hatte. Dieser Mann soll ein Deutscher namens Friedrich Meister gewesen sein. Er geriet später in Gefangenschaft und saß auch sechs Jahre lang als Staatsgefangener in dem alten Fort Washington in Atlanta, welches zu jener Zeit den Oberst Narbottle, den Großvater des jetzigen Arztes Edward Narbottle, zum Kommandanten hatte. Vor einem halben Jahr etwa sollte ich nun für Doktor Narbottle eine Kiste alter Familienpapiere durchsehen. Es handelte sich um den Nachweis von Erbansprüchen, wie Du Dich vielleicht noch erinnerst.“

„Natürlich. Ich vertrat ja nachher die Gegenpartei – und wir siegten!“

„Sehr richtig! Weil Deine Zeugen noch besser zu schwören wußten als die von mir gestellten. – Doch, lassen wir diese Abschweifungen! – In der erwähnten Kiste fand ich nun auch ein unscheinbares Heft mit Aufzeichnungen des ehemaligen Fortkommandanten Narbottle. Darin stand, daß jener Deutsche Friedrich Meister, den die Seminolen nur Matu-Matu, den weißen Häuptling, genannt hatten, hauptsächlich deshalb gefangengehalten wurde, um ihn schließlich so mürbe zu machen, daß er den Ort verriet, wo der berühmte Schatz der Seminolen-Könige, den Mino-Tova seiner Zeit aus Georgia mit nach Florida genommen hatte, verborgen lag. Meister gab offen zu, wie Narbottle erwähnt, den Ort zu kennen, aber – mehr war nicht aus ihm herauszuholen. Später entfloh er, worauf nach einigen Jahren das unsichere Gerücht auftauchte, er solle zusammen mit der Großen Schildkröte und noch einigen vornehmen Seminolen auf einer der Bahama-Inseln sich niedergelassen haben. – Dies erfuhr ich aus dem Heft des alten Obersten. – Die Sache reizte mich zu weiteren Nachforschungen. So stellte ich fest, daß Narbottles Angaben über jenen Deutschen Punkt für Punkt stimmten. Weiter bekam ich aber noch heraus, daß derselbe Matu-Matu in den Jahren 1875 bis 78 öfters in den westlichen Staaten bei den dort wohnenden Indianerstämmen aufgetaucht war und mit Hilfe von reichen, ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln – diese dürften aus dem Seminolen-Schatz hergerührt haben! – einen allgemeinen Indianeraufstand anzuzetteln versucht hatte, was ihm jedoch nicht gelang. Seitdem ist er wieder spurlos verschwunden. Vor einem Monat etwa hatte ich nun geschäftlich im Indianer-Territorium, wo jetzt auch die Seminolen ansässig gemacht sind, zu tun. Diese Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen. Ich besuchte die Seminolendörfer und spionierte so lange herum, bis ich einen uralten Mann fand, der für eine Flasche Rum seine Seele verkauft haben würde. Auf diese hatte ich es jedoch keineswegs abgesehen. Die Seele einer Rothaut ist mir keinen Penny wert. Nein – ich wollte von dem verkommenen alten Burschen, der angeblich mit der Großen Schildkröte entfernt verwandt sein sollte, ganz etwas anderes. Was, kannst Du Dir denken! Nun – drei Flaschen Rum genügten als Bestechungsmittel. Der Seminole erzählte mir dann alles, was er wußte und was ich nachher auch Dir mitgeteilt habe: daß es östlich von Florida ein entlegenes Eiland geben soll, das Mino-Tova und auch die Große Schildkröte heimlich oft besuchten. – So, mein lieber Tom, – nun kennst Du den ganzen Hergang der Angelegenheit. Dein juristisch geschultes Hirn wird Dir sagen, daß nach alledem etwas Wahres an der Schatzgeschichte sein muß. Jedenfalls dürfte es sich immerhin lohnen, selbst zweitausend Dollar hierfür zu opfern. Haben wir Erfolg, so fallen uns Millionen in den Schoß! – Der Seminolen-Hort besteht – das ist sicher! Und unsere Aufgabe wird es sein, den Platz zu finden, wo er verborgen liegt.“

In demselben Augenblick rief ein Neger, der sich oben auf dem Steuerhäuschen mit einem Fernglase aufgestellt hatte, den beiden Anwälten zu …

„Ohoi[1] – Land in Sicht! Richtung Nordnordost …!“

Eine halbe Stunde später, als eine sandige, kahle, rings von hohen Sandbänken eingeschlossene Insel bereits mit bloßem Auge deutlich zu erkennen war, nahm Jenkins den Kapitän und den Steuermann bei Seite und sagte:

„Sie werden inzwischen wohl schon gemerkt haben, daß wir, mein Freund und Kollege Alverson und ich, mit dieser Fahrt doch andere Zwecke verfolgen als den, lediglich einen Vergnügungsausflug nach den Bahama-Inseln zu unternehmen. Wir wollen Ihnen, nachdem der „Vanderbilt“ ja sehr bald nach der Abreise von Miami auf unseren Wunsch einen nördlichen Kurs anstatt eines südlichen eingeschlagen hat, heute reinen Wein einschenken. Die Sache verhält sich so. Sie werden ja wohl in den Zeitungen von dem dreifachen Mörder Seattlesharp[2] gelesen haben. Unverbürgten Nachrichten zufolge, die nur an uns gelangten, soll sich Seattlesharp nun auf einer einsamen Sandinsel hier in dieser Meeresgegend verborgen halten. Seine Ergreifung bringt uns nicht mal einen Schluck Whisky ein. Lediglich um für uns Reklame zu machen, suchen wir seiner habhaft zu werden. Eine Reklame zieht aber nur, wenn sie urplötzlich wie eine Bombe zwischen die Volksmassen fällt. Deshalb ist es nötig, daß das schwarze Gesindel hier an Bord in Unklarheit darüber bleibt, was wir vorhaben. – Hier ist der Schlüssel zu der Kammer, in der die Rumfäßchen aufbewahrt werden. Wenn wir dort drüben einen sicheren Ankerplatz gefunden haben, dürfen die Nigger trinken soviel sie wollen. Dann können wir Seattlesharp, falls wir ihn finden, ganz unbemerkt an Bord schaffen. – So, das wäre alles.“

Dieses Märchen, das Jenkins den beiden Seeleuten erzählte, war glänzend ausgedacht. Der Schlüssel zur Rumkammer war ja auch der Zauberstab, der den Kapitän und den Steuermann denk- und handlungsunfähig machen würde.

Kaum waren diese beiden geschworenen Feinde jedes Mäßigkeitsvereins davongeschlurft, als der Neger auf dem Steuerhäuschen schon wieder etwas Neues zu melden hatte.

„Boot in Sicht!“ brüllte er und wies mit dem langen Affenarm nach dem Sandeiland hinüber.

Jenkins riß das Fernglas an die Augen und stieß gleich darauf eine nicht wiederzugebende Verwünschung aus.

„Tom – wahrhaftig ein Boot! – Da, schau hinüber, – ein junger Bursche sitzt drin! Was hat das zu bedeuten? Ob uns etwa schon andere Leute zuvorgekommen sind?! Das wäre die Pest …!!“

 

2. Kapitel.

Ein junger Robinson.

Pustend und schnaufend hielt jetzt der „Vanderbilt“ auf das Boot zu, und bald kletterte dessen einziger Insasse an dem Fallreep in die Höhe.

Auf Deck nahmen ihn sofort die beiden Anwälte in Empfang und führten ihn in ihre Kajüte, nachdem Jenkins dem Kapitän noch schnell zugeflüstert hatte, der Bursche könne vielleicht ein Genosse Seattlesharps sein; denn wie käme sonst wohl ein Mensch hier auf dieses öde Inselchen?! –

Der Insasse des kleinen Bootes war ein kräftiger, sonnverbrannter Junge von vielleicht sechzehn Jahren. Er trug einen blauen Seemannsanzug und eine Tuchmütze von derselben Farbe, dazu aber auf den bloßen Füßen ziemlich plumpe Sandalen aus Alligatorenleder, die offenbar selbstgefertigt waren. Er machte schon äußerlich einen aufgeweckten Eindruck und zeigte auch bei dem nun folgenden Verhör in der Kajüte, daß er keineswegs „auf den Kopf gefallen“ war, wie man zu sagen pflegt.

Zunächst erzählte er den beiden Anwälten in höchst mangelhaftem Englisch folgende recht abenteuerlich klingende Geschichte.

Er sei ein geborener Hamburger und seinen Eltern am 15. April 1907 entlaufen, um zur See zu gehen. Von dem Kapitän des portugiesischen Seglers, der ihn als Schiffsjunge mitgenommen habe, sei er jedoch so schlecht behandelt worden, daß er nach Durchquerung des Atlantischen Ozeans die erste Gelegenheit benutzt und sich davongemacht habe. In der Jolle der Brigg „Isabella“ – so habe das Schiff geheißen – sei er abends auf der öden Sandinsel da drüben, – er wies hierbei mit der Hand nach dem kahlen Eiland hin, auf das der „Vanderbilt“ jetzt zusteuerte – gelandet, in der Hoffnung, die Küste einer größeren der Bahama-Inseln vor sich zu haben. Unter allerlei Entbehrungen sei es ihm gelungen, dort sein Leben zu fristen. Die Insel auf dem kleinen Boot auf Geratewohl zu verlassen, habe er nicht gewagt, bis er dann heute endlich nach beinahe zwölfmonatigem Aufenthalt den Dampfer bemerkt habe und ihm entgegengerudert sei. –

Der mißtrauische Jenkins begann hierauf den Jungen, der sich Karl Kersten nannte, nach allerlei Einzelheiten auszufragen. Erschien es ihm doch höchst unwahrscheinlich, daß dieses halbe Kind trotz des kräftig entwickelten Körpers und der offenbar vorhandenen geistigen Regsamkeit ein Jahr lang auf der Insel allein den Robinson gespielt haben könne und daß während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Schiff in der Nähe des Eilandes vorübergekommen sein sollte, das zu erreichen oder durch Signale herbeizurufen dem Knaben möglich gewesen wäre.

Karl Kersten hatte jedoch für jede Frage eine durchaus glaubwürdige Antwort bereit und wurde nicht ein einziges Mal irgendwie in Verlegenheit gesetzt, so daß Jenkins’ anfänglicher Verdacht, der Junge könnte vielleicht gar ein Nachkomme des weißen Häuptlings Matu-Matu sein und von diesem sozusagen als Kundschafter nach dem „Vanderbilt“ hinübergeschickt sein, allmählich wieder zerstreut wurde. Immerhin blieb bei dem Rechtsanwalt ein gewisser Argwohn zurück.

Er tischte dem Jungen dann dasselbe Märchen auf, welches auch schon der Kapitän und der Steuermann in ihrer Denkfaulheit so gläubig hingenommen hatten.

Karl Kersten schüttelte hierauf mit überlegenem Lächeln den Kopf. Auf dem Eiland befinde sich jetzt außer Seevögeln und Alligatoren kein lebendes Wesen mehr, erklärte er. Das wisse er genau. Die Herren könnten es sich also sparen, die Insel zu durchsuchen. Ein Verbrecher hause dort bestimmt nicht.

Der letzte Satz wurde von dem Jungen jedoch mit solchem Nachdruck zweimal wiederholt, daß der hellhörige Jenkins sofort wieder argwöhnte, der Knabe wolle die Leute des Dampfers möglichst von der Insel fernhalten.

Er ließ sich aber von diesem neuerwachten Mißtrauen nichts anmerken, äußerte vielmehr nur, er wolle sich doch lieber selbst davon überzeugen, daß der Mörder Seattlesharp sich tatsächlich nicht auf dem Eiland oder einer der dieses umgebenden Sandbänke aufhalte.

Karl Kersten spielte dann für den „Vanderbilt“ insofern den Lotsen, als er dem Kapitän eine Durchfahrt durch die vorgelagerten Sandbänke zeigte, die so schmal war, daß der Küstendampfer gerade noch hindurch konnte.

Jenkins und der dicke Alverson, die jetzt wieder auf der Kommandobrücke standen, hatten nach Passieren der Einfahrt, die in eine die Insel einschließende breite Lagune mit trübem, stellenweise verkrautetem Wasser führte, das Eiland ganz dicht vor sich, auf dessen Auffindung sie so große Hoffnungen setzten.

Es mochte bei ziemlich kreisrunder Form einen Durchmesser von einer Meile haben. Kein Baum, kein Strauch unterbrach mit belebendem Grün die Eintönigkeit dieser Sandmassen, die sich in der Nähe des Strandes zu hohen Dünen aufhäuften.

„Recht gemütliche Gegend“, meinte Alverson. „Das reine Paradies!!“

Mittlerweile hatte der Dampfer langsam das Eiland nach Osten zu umrundet, wobei er zahlreichen kleinen Inselchen, die über den Lagunengürtel verstreut waren und auf denen ganze Scharen von Seevögeln nisteten, ausweichen mußte. Der junge Deutsche hatte dem Kapitän diese Fahrtrichtung anempfohlen, damit der „Vanderbilt“ der am Ostende liegenden Hütte gegenüber vor Anker gehen könne, die Karl Kersten sich hier errichtet hatte.

Bald darauf rasselte der Anker in die Tiefe, und sofort ließen Jenkins und Alverson sich nach dem Ufer hinüberrudern, wo in einem Einschnitt der Dünen das kleine Häuschen des Knaben sich deutlich von der Umgebung abhob. Dieser mußte sie begleiten. Die beiden Anwälte waren nicht wenig erstaunt, die Hütte recht behaglich ausgestattet zu finden. Manche Gegenstände, die der Junge unmöglich sich selbst angefertigt haben konnte, obwohl er fraglos außerordentlich geschickt und praktisch veranlagt war, sollten, wie er behauptete, aus einem Wrack stammen, das er gleich im zweiten Monat seines Robinsondaseins nach einer Sturmnacht auf den Sandbänken draußen verlassen vorgefunden und das ein neuer Orkan dann völlig zerstört hatte.

Die Hütte war aus einem eigenartigen Stein erbaut, in dem der etwas mineralkundige Alverson Bimsstein, ein vulkanisches Erzeugnis, erkannte, welches bekanntlich schwimmt und in der Industrie hauptsächlich als Schleifpulver in gemahlener Form verwendet wird.

Auf die Frage, wo er eine solche Menge Bimssteinblöcke herhabe, erwiderte Karl Kersten, daß es in der Mitte des Eilandes einen großen Hügel gebe, der vollständig aus Bimsstein bestehe.

Unweit der Hütte zog die Lagune, die nur an einer Stelle, eben als schmale Einfahrt, mit der offenen See in Verbindung stand, sich wie eine Bucht ein Stück in das Land hinein. Hier fanden die beiden Anwälte, die mit größter Sorgfalt alles musterten, ein aus Bimssteinblöcken, die untereinander durch Riemen fest verbunden waren, hergestelltes Floß.

Jetzt wurde der Knabe zum ersten Mal ein wenig verlegen, als der mißtrauische Jenkins meinte, aus welchem Grunde der Junge sich denn diese Arbeit gemacht habe, wo er doch die Jolle der „Isabella“ zur Verfügung gehabt hätte. – Es sei eigentlich nur eine Art Spielerei gewesen, dieses Floß, sagte Karl Kersten unsicher und zögernd, – eine Spielerei, um sich die Zeit zu vertreiben.

Aber der Rechtsanwalt ließ sich so leicht nicht abtrösten.

„Junge, Du lügst!“ fuhr er ihn an. „Das ist Dir ja vom Gesicht abzulesen! – Warte, mein Bursche – verschweigst Du uns etwas, so sollst Du uns kennen lernen …!“

Von einem unbestimmten Verdacht erfaßt, begann Jenkins nun die Hütte nochmals ganz eingehend zu durchsuchen.

Bald hob er triumphierend eine amerikanische Zeitung hoch, die auf einer Art Bücherbrett neben einigen wissenschaftlichen Werken gelegen hatte.

„Ah, mein Sohn, – jetzt haben wir Dich überführt!“ rief er frohlockend. „Diese Zeitung trägt das Datum des 18. Dezember 1907!! Angeblich willst Du hier am 22. Mai 1907 gelandet sein. Angeblich fandest Du das Wrack, das Dir die Hauptstücke Deiner Wohnungseinrichtung und manches andere lieferte, im August 1907 …!! Wie bist Du also in Besitz dieses Blattes gelangt, das erst vier Monate später in der Stadt Tampa auf Florida gedruckt worden ist …?! – Aber keine neuen Schwindeleien!! Das rate ich Dir! – Gib nur ruhig zu, daß Du mit der Außenwelt in Verbindung gestanden hast!“

„Nein, Herr, das ist nicht der Fall gewesen“, erklärte Karl Kersten, den Amerikaner offen anblickend.

„Aber die Zeitung, zum Donner!! Wo hast Du die Zeitung her?!“

Er hatte dabei eines der Bücher zur Hand genommen und schlug es auf. Plötzlich lächelte er spöttisch, winkte seinen Freund Alverson herbei und zeigte diesem auf dem Titelblatt einen Namen …

Da stand mit deutschen Buchstaben geschrieben:

„Friedrich Meister, – Matu-Matu, Häuptling der Seminolen, 1892.“

Jenkins klappte das Buch knallend zu.

„Bedarf es weiterer Beweise?“ sagte er mit eisiger Ruhe. „Wir sind am Ziel, Alverson! Dieser junge Bursche hier ist ohne Frage ein Sohn des weißen Indianerhäuptlings! Diese Vermutung tauchte schon in mir auf, als er uns vorhin in der Kajüte seine abenteuerliche Geschichte erzählte.“

Und zu dem Knaben gewandt fuhr er fort:

„Heraus mit der Wahrheit! Uns führst Du nicht hinters Licht! Oder willst Du etwa leugnen, daß Du Matu-Matu kennst?“

Der Junge preßte trotzig die Lippen zusammen und schwieg.

Blitzschnell war eine ganze Reihe der mannigfachsten Gedanken durch sein Hirn gezuckt. – Die beiden Amerikaner hatten ihn offenbar belogen, als sie ihm von dem Mörder Seattlesharp berichteten, den sie angeblich verfolgten und festnehmen wollten. Sie waren zu einem anderen Zweck nach dem Eiland gekommen, – des Seminolen-Schatzes wegen! Das bewies zur Genüge ihre Kenntnis des Namens Matu-Matu! Wahrscheinlich gehörten sie zu jenen Leuten, die dem weißen Häuptling seit langem nachstellten, um von diesem das wertvolle Geheimnis zu erpressen …! – Wie gut also, daß er die wichtigen Schriftstücke in der Krokodilledertasche auf der Brust verborgen trug …! Dieses sein Tagebuch und die Aufzeichnungen Friedrich Meisters hätten den beiden Amerikanern ja sofort alles verraten …! – Anderseits – wie unvorsichtig war es von ihm gewesen, hier in der Hütte nicht alles zu beseitigen, was auf Matu-Matu hindeutete, besonders die Bücher und die verräterische Zeitung …!! Jetzt hätte er sich selbst ohrfeigen können für diese Nachlässigkeit, die die bösesten Folgen haben konnte …! – Aber, was nun tun? – Sollte er die merkwürdigen Geheimnisse dieser Insel verraten, sollte er diesen goldgierigen Fremden alles mitteilen, was er hier während seines fast zwölfmonatigen Robinsondaseins erlebt und geschaut hatte …?! – Nie und nimmermehr!! Er würde schon Mittel und Wege finden, diesen Leuten zu entwischen …! Durch Foltern oder ähnliche Gewaltmittel würden sie ihn ja wohl kaum zu einem Geständnis zu zwingen wagen …! –

Jenkins wartete umsonst auf eine Antwort des Knaben. Mit finsterem Gesicht stand der kräftige, von der Sonne und der Seeluft rotbraun gebrannte Bursche da.

Ein böses Lächeln spielte um des Rechtsanwaltes grausamen Mund.

„Ah – Du willst nicht …!! – Also ein weiterer Beweis, daß wir das Richtige vermuten!“ sagte er kalt. „Nun – wir werden Dich zu zwingen wissen, so wahr ich Austin Jenkins heiße!! – Doch halten wir uns hier nicht länger als nötig auf. – Vorwärts – Du wirst uns bei einem Rundgang durch die Insel begleiten. Wage jedoch nicht etwa zu fliehen! Du siehst, ich habe hier einen wunderhübschen Revolver bei mir, mit dem ich sehr gut umzugehen weiß …!“

Der dicke Alverson, der bisher mehr den stummen, aber deshalb nicht weniger interessierten Zuschauer gespielt hatte, erklärte jetzt seinerseits:

„Es ist klar, daß der Bursche zu Matu-Matu in irgend welchen Beziehungen steht. In diese vier Bücher, die ich soeben noch durchgeblättert habe, ist ebenfalls der Name Friedrich Meister eingetragen. Eines der Werke, dieses hier, ist eine Ausgabe der Barnleyschen „Tiefseeforschungen im Atlantik“ aus dem Jahre 1903 und zeigt, daß der weiße Häuptling der Seminolen sich bis in die letzte Zeit wissenschaftlich beschäftigt hat, also noch trotz seines fraglos sehr hohen Alters geistig sehr rüstig ist. Ich bin wirklich sehr gespannt, seine Bekanntschaft zu machen. – Sieh mal, mein Junge“, wandte er sich dann an Karl Kersten, „wir haben nichts Schlimmes mit Matu-Matu vor, – tatsächlich nicht! Du könntest uns also ruhig sagen, wo er zu finden ist. Mein Freund Jenkins hat Dich vorhin ein wenig hart angefahren! Er ist überarbeitet und leicht reizbar. Du darfst ihm seine unliebenswürdige Art also nicht weiter verübeln! Wenn Du Vertrauen zu uns hast, wird es Dein Schade nicht sein.“

Doch Alverson erreichte selbst durch diese väterlich-gütigen Vorstellungen nicht das Geringste. Karl durchschaute ihn, was ja auch nach dem Vorausgegangenen nicht gerade schwer war. Inzwischen hatte er sich jedoch überlegt, daß es richtiger von ihm sein würde, den beiden Amerikanern einen weiteren Bären aufzubinden als vollständig zu schweigen. Und deshalb tat er jetzt so, als ob er zu Alverson mehr Vertrauen habe, und berichtigte seine ersten Angaben über das gescheiterte Schiff, das ihm angeblich so viele für sein Robinsondasein wertvolle Dinge beliefert habe, dahin, daß er die Hütte mit der ganzen Einrichtung bei seiner erst vor zwei Monaten erfolgten Landung auf der Insel bereits vorgefunden und daß er sie als sein eigenes Werk nur deshalb hingestellt habe, um ein wenig zu prahlen.

Jenkins und Alverson glaubten ihm jedoch nicht. Und gleich darauf traten sie dann, ihren Gefangenen scharf bewachend, den Rundgang durch das Eiland an.

 

3. Kapitel.

Vorläufig entkommen.

Diese Wanderung durch die öden Sandstrecken, die bei bereits sinkender Sonne unternommen wurde, lieferte den beiden Amerikanern jedoch nur den Beweis, daß auf der ganzen Insel sich keine Örtlichkeit befand, die irgend jemandem als Schlupfwinkel hätte dienen können, – mit Ausnahme der Hütte des Knaben am Oststrande, die aber offenbar, wie die nur vorhandene eine Lagerstatt zeigte, lediglich von Karl Kersten bewohnt worden war.

Zum Schluß erkletterten Alverson und Jenkins dann auch noch in Begleitung des jungen Deutschen den Hügel, der mitten in der Ebene lag, die das Innere dieser unwirtlichen, traurigen Insel bildete.

Dieser kleine Berg, der ziemlich unvermittelt aus der flachen Sandwüste herauswuchs, bestand, wie die Amerikaner jetzt mit eigenen Augen sahen, tatsächlich aus jenem vulkanischen Mineral, das unter dem Namen Bimsstein bekannt und häufig in gewaltigen Mengen als Auswurfprodukte feuerspeiender Berge selbst in Europa gefunden worden ist. Im Laufe der Zeit hatte hier freilich der Wind die Bimssteinanhäufung mit Sand größtenteils zugedeckt. Nur stellenweise, so besonders auf der flachen Spitze des Hügels, trat das silbergraue, eigenartige Gestein offen zutage.

Von der Kuppe des Bimssteinberges hatte man einen guten Überblick über das ganze Eiland und den Sandbankgürtel.

Mit Hilfe eines Glases suchte Jenkins jetzt sehr sorgfältig die teilweise zu hohen Sanddünen aufsteigenden, vorgelagerten Bänke ab, da er es nicht für ausgeschlossen hielt, daß sich dort jemand verborgen halte. Er entdeckte jedoch nichts Auffallendes, ließ daher das Fernglas wieder sinken und sagte zu Alverson, der inzwischen auf den Knaben acht gegeben hatte:

„Noch heute werde ich mit Hilfe der Besatzung des „Vanderbilt“ eine allgemeine Streife durch die Insel und die Sandbänke vornehmen. Die Nachsuche, die wir eben erledigt haben, genügt mir nicht. Uns kann sehr leicht etwas entgangen sein.“

Dann richtete er das Wort an Karl Kersten, der, bestürmt von allen möglichen Gedanken, abwartend dastand. Der Knabe wußte, daß er von diesen beiden Leuten nichts Gutes zu erwarten hatte. Jetzt fürchtete er doch, daß sie zu allerhand Zwangsmitteln greifen würden, um ihn zum Reden zu bringen. Es gab nur ein Mittel für ihn, aus dieser Klemme herauszukommen: Flucht – schleunige Flucht! – Er mußte einen Befreiungsversuch wagen, selbst auf die Gefahr hin, daß dieser mißglückte.

„Hör’ mal, mein Sohn“, begann Jenkins voller Hohn, „möchtest Du mir vielleicht sagen, wie Du hier auf diesem wasserlosen Eiland Deinen Durst gelöscht hast?! Ich habe nirgends eine Quelle oder sonst trinkbares Wasser bemerkt – nirgends! Daß Du das salzhaltige Lagunenwasser benutzt hast, wirst Du mir ja wohl trotz Deiner sonstigen anerkennenswertem Phantasie nicht weismachen wollen!“

Unter dem prüfenden Blick des Anwaltes war Karl Kersten das Blut erst in heißer Welle ins Gesicht geschossen, flutete dann aber wieder zum Herzen zurück und erzeugte auf den Wangen des frischen Knaben eine auffallende Blässe.

Kein Wunder, daß dem so war! An diese Frage hatte Karl nicht gedacht! Darauf war er nicht vorbereitet wesen …! Wenn er sich jetzt nicht zu einem schnellen Entschluß aufraffte, war sein Geheimnis mehr denn zuvor gefährdet. Schwieg er, so mußten die beiden Amerikaner notwendig auf den Gedanken kommen, daß von ihm noch mehr, als sie bisher ahnten, zu erfahren sei.

Einen schnellen Blick warf er in die Runde. Dort drüben lag der Dampfer in der Lagune, halb versteckt hinter den Dünen … Von dessen Leuten war niemand zu sehen. Und Jenkins und Alverson standen ziemlich dicht an der einzigen abschüssigen Stelle des Hügels, wo dieser einen Abhang von vielleicht acht Meter Höhe bildete …

Da besann er sich nicht länger, gab erst Jenkins, dann dem korpulenten Alverson ganz unversehens einen kräftigen Stoß, so daß beide nach vorwärts taumelten und kurz hintereinander in die Tiefe sausten, wo sie dann ohne größere Verletzungen auf dem weichen Sande, der hier in einer Mulde des Hügels zusammengeweht war, landeten.

Jenkins raffte sich als erster wieder auf, schimpfte wie ein Frachtdampferkapitän und half dem ungeschickten Freunde auf die Beine, der sich ängstlich alle Knochen befühlte, ob auch noch alles heil sei.

Dann erklomm Jenkins eiligst neben dem Abhang wieder die Kuppe, den schußfertigen Revolver in der Hand. Er war fest entschlossen, dem frechen Burschen eine Kugel nachzuschicken. Aber dazu kam er nicht. Bevor er die Spitze erreichte, waren doch einige Minuten vergangen. Als er sich jetzt suchend umblickte, fest überzeugt, den Knaben irgendwo über die Ebene fliehen zu sehen, war von dem jungen Deutschen keine Spur mehr zu bemerken. Dabei bot der Bimssteinberg mit seinen flachen, zumeist ganz glatten Seiten keinerlei Versteck.

Jenkins wußte nicht, wie er sich dieses plötzliche Verschwinden des Flüchtlings erklären solle. Inzwischen hatte sich auch Alverson neben ihm eingefunden. Beide begannen nun, wobei sie die Ebene stets im Auge behielten, den Hügel abzusuchen, gaben diese nutzlose Mühe jedoch bald auf und eilten nach dem Strande zurück, um die Besatzung des Dampfers zu alarmieren.

„Wir müssen unbedingt verhüten“, sagte Jenkins zu dem neben ihm einherkeuchenden Freunde, „daß der Bursche die Insel verläßt. Der Abend steht nahe bevor. Vor Einbruch der Dunkelheit müssen wir ihn wieder in unserer Gewalt haben! Müssen …! Sonst bringen wir uns um den ganzen Erfolg dieser Expedition.“

Jetzt aber sollte sich die Herausgabe des Schlüssels zu der Kammer, in der die Rumfäßchen aufbewahrt wurden, bitter rächen.

Kapitän, Steuermann und Nigger waren bereits in einem solchen Zustande feuchtfröhlicher Laune, daß es erst einiger Eimer Lagunenwasser und in die Luft abgefeuerter Revolverschüsse bedurfte, um die betrunkene Gesellschaft ins Boot zu bekommen und nachher in Patrouillen zwei Mann einzuteilen, die getrennt die Insel durchstreifen sollten. Alverson und der Steuermann wieder mußten nach den Sandbänken hinüber und diese durchsuchen.

Jenkins hatte sehr wohl daran gedacht, daß er durch diese Inanspruchnahme der Hilfe der „Vanderbilt“-Besatzung das Märchen von dem Mörder Seattlesharp auch den Negern mitteilen beziehungsweise dem Kapitän und den Steuermann eine neue Lesart dieser fein ausgeklügelten Geschichte auftischen müsse. Es stand hier jedoch zuviel auf dem Spiel, um die Leute des Dampfers wegen dieser Bedenken auszuschalten. So hatte er denn der ganzen alkoholbenebelten Gesellschaft nochmals von seiner Absicht, den eifrig gesuchten Mörder zu ergreifen, erzählt und hinzugefügt, er und Alverson hätten inzwischen festgestellt, daß der junge Bursche, der dem „Vanderbilt“ im Boot entgegengerudert, ihnen jetzt aber leider wieder entkommen wäre, ein Spießgeselle Seattlesharps sei.

Jenkins, der sich die Oberaufsicht über seine „Truppen“ vorbehielt, denen jedoch nicht so ganz zu trauen war, was Eifer und Aufmerksamkeit anbetraf, hatte sich nach Abzug der Patrouillen der Ebene zugewandt, um von der Spitze des Bimssteinberges aus die Bewegungen der Leute zu überwachen.

In der Nähe des Hügels angelangt, hörte er rechts von sich plötzlich lautes Gebrüll. Dann sah er auch den Flüchtling, der, verfolgt von zwei Negern, auf den Bimssteinberg zustürmte.

Einen so schnellen Erfolg dieser Hetze hatte er nicht erhofft. Er war überzeugt, daß der Knabe sich in den nächsten Minuten wieder in seiner Gewalt befinden würde. Absichtlich bog er nun in eine mehr westliche Richtung ein, um dem Jungen den Weg abzuschneiden. Leider verlief die Sache aber insofern nicht ganz programmäßig, als die Schwarzen es an Schnelligkeit mit dem menschlichen Wilde auch nicht im entferntesten aufnehmen konnten. Karl Kersten hatte kaum bemerkt, daß Jenkins ihm als neuaufgetauchter Verfolger gefährlich werden könne, als er auch schon einen Haken schlug und auf den Hügel zueilte.

Mittlerweile war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Als Jenkins und die Neger von verschiedenen Seiten kommend die Kuppe des kleinen Berges einige Minuten nach dem Knaben erreicht hatten, war dieser verschwunden.

Jenkins hatte durch mehrere Schüsse die anderen Patrouillen herbeigerufen, die sich auch allmählich einfanden. Vereint wurde nun der Hügel aufs allersorgfältigste abgesucht. Aber den Jungen fand man nicht. Es mußte ihm doch irgendwie geglückt sein, durch den Kreis seiner Verfolger hindurchzuschlüpfen.

Der Rechtsanwalt platzte beinahe vor Wut. Die Schmeichelworte, mit denen er die Schwarzen belegte, waren in keinem Wörterbuch zu finden. Natürlich hatte die halbtrunkene Bande nicht ordentlich die Augen aufgemacht – natürlich …!! Na – er wollte sie schon nüchtern bekommen …!! – Und so befahl er denn, daß niemand eher zu dem Dampfer zurückkehren dürfe, bis der Junge dingfest gemacht sei. Um den Schein zu wahren, fügte er noch hinzu, man solle besonders mit Seattlesharp, falls man diesen aufstöbere, nicht viel Federlesens machen, sondern den Verbrecher bei der geringsten Gegenwehr niederschlagen. Der, der einen der beiden Gesuchten tot oder lebendig einliefere, würde eine ganze Flasche Rum als Extrabelohnung erhalten.

Hauptsächlich die Aussicht auf diesen Genuß spornte zunächst den Eifer der schwarzen Matrosen mächtig an. Gegen Mitternacht, als man trotz des hellen Mondscheines noch immer nichts von den Gesuchten – die Neger glaubten ja bestimmt, es mit zwei Verbrechern zu tun zu haben – entdeckt hatte, änderte sich dies jedoch sehr zum Nachteil der beiden Anwälte, da die Patrouillen es vorzogen, sich in den Dünen zum Schlafe niederzulegen.

Jenkins und Alverson waren ebenso wie der Kapitän und der Steuermann bis gegen elf Uhr nachts munter geblieben. Dann erst begaben sie sich zur Ruhe, nachdem sie, um dem Knaben eine Flucht auf dem Wasserwege unmöglich zu machen, das Bimssteinfloß zerstört und das Boot des kleinen Deutschen weit auf das Land gezogen hatten. Trotzdem war Jenkins noch so vorsichtig, zu bestimmen, daß stets einer der vier wachen solle, während die anderen in der Hütte am Oststrande der Ruhe pflegten, um am nächsten Morgen für die zukünftigen Ereignisse recht frisch zu sein.

So kam es, daß die Gegend um den Bimssteinberg um die Geisterstunde herum einsam und verlassen dalag.

Der Mond schickte sich bereits wieder an, den absteigenden Teil des Bogens seiner nächtlichen Wanderung zu beginnen. Noch lagerte sein bleiches Licht, weiche Schatten in den tieferen Stellen erzeugend, auf dem merkwürdigen Hügel. Weit und breit war es totenstill. Nur ganz fern rauschte die Brandung an dem Gürtel der Sandbänke, und hin und wieder rieselte, vom Nachtwind in Bewegung gesetzt, ein kleines Sandbächlein knisternd abwärts.

Ein paar Seeraben, die mit müden Flügelschlägen über die Ebene hinweggestrichen waren und sich die Kuppe des kleinen Berges als Ruheplatz ausgesucht hatten, flogen plötzlich eiligst wieder davon. Irgend etwas mußte sie erschreckt haben.

Und tatsächlich … An einer Stelle, wo der rissige Bimsstein frei vom Sande war, hatte sich ein viereckiges Stück des Bodens leise gehoben. Fast ohne jedes Geräusch geschah das. Dann erschien unter dieser steinernen Falltür ein menschlicher Kopf … Es waren Karl Kerstens scharfe Augen, die jetzt vorsichtig die Spitze des Hügels musterten. Immer weiter schob er seinen Körper vor, bis er sich außerhalb des in die Tiefe führenden Schachtes befand.

Die Falltür paßte so genau in die quadratische Öffnung hinein, daß sich ihre Ränder bei der rauhen Oberfläche des Bimssteins nicht im geringsten abzeichneten. Zwei Höcker des Gesteins dienten als Handgriffe. An diesen ließ der Knabe die Verschlußkappe zu den unterirdischen Räumen des Bimssteinberges wieder zurückgleiten. Dann kroch er auf allen Vieren, öfters haltmachend und lauschend, den Hügel hinab. Im Schatten einer höheren Sandwelle wartete er nun, bis der Mond hinter den Dünen untergetaucht war. Erst als tiefe Dunkelheit über der Ebene lagerte, eilte er lautlos dem Oststrande zu.

Alverson hatte gerade die Wache. Gähnend schritt er vor der Hütte auf und ab und beneidete die anderen, die in dem kühlen Steinhäuschen friedlich schlummerten, während er hier auf alles achtgeben sollte, was irgendwie verdächtig schien.

Der dicke Rechtsanwalt war in seinem Beruf recht tüchtig, wenigstens nach amerikanischen Anschauungen, wo das Wort: „Der Zweck heiligt die Mittel“ als durchaus moralisch gilt. Aber ein Held war er nicht. Soeben hatte er sich hinter die Hütte unter Wind zurückgezogen, um sich eine Zigarette anzuzünden, als er einen dunklen Schatten bemerkte, der lautlos näher kam und dann horchend stehen blieb.

Einer der Neger war es nicht. Dazu war die Gestalt zu klein und schmal. Es konnte nur der Knabe sein …

Alversons Herz begann plötzlich schneller zu schlagen. Wenn dieser Karl Kersten womöglich Hilfe herbeigeholt hatte, wenn es doch ein Versteck auf der Insel gab, in dem vielleicht außer Matu-Matu, dem weißen Häuptling, sich noch mehrere Seminolen verborgen gehalten hatten, – was dann …?! Jedenfalls fühlte er sich keineswegs sehr behaglich. Und hätte er nicht die spöttischen Reden seines Freundes Jenkins gefürchtet, so würde er sich am liebsten völlig ruhig verhalten haben. So aber faßte er sich ein Herz, griff nach dem Revolver in seiner Jackentasche, trat ein paar Schritte vor und brüllte mit Donnerstimme, die ihm selbst Mut machen sollte, ein trotz allen Kraftaufwandes recht unsicher klingendes „Halt – wer da?!“ – Gleichzeitig feuerte er einen Schuß nach der Richtung hin ab, wo noch soeben die Gestalt gestanden hatte. Die war jetzt jedoch wie fortgeweht. Und dann zischte irgend etwas unheimlich dicht an Alversons linkem Ohr vorüber und schlug, einen metallisch harten Ton erzeugend, gegen die Bimssteinblöcke der Hüttenwand.

Jenkins kam als erster mit einer brennenden Schiffslaterne aus dem Häuschen herausgestürzt. Der dicke Alverson tat sich nicht wenig darauf zugute, daß gerade er es gewesen war, dem der Knabe beinahe in die Arme gelaufen wäre. Wortreich und umständlich erzählte er, was geschehen, bis Jenkins ihn ärgerlich unterbrach:

„Wie konntest Du nur so töricht handeln …!! Du hättest warten sollen, bis der Junge sich noch näher herangewagt haben würde, so daß Du ihn packen konntest! Statt dessen knallst Du mit Deinem Revolver los, als säße der Bursche Dir schon an der Kehle.“

Da bückte Alverson sich, hob einen indianischen Pfeil mit eiserner Spitze auf und sagte gekränkt:

„Schau Dir dies Ding an! Hätte ich nicht geschossen, so würde ich vielleicht jetzt so einen gefährlichen Zahnstocher in den Rippen haben!“

Jenkins besichtigte schweigend den Pfeil und erklärte dann:

„Die Sache beginnt einen ernsten Beigeschmack zu bekommen. Wir werden vorsichtiger sein müssen …!“

 

4. Kapitel.

Drei Mumien.

Der junge Deutsche war nach dem ergebnislosen Kundschaftergang eiligst auf den Bimssteinberg zurückgekehrt. Nachdem er die steinerne Falltür geöffnet hatte, schlüpfte er in den Schacht hinein, schloß über sich diesen einzigen ins Freie führenden Zugang und stieg die Treppe hinab. Unten schimmerte das Licht einer Öllampe und beleuchtete zwei Türen, die rechts und links von der in den Bimssteinfels eingehauenen Stiege in die beiden hier unten künstlich geschaffenen Gemächer mündeten.

Karl Kersten betrat den Raum zur Linken. Auch hier brannte eine Öllampe und beleuchtete die bescheidene Einrichtung dieses unterirdischen Gelasses, in dem Matu-Matu, der weiße Häuptling der Seminolen, Jahrzehnte als Einsiedler gehaust hatte.

Müde ließ der Knabe sich in einen Stuhl sinken.

Dieser nächtliche Ausflug hatte ihn bitter enttäuscht. Hatte er doch gehofft, daß es ihm vielleicht gelingen würde, heimlich sein Boot flott machen und die Insel verlassen zu können.

Trübe Gedanken waren es, die jetzt auf ihn einstürmten. Was nun …?! Was sollte aus ihm werden, wenn die Amerikaner wochenlang auf dem Eiland blieben …?! Nahrungsmittel in Konservenform gab es in der rechts von der Treppe gelegenen Vorratskammer, die gleichzeitig als Küche diente, nur noch für wenige Tage. Das wußte er nur zu gut.

Unwillkürlich zogen jetzt die Erlebnisse des letzten Jahres in wechselnden Bildern blitzschnell an dem geistigen Auge des jungen Deutschen vorüber. – Nicht alles, was er den beiden Rechtsanwälten erzählt hatte, war freie Erfindung gewesen. Im Gegenteil – der größere Teil entsprach den Tatsachen. Aus dem Elternhause heimlich entlaufen, flüchtete er vor den Roheiten des portugiesischen Kapitäns auf diese Insel, wo ihm gleich nach seiner Landung auf geheimnisvolle Weise sein Boot verschwunden war. Bald hatte er gemerkt, daß auf dem Eiland außer ihm noch ein Mensch ein verborgenes Dasein führe. Diesen rätselhaften Mann, der ihn stets rechtzeitig immer wieder mit einem Gefäß Trinkwasser versah, sollte er jedoch lebend nicht mehr kennen lernen. Als er nach über elfmonatiger Anwesenheit auf der Insel endlich, von Durst getrieben, den Zugang zu den unterirdischen Räumen des Bimssteinberges gefunden und diese betreten hatte, war sein Schutzgeist kurz vorher gestorben, nachdem er noch für Karl Kersten eine kurze Schilderung seines abenteuerlichen Lebens niedergeschrieben, aber nicht ganz vollendet hatte.

Nicht ganz … Matu-Matu oder besser Friedrich Meister, der Deutsche, der Gatte Naumateas, der Tochter der Großen Schildkröte, war gerade vom Tode überrascht worden, als er seinem jungen Landsmann den Ort hatte näher angeben wollen, wo der Seminolen-Schatz zu finden war. Mitten im Satz war die die Feder führende Hand erstarrt. Nur auf die Tätowierung auf der Brust einer Mumie hatte er noch hingewiesen, ohne diese Andeutungen beenden zu können, die dann des Knaben Phantasie so lebhaft beschäftigt hatten – lebhaft und ergebnislos … – Wenige Tage darauf hatte Karl Kersten sein Boot, das der Einsiedler in der Lagune versenkt gehabt hatte, wieder gehoben und instandgesetzt, um in bewohnte Gegenden zurückzukehren. Zwischenein schrieb er noch die Geschichte seines Robinsondaseins auf dem öden Eiland mit allen Einzelheiten nieder. Diese Aufzeichnungen waren es, die er zusammen mit denen Matu-Matus jetzt in der Ledertasche auf seiner Brust aufbewahrte. (Sie sind in einem der früheren Bändchen dieser Sammlung unter dem Titel „Der Bimssteinberg“ erschienen.)

Dann tauchte der Dampfer auf, der jetzt in der Lagune vor Anker lag. Freudig war er ihm entgegengerudert. Aber wie herbe sollte er enttäuscht werden …! Nicht die Rettung nahte, – nein, neue Anstrengungen, neue Gefahren, deren Ausgang noch gar nicht abzusehen war …

Das alles war es, was den Geist des mutigen Jungen jetzt beschäftigte. Die Erinnerung an die Fährnisse und Mühsale, die er bereits im Laufe des verflossenen Jahres glücklich überstanden hatte, zeigte ihm nun auch die Gegenwart in hellerem Lichte. Die Anwandlung kleinmütigen Verzagens machte schnell wieder jener kecken Unternehmungslust Platz, die jedoch nichts mehr von der leichtfertigen Sucht nach Abenteuern an sich hatte, durch die verführt er einst aus dem Elternhause entflohen war. Reifer geworden durch das einsame Leben auf dieser Insel, kannte er jetzt nur noch einen Wunsch: Seine Eltern wieder zu versöhnen und gut zu machen, was er gefehlt hatte. – Gewiß, ein paar Tage hatte wohl auch die Hoffnung in ihm gelebt, den Schatz der Seminolen auffinden und große Reichtümer mit heimbringen zu können. Aber sehr bald mußte er einsehen, daß die Andeutungen Matu-Matus in dessen Aufzeichnungen nicht genügten. Da hatte er den Schatz ganz aus seinen Gedanken gestrichen.

Und jetzt mußte er doch immer wieder an ihn denken. Die beiden Amerikaner, die ihn wie ein Wild heute gehetzt hatten, waren ja nur des Schatzes wegen nach dem Eiland gekommen. Das ging aus ihrem ganzen Verhalten hervor. Und offenbar befanden sie sich sogar in dem Glauben, daß Friedrich Meister, der weiße Seminolenhäuptling[3], noch am Leben sei. –

Karl Kersten erhob sich, hing den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen wieder zu den anderen indianischen Waffen an die Wand, nahm die Lampe und schritt in den Vorratsraum hinüber, dessen Inhalt die Vertrauten Matu-Matus alle halbe Jahr durch heimliche Ausflüge nach der Insel wieder ergänzt hatten. Aber diese Seminolen, die an der Ostküste Floridas als arbeitsame Ansiedler lebten, würden jetzt nie mehr erscheinen, nachdem der weiße Häuptling es ihnen aus Furcht vor Spionen verboten hatte.

Der Knabe öffnete eine der Büchsen, die Fleisch enthielten, und stillte seinen Hunger. Dann schob er einen Trinkbecher in die Tasche, ergriff wieder die Lampe und trat hinter die zu einem Stapel aufgeschichteten Kisten in der einen Ecke. Von hier aus führte ein zweiter Schacht noch weiter hinab. Eine feste Holzleiter stand darein. Und gleich darauf war Karl Kersten in der natürlichen Grotte angelangt, die den dritten Raum dieser verborgenen Wohnung bildete. Gleich vorn sprudelte ein klarer Quell aus dem Boden hervor, um aber schon nach wenigen Schritten wieder in einer Spalte zu verschwinden und sein Wasser mit dem der Lagune durch einen unterirdischen Zufluß zu vereinen.

Nachdem der Knabe auch seinen Durst gelöscht hatte, zog es ihn wie mit magnetischer Gewalt nach dem anderen Ende der Grotte hin. Dort erhob sich eine Art Postament aus Bimssteinblöcken, das mit bunten indianischen Geweben bedeckt war. Auf diesem lagen nebeneinander vier menschliche Körper, sämtlich in feingegerbte, gestickte Ledergewänder indianischer Arbeit gekleidet. Drei der Leichen waren bereits in der trockenen Luft dieser Grotte, ohne die geringsten Spuren von Verwesung zu zeigen, zu Mumien zusammengeschrumpft. Die vierte, deren Gesicht die Zugehörigkeit zur kaukasischen Rasse verriet, sah noch vollkommen frisch aus. Es war die Friedrich Meisters, des vor kurzem verstorbenen weißen Häuptlings. Zu seiner Rechten ruhte sein Weib, Naumatea, die Tochter des Oberhäuptlings Große Schildkröte, der ebenso wie sein Sohn, die Kleine Schildkröte hier eine letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Mit hocherhobener Lampe schaute Karl Kersten den Toten in die starren Gesichter.

„Wenn Ihr noch sprechen könntet!“ dachte er. „Ihr würdet mir das Geheimnis, wo der Schatz Eurer Vorfahren verborgen liegt, nicht verschweigen. Matu-Matu, der einer der Euren geworden ist, wollte mir ja die Reichtümer Eures jetzt in der Knechtschaft der Amerikaner so tief gesunkenen und doch einst so tapferen Volkes zukommen lassen, – derselbe Matu-Matu, den zu fangen, die Fremden jetzt auf diesem friedlichen Eiland erschienen sind …!“

Des Knaben Antlitz nahm einen grüblerischen Ausdruck an. Wieder suchte er, angeregt durch den Anblick der Mumien, zu ergründen, was Friedrich Meister wohl mit dem unvollendeten Satz gemeint haben könne.

Gewiß – die drei Indianer besaßen jeder auf der Brust die gleiche Tätowierung, wie Karl Kersten längst festgestellt hatte, – das in roter und blauer Farbe ausgeführte und in der Zeichnung noch klar zu erkennende Bild einer Schildkröte mit rundem, großem Rückenschild. Doch diese Tätowierungen besagten nichts – nichts, und glichen einander bis in die kleinsten Einzelheiten.

Plötzlich schnellte der nachdenklich gesenkte Kopf des Jungen hoch. Ein neuer Gedanke …: Glichen die Tätowierungen einander wirklich vollständig? Hatte er dies damals vor wenigen Tagen wirklich so genau nachgeprüft …?!

Ein paar schnelle Schritte, und er stand am Kopfende des Postaments, beugte sich zunächst über die Brust des Oberhäuptlings der Seminolen, brachte die Lampe in die günstigste Stellung und betrachtete die feinen, mit besonderen Farbstoffen eingeriebenen Stiche, die sich zu einer Zeichnung vereinigten. Dann tat er dasselbe bei Naumatea und dem Sohne des Oberhäuptlings.

Die Schildkröte auf der Brust der beiden Kinder des Mannes, der einst der erbittertste Feind der Amerikaner gewesen war und für die Freiheit seines Volkes bis zum äußersten gekämpft hatte, war bedeutend kleiner, und jetzt fand Karl Kersten auch heraus, daß die Art der Ausführung nur bei flüchtigem Hinsehen die gleiche zu sein schien. In Wirklichkeit unterschied sich das Rückenschild der Schildkröte auf der Brust des Oberhäuptlings mit feinem Muster, das die einzelnen Platten des Panzers dieser Tiergattung andeuten sollte, ganz wesentlich von den beiden anderen.

Und dann kam dem Knaben urplötzlich die Erleuchtung: das Rückenschild der Tätowierung der Großen Schildkröte stellte eine Zeichnung der Insel dar …!! Der Rand mit den verschlungenen Linien waren die Sandbänke, der freie Ring die Lagune, und die mit blauen Pünktchen übersäte Hauptfläche die Ebene, in deren Mitte wieder eine eiförmige Rundung von roten Punkten den Bimssteinberg andeutete. Und in diesen war mit feinen blauen Strichen ein Bild der Höhlenwohnung im Längsschnitt gezeichnet: der obere Schacht, die beiden Gemächer, der zweite Schacht und die Grotte. In der letzteren aber befand sich in Blau eine kurze, geschlängelte Linie, die nur die Quelle sein konnte, und unter dieser Linie ein rotes Sternchen …

Auf diesem Sternchen ruhten jetzt die Augen des Knaben wie gebannt. Weit vornübergebeugt stand er da …

Dann richtete er sich auf und schritt hastig in den Vordergrund der Grotte zurück … auf die leise murmelnde und schnell wieder verschwindende Quelle zu …

 

5. Kapitel.

Um den Schatz der Seminolen.

Seit fünf Tagen lag der Küstendampfer „Vanderbilt“ nun schon in der Lagune vor Anker. Drei Tage lang hatte Jenkins die Besatzung fortwährend herumgehetzt, um des jungen Deutschen wieder habhaft zu werden. Nichts hatte er unterlassen, um das Versteck des verschlagenen Burschen herauszufinden.

Aber alle angewandte Mühe war umsonst gewesen.

Der dicke Alverson hatte längst jeden Geschmack an der Sache verloren. Seitdem der Indianerpfeil so dicht an seinem edlen Haupte vorbeigesaust war, litt er unter dunklen Ahnungen. Nach Eintritt der Dämmerung konnte nichts ihn mehr dazu bewegen, den Dampfer zu verlassen. Nur an Bord des Schiffes fühlte er sich sicher. Umsonst suchte Jenkins des Freundes Gleichgültigkeit durch den Hinweis auf die erhofften Reichtümer zu verscheuchen.

Alverson zuckte dann nur etwas verlegen die Achseln.

„Du wirst sehen: die Geschichte hier nimmt kein gutes Ende!“ sagte er stets. „Ich will mein Geld gerne verlieren, das ich in dieses Unternehmen hineingesteckt habe, – aber nicht mein Leben!!“

Auch an dem Kapitän und dem Steuermann, die Neger schon gar nicht gerechnet, fand Jenkins wenig Hilfe. Die beiden saßen jetzt den ganzen Tag hinter der Rumflasche und würfelten. Und die Schwarzen wieder vertrieben sich durch Alligatorenfang die Zeit. Sie hatten sich eine starke Angel aus einem Stahldrahttau und einem eisernen Haken zurechtgemacht, für die sie mit der Schrotflinte erlegte Seevögel als Köder benutzten. Mancher der freßgierigen, zahlreichen Kaimans, die die Lagune bevölkerten, ging ihnen an die Angel. Und ihr Jubelgebrüll bei jedem neuen Alligator reizte Jenkins nur zu oft zu heller Wut. War er doch davon überzeugt, daß der Knabe sich noch auf der Insel befinde und daß nur die Trägheit seiner Gefährten daran schuld sei, wenn man den jungen Burschen noch immer nicht erwischt habe.

Jedenfalls war er der einzige, der noch mit zäher Ausdauer nach dem Flüchtling suchte. Selbst nachts legte er sich stundenlang bald hier, bald dort auf die Lauer. Sein durch Sport jeder Art gestählter Körper vertrug all diese Anstrengungen und den Mangel an Schlaf. Doch Karl Kersten ließ sich nicht mehr blicken. Jenkins durchwanderte besonders morgens regelmäßig die Insel, um in dem noch taufeuchten Sande nach frischen Spuren zu sehen. Auf diese setzte er seine größte Hoffnung. Die Fährte der ledernen Mokassins des Knaben war ja unverkennbar. –

Der sechste Morgen nach Ankunft des „Vanderbilt“ vor der Insel dämmerte herauf.

Jenkins hatte bis Mitternacht in der Nähe des Bimssteinberges im Sande gelegen und gewacht, war dann an Bord des Dampfers zurückgekehrt, in seine Koje gekrochen und hatte bis zum Morgengrauen fest geschlafen. Jetzt erhob er sich, kleidete sich eiligst an und spritzte dem schnarchenden Alverson eine gehörige Menge Wasser ins Gesicht, um ihn munter zu machen.

„He – Du wolltest doch mitkommen, alter Siebenschläfer! Vorwärts! Ich werde uns schnell noch Tee aufbrühen …“

Alverson rappelte sich auf, brummte etwas Unverständliches vor sich hin und war tatsächlich bereits fix und fertig, als Jenkins mit dem Teebrett aus der im Vorschiff liegenden Kombüse zurückkehrte.

Der hagere Rechtsanwalt stellte das Teebrett so hart auf den Tisch, daß das Geschirr laut klirrte.

„Eine ganz verwünschte Geschichte!“ rief er wütend. „Das Wasser im großen Behälter riecht schon faulig, wie ich eben gemerkt habe. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als den „Vanderbilt“ nach dem nächsten Hafen zur Ergänzung des Trinkwasservorrates zu senden. Wir werden diese Fahrt natürlich nicht mitmachen, sondern hier weiter die Wächter spielen. In Gestalt von kaltem Tee ist das Wasser noch leidlich genießbar. Eine Woche halten wir’s damit schon aus. Inzwischen kann der alte Kasten wieder zurück sein.“

Alverson war über diese Neuigkeit keineswegs entzückt.

„Wir beide sollen allein hier bleiben …?!“ meinte er sehr gedehnt. „Hm – zwei von den Niggern könnten uns doch …“

„Nichts da …!“ unterbrach ihn Jenkins. „Wir beide genügen vollauf. Soeben ist mir außerdem ein glänzender Gedanke gekommen. Ich bin jetzt schon wieder ganz damit ausgesöhnt, daß der „Vanderbilt“ auf einige Tage verschwinden muß.“

Seinen Plan entwickelte er dem Freunde aber erst, als sie durch die Dünen der Ebene zuwanderten.

Alverson sah ein, daß die Sache alle Aussicht auf Erfolg hatte. Trotzdem riet er ab.

„Bedenke, daß wir noch immer nicht wissen, wieviel Leute sich hier auf dem Eiland verborgen halten“, meinte er mit Nachdruck. „Vielleicht findet uns der „Vanderbilt“ gar nicht mehr am Leben … Mir kommt die ganze Insel geradezu unheimlich vor …“

Jenkins schüttelte den Kopf. „Nein – was so ein Indianerpfeil doch alles anrichten kann – unglaublich!! Dein Hasenherz hast Du auch erst hier entdeckt, lieber Alverson! Zu Deiner Beruhigung …“

Er brach mitten im Satze ab. „Hallo! Eine frische Fährte …! Das ist kein anderer als der junge Bursche gewesen!“

Er bückte sich tief über die Spur herab und musterte sie genau.

„Kein Zweifel – hier ist der verd… Deutsche vorübergekommen“, erklärte er dann nochmals mit größter Bestimmtheit. „Vorwärts! Folgen wir der Spur! Es müßte doch geradezu ein mehr als verwünschtes Pech sein, wenn wir heute nicht herausbekämen, wo der Junge seinen Schlupfwinkel hat!“

Die Fährte lief von Nordost her auf den Bimssteinhügel zu, an dessen Fuß sie jedoch urplötzlich verschwand. Alles Suchen half nichts. Der Knabe hatte schlauerweise seinen Weg über Stellen fortgesetzt, wo der nackte Bimsstein zutage trat, auf dem sich kein Fußtritt abzeichnete. Erst als die beiden Amerikaner den Hügel dann umschritten hatten, stießen sie auf eine zweite frische Spur, die aber mit der eines Menschen nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Die Fährten waren fast kreisrund und glichen den Fußtapfen eines Elefanten, der sich das Vergnügen gemacht hatte, nur auf den Hinterbeinen zu gehen. Jedenfalls ließ sich aus diesen Fußeindrücken nicht feststellen, ob das Geschöpf, das sie erzeugt hatte, sich von dem Bimssteinberg entfernt hatte oder auf diesen zugekommen war.

„Echt indianische Teufelei!“ knurrte Jenkins wütend. „Natürlich sind dies Abdrücke von eigens zum Täuschen von Verfolgern angefertigten Mokassins! Aber all das wird dem Burschen nichts helfen: ich gehe jetzt jede Wette ein, daß dieser Bimssteinberg der Schlupfwinkel des Jungen ist. Beweis: damals in jener Nacht, als wir den Knaben hetzten, verschwand er gerade hier spurlos, und jetzt laufen zwei Fährten nach verschiedenen Richtungen von ihm aus! – Jedenfalls ist mein Entschluß nunmehr gefaßt. Der Schauplatz dessen, was ich vorhabe, soll dieser Hügel werden. Deshalb wollen wir jetzt auch zum Schiffe zurückkehren. Der Bursche soll nicht argwöhnisch werden.“ – –

Am Spätnachmittag desselben Tages lichtete der „Vanderbilt“ die Anker und dampfte durch die schmale Einfahrt in die offene See hinaus, wo er dann den Kurs nach Westen zu nahm.

Karl Kersten hatte von der Kuppe des Hügels aus, hinter ein paar Bimssteinblöcken verborgen, genau jede Bewegung des Schiffes verfolgt. Er sah, daß auch sein eigenes kleines Boot an Deck gehißt wurde und daß neben dem Kapitän auf der Kommandobrücke die lange, hagere Gestalt Jenkins’ und die kleinere, rundliche des dicken Alverson standen.

Mit einem Gefühl der Erleichterung beobachtete er weiter, wie der Dampfer in den Dunstmassen am westlichen Horizont verschwand. Trotzdem war er klug genug sich zu sagen, daß er noch immer mit der Möglichkeit einer Rückkehr des „Vanderbilt“ rechnen müsse, da diese Abfahrt auch sehr gut nur eine List sein konnte. Er nahm sich daher vor, auch fernerhin stets auf seiner Hut zu sein. Fürs erste war er freilich hier ganz sicher. Selbst wenn der Dampfer später umkehrte und die Insel wieder anlief, mußten inzwischen mehrere Stunden vergehen. Und diese würden ihm genügen, seinen Nahrungsmittelvorrat zu ergänzen.

Bewaffnet mit einer doppelläufigen Flinte und einem Handbeil, begab er sich zunächst nach seiner Hütte. Nachdem er sich schnell überzeugt hatte, daß auch keiner der Schwarzen etwa hiergeblieben war, erlegte er zwei halbausgewachsene Alligatoren, die einen kurzen Spaziergang über Land auf diese Weise mit dem Leben bezahlen mußten. Die Kaimans, deren Fleisch von den Negern bekanntlich recht gern gegessen wird, lieferten ihm für mindestens zwei Wochen Nahrung. Die besten Stücke, Rücken und Schwanz, pökelte er nachher ein. Salz besaß er ja im Überfluß, da er in der Küche der unterirdischen Wohnung davon ein ganzes Fäßchen gefunden hatte. Dann wanderte er, während die Dunkelheit immer mehr zunahm, am Strande entlang, um zu versuchen, ob er nicht noch ein paar Wildgänse schießen könne. Er hatte Glück, da er in einem Seitenarm der Lagune im Norden des Eilandes eine ganze Schar dieser Vögel antraf, die offenbar soeben erst nach längerem Fluge dort eingefallen waren. Hintereinander feuerte er, als er sich ganz dicht herangeschlichen hatte, beide mit Schrot geladenen Läufe seiner Flinte mitten unter die ahnungslosen Wildgänse aufs Geratewohl ab und erbeutete auf diese Weise fünf Vögel, die er sofort nach dem Hügel trug.

Inzwischen war der Mond aufgegangen. Es mochte jetzt gegen elf Uhr abends sein. Unter den Sachen Matu-Matus hatte Karl Kersten auch ein vortreffliches Fernglas gefunden. Mit Hilfe dieses suchte er jetzt die See ab, soweit er bei diesem ungewissen Licht etwas erkennen konnte.

Plötzlich stutzte er. Im Osten der Insel glaubte er auf dem Meere in weiter Ferne einen dunklen Fleck zu bemerken. Ob es ein Schiff war, vermochte er jedoch nicht festzustellen. Immerhin beunruhigte ihn diese Beobachtung nicht wenig. Er sagte sich, daß der „Vanderbilt“, falls dieser außer Sicht des Eilandes sofort einen Bogen beschrieben hatte, sehr gut bereits dort draußen im Osten wieder angelangt sein könne, wo er soeben den dunklen Punkt erspäht hatte.

Abermals schaute er, das Glas vor den Augen, angestrengt nach dem verdächtigen Fleck. Der war jetzt aber verschwunden. Alles Spähen half nichts. Wenn es ein Schiff gewesen war, so hatte es sich wieder entfernt, oder aber, er hatte sich überhaupt getäuscht und etwas zu sehen geglaubt, was gar nicht vorhanden war.

Beruhigt setzte er sich auf einen flachen Bimssteinblock und atmete mit Genuß die frische Nachtluft ein. Offenen Auges träumte er vor sich hin. – Der Seminolen-Schatz …! Er hatte ihn ja gefunden …! Dicht neben der Quelle hatte er eine sauber eingelassene Steinplatte nach anfänglich vergeblichem Suchen entdeckt, die eine tiefe Höhlung verschloß. Und darin lagen dicht übereinander geschichtet ziegelförmige Barren puren Goldes, – nicht weniger als dreiundvierzig an der Zahl … Und all das Gold gehörte ihm …, ihm und seinen Eltern, denen er mit diesen Reichtümern einen behaglichen Lebensabend schaffen wollte, … wenn er erst wieder glücklich in Hamburg, in der Heimat, war … Und niemand sollte ihm den Schatz jetzt mehr entreißen, den er vorsichtigerweise inzwischen an einem anderen Orte verborgen hatte …

Da – mit einem Ruck fuhr er empor. Ein Geräusch hinter ihm hatte ihn aufgeschreckt. Bevor er aber noch den Kopf wenden konnte, fühlte er sich von rückwärts gepackt. Und eine triumphierende Stimme schrie ihm in die Ohren:

„Haben wir Dich endlich, mein Bursche …! Auf diese Überraschung warst Du nicht vorbereitet! Ja – so ein ganz klein wenig schlauer wie Du sind wir denn doch …!“

 

6. Kapitel.

Alversons trübe Ahnungen.

Im Nu hatte Jenkins mit seines Freundes Unterstützung dem Knaben die Hände auf dem Rücken gefesselt.

„So, dieses Mal sollst Du uns nicht wieder entwischen“, lachte er höhnisch. „Als Du mit Deiner Jagdbeute, den Wildgänsen, hier anlangtest, lagen wir dort drüben bereits versteckt. Nun wissen wir auch, welches Geheimnis dieser Hügel birgt und wie man in ihn hinein gelangt. – Auf, mein Bursche, geh’ uns voran! Wir sind gespannt, auch das Innere des Bimssteinberges kennen zu lernen …!“

Was blieb Karl Kersten anderes übrig als zu gehorchen …? – Jenkins und Alverson besichtigten die unterirdischen Räume sehr sorgfältig und fanden auch den Schacht und die Leiter, die zu der Mumien-Grotte hinabführte.

Vor dem Postament, auf dem die vier Toten lagen, prallte der dicke Alverson entsetzt zurück. Und auch Jenkins überlief ein kalter Schauer, als er in die Gesichter der stillen Schläfer blickte.

Karl sollte dann Auskunft geben, wer die Toten seien, behauptete jedoch, dies nicht zu wissen, indem er den beiden Amerikanern ängstlich verschwieg, daß Matu-Matu ihm schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen hatte.

Jenkins schaute ihn darauf mit bösem Blick an. „Dir glauben wir kein Wort mehr, mein Bursche!“ sagte er drohend. „Wir werden Dich schon zum Reden zwingen …!“

Nachher sollte Karl Kersten vorläufig in das Wohngemach eingeschlossen werden. Aber Jenkins, klug gemacht durch die bisherigen Erfahrungen mit dem als Gegner nicht zu unterschätzenden jungen Deutschen, durchsuchte diesen zunächst aufs genaueste. So kam es, daß er auch die Ledertasche entdeckte, die Karl an einer Schnur auf der Brust trug und in der sich nicht nur des Knaben Tagebuch, sondern auch Friedrich Meisters, des weißen Seminolenhäuptlings, letzte Aufzeichnungen befanden.

Jenkins war mit der Durchsicht der eng beschriebenen, zahlreichen Blätter bald fertig. Seine Augen leuchteten auf, als er Matu-Matus Andeutungen über den Schatz las.

„Ah – nun wissen wir alles, Alverson, alles …!“ meinte er frohlockend. Und zu dem Knaben gewandt fügte er hinzu:

„Hast Du den Schatz gefunden …? – Heraus mit der Sprache!!“

Aber Karl Kersten gab das Spiel noch lange nicht verloren. Wortreich erzählte er jetzt, daß er alles versucht habe, die von Matu-Matu gegebenen unvollständigen Andeutungen zu ergänzen beziehungsweise aufzuklären. Es sei ihm jedoch nicht geglückt.

Jenkins drohte ihm mit der Faust. „Bursche, Du lügst! Hier ist eine Tätowierung erwähnt und eine der Mumien da unten … Sollte das für einen so hellen Kopf wie Du ihn besitzt, nicht genügt haben, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen?! – Aber ich will mich sofort überzeugen – sofort!“

Wenige Minuten später standen die beiden Amerikaner mit ihrem Gefangenen wieder in der Grotte vor dem Postament, auf dem die Toten ruhten. Die Goldgier hatte jetzt auch bei Alverson die Scheu vor den Leichen völlig zurückgedrängt. Er hielt die Lampe, während Jenkins die Tätowierungen besichtigte. Dicht neben den beiden hatte sich Karl Kersten aufstellen müssen. Aber unaufhörlich zerrte er jetzt an dem Strick, der seine Handgelenke umschloß. Er mußte die Hände freibekommen – mußte …! Und wenn er sich ganze Hautfetzen abriß …

Gerade als Jenkins enttäuscht sich aufrichtete, da die Tätowierungen ihm bedeutungslos erschienen, hatte Karl die Rechte durch die Schlinge hindurchgezwängt. Ein blitzschneller Faustschlag schleuderte Alverson die Lampe aus den Fingern, und in der jetzt herrschenden tiefen Finsternis jagte der Knabe auf den Schacht zu, klomm die Leiter empor und zog diese dann mit Aufbietung all seiner Kräfte nach oben, so daß Jenkins und Alverson nur zu schnell mit ihrem bisherigen Gefangenen die Rollen gewechselt hatten. Jetzt saßen sie selbst in einem Gefängnis, aus dem es für sie keinen Ausweg gab …

Vorhin war Jenkins so unvorsichtig gewesen, dem Jungen höhnisch zu erzählen, daß nur er und Alverson mit dem größten Rettungsboot des „Vanderbilt“ wieder auf der Insel heimlich in der Dunkelheit gelandet seien und daß der Dampfer selbst erst nach einer Woche zurückkehren würde. Karl Kersten durfte sich jetzt also vollkommen sicher fühlen. In dem Schacht mit seinen glatten Wänden emporzuklettern, war für die beiden Amerikaner ganz ausgeschlossen. Von denen drohte ihm also auch weiter keine Gefahr mehr.

Abwartend stand er nun oben in dem Vorratsraum und blickte durch den niedrigen Eingang in den Schacht hinab. Er hörte Jenkins wütende Stimme, hörte jetzt deutlich den dicken Alverson erwidern …: „Ich habe immer gesagt, daß die Sache ein übles Ende nimmt! Wenn’s dem Burschen gefällt, läßt er uns hier unten verhungern. Kein Mensch findet uns hier, sobald er die Falltür oben auf der Kuppe des Bimssteinfelsens schließt …!“

Eine Weile blieb’s still.

Dann sagte Jenkins ziemlich kleinlaut:

„Der Junge wird mit sich reden lassen!“ Er fügte noch mehr im Flüsterton hinzu. Vielleicht hoffte er, den Feind überlisten zu können, und teilte dies seinem Gefährten mit.

Karl sah jetzt in der Tiefe ein winziges Flämmchen aufleuchten und im Schacht hin und her wandern. Es war der brennende Docht von Alversons Benzinfeuerzeug.

Darauf wieder Jenkins’ Stimme:

„Junge – bist Du oben? Hörst Du uns?“

„Sogar sehr gut!“ rief Karl Kersten hinunter.

„Dann lasse schleunigst die Leiter wieder herab. Wir werden uns im guten mit Dir einigen. Ich gebe Dir mein Wort darauf.“

„Und ich gebe Ihnen das meine, daß ich nicht so dumm bin, in diese Falle hineinzutappen! – Gute Nacht, meine Herren! Angenehme Ruhe …! Ich bin müde. Morgen früh auf Wiedersehn …!“

Karl Kersten war es ein Hochgenuß, die beiden Amerikaner fühlen zu lassen, daß sie ganz in seine Hand gegeben waren. – Freilich – an Schlafen dachte er nicht. Er wollte nur die Morgendämmerung abwarten und dann das Boot aufsuchen, in dem Jenkins und Alverson nach der Insel zurückgekehrt waren. So setzte er sich denn neben dem Schachteingang nieder und lauschte den Geräuschen, die aus der Grotte zu ihm heraufdrangen. Vielleicht machten seine Gefangenen doch einen Versuch, aus ihrem Kerker hinauszugelangen … Eine Möglichkeit gab es für sie, wie ihm eben eingefallen war, in dem steilen Schacht emporzuklimmen: sie konnten in den mürben Bimsstein Stufen und Handgriffe für die Hände einhauen. Auf dem Postament lagen die Waffen der beiden Indianerhäuptlinge, der Großen und Kleinen Schildkröte, und darunter befanden sich auch zwei scharfe Streitäxte. – Aus diesem Grunde erschien es ihm immerhin geboten, sich zunächst einmal davon zu überzeugen, was Jenkins und Alverson unternehmen würden.

Ersterer hatte ihm noch zugerufen, er solle doch ein paar Minuten warten, damit sie noch weiter mit ihm verhandeln könnten. Karl Kersten hatte jedoch geschwiegen und getan, als ob er bereits den Vorratsraum verlassen habe.

Dann hörte er, wie Alverson stöhnend sagte: „Ein schauerlicher Ort …! Der Gedanke, die vier Toten so in nächster Nähe zu haben, ist mir furchtbar …“

Tatsächlich verbrachten die beiden Amerikaner unten in der Grotte eine wenig angenehme Nacht. Sie hatten sich schließlich nebeneinander auf den Boden des Schachtes gesetzt, sich jeder eine Zigarre angezündet und harrten nun voll Ungeduld auf die Stunde, wo ihr jugendlicher Bezwinger sich wieder melden würde. Endlos langsam schlichen ihnen die Minuten hin. So und so oft sah Alverson nach der Uhr. Aber die Zeiger wollten und wollten nicht vorrücken. Zu häufig durften sie ihre Benzinfeuerzeuge außerdem auch nicht in Anspruch nehmen, weil diese sonst bald überhaupt nicht mehr brannten. So saßen sie denn in der undurchdringlichen Finsternis da, mit dem Rücken gegen die Bimssteinwand gelehnt, rauchten eine Zigarre nach der andern und lauschten mit überreizten Nerven auf das einzige, in ihrem Kerker vernehmliche Geräusch, – die leise und ununterbrochen murmelnde Quelle, die ihnen nur zu oft das Flüstern und Raunen menschlicher Stimmen vortäuschte. Alverson rannen fortwährend trotz der hier unten herrschenden Kühle Schweißtropfen über Stirn und Wangen. Er hatte Furcht, und daraus machte er auch Jenkins gegenüber kein Hehl. Wenn das kalte Entsetzen über diese Lage, in der er sich jetzt befand, ihn wieder einmal packte, dann vermochte er es nur dadurch abzuschütteln, daß er dem Freunde stets dasselbe wiederholte: „Komme ich lebend aus dieser unheimlichen Höhle heraus, so kehre ich mit der nächsten Gelegenheit nach Atlanta zurück und lasse Schatz Schatz sein …! Mein Bedarf an Abenteuern ist überreich gedeckt – überreich!!“ –

Dann endlich gegen fünf Uhr morgens von oben des Knaben helle Stimme:

„Hallo, meine Herren, sind Sie noch da? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie vielleicht im besten Schlaf störe!“

Das war blutiger Hohn. Aber Jenkins hielt es doch für ratsam, sich sofort zu melden.

„Ah, also bereits munter!“ rief Karl Kersten darauf. „Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich werde heute mittag mit Ihrem gut verproviantierten Boot die Insel verlassen und bewohnte Gegenden aufsuchen. – Leben Sie wohl! Hoffentlich auf Nimmerwiedersehn!“

Jenkins und Alverson hörten noch, wie der Knabe oben allerlei Kisten polternd hin und her rückte. Dann wurde es still. So laut sie jetzt auch riefen und brüllten, so hoch und heilig sie auch versicherten, auf jede Bedingung des jungen Deutschen einzugehen, der sie doch nur aus ihrem Gefängnis herauslassen solle, – oben blieb alles still.

Jenkins hielt es in dieser Untätigkeit nicht länger aus, erhob sich und … prallte zurück. Irgend ein rauher Gegenstand hatte sein Gesicht berührt … Da – jetzt wieder … Er griff zu … Es war ein starkes Tau, das bis zu ihnen hinabreichte und ihnen den Weg zum Tageslicht empor vermitteln sollte.

Fünf Minuten später standen sie oben auf der Höhe des Bimssteinberges und sahen gerade noch, wie ihr Boot mit geschwellten Segeln durch die schmale Einfahrt die Lagune verließ … Bald war es am südlichen Horizont verschwunden.

Acht Tage mußten Jenkins und Alverson dann noch auf das Erscheinen des „Vanderbilt“ warten. Sie benutzten diese Zeit dazu, um nach dem Seminolen-Schatz zu suchen, fanden ihn aber nicht. Enttäuscht kehrten sie nachher nach Atlanta zurück. Die Expedition hatte ihnen viel Geld gekostet und … nichts eingebracht – nichts! –

Karl Kersten, der die Goldbarren wohlweislich in ihrem neuen Versteck auf der Südseite des Bimssteinberges zurückgelassen hatte, begegnete bereits am Nachmittag einem schwedischen Dreimaster, der ihn mit nach Mathew Town, dem Haupthafen der Bahama-Inseln, nahm. Hier erkrankte er an Gelbem Fieber, kämpfte wochenlang mit dem Tode und erholte sich dann sehr schwer. Mit Hilfe des deutschen Konsuls in Mathew Town wurde daher erst nach Monaten der Schatz der Seminolen in aller Stille von einem deutschen Dampfer an Bord genommen.

So kam es, daß Karl Kersten endlich am 15. April 1909, also zwei Jahre nach seiner Flucht aus dem Elternhause, die Heimat wiedersah, wo er als längst Totgeglaubter jubelnd empfangen wurde. –

In der Grotte der öden, einsamen Sandinsel östlich von Florida aber ruhen noch heute ungestört die sterblichen Überreste der drei Seminolen und des weißen Häuptlings Matu-Matu …

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Gespenst der Christianklippe.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Ohoi: Vereinzelt gebräuchliche Nebenform von „Ahoi“, deshalb so belassen.
  2. „Seattlescharp“ / „Seattlesharp“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Seattlesharp“ geändert.
  3. „Seminolen-Häuptling“ / „Seminolenhäuptlings“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Seminolenhäuptling(s)“ geändert.