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Das Findlingseiland

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Findlingseiland.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Nach den Enteninseln.

Der Weltkrieg hatte auch auf dem hart an der Seeküste der Danziger Bucht gelegenen Rittergute Schönbusch mancherlei Veränderungen mit sich gebracht.

Der Besitzer, Herr Prager, war ebenso wie der größte Teil der Gutsarbeiter zu den Fahnen einberufen, so daß seine Gattin mit Hilfe des alten Inspektors Rummler die Wirtschaft allein schlecht und recht weiterführen mußte.

Kein Wunder, daß Frau Prager sich unter diesen Umständen schon sehr auf den Anfang der großen Ferien freute, wo ihre beiden Kinder, der vierzehnjährige Fritz und die um ein Jahr ältere Ilse, für Wochen heimkehren und etwas Leben in das jetzt so stille Gutshaus bringen würden. Fritz und Ilse waren in Danzig, der Provinzialhauptstadt von Westpreußen, in Pension und besuchten dort die Schule.

Kurz vor Beginn der Ferien erhielt Frau Prager dann von ihrem Jungen einen Brief, in dem er bat, seinen besten Freund Willi Kersten als Gast nach Schönbusch einladen zu dürfen. Willis Gesundheit sei angegriffen, seine Eltern besäßen jedoch nicht die Mittel, um, wie der Arzt verordnet hätte, ihren Sohn aufs Land in Pflege geben zu können.

Frau Prager kannte Willi Kersten von gelegentlichen Besuchen in Danzig her bereits persönlich und hatte den stillen, fleißigen und bescheidenen Knaben, der offenbar einen recht guten Einfluß auf ihren eigenen, etwas wilden Sprößling ausübte, sehr in ihr Herz geschlossen, so daß sie keinen Augenblick zögerte, an Willis Eltern einen warm gehaltenen Brief zu schreiben, und zu bitten, ihr den erholungsbedürftigen Freund ihres Sohnes für die Ferien anzuvertrauen.

So kam es, daß mit Ferienanfang drei junge, vergnügte Menschenkinder in Schönbusch eintrafen.

Fünf Tage lang hatten Fritz und Willi nun schon die köstliche Freiheit genossen, hatten Felder und Wälder durchstreift und auch mit dem zum Gute gehörigen kleinen Kutter Ausflüge in die Danziger Bucht unternommen, bei denen der alte Gärtner Pricsrak sie stets begleitete, da er früher Fischer gewesen war und etwas vom Segeln verstand.

Das Rittergut Schönbusch, acht Meilen nördlich von dem Badeorte Zoppot gelegen, reichte mit seinen Ländereien, wie schon erwähnt, bis an den Strand der Danziger Bucht. Mit zu Schönbusch gehören auch die sogenannten Enteninseln, fünf kleine Eilande, die, der Seefront des Gutes gegenüber, etwa anderthalb Meilen vom Lande entfernt sind.

Als Willi Kersten zum ersten Mal die Enteninseln, die ihren Namen den dort zu bestimmten Zeiten sehr zahlreich anzutreffenden Wildenten verdanken, besuchte, sagte er zu seinem Freunde Fritz scherzend:

„Hier ließe es sich gut Robinson spielen …! Das müßte ein Spaß sein!“

Fritz Prager nickte daraufhin nur zerstreut. Irgend ein neuer Gedanke schien ihn lebhaft zu beschäftigen.

Am folgenden Tage vertraute er sich dann dem Freunde an.

„Weißt Du, Willi, die Sache mit dem Robinsonspielen, die habe ich mir sehr durch den Kopf gehen lassen“, meinte er. „Wollen wir nicht meine Mutter bitten, daß sie es uns erlaubt, vierzehn Tage ganz allein auf den Enteninseln hausen zu dürfen?“

Willi stimmte sofort eifrig zu, hatte aber doch seine Bedenken, ob Frau Prager ihre Zustimmung geben würde.

Trotzdem rückte Fritz beim Mittagessen am fünften Ferientage mit seinem Anliegen etwas zögernd heraus. – Die beiden Knaben hatten nun insofern Glück, als gerade der Hausarzt der Familie Prager von Zoppot im Auto herübergekommen war, um nach einer Kranken im nahen Dorfe Schönbusch zu sehen.

Sanitätsrat Herbst war ein großer Kinderfreund, der besonders die Ansicht vertrat, daß Jugend austoben müsse, was Geist und Körper gleichmäßig zugute käme. Er unterstützte daher die Bitte der Knaben aufs eifrigste und widerlegte schließlich auch den Einwand Frau Pragers, der Aufenthalt auf den Inselchen könne vielleicht Willi Kersten schaden, der doch gut gepflegt werden solle.

„Schaden?!“ lachte Doktor Herbst. „Im Gegenteil! Er wird sich dort schneller erholen als hier. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!“ – Dies war des Sanitätsrats Lieblingsredensart.

Endlich gab Frau Prager nach. Sie sah selbst ein, daß den beiden Jungen auf den Enteninseln kaum etwas zustoßen könne, stellte aber einige Bedingungen, die genau von den angehenden Robinsons eingehalten werden sollten.

Diese waren, wie man zu sagen pflegt, vor Freude rein aus dem Häuschen. Auch der sonst so stille Willi Kersten fand gar nicht genug Worte, der gütigen Mutter seines Schulkameraden zu danken.

„Es wird ein herrliches Ferienvergnügen werden!“ erklärte er mit leuchtenden Augen. „Und wie richtig Robinsons wollen wir uns alles an Geräten möglichst selbst anfertigen. Wir sind ja in dieser Beziehung keine Neulinge mehr, haben stets mit vielem Interesse die „Erlebnisse einsamer Menschen“ gelesen, die als einzelne billige Bändchen seit ein paar Monaten herausgegeben werden und neben einer spannenden Handlung doch so viel Belehrendes und praktische Winke bringen.“

Der Sanitätsrat lachte vergnügt.

„Na also! Was will man mehr?! Theoretisch seid Ihr dann ja aufs beste vorbereitet! Hoffentlich wird Euch das Einsiedlerleben nicht zu bald langweilig.“ –

Die beiden Knaben baten dann eindringlichst, die bisher Eingeweihten möchten den ganzen Plan doch ja geheimhalten, damit sich auf den Enteninseln nicht etwa neugierige Besucher einfänden, die besser wegblieben, weil sonst „die Illusion total verdorben würde“, wie Fritz sich ausdrückte.

Die bei der Mittagstafel Anwesenden gelobten dann auch feierlichst, strengstes Schweigen zu bewahren.

Gleich nach Tisch begannen die Freunde mit ihren Vorbereitungen. Diese waren einfach genug. Zunächst wurde eine Liste derjenigen Sachen aufgestellt, die man mitnehmen wollte beziehungsweise auf Wunsch Frau Pragers mitnehmen mußte: für jeden zwei Anzüge, ein Lodenumhang, zwei neue wollene Pferdedecken, Wäsche, zwei Paar derbe Stiefel und zwei Wachstuchhüte. Sodann: zwei Luntenfeuerzeuge, ein Beil, eine Säge (sog. Fuchsschwanz), zwei Eisenstangen von verschiedener Dicke, eine alte, große Öltuchplane, die früher zum Bedecken der jetzt verkauften Kutsche benutzt worden war, Nägel, Hammer, Zange und Angelhaken, zwei ausrangierte Emaillekochgeschirre, zwei Blechteller und -näpfe und Konserven aller Art in Blechbüchsen sowie andere Lebensmittel, die für vierzehn Tage reichlich bemessen waren. Endlich noch eine schwarz-weiß- rote Fahne, die an einer hohen Holzstange befestigt werden sollte, und einige alte Wäscheleinen und Bindfaden von verschiedener Stärke.

Die Fahne mußte auf Betreiben Frau Pragers in die Liste mit aufgenommen werden. Von den oberen Fenstern des Gutshauses aus waren nämlich mit Hilfe eines Fernrohrs die Enteninseln deutlich zu erkennen. Wehte die Flagge nicht mehr, so sollte dies ein Zeichen sein, daß etwas Besonderes vorgefallen sei und der alte Pricsrak mit dem Kutter herüberkommen möge. Pricsrak wurde also ebenfalls ins Vertrauen gezogen, was sich ja auch nicht umgehen ließ, da er die Robinsons nach Dunkelwerden nach den Eilanden bringen sollte. Er gelobte jedoch, wie das Grab zu schweigen. Und daß auf ihn Verlaß war, wußte Fritz Prager sehr wohl.

Kurz vor der Abfahrt wäre jedoch das ganze abenteuerliche Ferienvergnügen beinahe noch gescheitert.

Die Knaben hatten ihre Ausrüstungsgegenstände in aller Heimlichkeit nach dem Kutter geschafft, der in einer bis dicht an das Gutshaus in die Küste einschneidenden schmalen Bucht festgemacht war, und verstauten gerade die Konservenbüchsen und die beiden Holzkisten, in denen die meisten anderen Sachen Platz gefunden hatten, als der alte Gärtner erschien, sich sehr bedenklich den grauen Kopf kratzte und erzählte, er habe soeben von einem Manne aus einem der nördlich von Schönbusch gelegenen Dörfer gehört, daß dort vor vier Tagen drei russische, als Erntearbeiter beschäftigt gewesene Kriegsgefangene entwichen seien. Unter diesen Umständen erscheine es ihm doch für die jungen Herren zu gefährlich, allein auf den Enteninseln zu hausen, da ja letztens schon ein paar Russen einen Fluchtversuch in einem Fischerboot gemacht hätten und es nicht ausgeschlossen wäre, daß dies von den jetzigen Flüchtlingen wieder versucht würde, die dann womöglich auf den Eilanden einen vorläufigen Unterschlupf suchen könnten. Er halte es jedenfalls für seine Pflicht, die gnädige Frau – damit meinte er Fritz Mutter – auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen.

Die beiden Knaben redeten dann jedoch so lange auf den Gärtner ein und baten so dringend, bis dieser nachgab und seine Bedenken für sich zu behalten versprach.

Am Mittwoch, den 12. Juli 1916, abends gegen neun Uhr, nahmen die jungen Abenteurer in fröhlichster Stimmung von Frau Prager und Ilse Abschied. Jetzt, wo erstere so recht sah, wie sehr die beiden sich auf ihr Einsiedlerleben freuten, gereute sie ihre Einwilligung nicht mehr. Sagte sie sich doch, daß der Kutter jeder Zeit in einer Stunde etwa nach den Enteninseln hinübergelangen könne, so daß irgend eine Gefahr bei diesem so recht für zwei frische Knaben geeigneten Ferienvergnügen kaum dabei war. Trotzdem schärfte sie Fritz und Willi nochmals die größte Vorsicht in allen Dingen ein und warnte sie vor jeder Waghalsigkeit.

Bald hatte der Kutter dann die kleine Bucht verlassen und steuerte bei leichtem Südwind, der die den ganzen Tag über drohenden Regenwolken jetzt verscheucht hatte, in die offene See hinaus. Ist doch die durch die vorgelagerte Halbinsel Hela gebildete Danziger Bucht so groß, daß man sie mit gutem Gewissen schon als freies Meer ansprechen kann.

Die Freunde waren bereits vorher darüber einig geworden, welche der fünf Inseln, die durch Sunde von verschiedener Breite getrennt wurden, ihr Robinsoneiland werden sollte.

Hierfür kam eigentlich nur die südlichste und größte in Betracht. Deshalb steuerte denn auch der alte Pricsrak, der bei der schnell zunehmenden Dunkelheit etwas zu weit nach Süden abgekommen war und beinahe an den Eilanden vorübergesegelt wäre, jetzt in großem Bogen auf die Ostseite der betreffenden Insel zu, wo es eine schmale Halbinsel gab, auf der man bequem landen konnte, weil sie Schutz vor dem leichten Seegang bot.

Schnell wurde die Ausrüstung der Robinsons auf den Strand geschafft. Dann noch ein fester Händedruck mit dem braven Gärtner, der für derartige „Schrullen“ nicht das geringste Verständnis besaß, und der Kutter verschwand wieder in Richtung nach der Küste zu. –

Die beiden Freunde waren allein. Inzwischen hatte sich am nächtlichen Firmament das zahllose Heer der Sterne eingefunden, die immerhin so viel Licht spendeten, daß man auf nahe Entfernung alles ringsum erkennen konnte.

Fritz schwenkte seine Öltuchkappe und schickte dem davonsegelnden Kutter ein übermütiges „Glückliche Reise!“ nach. Dann sagte er zu Willi Kersten, der sich auf eine der Kisten gesetzt hatte und schon verstohlen gähnte:

„Bilden wir uns ein, wir hätten soeben Schiffbruch gelitten und wären mit diesen Habseligkeiten da glücklich durch eine wütende Brandung an das Ufer gelangt. Unser Robinsondasein beginnt jetzt also. – Was tun wir zunächst?“

„Schlafen“, erwiderte Willi kurz. „Nebenbei – wenn wir das Drama des Schiffbruchs möglichst echt durchmachen wollen, müßten wir eigentlich in unseren Kleidern ein Bad nehmen und auch alle unsere Ausrüstungsstücke gehörig taufen. Trocken ist noch kein Mensch und keine Kiste durch eine Brandung gelangt.“

Fritz lachte. „Das wollen wir lieber bleiben lassen! Ein Schnupfen wäre die Folge, und wir haben bekanntlich auf Taschentücher als überflüssigen Luxus verzichtet. – Doch nun im Ernst gesprochen: wollen wir uns wirklich sofort schlafen legen? – Ich bin noch gar nicht müde, und …“

„Aber ich!“ unterbrach Willi ihn. „Desto früher können wir uns dann morgen erheben. Bringen wir also schnell unsere „aus dem Schiffbruch geretteten Sachen“ mehr nach dem Innern des Eilandes, bereiten wir uns daneben ein Lager und … sagen wir uns gute Nacht!“

Fritz war einverstanden. Nur meinte er, man könne sich die Arbeit sparen, die Sachen erst von hier fortzuschleppen. Wenn sie die beiden Kisten aufeinander stellen würden und die Ölleinwand darüber ausbreiteten, hätten sie eine Art Zelt, unter dem sie ganz gut gegen Regen und Wind geschützt wären.

Das Zelt wurde dann nachher sogar recht geräumig, indem die Knaben die Leinwand nach dem Boden hin straff zogen und ringsum mit Sand bewarfen, der dergestalt die Zeltpflöcke ersetzte. Die warmen Wolldecken ergaben ein weiches Lager auf dem losen Seesand der Halbinsel, und schneller, als Fritz es gedacht hatte, war auch er eingeschlafen.

 

2. Kapitel.

Notsignal geben oder nicht?

Als es draußen schon hell war und durch den Zelteingang ein fahler Schimmer von Tageslicht eindrang, wachte Willi Kersten über dem klatschenden Geräusch von Regentropfen auf, die in reichlicher Menge auf die harte Ölleinwand prasselten.

Er weckte den Freund, da ein Blick auf seine Taschenuhr ihm gezeigt hatte, daß es bereits sieben war.

„Ein wenig schöner Anfang unseres Robinsondaseins, Fritz!“ meinte er, indem er das Zelttuch lüftete und hinausdeutete, wo die See unter den Regenmassen wie in graue Schleier gehüllt schien.

Aber Fritz Prager ließ sich die Laune nicht so leicht verderben. „Mag’s regnen! Einmal muß es ja wieder aufhören!“ sagte er, sich reckend und streckend. „Ich habe jedenfalls großartig geschlafen. Und einen Hunger habe ich – einen Hunger – unglaublich geradezu! Die drei frischgebackenen Kriegsbrote, die meine Mutter uns mitgegeben hat, liegen in der unteren Kiste, ebenso die Büchse mit Pflaumenmus. Hebe mal die obere Kiste etwas an, damit ich alles für unser erstes Frühstück herausholen kann.“

Auch Willi schmeckte der Imbiß selten gut, obwohl er gern einen Schluck warmen Kaffees dazu gehabt hätte.

Der Himmel zeigte sich gnädig. Gegen acht Uhr klärte sich das Wetter auf, die Sonne lugte durch die Wolken hindurch und verhieß einen warmen, freundlichen Tag. Gleichzeitig kam auch eine steife Ostbrise auf, die die Regenfeuchtigkeit mit beseitigen half.

Das Inselchen der beiden Robinsons besaß eine recht merkwürdige Form. Der nördliche Teil war bei einem Durchmesser von hundert Metern ziemlich kreisrund. Dann kam eine kaum zehn Meter breite Landzunge, die nach dem kleineren, eiförmigen Südteil hinüberführte. Dieser schickte wieder die schmale, einige dreißig Meter lange Halbinsel als nach Osten gerichtetes Anhängsel in die See hinaus, wodurch die ovale Form etwas stark verunstaltet wurde.

Beide Teile des Eilandes hatten niedrige Sanddünen, die mit Strandhafer und -disteln bewachsen waren. Sonst gab es an Pflanzen auf dem Inselchen noch verkrüppelte, niedrige Kiefern, einige mit grauen Flechten und fahlen Moosen bedeckte Stellen und als Hauptzierde auf der Südhälfte fünf Erlen, die es bis zu acht bis neun Meter Höhe gebracht hatten und zwischen denen ein kleiner Tümpel lag, der süßes Wasser enthielt und sicherlich von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde. Das Wasser war jedoch nur in gekochtem Zustande genießbar, worauf der alte Pricsrak Fritz noch besonders aufmerksam gemacht hatte.

Die Erlen standen im Kreise um das trübe Wasserbecken herum. Unter dem stärksten dieser Bäume, die feuchten Boden so sehr lieben, gedachten die Freunde ihr Zelt aufzuschlagen. Bevor sie aber an diese Arbeit herangingen, kletterte Fritz bis in die Spitze der Erle hinauf und band hier die mitgenommene Fahnenstange an, so daß das im Winde lustig flatternde Fahnentuch bereits um zehn Uhr vormittags Frau Prager anzeigte, daß es den beiden jungen Robinsons gut ginge.

Nun erst wurde mit dem Bau des Zeltgerippes begonnen. Während Fritz sich mit dem Befestigen des Flaggenstockes abgemüht hatte, war nämlich sein gleichaltriger Gefährte auch nicht müßig gewesen, sondern hatte sowohl den Inhalt der Kisten, diese selbst und alle übrigen Gegenstände von der Halbinsel nach dem Lagerplatz geschafft, so daß man nun sofort an die wichtigste Arbeit, das Errichten einer luftigen Wohnung, sich heranmachen konnte.

Erlenzweige bildeten das Gerippe der bienenkorbförmigen Hütte, die sehr geräumig angelegt wurde, da die als Bedachung vorgesehene Ölleinwand recht groß war. Ein Sandwall, der das Zelttuch straff hielt und gleichzeitig das Eindringen von Nässe verhinderte, wurde zum Schluß außen um die neue Behausung aufgeschüttet, die Platz genug für zwei Mooslager und eine der Kisten bot, in der alles das aufbewahrt wurde, was unter der Nässe leiden konnte.

Für die Konservenbüchsen und die sonstigen Lebensmittel war kein Raum mehr. Man grub daher in der Nähe in einen kleinen Abhang ein wagerechtes Loch, tat die zweite Kiste mit der Öffnung nach vorn hinein, deckte Zweige und Moosstücke darüber und erhielt so eine ganz praktische Vorratskammer, in die außer den Konserven auch noch die Blechdosen mit Kaffee, Tee, Zucker und Salz und die Kartoffeln hineinkamen.

Inzwischen hatten die beiden Freunde zwei Mal kurze Erholungspausen gemacht und sich wieder an Brot mit Pflaumenmus gestärkt.

Jetzt, – mittlerweile war es drei Uhr nachmittags geworden –, hatten sie sich einigermaßen wohnlich eingerichtet und durften nunmehr auch an die Bereitung einer warmen Mahlzeit denken. Ein Kochloch war unweit des Zeltes schnell ausgehoben, ebenso ein Gestell zum Einhängen der Töpfe errichtet. Bald loderte unter den beiden Emaillegeschirren ein lustiges Feuer, das schnell das aus dem Tümpel geschöpfte Wasser zum Sieden brachte.

Als Festessen zur Einweihung von „Villa Entenheim“, wie Fritz das Zelt in Anklang an den Namen der fünf Inselchen taufte, gab es Kaffee, mit kondensierter Milch geweißt, Pflaumenmusbrot und als Hauptgericht Büchsenfleisch mit Kartoffeln zusammengekocht.

Ausgelassen und froh genossen die beiden Knaben die Reize dieses bequemen Robinsonlebens. Jede Arbeit bereitete ihnen Vergnügen. Jeder neue, glückliche Einfall wurde jubelnd begrüßt. Und wiederholt äußerte Fritz, eigentlich wäre die Sache doch noch viel interessanter gewesen, wenn sie nicht all die Dinge mitgebracht hätten, die ihnen den Beginn dieses eigenartigen Ferienvergnügens so sehr erleichterten. – „Mit meiner Mutter ließ sich ja aber nicht reden!“ meinte er. „Sie hat uns ja in ihrer Sorge um unser Wohlergehen geradezu gezwungen, diese ganze Ausrüstung mitzunehmen.“ –

Nach dieser ersten warmen Mahlzeit umwanderten die Knaben dann, immer am Strande entlanggehend, ihr kleines Reich. Hierbei stellten sie fest, daß ihre Hütte nur eben noch mit der Spitze über die höchsten Dünen hinausragte, so daß sie die flache Mulde, in der der Tümpel sich befand, mit einiger Berechtigung „Einsiedlertal“ tauften.

Die nächste der kleinen Inseln war durch einen gut hundert Meter breiten Sund von dem Robinsoneiland getrennt. Sie war lang und schmal, dicht mit niedrigen, vom Sturm tiefgehaltenen Strandkiefern bedeckt und sollte, wie Fritz dem Freunde erzählte, häufig von Seehunden besucht werden, die ja in der Ostsee sehr zum Schaden der Fischerei von Jahr zu Jahr häufiger werden und oft sich in den ausgestellten Netzen derart verwickeln, daß sie lebend gefangen werden können.

Willi Kersten war es, der hier an der Nordspitze des Robinsoneilandes die Anregung zu neuer Arbeit gab, indem er erklärte, es wäre doch eine nette Zerstreuung gewesen, wenn man ein Boot besessen und auch die anderen Inselchen ganz nach Belieben hätte besuchen können.

Fritz griff diesen Gedanken sofort auf. „Ein Boot? – Gut, bauen wir uns doch eins!“ meinte er eifrig. „Wenn wir zum Beispiel eine Erle fällen, so …“

„… so brauchen wir vielleicht Monate dazu, um daraus einen Nachen herzustellen, Du Schlaukopf!“ fiel ihm Willi lachend ins Wort. „Nein, auf das Boot werden wir schon verzichten müssen …!“

Aber Fritz Prager fand doch eine Idee, die sein Freund und Gefährte für durchführbar erklärte. Allerdings mußten sie dann ihre Hütte bedeutend verkleinern, da der Einfall darauf hinauslief, einen Teil der Ölleinwand, die jetzt das Dach des Zeltes bildete, als Überzug für einen Rindenkahn zu benutzen.

Ganz begeistert von dem Gedanken, vielleicht recht bald ein Fahrzeug zu besitzen, mit dem man bei stillem Wetter Ausflüge nach den anderen Eilanden unternehmen könnte, eilten die beiden Knaben auf dem kürzesten Wege nach dem Einsiedlertal zurück, um das Zelttuch einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und das noch am besten erhaltene Stück für den neuen Zweck herauszusuchen. Als sie die die beiden Inselteile verbindende Landzunge passierten, trat Willi Kersten auf einen unter einer dünnen Sandschicht verborgenen, harten Gegenstand, den er zuerst für einen größeren Stein hielt. Da Steine auf dem Inselchen sehr selten waren und die Freunde sich schon nach einem passenden umgesehen hatten, der ihnen als Amboß dienen sollte (wollten sie sich doch Lanzen- und Pfeilspitzen selbst schmieden!) legten sie den vermeintlichen Stein schnell mit den Händen frei.

Zu ihrem Erstaunen entpuppte dieser sich jedoch als ein breites, abgerundetes Baumstück, das wie der Teil einer Mulde ausgehöhlt war.

Immer eifriger buddelten sie nun. Der Schweiß rann ihnen über die Gesichter. Aber die Erwartung gab ihnen ungeahnte Kräfte. – Und dann unterlag es keinem Zweifel mehr: Es war ein sogenannter Einbaum, das heißt, ein zu einem Kahn ausgehöhlter Eichenstamm von fünf Meter Länge, der mit dem einen Ende tief im Sande vergraben lag.

Unwillkürlich stieß Fritz ein jubelndes Hurra aus. – „Das nenne ich einen glücklichen Fund“, rief er frohlockend. „Nun brauchen wir das Zelttuch nicht! Sieh nur, Willi, wie gut das Holz noch erhalten ist. Dabei muß dieser Nachen doch hier schon sehr lange in der Erde liegen. Freilich, es ist Eichenholz, und das fault nicht, sondern wird in der Feuchtigkeit nur schwarz und schwerer an Gewicht.“

Darüber, wie der Einbaum hier mitten auf die Landzunge und so tief in den Sand geraten sein könnte, zerbrachen sie sich nicht weiter die Köpfe.

Und doch deutete dies auf eine wissenschaftlich festgestellte, recht interessante Eigentümlichkeit der Ostsee hin, die darin besteht, daß dieses Meer, obwohl es von ungefähr 250 Flüssen gespeist wird, die seinen Salzgehalt verringern, doch ständig kleiner wird. Die Häfen und Flußmündungen werden jährlich seichter. Städte und Dörfer, welche einst an der Küste angelegt wurden, sind jetzt weit davon entfernt, andere haben dem Meer, um Seestadt zu bleiben, nachrücken müssen, so z. B. Hudwikswall und viele andere Orte. Als Tornea gegründet wurde, fuhren große Schiffe bis in die Stadt selbst. Jetzt liegt es auf einer Halbinsel. Fern vom Meere findet man auch oft Schiffstrümmer und Anker. Die Abnahme des Wassers soll an der schwedischen Küste zum Beispiel in einem Jahrhundert auf eineinhalb Meter berechnet worden sein.

Mithin war mit Bestimmtheit anzunehmen, daß der die beiden Inselteile wie eine Brücke verbindende Landstreifen vor längerer Zeit noch von der See überspült wurde und daß in diesem Sunde der Einbaum gesunken und von Sand bedeckt worden war. Erst die Abnahme des Wassers der Ostsee und das Entstehen der schmalen Verbindung zwischen den einst zwei selbständige Eilande bildenden Inselhälften förderte ihn wieder dem Tageslicht näher. –

Nachdem der Einbaum auch innen von Sand und Seetang befreit war, ließen die Freunde ihn zunächst an Ort und Stelle, da sie jetzt zu müde waren, um ihn sofort bis ins Wasser zu schleppen. Mußten sie sich doch auch erst zwei Ruder anfertigen, um auf „Entdeckungsreisen“ ausgehen zu können.

Die Ruder stellte Fritz Prager aus Kistenbrettern her, die er als Ruderblätter auf starke, sauber abgeschälte Erlenäste nagelte. – Inzwischen war es Zeit geworden, auch an den bereits mahnend knurrenden Magen zu denken. Eine warme Mehlsuppe – die Jungen hatten als Mitglieder des Jungdeutschlandbundes auch allerlei einfache Gerichte kochen gelernt – und ein Schluck kalten Kaffees erfrischte sie derart, daß Fritz vorschlug, sofort den Einbaum auch mit Hilfe der Bretter der bisher im Zelt stehenden und jetzt auseinander gerissenen Kiste mit Rudersitzen zu versehen und zu versuchen, ob man den schwerfälligen Kahn nicht auch zum Segeln einrichten könne. Hammer und Nägel in allen Größen hatten sie ja mitgenommen, und eine der großen Wolldecken mußte als Segel ganz gut zu gebrauchen sein. Da aber der runde Einbaum sehr leicht umschlagen mußte, wollte Willi Kersten diesem Übelstand durch das Anbringen eines Auslegers abhelfen, wie diese von den Südseeinsulanern benutzt werden, die mit ihren Auslegerbooten sogar stürmischem Wetter trotzen.

Über diesen neuen Arbeiten, die die beiden Robinsons am liebsten gleich vollendet hätten, brach jedoch die Nacht herein.

Fest und traumlos schliefen die Freunde bis gegen sechs Uhr morgens. Fritz wachte zuerst auf. Um seinem schwächlicheren Gefährten Gelegenheit zu geben noch länger sich auszuruhen, schlich er ganz leise aus dem Zelt, ging zum Strande hinab und nahm ein Bad. Dann wollte er den Morgenimbiß vorbereiten, fachte die noch glühende Asche des Kochloches zu flackernden Flammen durch Aufwerfen trockenen Reisigs an und wollte nun Wasser auf das Feuer setzen für den Morgenkaffee.

Aber die beiden Emaillegeschirre, die er doch am Abend vorher, wie er sich bestimmt besann, vorn am Eingang unter das Zelt gestellt hatte, waren verschwunden. – Zunächst schöpfte Fritz noch keinerlei Verdacht. Erst als die Kochgeschirre nirgends zu finden waren, wurde er stutzig. Dann glaubte er, sie vielleicht aus Zerstreutheit in die Vorratskammer, die in den Sand eingegrabene Kiste, gestellt zu haben.

Wie entsetzt war er aber, als er diese völlig ausgeräumt fand! Auch nicht eine einzige Konservenbüchse war mehr übrig – nichts lag mehr in der Kiste, nichts …!

Fritz stand wie erstarrt da. Erst wollte er sogleich den Freund wecken. Dann aber überlegte er sich’s anders. Daß irgend welche Leute die Nahrungsmittel gestohlen hatten, war klar. Und diese Leute mußten in einem Boot während der Nacht heimlich auf der Insel gelandet sein, mußten aber auch vorher die beiden Knaben beobachtet haben. Woher wußten sie sonst, daß sie hier auf dem Eiland verhältnismäßig reiche Leute finden würden …?!

Wer aber waren diese Leute gewesen? Etwa Fischer, die in der Nähe an der Küste der Danziger Bucht zu Hause waren …? – Nein, das war ausgeschlossen! Diebe gab’s unter diesen biederen, rauhen Gesellen nicht. Das wußte Fritz nur zu gut.

Dann zuckte er plötzlich wie unter einer schmerzhaften Berührung zusammen. Ein Gedanke war blitzartig in ihm aufgezuckt …: die russischen, entflohenen Gefangenen …! – Ja, die allein kamen hier in Frage!

Sofort begab er sich zum Strande hinab und umschritt die Insel. Irgendwo mußte er ja auf Spuren von größerem Schuhwerk stoßen, als Willi und er es trugen, und auch das Boot, in dem die Diebe gekommen waren, würde ja im Ufersande einen Eindruck hinterlassen haben.

Und tatsächlich – er entdeckte beides! Genau ließen sich die Fährten von drei Paar genagelten Sohlen unterscheiden. – Damit war auch der letzte Zweifel geschwunden.

Nachdem er sich auf diese Weise über den Diebstahl Aufklärung verschafft hatte, weckte er den Freund.

Willi Kersten nahm die unheilvolle Nachricht mit aufrichtiger Betrübnis hin.

„Damit wäre ja nun leider unser schönes Robinsonleben schneller zu Ende, als wir vermuten konnten“, meinte er. „Es bleibt uns jetzt, wo wir nichts Eßbares mehr besitzen, nur eines übrig: geben wir das Notsignal, damit wir abgeholt werden. – Neue Lebensmittel wird Deine liebe Mutter uns sicherlich nicht bewilligen, wenn sie hört, was geschehen ist und wer hier als Täter in Betracht kommt.“

„Notsignal?! Nie und nimmer!“ rief Fritz. „Die Flagge bleibt, wo sie ist! Wir würden uns vor Sanitätsrat Herbst und vor der spottsüchtigen Ilse gehörig blamieren, wenn wir die Flinte so schnell ins Korn werfen würden! Erst wollen wir doch einmal versuchen, ob wir uns nicht selbst das Nötige zum Essen beschaffen können. Vergiß nicht, daß das Säckchen mit Weizenmehl und ebenso die Blechbüchsen mit gemahlenem Kaffee und der kondensierten Milch sowie das Salz im Zelte stehen und daß dort die leere Konservendose von unserem gestrigen Mittagessen liegt, die wir als Kochtopf benutzen können, ebenso wie die Blechbüchsen, in denen sich der Kaffee und die Milch befinden. – Nein – keine Rede von Notsignal geben! Wir bleiben!“

Willi erklärte, schon wieder ganz vergnügt, daß er mit allem einverstanden sei.

 

3. Kapitel.

Eine Entdeckungsreise.

Auch die Blechteller und -näpfe, an die Fritz nicht gedacht hatte, lagen noch im Zelt, so daß die Diebe weniger großen Schaden angerichtet hatten, als es im ersten Augenblick schien. Gestohlen waren lediglich Eßvorräte und die beiden Kochgeschirre.

Sehr bald hatte Fritz den Morgenkaffee fertig, während sein Gefährte aus Mehl und Wasser flache Fladen geknetet und in der Glut halb gar gebacken hatte. Während die Freunde aßen und tranken, überlegten sie hin und her, welche Arbeit sie unter diesen veränderten Umständen zuerst in Angriff nehmen sollten. Sie kamen überein, sofort den Einbaum mit einem Ausleger zu versehen und dann ein Stück von der Insel entfernt Angelschnüre für Dorsche aufzustellen. In welcher Weise dies zu geschehen hatte, wußte Fritz als an der Küste großgewordener Junge ganz genau.

Bereits gegen elf Uhr vormittags war der schwere Nachen ins Wasser geschleppt und mit dem aus einem dicken, geraden Erlenast bestehenden Ausleger, unter den Fritz noch ein zugespitztes Kistenbrett genagelt hatte, fest verbunden worden. Eine kurze Probefahrt auf der windgeschützten Seite des Eilandes bewies die volle Gebrauchsfähigkeit des plumpen Fahrzeuges.

Das Beschaffen von Köder für die Angelhaken – der Dorsch beißt am besten auf Stücke von kleinen Weißfischen – machte den Freunden viel Kopfzerbrechen. Aber schließlich kam Willi Kersten ein guter Gedanke. Er trug Netzunterhemden und hatte davon unter seinem Wäschevorrat noch zwei zum Wechseln mitgenommen. Aus diesen wurden nun, indem man lange Erlenäste, die sich vorn gabelten, an der Gabel mit den zerschnittenen Netzhemden bespannte, recht brauchbare Kescher hergestellt und dann im flachen Wasser des Sundes vom Boot aus auf kleine Fische Jagd gemacht. – So wurde auch diese Schwierigkeit glücklich überwunden.

Nach dem Mittagessen, das wieder nur aus gebackenen Mehlfladen und Kaffee bestand, legte man eine Schnur mit zwanzig Haken aus, die zwischen Holzklötzen hingen, die wieder mit Stricken an Steinen festgebunden und so verankert wurden.

Hierauf versah man den Einbaum mit einem kleinen Mast und einer der Wolldecken als Segel. Fritz Prager stellte diese Segeleinrichtung so geschickt und praktisch her, daß es den Knaben gelang, ohne Ruder ihr Eiland in einer halben Stunde zu umschiffen.

Nun spielte Fritz den Schmied, während Willi aus passenden Erlenästen Bogen, Pfeile und Lanzen schnitzen mußte.

In dem Feuer wurden die Eisenstangen bis zur Rotglut erhitzt und in stundenlanger Arbeit zu Pfeil- und Lanzenspitzen umgeformt. Manchen hierbei nötigen Kunstgriff hatte Fritz dem Gutsschmied abgelauscht. Als Amboß diente ein Stein, und die mitgebrachte Zange leistete jetzt ebenfalls vorzügliche Dienste.

Gegen Abend war alles zur Herstellung der Waffen so weit vorbereitet, daß die Freunde, vor ihrem Zelt sitzend, die feineren Arbeiten vornehmen konnten. Die Pfeil- und Lanzenspitzen wurden ein Stück in das Holz getrieben und dann mit Bindfaden, der mit Harz von den Strandkiefern getränkt war, noch besser befestigt. Ähnlich wurden auch die Bogensehnen aus stärkerem Bindfaden haltbarer gemacht.

Die letzte Hand an ihre neuen Waffen legten die Freunde beim Licht eines hellbrennenden Feuers. Erst gegen Mitternacht suchten sie ihre Lagerstätten auf, nachdem sie nochmals einen Rundgang über die Insel unternommen und dabei ihr Auslegerboot zur Vorsicht weit auf den Strand geschleppt hatten, damit es ihnen nicht etwa gestohlen würde.

Willi Kersten, den die Seeluft und die ungewohnten körperlichen Anstrengungen sehr müde gemacht hatten, schlief sofort ein. Anders sein Freund, den die Gedanken an die russischen Flüchtlinge munter hielten. Er gab sich alle Mühe, gleichfalls den Schlaf herbeizuzwingen. Es gelang ihm aber nicht. Im Gegenteil, eine unbestimmte Unruhe trieb ihn schließlich leise aus dem Zelt ins Freie. Er nahm den Bogen, drei Pfeile und die Lanze mit und schlich, stets hinter den Strandkiefern Deckung suchend, nach der Stelle hin, wo der Einbaum lag.

Die Sommernacht war warm und hell. Am Himmel kein Wölkchen, dafür das Heer der Sterne und der Mond, der schon recht tief stand. Leise rauschten an der Westseite des Eilandes bescheidene Wellen, und der schwache Nachtwind säuselte mild in den Zweigen der verkrüppelten, niedrigen Kiefern.

Fritz Prager empfand den eigenartigen Reiz dieser Stunde wie etwas nie Gekanntes. Die Einsamkeit, des Bewußtsein des auf sich selbst Angewiesenseins spannte alle seine Sinne. Jetzt sah er den Kahn vor sich. Nichts Verdächtiges war in der Nähe – nichts. Er ließ seine Blicke weiter auf die See hinausschweifen. Da stutzte er.

Dort, wo sie die Angelschnüre ausgelegt hatten, bemerkte er ein Boot. Schreck und Wut packten ihn. – Kein Zweifel, die drei Leute in dem Boot konnten nur die russischen Soldaten sein, die die Angeln plündern wollten. Ohne lange zu überlegen rannte er jetzt zum Strande hinab, formte die Hände zum Sprachrohr und rief, nein, brüllte mit aller Kraft: „Weg da, Schufte, – weg sonst …!!“ – Die eigentliche Drohung sprach er nicht mehr aus. Bemerkte er doch, daß das Boot schleunigst in die offene See hinausgerudert wurde, wo es bald in dem dämmerigen Zwielicht verschwand.

Fritz war überzeugt, daß die Flüchtlinge keinen Versuch mehr wagen würden, sich dem Eiland zu nähern. Er kehrte daher in das Zelt zurück, um sich wieder niederzulegen, fand aber Willi Kersten bereits wach vor.

Als dieser hörte, was der Freund beobachtet hatte, erklärte er, für alle Fälle nun seinerseits am Strande die Wache übernehmen zu wollen. Damit war Fritz wieder nicht einverstanden. Jedenfalls dachte schließlich keiner von beiden an Schlaf. – Inzwischen war es draußen auch immer heller geworden. Der neue Tag zog herauf. Die Freunde kamen nun überein, sofort die Angelschnüre nachzusehen. Den Morgenimbiß wollten sie nachher einnehmen.

Zu ihrer großen Beruhigung stellten sie fest, daß die Angelschnüre noch vorhanden waren, und daß drei Dorsche an den Haken hingen.

Die Haken wurden mit neuem Köder besteckt, und schon eine knappe Stunde später hatten sie zwei der Dorsche in Salzwasser zusammen mit Mehlklößen abgekocht und erhielten so eine recht kräftige Mahlzeit.

Während sie mit Behagen aßen, verabredeten sie für den Vormittag einen Ausflug nach den anderen vier Eilanden. Fritz hatte nämlich die Vermutung ausgesprochen, daß die Russen womöglich eine der Enteninseln als Versteck benutzten. Dies mußte sich ja unschwer herausbekommen lassen, da das Boot den Aufenthaltsort der Flüchtlinge verraten würde.

Nachdem man als Proviant eine Anzahl Mehlfladen gebacken hatte, füllte man eine der Kaffeebüchsen mit kaltem Kaffee, um auch etwas Trinkbares mitzunehmen.

Das Wetter war für die Entdeckungsreise sehr günstig: Sonnenschein und auch ein leichter Wind, der den Auslegernachen schnell nach dem nächsten Eiland brachte. Dieses wurde erst einmal ganz umfahren. Dann stieg Fritz, bewaffnet mit Lanze, Pfeil und Bogen, an Land, um das langgestreckte Inselchen zu durchsuchen. Er fand jedoch nicht das geringste Verdächtige.

Auch die nächsten beiden Inselchen, die noch winziger waren und kaum einige verkrüppelte Kiefern als Vegetation besaßen, waren „von Feinden frei“, wie Fritz melden konnte.

Das fünfte Eiland lag etwa vierhundert Meter nördlich von dem vierten in der Reihe. Es wich in seiner Gestalt aber wesentlich von den anderen ab. Während diese lediglich aus Sandmassen bestanden, zeigte es insofern felsigen Charakter, als hier nur der flache Strand sandig war, während das Innere eine Menge sogenannter erratischer Blöcke enthielt, die wild übereinander getürmt waren und auf denen hier und da Gräser und kleine Kiefern Wurzel geschlagen hatten.

Diese erratischen (irrenden) Blöcke, auch Findlingsblöcke genannt, sind Zeugen der Eiszeit unserer Erde und durch Gletscher aus dem hohen Norden sogar bis tief nach Mitteldeutschland hineingeschafft worden. Man stößt auf sie allerorten, selbst in großen, sandigen Heiden, wie die Tucheler und Lüneburger es sind. Manche dieser enormen Steine, zumeist Granit, haben riesige Abmessungen. Bei einigen ist es tatsächlich kaum möglich gewesen festzustellen, wie tief sie in die Erde hinabreichen.

Willi Kersten, der die Natur dieser gewaltigen Felsblöcke sofort richtig erkannt hatte, fand für das Inselchen, das recht unregelmäßige Gestalt besaß, sofort den passenden Namen: Findlingseiland.

Auch hier wollte Fritz allein nach Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen, besonders nach einem Boot, das den Russen ja zur Verfügung stand, sich umsehen.

Aber sein Freund widersprach diesmal. „Ich möchte mir das Findlingseiland auch einmal von der Spitze des höchsten der Blöcke anschaun“, meinte er. „Daß die Flüchtlinge sich hier befinden, dürfte ausgeschlossen sein. Wir haben das Inselchen ja umsegelt und kein Boot bemerkt. Dieses aber hier auf die Felsen zu schaffen und zu verbergen, ist bei deren steilen Wänden so gut wie unmöglich.“

So wurde denn der Auslegernachen ein Stück auf den Sand gezogen und zur Vorsicht, damit die Wellen ihn nicht etwa entführten, noch mit einem Tau an einer Gesteinzacke festgebunden. Dann kletterten die beiden Robinsons über die Blöcke und standen bald auf dem höchsten, etwa sechs Meter über dem Wasserspiegel befindlichen Punkt des Inselchens. Dieser Stein bildete eine kleine, sanft geneigte Plattform, und von hier aus vermochte man nicht nur das Findlingseiland selbst, sondern auch die übrigen vier nach Süden zu in einer Reihe liegenden Inseln zu überblicken. Im Westen und Süden zog sich die Küste der Danziger Bucht als dunkle Bogenlinie hin, während von der Halbinsel Hela im Norden nicht [einmal][1] ein Schimmer der hellen Dünen zu erkennen war.

Das Findlingseiland selbst hatte einen größten Durchmesser von vielleicht achtzig Meter. Die wirr übereinander geworfenen Blöcke boten ohne Frage manches Versteck, so daß die Freunde gewissenhaft alles absuchten, ob nicht irgendwo jemand sich verborgen halte. Sie waren sich sehr wohl bewußt, daß, falls die Flüchtlinge hier wirklich einen Schlupfwinkel gefunden hatten, eine Begegnung nicht ganz ungefährlich sein würde, und hielten daher ihre Waffen bereit, die im Notfalle zu benutzen sie sich bestimmt vorgenommen hatten.

Doch das Inselchen lag einsam und harmlos da. Nur ein paar Möwen, die hier nisteten, jagten die Freunde auf.

Die weißen Vögel stiegen mit mißtönendem Kreischen auf und umflogen in eleganten Kurven die beiden Knaben, die schon wieder nach ihrem Einbaum zurückkehren wollten, als Fritz auf eine Menge leerer Nester wies, neben denen viele Möweneierschalen lagen.

„Hiergewesen sind die Russen ohne Zweifel“, meinte er. „Die geplünderten Nester beweisen es. Vielleicht hat ihnen jetzt erst der uns gestohlene Proviant die Möglichkeit gegeben, ihre Flucht fortzusetzen.“

Gleich darauf segelte der Auslegernachen wieder nach dem Robinsoneiland zurück.

Dieser Ausflug hatte die Freunde recht beruhigt. Wußten sie doch nunmehr, daß die entsprungenen Kriegsgefangenen sich nicht in der Nähe aufhielten und vielleicht auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.

 

4. Kapitel.

Unheimliche Nachbarschaft.

Nachmittags gegen drei Uhr landeten Fritz und Willi wieder auf ihrer Insel, die ihnen jetzt schon wie ein Stück Heimatserde vorkam. Nichts hatte sich während ihrer Abwesenheit verändert. Unberührt stand das Zelt da, und aus dem Kochloch stieg ein feiner Rauchfaden auf, der verriet, daß die Moose und Flechten noch glühten, die Fritz vorsorglich zur Unterhaltung des Feuers aufgeschüttet hatte.

Diese primitive Kochgelegenheit sollte jetzt, wie die Freunde auf der Rückfahrt von dem Findlingseiland verabredet hatten, einem ordentlichen Herde Platz machen. Willi Kersten hatte nämlich beim Wasserschöpfen am Morgen festgestellt, daß der Boden des kleinen Beckens in der Mitte aus einer blaugrauen, tonartigen Ablagerung bestand, so daß sich daraus ohne Frage kleine Ziegel formen lassen mußten, die erst an der Sonne getrocknet und dann im Feuer noch mehr gehärtet werden sollten.

Barfuß und mit aufgekrempelten Beinkleidern stiegen die Knaben jetzt in den Tümpel hinein, schöpften mit Brettern, denen sie die Gestalt von kleinen Spaten gegeben hatten, den Ton heraus und formten diesen nachher zu Ziegeln.

Während sie noch mit dieser Arbeit beschäftigt waren, erhielten sie ganz unerwartet Besuch. Ein als Hilfskreuzer in Dienst gestellter kleiner Dampfer, der auf einer Patrouillenfahrt in der Danziger Bucht begriffen war, hatte die wehende Flagge auf dem Baume bemerkt und ein Boot ausgesetzt, um nachsehen zu lassen, was es mit der Fahne auf sich habe.

Der junge Marineleutnant, der die Freunde beim Tonziegelstreichen überraschte, hatte sich schnell von der Harmlosigkeit der beiden freiwilligen Robinsons überzeugt. Fritz berichtete ihm dann auch, daß sie ein verdächtiges Boot mit drei offenbar entflohenen Russen in der verflossenen Nacht bemerkt hätten, eine Mitteilung, die den Offizier zu allerlei Fragen veranlaßte. Den Diebstahl des Proviants verheimlichte Fritz jedoch. Er wollte nicht, daß man ihnen Ersatz für die verschwundenen Lebensmittel anböte, fürchtete auch, dieses Geschehnis könnte durch einen Zufall zur Kenntnis seiner Mutter gelangen, die sie dann vielleicht aus Angst um ihre Sicherheit zurückrufen würde.

Nachdem der Hilfskreuzer wieder davongedampft war, meinte Willi Kersten, der sehr befriedigt die lange Reihe der Tonziegel überblickte, man könnte diese doch eigentlich sofort zum Bau eines Herdes benutzen, da ja das Feuer diesen austrocknen werde. Fritz hatte einige Bedenken, erklärte sich aber schließlich mit dem Vorschlag einverstanden.

Der Herd wurde darauf mitten im Zelt errichtet und erhielt sogar einen Schornstein, der durch das Zeltdach hindurchgeführt wurde. Ein alsbald unternommener Kochversuch bewies, daß der Herd allen Ansprüchen genügte. Um die dazu verwendeten Ziegel schneller zu trocknen, wurde bis zum Abend ein durch trockene Erlenäste genährtes Feuer unterhalten.

Als Fritz oben aus dem Schornstein den Rauch lustig aufwirbeln sah, kam ihm ein neuer Gedanke: den Schornstein konnte man sehr gut gleich als Räucherofen zum Räuchern von Fischen benutzen! – Ein paar Tage später, als auch einige Flundern an die Dorschangeln gegangen waren, gab es daher auf dem Robinsoneiland als angenehme Abwechslung ganz vortrefflich geratenen Räucherfisch. Das Räuchern von Flundern war Fritz ja nichts Neues. Wer an der „Waterkant“ groß wird, lernt so manches kennen, was dem Binnenländer zeitlebens ein Geheimnis bleibt.

In der Nacht stellte sich Regen ein, und es wurde auch empfindlich kühl. Die Freunde waren froh, daß der durchhitzte Ofen das Zelt angenehm erwärmte. Auf diese Weise hatten sie es recht behaglich und schliefen denn auch bis gegen acht Uhr.

Leider taten die Schleusen des Himmels ihnen nicht den Gefallen, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Dorschangeln nachgesehen werden mußten. Es blieb Fritz und Willi also nichts anderes übrig, als in strömendem Regen nach ihrer Angelstelle in dem Auslegernachen hinauszufahren. Heute fanden sie dafür aber auch fünf prächtige Dorsche an den Haken, so daß diese eine gute Entschädigung für den reichlich feuchten Ausflug in See bildeten.

Erst am Abend wurde der Himmel wieder klar. Den Tag über hatten die Freunde in ihrem Zelt sich mit allerlei nützlichen Arbeiten beschäftigt, besonders mit dem Anfertigen neuer Pfeile für ihre Bogen. Ebenso hatten sie im Herde ständig ein tüchtiges Feuer brennen lassen, so daß die Tonziegel auch auf der Außenseite schnell trocken und hart wurden. Kleine Ritzen, die sich durch die Hitze bildeten, waren bald mit Ton verschmiert.

Nachdem der Regen aufgehört hatte und der Himmel völlig klar geworden war, begaben die Freunde sich zum Strande hinab, nahmen ein Bad und machten dann noch einen Spaziergang am Strande entlang um die Insel herum, wobei sie mit dem Bogen nach allen möglichen Zielen schossen, um sich zu üben.

Fritz war ohne Frage der bei weitem bessere Schütze, wie er ja überhaupt seinen Gefährten sowohl an Körperkraft als auch an Geschicklichkeit übertraf. Willi Kerstens Fähigkeiten lagen eben mehr auf geistigem Gebiet. – Als sie die schmale Landbrücke überschritten, die die beiden Teile der Insel verband, bemerkte Fritz am Südweststrande der Nordhälfte des Eilandes einen Seehund, der ein Stück auf den Strand gekrochen war, jetzt aber beim Erscheinen der Knaben unbeholfen zum Wasser watschelte und klatschend und spritzend darin verschwand, bevor noch die Freunde nahe genug herangekommen waren, um einen Pfeil anzubringen.

Diese Begegnung mit dem Seehund machte sie jetzt vorsichtiger. Sie hielten sich ein Stück vom Ufer ab, da die Jagdlust in ihnen erwacht war und sie zu gern einen der den Fischern so verhaßten Räuber erlegt hätten. Zunächst schien es so, als ob sich ihnen heute keine Gelegenheit mehr bieten würde, ihre Schießfertigkeit auch an einem lebenden Ziele zu erproben.

Dann aber, als sie den Nordteil umrundet hatten und sich wieder der Landbrücke näherten, erspähte Willi diesmal als erster einen Seehund, der gerade auf das Ufer kroch. Vielleicht war es derselbe, den sie vorhin verscheucht hatten.

Sofort warfen sie sich der Länge nach hin und verhielten sich ganz regungslos. Die mißtrauische Robbe stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. Nur sehr langsam schob das Tier, das beinahe zwei Meter maß, sich weiter auf den Strand hinauf, drehte immer wieder vorsichtig den Kopf mit den großen Augen nach allen Seiten und prustete und stöhnte, als ob diese wenigen Schritte über Land es sehr anstrengten.

Dann begann der Seehund, der sich nun ganz sicher zu fühlen schien, sich behaglich im Sande zu wälzen. Diese Gelegenheit benutzten die Freunde, um, gedeckt durch ein paar Hügel, sich dem Tiere bis auf etwa zehn Meter zu nähern.

Jetzt glaubten sie die Beute sicher zu haben. Leise verabredeten sie, wie sie die Robbe angreifen wollten. Während Willi Kersten vorläufig liegen blieb, sollte Fritz in eiligem Lauf dem Seehund den Rückzug nach dem Wasser abzuschneiden suchen.

Fritz erledigte denn auch seine Aufgabe ebenso schnell wie geschickt. Die Robbe war durch das Auftauchen des menschlichen Feindes so überrascht, daß sie sekundenlang bewegungslos still lag. Da fuhr ihr auch schon des jungen Gutsbesitzersohnes Lanze dicht unter der rechten Brustflosse in den Leib, und gleich darauf auch die Willi Kerstens in den feisten Rücken. Doch keine der Wunden war tödlich. Mit überraschender Geschwindigkeit rutschte der Seehund, dem die Lanzen noch im Körper hafteten, nach dem Wasser zu, und nur Fritz Prager gelang es noch, seine Wurfwaffe schnell herauszuziehen, bevor das Tier sich in das feuchte Element warf, wo es sofort untertauchte. Trotzdem konnten die Knaben genau feststellen, wohin der Seehund sich wandte, da hin und wieder der Lanzenschaft über der Wasseroberfläche erschien und so den Weg anzeigte, den die wunde Robbe einschlug.

Diese entfernte sich kaum dreißig Meter vom Ufer und schwamm dann auf die Spitze der Halbinsel zu, die der Südteil der Insel wie eine Zunge nach Osten zu in die See hinausschickte.

Fritz und Willi waren, förmlich glühend vor Jagdeifer, am Strande dem flüchtenden Tiere gefolgt. Jetzt tauchte der Schaft der Lanze immer weiter aus dem Wasser auf. Offenbar steuerte die Robbe nach einer Sandbank hin, die etwa zehn Meter vor der Spitze der Halbinsel lag. Sehr bald wurde dann auch der runde Kopf des Seehundes sichtbar, und langsam schob der aufgespießte Fischräuber sich nun auf den hellen Sand hinauf. So schwerfällig und in so großen Pausen zwischen jeder Bewegung geschah dies, daß Fritz dem Freunde frohlockend zuflüsterte, das Tier sei offenbar schwerer verletzt, als es anfänglich schien.

Inzwischen war die Dämmerung längst hereingebrochen. Es wurde dunkler und dunkler. – Die beiden Robinsons hatten sich auf allen Vieren fast bis an das äußerste Ende der Halbinsel geschlichen, um die Robbe besser beobachten zu können und vielleicht auch einen neuen Angriff zu unternehmen, als der Seehund alle möglichen Versuche anzustellen begann, um die Lanze loszuwerden. Er peitschte mit der Schwanzflosse wild das Wasser, stieß vor Wut kreischende Töne aus und wälzte sich auch hin und her, wodurch er sich die lange Eisenspitze nur noch tiefer in den Rücken drückte.

Plötzlich packte Willi Kersten mit hartem Griff den Arm des Freundes.

„Da – links von der Sandbank – sieh nur, welch seltsames Geschöpf …, eine ungeheure Spinne …!“ – Er war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte.

Und diese Erregung war durchaus begründet. Auch Fritz starrte jetzt ganz entgeistert auf das merkwürdige Ungeheuer, das sich, immer höher aus der See auftauchend, auf den ahnungslosen Seehund zuschob, indem es nach Art der Spinnen vorwärtsglitt.

Willi Kersten preßte den Arm des Freundes abermals mit schmerzhaftem Druck. – „Weißt Du auch, was das dort für ein Tier ist?! Ein Krake – eine Riesentintenschnecke! Nie hätte ich gedacht, daß diese Schneckenart auch in der Ostsee vorkommt! Sieh nur den schleimigen, gallertartigen Körper und den scheußlichen Kopf mit dem Papageienschnabel, dazu die Fangarme, die doch gut fünf Meter lang sind …!“

Der Knabe irrte sich nicht, wenn er das unheimliche Geschöpf zur Gattung der Weichtiere gehörig und als Tintenschnecke bezeichnete. Die Kraken sind eine riesige Abart dieser Tiere, die sämtlich in einem Beutel eine dunkle Flüssigkeit mit sich führen, mit der sie, sobald sie verfolgt werden, das Wasser weithin trüben, um sich ihren Feinden auf diese Weise zu entziehen. Freilich – die Kraken haben es wohl kaum nötig, sich zu diesem Zweck unsichtbar zu machen. In ihren Fangarmen, die aus einer knorpeligen Masse und unten große Saugnäpfe haben, ebenso in dem hornigen Schnabel besitzen sie außerordentlich gefährliche Waffen. Eigentlich sind sie Bewohner der Tiefsee, kommen aber auch in flacheren Meeren, wie die Ostsee es ist, vor. 1873 und 1880 griffen solche Ungetüme von etwa drei Meter Körperlänge und sieben Meter langen Fangarmen ein paar Fischer in Booten in der Nähe der schwedischen Küste an, und 1882 wieder trieb ein verendeter Krake unweit Trelleborg ans Land. –

Das Schauspiel, das die Knaben jetzt erlebten, war in seinen Einzelheiten so entsetzlich, daß sie vor Aufregung fast zitterten.

Die Riesentintenschnecke hatte sich lautlos dem verwundeten Seehund genähert, stürzte sich jetzt auf ihn, umschlang ihn mit den Fangarmen und suchte ihn ins tiefere Wasser zu ziehen. Die Robbe wehrte sich verzweifelt, stieß vor Angst heisere Schreie aus und biß wild um sich.

Das Wasser schäumte hoch auf, so blitzschnell waren die Bewegungen der ungleichen Gegner. Aber bald wurde der Seehund matter und matter. Immer weiter zog der Krake ihn von der Sandbank fort. Und dann plötzlich ein letztes Aufwallen des Wassers, und beide Tiere verschwanden unter der Oberfläche gerade an einer Stelle, wo der Meeresboden, wie Fritz beim Baden festgestellt hatte, sehr steil abfiel und offenbar einen förmlichen Abgrund bildete.

Wie befreit atmeten die Freunde auf, als das Scheusal, dieser einer enormen Kreuzspinne gleichende Meeresbewohner, mit seinem Opfer sich ihren Blicken entzogen hatte.

„Entsetzlich!“ sagte Willi Kersten leise. „Mir ist ganz schwach bei diesem Anblick geworden. – Überhaupt“, fügte er matt hinzu, „ich fühle mich heute gar nicht recht wohl. Ich glaube, das Bad hat mir geschadet. Das Wasser war sehr kühl, fand ich.“

Fritz war sofort äußerst besorgt um den Freund. Sie traten schnell den Rückweg nach ihrer Behausung an und Willi mußte sich dann sogleich niederlegen. Er wurde in alle vorhandenen Decken eingehüllt, und der Freund kochte ihm dann von frischen Kienäpfeln der Krüppelkiefern einen Tee, den der alte Pricsrak schon immer als Hausmittel zur Erzeugung eines wohltuenden Schweißes empfohlen hatte. Diese Wirkung trat auch wirklich sehr bald ein, so daß zu hoffen war, Willi würde die Erkältung ohne weitere nachteilige Folgen schnell überstehen. –

Die Ostsee besitzt in der Tat, obwohl sie ein verhältnismäßig kleines und flaches Wasserbecken mit sehr viel Zuflüssen aus dem Binnenlande ist, eine bedeutend geringere Wasserwärme als die großen Ozeane, die doch unmittelbar mit den Eismeeren der beiden Pole in Verbindung stehen, so daß Willi Kerstens Bemerkung über die niedrige Temperatur des genommenen Bades auf Ursachen sich stützte, die von der Wissenschaft längst erkannt sind. Je salzhaltiger das Meerwasser, desto geringeren Temperaturschwankungen unterliegt es und desto leichter erwärmen sich die Oberschichten unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen. Der Salzgehalt der Ostsee nimmt nun vom Kattegatt bis zum Bosnischen Meerbusen von ein Zwölftel bis ein Fünfzigstel ab und ist im Durchschnitt bedeutend kleiner als der der anderen Meere. Sie friert deshalb auch leichter zu; namentlich die nördlichen Teile bilden in strengen Wintern große, weit in die See hinausreichende Eisflächen. Daß die Danziger Bucht bis Hela hin im Winter gefriert, ist gar keine Seltenheit. –

Zur großen Freude Fritz Pragers war dessen weniger abgehärteter Gefährte am nächsten Morgen wieder vollkommen munter und wohlauf. Trotzdem wurde ihm noch für diesen Tag „Bettruhe“ verordnet, damit ja kein Rückfall eintrat.

Um den Freund nicht allzuviel allein zu lassen, hielt Fritz sich daher auch zumeist in der Nähe des Zeltes auf, dessen Decke er am Eingang weit zurückgeschlagen hatte, damit der Patient den Platz vor dem luftigen Heim überschauen konnte. Nur nach den Angelschnüren sah er, brachte wieder vier Dorsche mit heim und fing nachher mit dem Kescher Köderfischchen.

Im übrigen ereignete sich bis zum Abend nichts von Wichtigkeit. Da dieser recht warm und windstill war, verließ Willi vor dem Nachtmahl sein Lager und begleitete dann den Freund bei dem gewohnten Spaziergang um die Insel herum.

Unwillkürlich lenkten die Knaben ihre Schritte zunächst nach der nahen Halbinsel. Hier fanden sie zu ihrer Überraschung den häßlich verstümmelten Kadaver des Seehundes im flachen Wasser liegen. Die Wellen mußten ihn wohl erst vor kurzem angespült haben. Die Lanze steckte merkwürdigerweise noch im Rücken, so daß Willi Kersten wieder in Besitz seiner Wurf- und Stichwaffe gelangte.

Während die Freunde noch damit beschäftigt waren, die tote Robbe, der große Fetzen Fleisch überall von den Knochen gerissen waren, auf den Strand zu ziehen, tauchte vor ihnen auf der Sandbank urplötzlich der Krake auf, verschwand aber sofort wieder, als habe er sich nur nach seiner gestrigen Beute umsehen wollen.

Gespannt warteten die Knaben nun dicht neben dem Seehund eine gute halbe Stunde, ob das Ungetüm vielleicht die Robbe wieder in die Tiefen seines nassen Jagdgebietes schleppen würde. Aber der Krake erschien nicht. Nur einmal war es Fritz, als ob er unweit des Ufers unter der Wasseroberfläche eine verdächtige Bewegung sehe. Er mußte sich aber wohl getäuscht haben, da sich nichts mehr blicken ließ.

Die Freunde waren recht enttäuscht. Hatten sie doch gehofft, aus sicherer Entfernung dem Ungeheuer ein paar Pfeile in den Leib jagen zu können. –

Zwei weitere Tage gingen dann nur zu schnell für die freiwilligen Robinsons hin, die mit Bedauern feststellten, daß die ihnen bewilligten zwei Wochen ihnen wie ein schöner Traum verfliegen würden. Hatten sie doch jetzt bereits die Hälfte dieser Zeit frischer, froher Ungebundenheit hinter sich.

In diesen zwei Tagen fingen sie an den Dorschhaken einige Flundern, die kunstgerecht geräuchert wurden. Ferner schmolzen sie den Rückenspeck des feisten, toten Seehundes aus und gewannen so den nötigen Tran zu einer Lampe, machten auch kleine Segelfahrten mit dem Auslegerboot und versuchten vergeblich, eine Robbe, die sie am Strande des nächsten Eilandes bemerkten, zu erlegen. Das scheue Tier rettete sich aber schleunigst in das Wasser, und die Freunde hatten das Nachsehen.

Am Spätnachmittag des zweiten Tages erlebten sie dann noch eine besondere Überraschung: sie erhielten Besuch! – Frau Prager, Ilse und Sanitätsrat Herbst kamen, von dem alten Gärtner als Bootsmann begleitet, im Kutter von Schönbusch herüber.

Fritz schnitt zuerst ein klägliches Gesicht, als er seine Mutter erblickte, fürchtete er doch, diese wolle ihn und Willi zurückholen. Doch er täuschte sich. Als Frau Prager sah, wie behaglich die Knaben sich eingerichtet hatten und wie gesund und sonnverbrannt sie waren, ließ sie sich sogar erweichen, die Erlaubnis zur Fortsetzung dieser eigenartigen Sommerfrische bis kurz vor Ferienschluß zu geben. Allerdings unterstützte Doktor Herbst die Bitten der Freunde auf das nachdrücklichste.

Trotzdem waren die beiden Robinsons froh, als der Kutter abfuhr. Fürchteten sie doch, daß das Verschwinden ihrer Lebensmittel bemerkt werden könne. Fritz nahm jedoch bei guter Gelegenheit den alten Pricsrak beiseite und bat ihn, ihnen unauffällig recht bald einen Sack Kartoffeln und Mehl herüberzubringen.

Frau Prager hatte auch ihrerseits daran gedacht, daß den Knaben entsprechend der verlängerten Erlaubnis zum Verbleiben auf der Insel der Proviant ergänzt werden müsse. Fritz hatte jedoch erklärt, sie besäßen noch so reichlich von allem, daß dies nicht nötig sei, zumal sie ja auch durch Fischfang viel zur Bereicherung des Küchenzettels selbst beitrügen.

 

5. Kapitel.

Das Geheimnis des Findlingseilands.

Der alte Gärtner, der den beiden Freunden sehr gewogen war, obwohl er deren Schwärmerei für „so ein Zigeunerleben“ nicht begriff, erschien mit dem Kutter am nächsten Morgen schon kurz nach Sonnenaufgang. Außer Mehl und Kartoffeln brachte er auch noch Kaffee, Zucker und Salz mit.

„Fett konnte ich nicht auftreiben“, erklärte bedauernd. „Kriegsjahre sind eben magere Jahre – was aber niemandem etwas schadet, höchstens unseren braven Feldgrauen an der Front. Für die müßte alles da sein – alles, wenn wir anderen auch entbehren.“ –

Leider trat jetzt eine Periode recht unfreundlichen Wetters ein, wie ja überhaupt der Sommer 1916 es allzu gut mit Regen und Sturm meinte.

Vier Tage konnten die Knaben ihr Zelt kaum verlassen. Nur die notwendigsten Arbeiten nahmen sie im Freien vor. Und jetzt konnten sie sich glücklich schätzen, daß sie sich den Herd nicht außerhalb des Zeltes errichtet hatten. Das Feuer ging in diesen vier Tagen nicht aus, und wenn abends die Kiefernäste im Ofen prasselten und die Tranlampe ihr spärliches Licht verbreitete, wenn der Sturm die Erlen schüttelte und die Regenschauer auf das Zeltdach herabklatschten, fühlten die beiden Freunde sich recht behaglich, zumal ihre Behausung ja so tief in den Dünen eingebettet lag, daß die Hauptkraft der Windstöße unschädlich darüber hinwegfuhr.

Und doch sollte gerade in diesen Tagen, wo sie fast gänzlich an ihr warmes Heim gefesselt waren, mancherlei sich ereignen, was die Knaben erst als eine Verkettung von Zufällen hinnahmen, um dann später aber über den wahren Zusammenhang in für sie recht bedrohlicher Weise aufgeklärt zu werden.

Zunächst war der tote Seehund, von dem nach Entfernung einiger Rückenspeckstücke immerhin noch eine ganze Menge übriggeblieben war, gleich am ersten Morgen der Regenperiode verschwunden, obwohl man den Kadaver mitten auf die Halbinsel geschafft und dort mit Zweigen zugedeckt hatte, um die gierigen Möwen davon zurückzuhalten. Die Freunde glaubten bestimmt, daß nur der Krake der Entführer sein könne.

Dann brachten die Angelschnüre jetzt plötzlich so gut wie gar keinen Fang mehr ein. Ein Dorsch oder eine Flunder – das war nunmehr das ganze Ergebnis eines Tages. – „Natürlich sind Robben die Diebe“, sagte Fritz wütend, als er am Morgen des vierten Unwettertages mit Willi Kersten zusammen im Auslegerkahn, von der Fangstelle kommend, der Insel wieder zusteuerte, wobei sie sehr geschickt ihr schwerfälliges Fahrzeug behandeln mußten, da die See selbst unter Wind des Eilandes recht unruhig war.

Schließlich fanden sie am Westufer ihres Inselchens dann noch eine russische, ganz durchweichte Soldatenmütze. Die konnte von wer weiß woher hier angetrieben sein und erschien ihnen der Beachtung kaum wert. – Und doch begingen sie, gerade was diese Mütze anbetraf, einen schweren Denkfehler. Sie hätten beachten müssen, daß diese wassergetränkte Kopfbedeckung mit ihrer dicken Pappeinlage unfehlbar im Wasser untergesunken wäre und niemals eine größere Strecke von den Wellen fortgetragen sein konnte.

Auch jetzt brachte der Abend einen Witterungsumschlag. Der ungünstige Nordwest drehte immer mehr nach Süd, und gegen sechs Uhr nachmittags am vierten Tage zeigte sich am Himmel der erste blaue Fleck zwischen dem sich lichtenden Gewölk. Und wieder eine Stunde später hörte auch der letzte feine Sprühregen auf. Es gab dann einen wundervollen Sonnenuntergang, der die See weithin mit Sonnenschein übergoß.

Der Wind schlief fast zusehends ein, und die noch vor zwei Stunden aufgeregt gegen den Nordweststrand des Robinsoneilandes anrennenden Wogen waren bald nur noch harmlose, lustige Wellen, die sanft gegen das Ufer brandeten.

Nachdem die Freunde ihre Abendmahlzeit im Freien eingenommen hatten, beschlossen sie, einmal eine nächtliche Bootfahrt um die Inselgruppe zu wagen, eine Zerstreuung, an die sie bisher nicht gedacht hatten. Ausgerüstet mit ihren Waffen, steuerten sie, getrieben von dem linden Südwind, an der Ostseite der Eilande ziemlich dicht am Ufer entlang, da sie hofften, vielleicht einen Seehund erwischen zu können.

Tatsächlich bemerkten sie in der hellen Sommernacht am Strande der dritten Insel eine Robbe, die recht weit sich vom Wasser entfernt hatte und anscheinend schlief.

Lautlos näherte sich der Nachen dem Platze, wo der walzenförmige, dunkle Körper des Fischräubers sich scharf vom Sande abhob. Der Seehund wurde das Auslegerboot denn auch nicht früher gewahr, bis es knirschend sich auf das Ufer schob und die Freunde, jeder mit einer Lanze in der Hand, auf ihn eindrangen.

Der arme, plumpe Bursche, der nur im Wasser äußerst behende ist, fand durch zwei Lanzenstiche einen schnellen Tod. – Es war ein mächtiges Exemplar, und Fritz vergaß nicht den Freund jetzt darauf aufmerksam zu machen, daß der Danziger Fischereiverein für jeden Seehund eine Fangprämie von zwei Mark bezahle und daß das Kilogramm Robbenspeck von einem Händler in Zoppot für 20 Pfennige angekauft würde. – „Eigentlich müßten wir also die Fahne einziehen, damit der Kutter von Schönbusch herüberkommt“, meinte er weiter. „Aber ich fürchte, daß wir meine Mutter durch das Notsignal zu sehr erschrecken. – Nein – lassen wir’s lieber bleiben. Vielleicht zeigt sich morgen ein Fischerboot, das wir heranwinken und dem wir unsere Beute übergeben können. Jedenfalls ist’s ehrlich verdientes Geld, mein lieber Willi, das wir auf diese Weise einheimsen. – Komm’ laß uns unsere Beute ein Stück weiter ins Innere der Insel ziehen. Morgen früh bringen wir sie dann nach dem Robinsoneiland.“

Diese erfolgreiche Jagd hatte die Knaben doch fast eine Stunde aufgehalten, so daß sie erst gegen Mitternacht das nördlichste Inselchen, diesen wirren Haufen erratischer Blöcke, umruderten. Hier nützte ihnen ja das Segel nichts mehr, da der Wind ihnen auf dem Rückwege gerade entgegen kam.

Ein Zufall war’s, daß sie um die Nordspitze in sehr großem Bogen herumfuhren. Fritz ruderte langsam und gemächlich, während Willi Kersten vor sich hinträumend im Stern des kleinen Fahrzeuges saß.

Plötzlich sanken Fritz die Arme schlaff herab … Dann ein paar leise Worte zum Freunde hin, und beide duckten sich tief in den Nachen hinab …

Von dem Findlingseiland hatte gerade ein Boot abgestoßen. Noch zur rechten Zeit hatte Fritz es bemerkt. Fünf Leute befanden sich darin …

Es konnten nur geflüchtete Russen sein …!! – Ganz tief schmiegten die Knaben sich in ihren Nachen hinein, der zum Glück eine so geringe Bordhöhe besaß, daß er auf weitere Entfernung kaum zu bemerken war.

Das fremde Boot verfolgte denn auch ruhig seinen westlichen Kurs, der es etwa in der Nähe von Schönbusch an das Gestade der Danziger Bucht bringen mußte. Bald war es in der Ferne verschwunden, und die beiden Freunde konnten beruhigt aufatmen.

Da packte den stets unternehmungslustigen Fritz das Verlangen nach einem besonderen Abenteuer.

„Ich gehe jede Wette ein, daß die Russen auf dem Findlingseiland doch einen Schlupfwinkel haben müssen!“ sagte er ganz aufgeregt zu seinem Gefährten. „Und diesen Schlupfwinkel müssen wir entdecken! Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu. Der Feind ist fort, und wir können in aller Ruhe das Inselchen absuchen. – Oh – nun weiß ich auch, wer unsere Angeln geplündert, und wer die Mütze an unserem Strande verloren hat! Vielleicht haben uns auch diese Flüchtlinge die Reste des Seehundes gestohlen – vielleicht! – Vorwärts, Willi, – wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Das eine ist ja nun sicher, daß wir uns sehr geirrt haben, als wir annahmen, die Russen hätten diese Gegend längst verlassen …!“ –

Wenige Minuten später näherte sich der Einbaum dem Inselchen, und gleich darauf begannen die Freunde die Steinblöcke zu erklettern. Dies ging nicht ganz ohne Lärm ab.

Fritz hatte sich gerade auf ein schmales Granitstück geschwungen, um von dort in eine ziemlich tiefe Kluft zwischen den Felsen hinabzuklimmen, als dort unten wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt sich aufrichtete und dem Knaben ein paar russische Worte zurief – sicher in der Annahme, einen seiner Landsleute vor sich zu haben, der vielleicht mit dem Boote nochmals zurückgekehrt war.

Fritz war vor Schreck förmlich zur Salzsäule erstarrt. Jetzt hatte der Russe erkannt, wer dieser ungebetene Besucher war. Mit einem lauten Fluch sprang er auf den Knaben zu, packte ihn am linken Fuß, da er weiter nicht hinaufreichte, und drohte in schlechtem, aber doch verständlichem Deutsch:

„Herunter zu mir! Du sollst nicht mehr spionieren, dafür sorgen wir schon! – Aber – wo ist Dein Freund – wo?!“

„Ich bin allein hier – bin mit unserem Boot eben gelandet“, rief Fritz mit bebender Stimme, denn jetzt hatte ihn die Angst erfaßt und malte ihm ein schreckliches Ende aus.

Der Russe zerrte ihn nun mit Gewalt zu sich herab und schleppte ihn an eine Stelle, wo ein flaches Felsstück den Eingang zu einer von mehreren Blöcken gebildeten Höhle halb verbarg. Das Felsstück ließ sich, wie sich später zeigte, leicht ganz vor den Zugang zu diesem recht geräumigen Versteck rollen, so daß nur ein Eingeweihter ihn aufzufinden vermochte.

In dem unheimlichen Loche brannte eine sicherlich gestohlene billige Öllaterne. Der Geruch besagte Fritz, daß der Docht mit Tran gespeist wurde. Außerdem lagen in der Höhle eine ganze Menge von allerlei Gegenständen, die gleichfalls nur durch Raubzüge erworben sein konnten, darunter auch die Konservenbüchsen und die Kochkessel der Knaben.

Der Russe, ein kleiner, magerer Bursche von recht verwildertem Äußeren, griff jetzt nach einem Strick und hatte im Handumdrehen Fritz Prager kunstgerecht gefesselt, warf den wehrlos Gemachten wie ein Bündel auf den harten Steinboden und stürmte wieder ins Freie. Nach einer Viertelstunde, die Fritz eine Ewigkeit dünkte, kehrte er wieder zurück.

„Du scheinst die Wahrheit gesprochen zu haben“, sagte er etwas freundlicher. „Weshalb bist du aber allein in Eurem Boot hierher gekommen?“ fügte er mißtrauisch hinzu.

„Mein Freund ist krank“, log Fritz, der inzwischen schon wieder zuversichtlicher geworden war. „Ich wollte Robben jagen. Wir brauchen Tran für unsere Lampe.“

Der Russe nickte zerstreut. Er schien sich irgend etwas zu überlegen. Dann sagte er:

„Was mit Dir geschieht, darüber werden wir beraten, wenn meine Kameraden zurückgekehrt sind. Vielleicht geben wir Dich frei, wenn Du schwörst uns nicht verraten zu wollen.“

Dann setzte er sich in eine Ecke, holte eine Flasche hervor und tat hin und wieder einen tiefen Zug. Öfters gähnte er auch, schloß zuweilen die Augen, riß sie mit Gewalt wieder auf und … schlief trotzdem nach einer Viertelstunde fest ein. Sein gurgelndes Schnarchen übertönte zum Glück den leisen Ruf freudiger Überraschung, den Fritz ausstieß, als plötzlich eine behende Gestalt in die Höhle schlüpfte … – Es war Willi Kersten, der den spähenden Blicken des Russen entgangen und dann aus Sorge um den Gefährten in die Kluft hinabgestiegen war, wo ihm das laute Schnarchkonzert des Feindes einen kühnen Gedanken eingab.

Im Augenblick hatte er die Fesseln Fritz Pragers zerschnitten. Nun glitten sie eiligst aus dem Loche hinaus. Ein paar geflüsterte Sätze, und sie waren einig, was nun zu geschehen hätte. Behutsam rollten sie den flachen Stein vor den engen Eingang, suchten dann abgesprengte Stücke der Findlingsblöcke zusammen und verbauten damit den Verschlußstein der Höhle derart, daß dieser sich von innen nicht fortbewegen ließ. Auch ihre Lanzen stemmten sie noch als Stützen fest gegen den flachen Fels, der jetzt sicherlich allen Befreiungsversuchen des eingeschlossenen Russen trotzen würde.

Dann saßen sie in ihrem Nachen, spannten das Segel auf, und Fritz griff außerdem noch zu den Rudern. So ging’s in recht flotter Fahrt auf die Westküste der Danziger Bucht zu.

Genau um zwei Uhr morgens trafen sie vor dem Gute ein. Zur Bewachung der dreißig in Schönbusch arbeitenden Kriegsgefangenen waren im Inspektorhause zwei Landsturmleute einquartiert. Diese wurden zuerst geweckt, dann der Inspektor Rummler und der alte Pricsrak. Und gegen halb drei Uhr bereits stach der Kutter nach den Enteninseln wieder in See, ohne daß sonst jemand etwas von dem Besuche der Knaben gemerkt hätte.

Rummler, der früher Wachtmeister bei der Kavallerie gewesen war, hatte für sich und den alten Gärtner je ein Jagdgewehr mitgenommen. Auch die beiden Landsturmleute waren mit Gewehren Modell 71 bewaffnet, so daß der Ausgang dieser Expedition kaum zweifelhaft sein konnte.

Inzwischen begann im Osten der Himmel sich lichter und lichter zu färben. Der Morgen brachte eine frische Brise mit, die die Segel des Kutters prall füllte, so daß dieser schäumend durch die leicht bewegte See schnitt.

Rummler hatte den Oberbefehl über die kleine Schar übernommen und war ganz begeistert in dem Gedanken, dem Vaterlande durch Wiedereinfangen der Russen nun auch einen kleinen Dienst leisten zu können.

Gerade als das Findlingseiland in Sicht kam – Pricsrak hatte vortrefflich die Richtung eingehalten –, bemerkte Fritz mit seinen scharfen Augen im Norden ein Boot, das offenbar ebenfalls der nördlichsten der Enteninseln zustrebte. Rummler hatte ein Jagdglas umgehängt, und mit Hilfe dieses erkannte man in dem Boot sieben Leute, und zwar waren es ohne Zweifel sämtlich entflohene Kriegsgefangene.

Nach kurzer Beratung hielt der Kutter auf das Boot zu.

Jetzt schoß er dicht daran vorüber. – Die Flüchtlinge hatten kaum die Uniformen der Wehrmänner erblickt, als sie ihre Sache auch schon verloren gaben.

Sie zogen die Ruder ein und streckten vor den drohend auf sie gerichteten Gewehrmündungen zum Zeichen der Ergebung die Arme hoch, worauf Rummler das Boot von dem Kutter ins Schlepptau nehmen und wieder auf die Küste zusteuern ließ.

Eine Stunde später saßen die sieben Leute in sicherem Gewahrsam im Keller des Inspektorhauses. Dann erst wurde auch der in die Höhle des Findlingseilands eingesperrte Russe ohne weitere Zwischenfälle abgeholt. – –

* * *

Das Robinsonleben der beiden Freunde erreichte durch dieses Ereignis ein schnelles Ende. Frau Prager erlaubte nicht, daß die Knaben nach der Insel zurückkehrten, was man einem ängstlichen, treusorgenden Mutterherzen nicht verdenken kann.

Die wiederaufgegriffenen Russen sagten später aus, daß zunächst nur drei von ihnen, die zufällig den Schlupfwinkel auf dem Inselchen entdeckt hatten, dort hausten, diese dann aber auch die übrigen zur Flucht verleitet hätten. Das einem Fischer entwendete Boot war von ihnen tagsüber, mit Steinen beschwert, dicht am Strande versenkt worden, damit es ihre Anwesenheit auf der Insel nicht verrate. –

Fritz und Willi versichern noch heute jedem, der sie über ihre Ferienerlebnisse ausfragt, daß die Tage auf dem Robinsoneiland stets zu ihren schönsten Erinnerungen gehören werden.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Die Grönlandfahrer.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. Wort in der Vorlage unleserlich. Sinngemäß ergänzt.