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Das Geheimnis von Kap Hoorn

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Geheimnis von Kap Hoorn.

 

W. Belka.

 

Chamisso: „Kap Hoorn.“

„Ein kühner Seemann[*1] gab Dir seinen Namen.
Und jeder, der Dich sturmumtobtes Riff
Glücklich umsegelt hat mit seinem Schiff,
Spricht ein Gebet, sagt drei Mal Amen.“

 

1. Kapitel.

Peter Brakens Dank.

„Sie können mir ruhig die Wahrheit sagen, Landsmann. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Schlimmes habe ich nie begangen. Und wegen der kleinen Sünden wird Gott mir ein gnädiger Richter sein. – Also – nicht wahr, – es geht mit mir zu Ende …?“

Der Krankenwärter schwieg und schaute zur Seite.

Da glitt es wie ein Lächeln über des alten Seemannes verwittertes, jetzt so bleiches Gesicht.

„Keine Antwort ist auch eine Antwort“, meinte er. Dann schaute er sich vorsichtig um. Sein Bett stand allein etwas abseits von den anderen in einer Ecke des großen, hellen Krankensaales. Niemand von den übrigen Patienten achtete außerdem auf die beiden.

„Setzen Sie sich einen Augenblick zu mir, Blochstädt“, fuhr Peter Braken leise fort. „Ich habe Ihnen etwas Wichtiges anzuvertrauen. – So – beugen Sie sich tiefer herab. Mir fällt das Sprechen schwer … – In den drei Wochen, die ich hier nun wie ein Wrack festliege, das demnächst ganz auseinanderfallen wird, haben Sie mich treu gepflegt und sich wirklich als Landsmann mir gegenüber benommen. Ich habe Sie in dieser Zeit kennen gelernt – besser vielleicht, als Sie sich selbst kennen, Blochstädt. Was Sie drüben im deutschen Vaterlande gewesen sind, weiß ich nicht. Ich vermute aber, Offizier. Ihnen ist’s dann schlecht gegangen hier in Südamerika, jämmerlich schlecht. Vieles haben Sie versucht, und es doch zu nichts gebracht. Nun sind Sie hier in Punta Arenas als Krankenwärter gestrandet. – Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie so viel Pech in allem gehabt haben? Weil Sie zu gutmütig sind!! – Gutmütigkeit ist ein Erbfehler unseres Volkes. Wer sich heutzutage durchsetzen will, muß geradeaus sehen und die Ellenbogen kräftig gebrauchen. Allzu gutmütig ist dumm, aber auch … leichtsinnig! Und dafür büßen Sie jetzt. Man hat Sie hier ausgenutzt, bestohlen, betrogen, hat gute Ideen verwertet, die aus Ihrem Kopfe stammten. Sie haben mir ja so manches von Ihren hiesigen Erlebnissen erzählt. – Werden Sie hart, Blochstädt! Selbstsucht ist ja kein schöner Charakterzug. Aber zwischen Selbstsucht und Gutmütigkeit gibt’s noch ein Mittelding. Und das ist das rechte! – Sie sind noch jung, fünfundzwanzig vielleicht …“

„Vierundzwanzig“, verbesserte Blochstädt.

„Nun gut. – Das Leben liegt also noch vor Ihnen. Und ich möchte Ihnen aus Dank für Ihre treue Sorge um mich alten Mann dieses Leben so etwas erleichtern, womöglich die Rückkehr nach Deutschland, den Weg in die Heimat, ebnen … – Es ist kein Zufall, daß ich hier nach Punta Arenas gekommen bin. Eine ganz bestimmte Absicht führte mich her, und eine merkwürdige Geschichte hängt damit zusammen. – Vor drei Jahren fuhr ich als Matrose auf einer schwedischen Brigg. Wir kamen von Hongkong und waren nach Pernambuco in Brasilien bestimmt. Als wir in die Gegend von Kap Hoorn gelangten, herrschte dort das übliche Unwetter. Trotzdem wollte unser Kapitän das berüchtigte Vorgebirge umschiffen. Unser eine Mast ging verloren, und schließlich scheiterten wir auf einem Riff westlich der Hermiten-Inseln, deren südlichste, eine 300 Meter hohe, nackte, schwarze Felspyramide, die schroff aus den Fluten aufsteigt, das berühmte Kap Hoorn ist. Die haushohen Wogen machten das Aussetzen von Booten unmöglich. Ich hatte mir zwei Schwimmwesten umgeschnallt, und als die Brigg – sie hieß „Stockholm“ und war ein morscher Kasten – in Stücke ging, riß mich eine Welle mit fort; ich schluckte so viel Wasser, daß ich ohnmächtig wurde, und kam dann erst wieder nach Stunden zu mir. Ich lag auf einem schmalen Felsengrat halb im Wasser, das in ziemlich starker Strömung einen Kanal zwischen gewaltigen Felsenmauern durchfloß. Um hier nicht elend umzukommen, war ich gezwungen, mich der Strömung auf gut Glück anzuvertrauen. Sie brachte mich schließlich, nachdem sie verschiedentlich sich verzweigt hatte, in ein hochgewölbtes, natürliches Felsentor, das etwa zweihundert Meter lang war. Mitten darin war ein jetzt mit rotem Rost vollständig überzogener Dampfer auf einer Klippe festgefahren. Es gelang mir jedoch nicht, das Wrack, das hier offenbar schon Jahrzehnte lag, zu erklettern. Die Strömung riß mich weiter fort. Nur den am Heck in erhabenen Goldbuchstaben stehenden Namen und Heimathafen vermochte ich gerade noch zu entziffern: „Marietta, Le Havre“. – Endlich traf ich auf eine Stelle, wo die schroffen Felswände des Kanals die Möglichkeit boten, sie zu erklimmen. So gelangte ich auf das Hochplateau einer Insel, die mit zu den Hermiten gehörte. Wie ich hier mein Leben ein ganzes Jahr lang als Robinson kärglich gefristet habe, wie ich endlich von dem Boot eines amerikanischen Walfischfängers aufgenommen wurde, das ist eine abenteuerliche Geschichte für sich. Jedenfalls hütete ich mich, irgend jemandem etwas von meiner Entdeckung, dem Wrack der „Marietta“, mitzuteilen, da ich überzeugt war, daß der Dampfer seiner Zeit, von der Besatzung bereits verlassen, durch dieselbe Strömung, die auch mich mit fortgetragen hatte, in das Felsentor hineingelangt und daß er seitdem von mir als erstem lebenden Menschen wieder aufgefunden war. Sind doch die stets von Stürmen umbrausten Hermiten so ungefähr die unwirtlichste und daher am seltensten besuchte Inselgruppe, die es in so großer Nähe eines Kontinentes gibt. Außerdem ist ein Landen auf einem dieser kahlen Eilande mit so großen Gefahren wegen der starken Brandung, der Meeresströmungen und der Riffe und Klippen verbunden, daß es niemandem einfallen wird, sein Leben für die Besichtigung nackter, dunkler Felsmassen aufs Spiel zu setzen. – Nach einem halben Jahre war ich in Le Havre. Heimlich zog ich hier genaue Erkundigungen über die „Marietta“ ein. So erfuhr ich, daß dieser eiserne Dampfer im Jahre 1889 mit einer sehr wertvollen Ladung von Gold, Edelsteinen, Elfenbein, Tierfellen und Palmöl den Hafen von Singapore verlassen habe und schließlich als verschollen erklärt worden sei, nachdem er zuletzt westlich von Kap Hoorn gesehen war.“

Der alte Seemann schwieg jetzt mehrere Minuten, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.

Blochstädt reichte ihm ein Glas Limonade, und gierig schlürfte der Kranke das eisgekühlte Getränk.

Dann fuhr Peter Braken fort:

„Mein Entschluß war sofort gefaßt. Nach dem internationalen Seerecht gehörte das Wrack und die Ladung des Dampfers dem, der sie fand. Leider besaß ich jedoch nicht die Geldmittel, um das Unternehmen, das mir vorschwebte, sogleich durchführen zu können. Anderthalb Jahre habe ich dann jeden Pfennig gespart, bis ich so viel zurückgelegt hatte, um mir einen Kutter erwerben zu können und das Wrack zu besuchen. So kam ich schließlich mit meinen Ersparnissen hier nach Punta Arenas, der einzigen Stadt, von der aus ich meine Expedition beginnen konnte, da sie ja den Hermiten am nächsten liegt. Aber das Schicksal wollte es anders. Gleich nach meiner Ankunft erkrankte ich an Lungenentzündung. Und nun … ist’s aus mit mir.“

Wieder machte der Seemann eine längere Pause. Die Schilderung seiner Abenteuer und Pläne hatte ihn selbst erregt.

„Meine Hoffnung auf einen sorgenlosen Lebensabend wird sich nicht erfüllen“, fügte er dann schmerzlich hinzu. „Gott hat es eben nicht gewollt … Aber dafür hat er mir gerade Sie, einen Landsmann, in den Weg geführt, damit das Geheimnis von Kap Hoorn einem Deutschen zugute käme. Ich habe keine Angehörigen, keine Freunde. Sie, Blochstädt, sind der einzige Mensch, der ganz uneigennützig an mir gehandelt hat. Sie sollen mein Erbe sein. Ich besitze etwa tausend Mark. Davon begraben Sie mich zunächst recht schlicht. Und dann tun Sie, was, Ihnen am richtigsten dünkt. Aber – vergessen Sie den Rat eines alten Mannes nicht: die Mittellinie zwischen Selbstsucht und Gutmütigkeit, – das ist das beste! – Reichen Sie mir jetzt Feder und Papier. Ich will über meine geringe Habe eine letztwillige Verfügung treffen. Und – ehe ich’s vergesse: hier ist eine Zeichnung der Hermiten-Gruppe und der Insel, an deren Südseite sich der Kanal und das Felsentor befinden.“

Er nestelte ein flaches Ledertäschchen, das ihm an einer Schnur auf der Brust hing, los und reichte es Blochstädt.

„Nehmen Sie …! Wenn mich nicht alles trügt, ist dieses Täschchen Millionen wert …!“ – –

Am nächsten Morgen war Peter Braken verschieden.

Blochstädt sorgte für ein anständiges Begräbnis, mußte auch noch Brakens Aufenthalt im Lazarett bezahlen und behielt daher von der ererbten Summe genau noch 700 Mark übrig.

Was er nun tun sollte, darüber war er sich bisher nicht schlüssig geworden. Zu gern hätte er mit irgend einem Menschen über das seltsame Vermächtnis des alten Seemannes gesprochen. Er selbst besaß ja leider recht wenig Tatkraft, hatte sich bisher stets vom Strome des Lebens einfach treiben lassen und daher auch schon verschiedentlich Schiffbruch gelitten. Obwohl er nun bereits ein halbes Jahr in Punta Arenas weilte, wo er aus Not die schlechtbezahlte, schwere Stelle als Krankenwärter angenommen hatte, gab es nur einen einzigen Menschen, an den er sich näher angeschlossen hatte.

Ernst Gerlich war eine Waise. Seine Eltern, ausgewanderte Deutsche aus der Provinz Posen, hatten im südlichsten Teile von Chile in der Nähe von Punta Arenas eine kleine Viehfarm besessen, waren dann plötzlich kurz nacheinander gestorben und ließen ihr einziges Kind, da die Farm sehr verschuldet war, in Not und Elend zurück. Aber der vierzehnjährige Ernst, ein sehr kräftiger, aufgeweckter Bursche, war so leicht vom Schicksal nicht unterzubekommen. Etwa zu derselben Zeit, als Blochstädt den Krankenwärterposten übernahm, fand er in demselben Lazarett eine vorläufige Anstellung als Lehrling in der Lazarettapotheke. Bald wurden die beiden Deutschen näher bekannt und bezogen schließlich in einem Nebengebäude zusammen eine kleine Stube, so daß sie nun auch abends noch Gelegenheit hatten, über die deutsche Heimat und manches andere zu sprechen.

Die Warnung, die Peter Braken seinem Landsmann so nachdrücklich erteilt hatte, war nun bei diesem beinahe auf zu fruchtbaren Boden gefallen.

Blochstädt hatte gewiß alle Veranlassung, seinem kleinen Freunde volles Vertrauen zu schenken, der mit großer Zuneigung an ihm hing. Aber schlechte Erfahrungen, die ihm erst durch des alten Seemannes zur Vorsicht mahnende Worte so recht zum Bewußtsein gekommen waren, machten ihn jetzt übertrieben mißtrauisch.

So verging noch eine ganze Woche, ehe die Entscheidung durch Ernst Gerlichs Entschluß fiel, zur See zu gehen und als Schiffsjunge auf einem chilenischen Dampfer seine neue Laufbahn bereits in den nächsten Tagen zu beginnen. Als der Knabe dies Blochstädt mitteilte, befiel den Besitzer des Geheimnisses der „Marietta“ ein heißer Schreck. Hatte er doch immer wieder bei sich den Gedanken erwogen, seinen kleinen Freund in dieser Angelegenheit um Rat zu fragen und ihn dann als Begleiter mit auf die Fahrt nach den Hermiten zu nehmen.

Jetzt, wo er Ernst für immer zu verlieren fürchtete, teilte er ihm endlich alles mit, was Braken ihm auf dem Sterbelager über die Auffindung des Wracks und dessen wahrscheinliche Ladung erzählt hatte.

Ernst Gerlich war sofort Feuer und Flamme für die Sache.

„Natürlich suchen wir den Dampfer auf – natürlich! – Das, was wir für diese Expedition brauchen, ist bald eingekauft. Hier in Punta Arenas bekommen wir alles Nötige – sicherlich auch einen halbwegs noch seetüchtigen, gedeckten Kutter. Zum Glück sind wir beide auf dem Wasser keine Neulinge mehr. Sie waren ja mal auf der Jacht eines brasilianischen Millionärs Kajütwärter, und ich bin oft genug mit Fischern draußen in der Magalhaens-Straße gewesen. Kündigen Sie also Ihre jetzige Stellung, wie ich dies auch getan habe zum ersten November, und dann – frisch ans Werk!“ – –

Zehn Tage später war alles zur Abreise bereit. Einen Kutter hatte Blochstädt dem Sekretär des deutschen Konsuls in Punta Arenas billig abgekauft. Das Boot war dem Herrn nicht mehr elegant genug. Er wollte sich für kleine Vergnügungstouren eine Zwölfmeter-Jacht zulegen. – Weiter hatten die beiden Schatzsucher Waffen, Munition, die notwendigsten Werkzeuge und Proviant in Konservenform angeschafft, – alles angeblich für eine Küstenfahrt nach Azintos, dem nächsten chilenischen Hafen an der Westküste Südamerikas, wo sie, wie sie überall erzählten, sich ihr Brot fernerhin als Übernehmer von kleinen Frachten nach einsamen Küstenplätzen verdienen wollten.

Punta Arenas hat in den letzten zwanzig Jahren sehr an Bedeutung verloren. Früher, als der Schiffsverkehr noch die Magalhaens-Straße wegen der Gefährlichkeit der Umschiffung des Kap Hoorn bevorzugte, war es ein vielbesuchter Hafenort. Jetzt jedoch, wo zumeist Dampfschiffe, die ruhig den Stürmen des gefürchteten Vorgebirges trotzen und die teuren Lotsengelder der gewundenen Durchfahrt zwischen der Südspitze Südamerikas und den vorgelagerten Inseln sparen wollen, den überseeischen Gütertransport besorgen, kommt nur noch selten ein Segelschiff nach dem chilenischen Hafen.

Für das stille Punta Arenas war die beabsichtigte Reise der beiden Deutschen daher ein Ereignis, das viel besprochen wurde. Die meisten sagten ein unglückliches Ende voraus, da bis Azintos einige hundert Seemeilen in einem meist recht stürmischen Fahrwasser zurückzulegen waren.

Als der Kutter daher am Morgen des 4. November 1909 seinen bisherigen Liegeplatz verließ, hatte sich am Hafenbollwerk eine ganze Menge Volk eingefunden, die die beiden Wagehälse mit allerlei Zurufen meist spöttischer Art beehrten.

 

2. Kapitel.

Der falsche Kurs.

Nehmen wir eine etwas ausführlichere Karte von Südamerika zur Hand, so sehen wir, daß Punta Arenas an der Ostseite der noch zum Festlande gehörigen Halbinsel Braunschweig liegt. Ihr gegenüber, getrennt durch die Magalhaens-Straße, erheben sich die unwirtlichen Gestade der düsteren Insel Feuerland, die ungefähr die Form eines Dreieckes hat, in dem ein Wasserarm eine, wiederum nur ungefähr, von der nach Südosten gerichteten Spitze auf die Grundlinie gefällte Senkrechte darstellt. Diese Grundlinie wird mit von der Insel Dawson gebildet, die sich genau südlich von Punta Arenas von Norden nach Süden erstreckt. Der Südseite von Feuerland sind wieder eine Unzahl kleinerer und größerer Felseneilande vorgelagert, von denen die bedeutendsten die Hoste- und die Navarin-Insel sind. Letztere ist durch die Nassau-Straße von den Hermiten getrennt, einer Reihe wildzerklüfteter Inseln, die teilweise wie rauchgeschwärzte Ruinen uralter Burgen steil und unzugänglich aus dem ständig von Stürmen gepeitschten Meere aufsteigen.

Der Kutter mit unseren beiden Abenteurern, die sich wohlweislich mit einer genauen Karte dieser Inselgruppen und einem alten Schiffskompaß versehen hatten, hielt zunächst Kurs auf die Insel Dawson zu, deren Nordspitze am Abend des ersten Tages in Sicht kam.

Der bisher recht günstige Wind schlief jedoch nach Dunkelwerden völlig ein, dichte Regenwolken, hier eine alltägliche Erscheinung, sperrten das Sternenlicht ab, und strömender Regen hüllte bald Land und Wasser in dunkle Schleier ein.

Mit dem kleinen Anker fanden die Gefährten keinen Grund und mußten sich daher auf gut Glück einer Strömung überlassen, die zwischen der Insel Dawson und dem Festlande nach Süden zu, wie die in die Karte eingezeichneten Pfeile andeuteten, entlangführte und mithin dem Kutter recht günstig war, der eine Durchfahrt zwischen der Insel Desolation und dem Westteile von Feuerland benutzen wollte, um die offene See zu erreichen.

Am anderen Morgen verglich Blochstädt Karte, Uferbildung und Kompaß miteinander und glaubte sicher zu sein, daß der Kutter sich auf dem richtigen Wege befinde. Zwar fiel es den beiden Freunden bald auf, daß sie nicht einem einzigen Segler oder Fischerboote in den nächsten drei Tagen begegneten. Sie machten sich hierüber aber weiter keine Gedanken und setzten ihre Fahrt unverdrossen fort, die freilich durch Windstille und Gegenwinde häufig genug unterbrochen wurde, so daß man dann den Kutter mit Hilfe der langen Ruder mühsam in eine der überaus zahlreichen Buchten hineindrängen mußte, um hier günstigeres Wetter abzuwarten.

So gingen zwölf Tage hin. Die kühnen Abenteurer fühlten sich auf ihrem kleinen Fahrzeug recht wohl. Nur der häufige Regen, heftige Stürme, die das Fahrwasser zwischen den Inseln kreuzen, zu[1] gefährlichen Wellen aufpeitschten, brachten sie bisweilen in Lagen, in denen es ihrer ganzen Geistesgegenwart bedurfte, um nicht irgendwo auf einer Klippe oder Untiefe zu stranden.

Dann aber machte Ernst Gerlich, der soeben an einem sonnenklaren Vormittag die Karte mit dem Bilde der umliegenden Felsenküste verglichen hatte, ein sehr bedenkliches Gesicht. Recht geheuer war ihm der Kurs, den man steuerte, schon gestern nicht mehr vorgekommen. So holte er denn den alten Schiffskompaß aus der kleinen Kajüte an Deck und prüfte nochmals alles genau, was ihm soeben zu allerlei Zweifeln Anlaß gegeben hatte.

Da stellte sich denn heraus, daß der Kompaß sie genarrt hatte. Er war alles andere als zuverlässig. Woran das lag, vermochten die bestürzten Freunde nicht herauszufinden. Die Tatsache blieb leider bestehen, daß man, wenn die Kompaßnadel jetzt richtig zeigte, nicht dem Stillen Ozean zusteuerte, sondern nach Südosten in die schmale Rinne eingebogen war, die die Insel Feuerland in zwei Teile zerschnitt.

Während Ernst dem am Steuer sitzenden Gefährten diese unangenehme Entdeckung mitteilte und hinzufügte, daß man eigentlich längst hätte stutzig werden müssen, da man die in den Großen Ozean führende Straße zwischen der Insel Desolation und dem westlichen Ausläufer von Feuerland bereits vor Tagen hätte erreicht haben müssen und dann ein genau westlicher Kurs nötig gewesen wäre, begann das Segel plötzlich schlaff hin und her zu schlagen. Der Wind war wieder einmal eingeschlafen, und die Freunde mußten ihr Boot abermals in einer Bucht festmachen. Im Südwesten bemerkte Blochstädt eine schmale Einfahrt, auf die man jetzt mit recht gemischten Gefühlen zuruderte. Diese Einfahrt entpuppte sich als ein sehr schmaler Kanal, der im Bogen nach Süden zu verlief und kaum achtzig Meter Brette hatte. Die felsigen Ufer traten zurück, das Land wurde flacher und eröffnete den beiden Wagehälsen den Ausblick auf einen schneebedeckten Gebirgszug, aus dem ein einzelner hoher Berg herauswuchs.

Wieder nahm Ernst Gerlich die Karte zur Hand. Das Gebirge lag im Süden von ihnen, und der Berg konnte mithin nur der 2100 Meter hohe Mont Darwin sein, der Kanal aber, in dem der Kutter sich jetzt befand, nur die schmale Verbindung zu der binnenseeartigen Fortsetzung der langen Bucht, die in dem Feuerland-Dreieck die Senkrechte darstellt.

Nun wußte man wenigstens mit voller Sicherheit, wo man sich befand.

Nach einer kurzen Beratung kamen die beiden Deutschen überein, zunächst einmal ihren Proviant dadurch zu ergänzen, daß sie mit ihren Vorderladergewehren – diese hatte Blochstädt der Billigkeit halber erworben – auf die Jagd gingen. Ernst war bekannt, daß es auf Feuerland ein dem Reh ähnliches Wild gab, außerdem auch große Mengen Drosseln, die die Eingeborenen häufig nach Punta Arenas auf den Markt brachten.

Nachdem der Kutter am Nordufer gut festgemacht war, eilten die Gefährten einem Walde zu, vor dem sich ein weites Torfmoor ausdehnte, auf dem jetzt im November, wo unter diesem Breitengrade der Frühling bereits begonnen hatte, allerlei Blumen und auch einzelne Sträucher, besonders Johannisbeeren, die Eintönigkeit der Landschaft angenehm belebten.

Doch ein jagdbares Wild trafen sie trotz stundenlangen Suchens nicht an. Schließlich kehrten sie um, recht müde und erschöpft und bereits den Gedanken in Erwägung ziehend, wieder nach Punta Arenas zu segeln, um ihre Proviantvorräte zu ergänzen, die nur auf zwei Monate berechnet gewesen, und jetzt ganz zwecklos in zwei Wochen aufgebraucht worden waren. Aber die Scheu vor dem Spott der Chilenen der Hafenstadt, die ihnen ein böses Ende ihrer angeblich nach Azintos gerichteten Fahrt vorausgesagt hatten, führte sie zu dem Entschluß, zunächst so lange hier zu bleiben, bis sie sich frisches Fleisch verschafft hätten, welches der in solchen Dingen recht praktisch veranlagte Knabe räuchern und so für längere Zeit haltbar machen wollte.

Als sie sich jetzt dem schmalen Kanal wieder näherten, fiel ihnen sofort auf, daß das Segel des Kutters gehißt war und mit seinem oberen Rande in breiter Fläche über das erhöhte Ufer hinausragte.

Nichts Gutes ahnend begannen sie einen Dauerlauf, der sie denn auch schnell an den Kanal brachte. Und wirklich – ihre Angst, daß während ihrer Abwesenheit etwas Besonderes passiert sein müsse, war nicht grundlos gewesen.

Eine Anzahl von Eingeborenen, die sämtlich mantelähnliche Überwürfe von Seehund- und Fuchsfellen trugen, hatten sich des Bootes bemächtigt und begrüßten die Weißen nun mit einem höhnischen Triumphgeschrei, wobei sie ihre Waffen, kurze Speere und Bogen und Pfeile, in der Luft schwenkten.

Die Feuerländer oder Pescherähs gehören zu den südamerikanischen Indianern, sind klein, von dunkelschmutziger Kupferfarbe und zerfallen in verschiedene Stämme, von denen jedoch nur wenige bisher ihr unstetes Nomadenleben aufgegeben haben und etwas von Zivilisation angenommen haben. Ihre Gesamtzahl schätzt man auf 2000, doch dürfte diese Berechnung sehr unsicher sein, weil die meisten Pescherähs nie lange Zeit an demselben Platze bleiben und außerdem auch Gegenden bevorzugen, wohin kaum je ein Europäer gelangt.

Wenn man in Betracht zieht, daß die Feuerländer seit Jahrhunderten Gelegenheit gehabt haben, auf ihrer mitten in einer der meistbefahrenen Wasserstraßen liegenden Insel mit Weißen in Berührung zu kommen und daß gestrandete Schiffe, ferner die Nähe des Hafens von Punta Arenas, ihnen einen Begriff von der Vielseitigkeit der Kultur anderer Völker zu geben vermochten, so erscheint es fast unerklärlich, daß sie in ihren Sitten, Gebräuchen und Lebensbedürfnissen auf einer überaus niedrigen Stufe stehen geblieben sind. Es sind tatsächlich noch „Wilde“ im vollsten Sinne des Wortes. Ihre Anspruchslosigkeit ist jedoch zum größten Teil Trägheit, während wieder ihr ablehnendes Verhalten gegen irgend welche Neuerungen auf geistige Minderwertigkeit zurückzuführen sein dürfte. –

Blochstädt und der Knabe wußten, daß die Pescherähs feiges Gesindel und als Gegner nur in der Übermacht zu fürchten sind. In dem engen Kanal konnten die braunen Gesellen ihnen kaum entgehen. Freilich – eins stand doch zu befürchten: daß die Feuerländer das Boot ausplünderten.

Die Gefährten durften jedenfalls nicht zulassen, daß die Bande das Fahrzeug an das andere Ufer hinüberschaffte. Der Kutter lag jetzt etwa in der Mitte der schmalen Wasserrinne, und die Pescherähs mühten sich vergeblich ab, mit Hilfe der Segel vom Fleck zu kommen. Trotzdem zeigte ihr ganzes Gebaren, daß sie vor den Weißen kaum Angst empfanden. Um ihnen nun sofort etwas mehr Achtung vor fremdem Eigentum einzuflößen, legte Blochstädt, der ein vorzüglicher Schütze war, seine Büchse an und feuerte den Schrotlauf, auf die Beine der Indianer zielend, ab.

Die Wirkung war derart, daß Ernst Gerlich hell auflachte: erst lautes Wehgeschrei, dann ein lautes Platschen im Wasser, als ob eine Menge Frösche ihr Element aufsucht.

Hiermit war dieser Zwischenfall erledigt. Die Feuerländer schwammen eiligst dem anderen Ufer zu und verschwanden hier schleunigst hinter einem felsigen Hügel. Den Kutter aber trieb der inzwischen aufgekommene Wind bald drüben an Land, von wo Ernst ihn, nachdem er seine Kleider abgelegt hatte, sofort nach einer kurzen Schwimmtour zurückholte.

Dieses Abenteuer hatte zur Folge, daß die beiden Deutschen für die Zukunft vorsichtiger waren.

Am Abend desselben Tages rückte Ernst Gerlich dann mit einem Vorschlage heraus, den Blochstädt nach sorgfältiger Prüfung annahm. Dieser Vorschlag ging dahin, mit dem Kutter weiter in dem Wassereinschnitt nach Südosten vorzudringen, der der Karte nach noch eine Fortsetzung in einem Flusse besaß, dessen Quellen in den südlichen Uferbergen von Feuerland lagen, so daß man sehr wahrscheinlich Mittel und Wege finden würde, das Boot die noch kurze Strecke bis an die Wasserrinne zwischen Feuerland und der Insel Navarin über Land schaffen zu können, wodurch man, falls die Sache glückte, nicht umzukehren brauchte und viel Zeit sparte. (Wir können den Freunden der „Erlebnisse einsamer Menschen“ nur immer wieder raten, bei der Lektüre unserer Heftchen den Atlas zur Hand zu nehmen, geographische Kenntnisse erweitert man auf diese Weise am besten[2]. Der Transport des Kutters zu Lande sollte auf einer Art niedrigen Wagens geschehen, dessen einzelne Teile man bereits unterwegs an Bord anfertigen wollte. Handwerkszeug und Nägel von verschiedener Größe hatte man ja bei sich, so daß man nur noch das notwendige Holz zu beschaffen brauchte. Und dies war auf der waldreichen Insel eine Kleinigkeit.

So wurde denn zwei Tage später, nachdem man sich vom Südufer ein paar passende Buchenstämme geholt und sie zu einem kleinen Floß vereinigt hatte, welches der Kutter fürs erste ins Schlepptau nahm, die Weiterfahrt angetreten. Inzwischen war der erfindungsreiche Knabe auf den Gedanken gekommen, Angelschnüre herzustellen, die bei jedem längeren Aufenthalt an einem Orte ausgelegt wurden. Diese Fortsetzung der schmalen Bucht war reich an Aalen und einer Art von Lachsen, so daß sich an den kräftigen, von Ernst aus Nägeln zurechtgefeilten Haken eine ganze Menge Wasserbewohner fingen, die es den Reisenden ermöglichten, ihre Vorräte zu schonen.

Von den Pescherähs hatte man seit Tagen nichts mehr bemerkt. Trotzdem mußten sie in der Nähe sein, da die Gefährten nachts an verschiedenen Punkten zu beiden Seiten ihres Wasserweges Feuer brennen sahen, die in gewissen Unterbrechungen, offenbar durch Vorhalten von Fellen, abgeblendet wurden.

Blochstädt war nun aus einem Reisewerke über Feuerland, das er als einzige Lektüre mit an Bord hatte, bekannt, daß die Ureinwohner dieser ausgedehnten, wildromantischen Insel den Signaldienst durch Feuer recht weit ausgebildet haben, und nahm an, daß dieses häufige Auftauchen von Bränden bald hier bald dort auf die Anwesenheit des Kutters zurückzuführen sei.

Der berühmte Seefahrer Magalhaens gab ja, als er 1520 die zahlreichen Inseln an der Südspitze Amerikas entdeckte, der ganzen Gruppe nur deswegen den Namen Feuerland, weil er nächtlich zahlreiche Feuer an der Küste gewahrte. Erwähnt sei, daß man auch heute noch mit dem Namen „Feuerland“ im weiteren Sinne die Gesamtheit aller dieser Inseln bezeichnet, die einen Flächenraum von etwa 1500 Quadratmeilen bedecken, wovon auf das eigentliche Feuerland etwa 950 kommen. Dieses entspricht in seiner Größe also ungefähr der Insel Irland.

Am 23. November, als sie bereits die Hälfte des noch zurückzulegenden Weges hinter sich hatten und sich längst in dem 20 bis 25 Kilometer breiten Sunde östlich des Mont Darwin befanden, entdeckten sie am Südufer eine kleine Niederlassung, an der sie jedoch nach Dunkelwerden unbemerkt vorüberfuhren. Ohne Frage hausten hier Pelzjäger, die den Fischottern und den Füchsen nachstellten.

Die Signalfeuer der Pescherähs begleiteten sie auch fernerhin, eine Tatsache, die Blochstädt wenig gefallen wollte. Jedenfalls waren sie ständig auf ihrer Hut, besonders wenn sie zum Landen gezwungen waren. Wie nötig diese stete Wachsamkeit war, zeigte sich nach den Tagebucheintragungen Blochstädts am 27. November. Ein arger Sturm hatte die beiden Gefährten wieder einmal gezwungen, Schutz in einer Bucht mit steilen Ufern zu suchen, wo sie den Kutter an einer überhängenden Felswand festmachten, so daß sie auch von dem strömenden Regen leidlich verschont blieben.

Plötzlich fielen von der Höhe der Felswand große Steine haarscharf an dem Boote vorbei ins Wasser. Hätte der Kutter auch nur um ein halbes Meter weiter von der Wand abgelegen, so wäre er sicherlich getroffen und zum mindesten schwer beschädigt worden.

In der nächsten Nacht bemerkten sie dann wieder ein paar Signalfeuer in nächster Nähe, ein Beweis, daß die Pescherähs in größerer Anzahl die Verfolgung aufgenommen hatten. – Die Lage der beiden Deutschen war in dieser Bucht eine recht bedenkliche. Wagten sie sich aus ihrem Schlupfwinkel heraus, so setzten sie sich einem neuen Steinbombardement aus. Um diesen unerträglichen Zustand zu beenden, schwamm Blochstädt, bewaffnet mit einem Revolver, den er auf seiner Mütze festgebunden hatte, während eines besonders heftigen Regengusses über die kleine Bucht auf eine flache Uferstelle zu, kletterte an Land und schlich am Rande des Wasserbeckens weiter auf die vorspringende Felswand zu, unter der der Kutter lag. Bald bemerkte er vor sich drei Pescherähs, die auf dem Felsen Wache standen. Ein paar in die Luft abgegebene Schüsse und lautes Rufen jagten die Wilden in die Flucht, so daß die Freunde nun eiligst ihr Boot mitten in der Bucht verankern konnten, wo sie vor Steinwürfen sicher waren.

 

3. Kapitel.

Das Wrack der „Marietta“.

Diese Fahrt auf der Bucht und gelegentliche Abstecher in kleine Flußläufe hinein gaben den Gefährten reichlich Gelegenheit, die Insel Feuerland genauer kennenzulernen.

Das Ganze ist ein selten unfreundliches, schauerlich ödes Gebiet. Während sich im Westen, besonders auf König-Karls-Südland, dem durch die lange Wasserrinne abgetrennten Südteil, wildzerklüftete Gebirgszüge erheben, die zumeist von Schneemassen bedeckt sind und deren tiefere Regionen endlose Wälder der sog. birkenblätterigen Buche und Bäume der Wintersrinde tragen, ist der Ostteil ebenerer, dabei aber kalt und rauh wie Patagonien. Hier gibt es neben ausgedehnten Waldungen ungeheure Torfmoore, die merkwürdigerweise auch in den Tälern der Berge zu finden sind.

Eigenartig sind die Wälder, deren Boden mit Massen faulender Pflanzenstoffe und modernder Stämme dicht bedeckt und so düster, naß und kalt sind, daß nicht einmal Moose, Schwämme oder Farne dort gedeihen. – Die höchsten Berge, der Darwin (2100 Meter) und der Sarmiento (2670 Meter) sind sieben Monate lang unter Schneemengen begraben und besitzen riesige Gletschermassen.

Der Anblick von Feuerland, von einer Bergkuppe aus betrachtet, hat trotzdem etwas Großartiges, wenn auch Schwermütiges an sich. Zerrissene Felseinöden, tiefe Schlünde, blaue Gletscher, Schneekegel, Wälder mit braungrünem Laub, das nie abfällt, dazwischen schillernde schäumende Wasserläufe, und darüber ein zumeist von schwarzen, eilenden Wolken überzogener Himmel, fast täglich Sturm und Regen – das ist Feuerland. Am großartigsten ist die Landschaft jedoch am Beagle-Kanal, der Wasserstraße zwischen der Südseite und den vorgelagerten Inseln. Hier streben Berge bis 1000 Meter Höhe direkt aus dem Meere auf, deren schneebedeckte Gipfel und weiße Gletscherrinnen wunderbar gegen den stets düster verhangenen Himmel abstechen, während zahllose Wasserfälle sich durch die dunklen Wälder wie weiße Striche hindurchziehen und sich in den Kanal ergießen. – –

Nach weiteren acht Tagen erreichten die kühnen Schatzsucher endlich das südöstliche Ende des Wassereinschnittes. Der Fluß, der sich von hier noch weiter nach der Küste zu erstreckte und seine Wasser in die endlos lange Bucht ergoß, besaß jedoch eine so starke Strömung, daß der Kutter nur bei besonders günstigem Winde weiterkam. Selbst Ruderarbeit half hier wenig. Ein wahres Glück mußte es für die Reisenden genannt werden, daß inzwischen der Sommer angebrochen war und mildere Temperatur brachte. Wenn auch das Thermometer auf den Ebenen Feuerlands selbst im Juli als dem kältesten Monat nur selten bis auf acht Grad unter den Gefrierpunkt sinkt, so machen doch die häufigen Stürme den Aufenthalt auf der Insel in den Monaten Mai bis Oktober fast unmöglich.

Jetzt anfangs Dezember hatte man durchschnittlich zwölf bis vierzehn Grad Wärme. Die spärliche Vegetation stand überall in voller Blüte. Fuchsien, Berberitzen, Primeln, Ranunkeln und Grasnelken belebten die öden Moore und bildeten stellenweise bunte Teppiche, auf denen das Auge mit Wohlgefallen ruhte.

Inzwischen hatten die beiden Deutschen das fahrbare Gestell für den Kutter in seinen einzelnen Teilen[3] längst fertiggestellt, so daß es nur noch zusammenzusetzen war. Es sollte auf vier mit Eisenband beschlagenen Rädern sich bewegen, die mühsam von einem runden Baumstamm abgesägt worden waren.

Die Pescherähs hatte man nicht mehr seit dem letzten Überfall in der Bucht zu Gesicht bekommen. Trotzdem beobachteten die Freunde dieselbe Vorsicht wie bisher, ja, steigerten ihre Wachsamkeit jetzt auf dem Flusse sogar noch, da dieser mit seinen dichtbewaldeten Ufern nur zuviel Gelegenheit zu heimtückischen Angriffen bot.

Dann mußten die Gefährten eines Tages einsehen, daß sie ihre Fahrt zu Wasser nicht weiter fortsetzen konnten. Starke Stromschnellen versperrten ihnen den Weg, über die der Kutter nicht wegzubringen war. Lange mußten sie nun eine geeignete Stelle suchen, wo das Ufer flach genug war, um ihr Boot auf das Land schaffen zu können.

Wäre das Flußbett hier nicht felsig gewesen, so daß die Räder des unter den Kutter geschobenen Wagens nicht einsinken konnten, so hätten die Freunde schon hier vor Schwierigkeiten gestanden, die mit den schwachen Kräften zweier Menschen nicht zu überwinden waren.

Schritt für Schritt holten sie den so schwer belasteten Wagen aus dem Wasser heraus, nachdem sie klugerweise alles aus dem Kutter an Land getragen hatten, was nicht niet- und nagelfest war.

Stunden hatten sie zu dieser Arbeit gebraucht, und jetzt schon war ihnen eine Ahnung von den Mühsalen aufgegangen, die ihnen die weitere Reise über Land noch bringen würde.

Am Abend dieses Tages erlegte Blochstädt einen feisten Seehund, den der Fischreichtum des Flusses bis hierher gelockt hatte. Diese Beute war ihnen sehr willkommen. Machte es ihnen doch der Tran möglich, die Achsen des Kuttergestelles ordentlich einzufetten. – Die Nacht verbrachten sie wieder wie bisher in der Kajüte.

Während Ernst Gerlich sofort in seinem schmalen Kojenbett einschlief, lag Blochstädt noch lange wach. Es waren recht unangenehme Gedanken, die ihn munter hielten. Er verhehlte sich nicht, daß ihr Plan, die abenteuerliche Fahrt zu Lande bis zur Seeküste hin fortzusetzen, mit Schwierigkeiten verknüpft sein würde, von denen sie heute bereits einen Vorgeschmack erhalten hatten. – Draußen prasselte der Regen auf das Deck des Kutters, der Wind heulte und die Masttaue schlugen klatschend hin und her.

Dann war es Blochstädt plötzlich, als ob oben auf den Deckplanken eilige Füße leise umhertappten. Er schnellte hoch, ergriff das geladene Gewehr und öffnete die Kajütentür, von der eine kleine Treppe zu dem vertieften Steuersitz hinführte. Große, schwere Tropfen trafen sein Gesicht. Nun konnte er über den Rand des Deckaufbaues hinwegsehen. Sofort bemerkte er drei Gestalten, die sich an der Luke des Vorschiffes zu schaffen machten.

Er riß die doppelläufige Flinte hoch, spannte den einen Hahn und feuerte auf den Mann am weitesten links, der sich eben aufgerichtet hatte. Die Schrotladung ging dem Pescheräh in die Beine, und mit einem wilden Aufschrei knickte er um und fiel kopfüber von dem Kutter herab. Die beiden anderen Indianer waren gleichfalls blitzschnell verschwunden.

Der Knall des Schusses hatte Ernst geweckt, der nun an Deck gestürmt kam – gerade noch zur rechten Zeit, um den Schrotlauf seiner Büchse auf ein gutes Dutzend Wilde abzufeuern, die bisher offenbar unter dem Wagengestell gehockt hatten und nun schleunigst davonrannten.

An Schlafen war für die Freunde jetzt nicht mehr zu denken. Da die Regenwolke gerade vorüber gezogen war und der Mond die Umgegend leidlich erhellte, stellten die beiden Deutschen zunächst fest, ob die Indianer irgend welchen Schaden angerichtet hatten. Außer zwei Tauen fehlte nichts an Deck. Dann kletterten die Gefährten auch auf den Erdboden herab, um das Gestell zu besichtigen. Hier sahen sie nun, daß der von Blochstädt verwundete Pescheräh bei dem Sturze das Genick gebrochen hatte und tot neben dem einen Vorderrade lag.

Diesen Erfolg seiner Abwehr gegen das diebische Gesindel hatte Blochstädt nicht beabsichtigt. Es war ihm sehr wenig lieb, daß diese Nacht ein Opfer gefordert hatte. Sagte er sich doch, daß die Indianer jetzt aus Rachgier noch angriffslustiger sich zeigen würden und daß die Sachlage sich mithin bedenklich verschlechtert habe.

Bald darauf brach der Morgen an. Besonders freudig begrüßten die Gefährten heute das Tageslicht. Hatte sie doch in der Dunkelheit und in dieser einsamen, trostlosen Umgebung vorhin zum ersten Mal ein Gefühl von Angst beschlichen, ob sie nicht ihr waghalsiges Unternehmen vielleicht sogar mit dem Leben bezahlen müßten.

Blochstädt, der früher tatsächlich Offizier gewesen und lediglich wegen seiner Gutmütigkeit, da er für einen Kameraden später nicht eingelöste Wechsel unterzeichnet hatte, verabschiedet worden war, untersuchte jetzt die Leiche des Indianers genauer. Der Mann trug einen aus Muscheln gefertigten Schmuck um den Hals und hatte das Gesicht mit roten, schwarzen und weißen Querstreifen bemalt, – also mit den deutschen Farben, worauf Blochstädt seinen kleinen Freund besonders aufmerksam machte. (Auch der französische Forscher Darwin hebt diese Bemalung der Feuerländer in seinem Werke über das eigenartige Inselland hervor und nennt die Pescherähs an anderer Stelle „die elendesten der Sterblichen“.)

In dem Seehundsmantel des Toten war innen eine große Tasche angebracht, in der sich außer wertlosen Kleinigkeiten sehr zum Erstaunen unserer Schatzsucher ein halbzerrissenes Exemplar der einzigen, in Punta Arenas in spanischer Sprache erscheinenden Zeitung vorfand. Das Blatt trug das Datum des vierten November, also des Tages der Abreise der beiden Deutschen aus der chilenischen Hafenstadt. Auf der Innenseite war ein Artikel mit blauer Farbe dick umstrichen.

Blochstädt traute seinen Augen nicht, als er hier unter der Überschrift: „Tollkühnheit oder Verrücktheit?“ einen Hinweis auf die bevorstehende Bootfahrt zweier Deutschen nach Azintos fand, der mit dem Satze schloß …: „Ob die beiden Deutschen wirklich nach Azintos wollen, erscheint uns doch recht fraglich. Der Proviant, den sie eingekauft haben, soll für zwei Monate hinreichend sein. Vielleicht ist dieser Blochstädt nur ein verkappter Mineningenieur, der unsere Inseln im Auftrage einer deutschen Gesellschaft nach Mineralschätzen durchsuchen soll.“

Diese Vermutung des Zeitungsschreibers war eigentlich durch die ganzen Verhältnisse recht gut begründet. Der westliche Teil von Feuerland gehört zu Chile, der östliche zu Argentinien. Aber beide Republiken haben bisher kaum daran gedacht, die fraglos vorhandenen Naturreichtümer auszunutzen, weil sich der wirtschaftlichen Erschließung dieser Gebiete das Klima als Haupthindernis entgegenstellt und die Bewohner der südamerikanischen Republiken viel zu träge und gleichgültig sind, um schwer zu arbeiten und dabei noch Witterungsunbilden mit in Kauf zu nehmen. –

Im übrigen schenkte Blochstädt jedoch dieser Zeitung und dem umrandeten Artikel wenig Beachtung. Erst später, in einer recht kritischen Lage, erinnerte er sich wieder an diese Notiz.

Vier Tage später, als die beiden Freunde bereits der Verzweiflung nahe waren, da der Überlandtransport des Kutters nur schrittweise vorrückte und sie derart ermüdete, daß sie ständig in Schweiß gebadet waren, erblickten sie auf dem ebenen Torfmoor, das sich hier um einen Gebirgsstock in weitem Bogen nach Süden offenbar bis an das Meer hinzog, in der Ferne einen blinkenden Streifen. Blochstädt eilte voraus. Die Hoffnung, hier auf ein Binnengewässer zu stoßen, erfüllte sich. Es war zwar nur eine Reihe zusammenhängender, grünlich schillernder Tümpel, – aber es war doch Wasser und so tief, daß es den Kutter trug. Diese nassen Moorstellen verliefen in einer Senkung, immer dem Fuße der Anhöhen folgend, ebenfalls nach Süden, also in derselben Richtung, die die kühnen Reisenden ohnehin hatten einschlagen wollen.

Nachdem der Kutter ins Wasser geschafft war, wurde das Wagengestell wieder auseinander genommen und auf dem Deck verladen.

Leider zeigte sich bald, daß auch diese Fortsetzung der Reise über die Moortümpel ihre verschiedenen, recht bösen Haken hatte. Abgesehen davon, daß das Boot sich häufig in dem sumpfigen Boden derart festfuhr, daß man es erst erleichtern mußte, um es wieder freizubekommen, hatten die Tümpel untereinander nicht immer eine Verbindung, deren Tiefe für den Kutter genügte. Dann mußte dieser abermals auf das Gestell gebracht, vollständig entladen und weiter bis zur nächsten Wasserrinne gefahren werden.

So verging eine Woche. Dann hörte auch dieser Wasserweg auf. Das Meer senkte sich nun zu der Steilküste abwärts, in der verschiedene Schluchten bis zur See hinabreichten.

Gerade am Weihnachtstage wurde der Kutter den Fluten des Kanals wieder übergeben, der die Südküste Feuerlands von der Navarin-Insel trennt. Als bestes Geschenk bescherte das Christfest den beiden Deutschen acht windstille, regenarme Tage, die gerade genügten, um das Boot um die Ostseite der Navarin-Insel herumzubringen und die Nassau-Bucht durchqueren zu lassen, – die sich bis zu der Gruppe der Hermiten erstreckt. In dieser Bucht gab es zwar bereits die für Kap Hoorn so berüchtigten, hohen Wellen, aber der Kutter hielt sich brav und lief am Neujahrstage 1910 in einen Kanal ein, der nach der Skizze des alten Peter Braken, in die dieser als Wegmarken besonders geformte Felsen der Küste eingezeichnet hatte, leicht aufzufinden gewesen war. Diese schmale Wasserstraße zwischen den Inseln und kleineren Eilanden, die sämtlich turmhohe, wildzerrissene, steile Ufer hatten, verzweigte sich so oft, daß es ohne die Skizze kaum möglich gewesen wäre, in diesem Labyrinth von Buchten, engen Durchlässen und breiteren Kanälen einen bestimmten Punkt zu erreichen.

Aber so glücklich die beiden Freunde auch beim Anblick der schauerlich eintönigen, kahlen Felsmassen der Hermiten gewesen waren, – ihre gehobene Stimmung sollte doch einen bösen Dämpfer erhalten, als sie gerade in den ersten Hauptkanal hineinsteuerten.

Oben auf der Höhe der Steilküste bemerkten sie nämlich eine Anzahl sich hin und her bewegender Punkte, die sie erst für Tiere hielten. Als der mißtrauische Blochstädt dann aber das Fernrohr – es war nicht viel mehr wert als der Kompaß – zur Hand nahm, erkannte er trotz der geringen Vergrößerung des Glases einige dreißig Pescherähs, die offenbar das Boot beobachteten.

Blochstädt war zunächst durch diese Entdeckung derart bestürzt, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Der Knabe beruhigte ihn dann jedoch etwas, indem er meinte, die Wilden da oben könnten unmöglich zu derselben Schar gehören, die den Kutter auf der Insel Feuerland so hartnäckig begleitet und erst nach dem Tode des einen ihrer Stammeszugehörigen die Verfolgung aufgegeben hatten.

„Wie sollten sie wohl früher hier auf den Hermiten angelangt sein als wir, Herr Blochstädt?!“ erklärte er. „Bedenken Sie, daß wir von der Ostspitze der Navarin-Insel genau Kurs nach Süden gehalten, also keinen Umweg gemacht haben …! – Nein, diese Indianer haben mit den anderen nichts zu schaffen – gar nichts!“

Aber auch diese Folgerung, die sehr zutreffend war, schaffte die Tatsache nicht aus der Welt, daß es auch hier auf den Hermiten zur Zeit – sonst sind diese Inseln ganz unbewohnt – Indianer gab und daß man daher wieder sehr auf der Hut sein mußte, weil man nicht wissen konnte, ob nicht auch diese Abteilung der Pescherähs eine feindliche Haltung einnehmen würde. – –

Wieder zwei Tage darauf – inzwischen hatte man trotz eifrigen Umherspähens von den Wilden nichts mehr bemerkt – bogen die Gefährten in einen Kanal ein, in dem sich sofort eine starke Strömung bemerkbar machte. Diese hatte der alte Seemann auf seiner Skizze durch einen Pfeil angedeutet, während der Weg nach dem Felsentor und dem Wrack der „Marietta“ durch eine punktierte Linie bezeichnet war.

Bei anbrechender Dunkelheit wurde nun endlich das Felsentor erreicht. Das Licht des scheidenden Tages genügte gerade noch, um den Kutter am Steuer des Wracks festmachen und dieses erklimmen zu können.

Der eiserne Dampfer war tatsächlich, wie Braken dies schon erwähnt hatte, über und über mit Rost bedeckt. Auf den Holzplanken des Decks wieder lag eine dünne Schicht Unrat, der von den zahlreichen Fledermäusen herrührte, die an der Wölbung der Felsentordecke ihre Ruheplätze hatten und tagsüber mit dem Kopf nach unten, festgekrallt an dem Gestein, wie dunkle Auswüchse herabhingen.

Das Innere des Schiffes war tadellos erhalten. Man merkte, daß es von der Besatzung in wilder Hast in den Booten verlassen worden war. Nur im Laderaum stand etwa drei Meter hoch Wasser. Wo sich das Leck befand, das den Fluten Zugang verschafft hatte, war nicht festzustellen. Ohne Frage mußte es aber recht groß sein, da die Mannschaft sonst wohl kaum so eilig die „Marietta“ preisgegeben haben würde, und weiter mußte dasselbe Leck sich später von selbst wieder irgendwie verstopft haben, daß der sinkende Dampfer von der scharfen Strömung noch bis an diese Stelle geführt werden konnte. –

Nachdem die Gefährten beim Lichte derselben Schiffslaternen, die ihnen bei der Wanderung durch die Räume des Wrackes geleuchtet hatten, ihre Waffen und den größten Teil des ihnen noch verbliebenen Proviantes in die Kapitänskajüte des Dampfers gebracht hatten, versuchten sie den Kutter mit Hilfe der Davits (Kräne für die Schiffsboote) hochzuhissen, was ihnen jedoch nicht gelang. Zur Sicherheit befestigten sie ihn daher, stets mit einem heimtückischen Streich der Wilden rechnend, mit drei Stahltrossen an dem Wrack.

Dann erst begaben sie sich zur Ruhe. Nach dem Golde, den Edelsteinen und dem Elfenbein als den wertvollsten Bestandteilen der Ladung wollten sie erst morgen suchen. Heute waren sie zu müde.

 

4. Kapitel.

Der Bettnachbar aus dem Krankenhause in Punta Arenas.

Und wie fest schliefen sie in dieser Nacht in dem Bewußtsein, endlich am Ziele zu sein …!

Bei der Abendmahlzeit hatten sie bereits über die Rückkehr nach Punta Arenas gesprochen, als ob nun alle Schwierigkeiten überwunden seien und ihnen nun nichts mehr zustoßen könne. Selbstverständlich wollten sie zur Heimfahrt den Weg benutzen, den sie bei der Ausreise nur infolge der Unzuverlässigkeit des Kompasses verfehlt hatten.

Doch – wie sehr hatten sie die Rechnung ohne … die Pescherähs gemacht! Wie trübe fing für sie der folgende Tag an …! – –

Blochstädt erwachte zuerst. In der Kajüte des Kapitäns befand sich ein Waschtisch mit allem Zubehör. Da mußte es geradezu ein Vergnügen sein, sich gründlich zu säubern. Aber das Wasser fehlte. Dem war aber leicht abzuhelfen.

Der frühere Leutnant nahm den Eimer für das Schmutzwasser, band eine lange Leine an den Bügel und wollte sich auf diese Weise aus dem Kanal Wasser nach oben befördern.

Nun stand er an der Reling, nun warf er zufällig einen Blick nach links, wo der Kutter liegen mußte.

Seine Augen weiteten sich plötzlich. Er schloß die Lider, öffnete sie … Aber die Stelle unten blieb leer …

Das Boot war verschwunden …

Mit ein paar Griffen zog Blochstädt eine der Stahltrossen hoch, mit denen sie am Abend vorher den Kutter befestigt hatten …

Nein, die Trosse war nicht etwa gebrochen, sondern der untere Knoten, der durch den Ankerring am Heck geschlungen gewesen war, offenbar von Menschenhänden gelöst.

Da wußte Blochstädt Bescheid. Wütend ballte er die Fäuste. Und seinen Lippen entfloh eine Verwünschung, die gegen ihn selbst gerichtet war und die seiner Unvorsichtigkeit, seiner Sorglosigkeit galt, mit der er sich dem Schlafe überlassen hatte, ohne daran zu denken, daß Wilde in der Nähe seien, die dem Kutter vielleicht heimlich gefolgt waren.

Sofort weckte er seinen kleinen Freund. Der machte ein recht langes Gesicht bei dieser Unglücksbotschaft.

„Eine nette Bescherung, Herr Blochstädt …!“ meinte er. „Freilich – eigentlich tragen wir selbst die Schuld an dieser bösen Überraschung. Wir hätten …“

„… wir hätten, – aber leider haben wir nicht das getan, was in unserer Lage nötig war“, unterbrach der Offizier ihn achselzuckend. „Ich habe mir schon genügend Vorwürfe gemacht. Das hilft aber alles nichts – leider! Der Kutter ist weg, – und nun heißt es: Helft Euch ohne das Boot weiter, Ihr beiden leichtsinnigen Gesellen!“

„Oh – das werden wir schon, Herr Blochstädt! Wir haben uns ja schon auf der Hinfahrt durch Schwierigkeiten hindurchgewunden, die wahrlich nicht gering waren.“ –

Nachdem die Gefährten dann kräftig gefrühstückt hatten, begaben sie sich an Deck und beratschlagten hier, was nun weiter geschehen solle. Hierbei erörterten sie auch die naheliegende Frage, ob die Pescherähs jetzt nach dem Diebstahl des Kutters sich mit diesem Raube begnügen oder womöglich noch versuchen würden, sich in Besitz des Wrackes zu setzen. Ferner tauchte bei ihnen jetzt auch aufs neue der Verdacht auf, daß die Kutterdiebe doch dieselben Feuerländer gewesen sein könnten, von denen sie schon früher belästigt worden waren. Schließlich meinte Ernst Gerlich noch, es sei doch eigentlich recht merkwürdig, daß die Pescherähs in der vergangenen Nacht nicht wenigstens den Versuch gemacht hätten, das Wrack zu erklettern und sich der beiden Weißen zu bemächtigen. Worauf Blochstädt erwiderte, man habe es eben mit feigem Gelichter zu tun, das wohl zu stehlen wage, aber die eigene Haut nicht gern zu Markte trage.

Während sie dies und manches andere besprachen, waren sie, um sich etwas Bewegung zu machen, auf dem Deck auf und ab gegangen, indem sie dabei stets argwöhnische Blicke den Kanal aufwärts und abwärts warfen, ob nicht etwas von den Feinden zu bemerken sei.

Der von den Felsmassen überwölbte Teil dieser etwa vierzig Meter breiten, offenbar recht tiefen Wasserrinne, die nur in der Mitte das eine Riff besaß, auf welches der Dampfer aufgelaufen war, mochte ungefähr 900 Meter lang sein und erstreckte sich ohne jede Krümmung von Westen nach Osten. Anders der nicht überwölbte Teil, der kurz vor und hinter dem Felsendurchlaß in kurzem Bogen nach Norden beziehungsweise Süden abbog, so daß die ganze Länge des Kanals, die man von dem Wrack aus überblicken konnte, nach jeder Seite hin etwa hundertfünfzig Meter maß.

Gerade hatte Blochstädt geäußert, daß es nötig sein würde, abwechselnd bei Tage und in der Nacht auf Deck zu wachen, um einen Überfall vereiteln zu können, als der Knabe einen halblauten Ruf ausstieß und nach Osten zu deutete.

Dort war soeben der Kutter erschienen, – aber in merklich veränderter Gestalt, wie Blochstädt sofort wahrnahm.

Aus dunklen Brettern, offenbar Schiffstrümmern, war eine Art hohe Barrikade quer über dem Verdeck angebracht, so daß die Ruderer, die das Boot gegen die Strömung langsam vorwärtstrieben, gegen jede Kugel geschützt waren. In dieser Barrikade befanden sich außerdem einige Öffnungen als Schießscharten, und aus einem dieser länglichen Löcher ragte der Lauf eines Gewehres ein Stück hervor.

„Sie greifen an!“ rief Blochstädt und eilte schon nach der Kajüte, um die Flinten zu holen.

Ernst dagegen rührte sich nicht. Ein paar Sekunden stand er regungslos da. Dann glitt es wie ein Lächeln über sein von Wind und Wetter gebräuntes, hageres Gesicht.

Mit langen Sprüngen stürmte er nach der Kombüse, wo er vorhin den Morgentee für Blochstädt und sich selbst aufgebrüht und dabei auch in der neben der kleinen Küche liegenden Vorratskammer umhergestöbert hatte.

Der frühere Leutnant wunderte sich nicht wenig, daß sein kleiner Freund nun ein fettig glänzendes Faß nach dem Vorderdeck rollte. Der Bug der „Marietta“ war nämlich den Angreifern zugekehrt, so daß die Verteidiger auf dem Vorschiff Aufstellung nehmen mußten.

„Schlagen Sie den Deckel des Fasses ein, Herr Blochstädt, – schnell!“ rief der schlaue Junge aufgeregt. „Wir wollen die Halunken schon ausräuchern …! Petroleum ist’s …! Die Bande wird Augen machen …!“

Und abermals rannte er nach der Kombüse, um gleich darauf mit einem hell brennenden Ballen Putzbaumwolle zurückzukehren.

Der Leutnant hatte längst begriffen, was Ernst vorhatte.

Jetzt kippten sie das geöffnete Faß über die Reling, und das Petroleum verteilte sich sofort weithin über das Wasser und schwamm dem Kutter mit der Strömung entgegen.

Da flog auch schon der Feuerball über Bord, und gleich darauf huschte eine lange Flamme über die halbe Breite des Kanals hin, dunkler Qualm stieg auf, und … laute Angstrufe ertönten von dem Kutter her, den das brennende Petroleum einzuschließen drohte.

In wilder Hast wurde nun das Boot rückwärts gerudert. Die Strömung half mit, und bald war es wieder um die östliche Biegung verschwunden.

Das Erdöl aber erlosch sehr bald wieder nachdem es sich in allzu dünner Schicht auf der Wasseroberfläche verteilt hatte.

„Das haben wir fein gemacht, wie?!“ meinte Ernst Gerlich strahlend. „Die braven Feuerländer werden …“

Das Wort blieb ihm im Munde stecken. Zufällig hatte er den Kanal nach der anderen Seite hin entlanggeschaut, hatte dort, keine zwanzig Meter mehr vom Heck des Wrackes entfernt zwei plumpe, große Nachen bemerkt, die sich in schneller Fahrt mit der Strömung näherten.

Gleich darauf knallten zwei Schüsse. Die beiden kühnen Abenteurer hatten jeder den Schrotlauf ihrer Büchse in einen der Kähne mitten unter die darin hockenden Pescherähs abgefeuert.

Wieder ein wildes Angstgebrüll. Die Kähne glitten vorüber, ohne daß ihre Insassen auch nur den Versuch gemacht hätten, das Wrack zu stürmen.

Blochstädt zuckte verächtlich die Achseln.

„Feiges Geschmeiß! Eine Kugel sind sie nicht wert. Außerdem wird ihnen diese Lektion wohl genügen …! – Aber ganz schlau hatten sie ihr Plänchen entworfen. Der Kutter sollte uns auf dem Vorschiff beschäftigen. Währenddessen wollten die Banditen in den Kähnen sich vom Heck aus an Deck schwingen und uns im Rücken anfallen …! – Nun –: es wär’ so schön gewesen – es hat nicht sollen sein …!“

Ernst lachte.

„Daß dieser schöne Vers auch fernerhin auf alle Angriffe der Herren Feuerländer zutrifft, dafür wollen wir schon sorgen!“ meinte er dann, um sogleich hinzuzufügen: „Eigentlich könnten wir jetzt schnell nach dem Golde und den anderen kostbaren Dingen suchen, Herr Blochstädt. Fürs erste wird den Pescherähs ja wohl der Geschmack an unserer Marietta verdorben sein!“

Eine Viertelstunde später bereits hatten die Gefährten in einer Kammer neben der Kajüte des Kapitäns alles gefunden: Goldbarren in kleinen Holzkistchen, Edelsteine aller Art in flachen, mit Samt ausgeschlagenen Kästen und in einer Ecke, in Leinwand eingenäht, acht Stoßzähne von Elefanten.

Blochstädt hatte solche Reichtümer auf dem Wrack doch nicht vermutet. Er war ganz stumm geworden.

Desto lebhafter zeigte sich der Knabe, der mit seiner regen Phantasie sofort die schönsten Luftschlösser zu bauen begann.

Dann aber sagte Blochstädt kühl, und seine Worte waren wie ein Guß eiskalten Wassers:

„Alle diese Schätze nützen uns nichts, wenn es uns nicht gelingt, sie in bewohnte Gegenden in Sicherheit zu bringen. – Komm’, mein Junge, laß uns über diesem eitlen Tand, der schon so viel Unheil angerichtet hat, nicht das Wichtigste vergessen: unsere eigene Sicherheit.“

Damit verließ er die Kammer, deren Tür innen und außen mit Blech benagelt war und die man erst durch Beilhiebe mühsam erbrochen hatte.

Kaum hatten sie das Deck wieder betreten, als sie auch schon einen der Kähne gewahr wurden, der gegen die Strömung von zwei Pescherähs auf das Wrack zugerudert wurde, während ein dritter vorn in dem plumpen Fahrzeug saß und einen Ast in die Höhe hielt, an dem ein weißer Zeugfetzen flatterte.

Nachdem der Nachen an einem ihm zugeworfenen Tau dicht unter dem Bug festgemacht war, kletterte der Wilde geschickt an Bord und übergab Blochstädt ein paar zusammengefaltete Papierblättchen, die offenbar aus einem Notizbuch ausgerissen waren. Ernst Gerlich hatte inzwischen am Heck Aufstellung genommen, um das andere Ende des Kanals zu beobachten, damit man vor jeder neuen Teufelei sicher war.

Die drei Feuerländer, die ebenfalls die drei deutschen Farben als Zierstriche im Gesicht trugen, ruderten sofort wieder davon, nachdem der Parlamentär sein Schreiben losgeworden war.

Dieses war mit Bleistift in englischer Sprache geschrieben und lautete in deutscher Übersetzung folgendermaßen:

„Ich habe in demselben Saal mit dem alten Braken im Krankenhause in Punta Arenas gelegen und zwar im nächsten Bett. Meine Ohren sind vorzüglich. Daher hatte ich auch so einiges verstanden, was der Alte dem Krankenwärter mitteilte, – einiges, nicht alles! – Ich hörte die Wörter „Hermiten“ – „Wrack“ – „Gold“ – „Zeichnung“, sah auch, daß Braken ein Ledertäschchen vom Halse nahm und seinem deutschen Landsmann reichte. Als dieser dann die Vorbereitungen für eine längere Seereise traf, die angeblich nach Azintos gehen sollte, wußte ich Bescheid. Ich bin von Beruf Pelzjäger, habe jahrelang auf Feuerland den Füchsen und Ottern nachgestellt und stehe mit den Pescherähs auf recht freundschaftlichem Fuß. Während ich selbst mit einer Abteilung der bereitwilligst auf meine Vorschläge eingehenden Feuerländer auf dem Landwege bis zum Südufer der Insel vordringen wollte, wurde eine zweite Abteilung, die sich gerade auf Navarin aufhielt, durch Feuersignale nach den Hermiten beordert, wo sie an den Außenküsten der Gruppe Posten aufstellen sollte, um den Kutter nicht unbemerkt durchschlüpfen und in dem Insellabyrinth verschwinden zu lassen.

Zu meiner Überraschung stieß ich dann jedoch auf den Kutter in der schmalen Bucht von Feuerland. Gegen meinen Willen gingen hier die Pescherähs gegen das Boot angriffsweise vor. Später gelang es mir, bald nach dem Eintreffen des Kutters bei den Hermiten ebendort zu landen.

Sie und Ihr Begleiter sitzen jetzt in einer Falle, aus der Sie ohne meine Zustimmung nicht heraus können. Ich will Ihnen jedoch den Kutter wieder ausliefern, wenn Sie mir die Hälfte der Ladung des Wrackes überlassen. Weigern Sie sich, so werde ich Sie aushungern oder andere Zwangsmittel anwenden. Bedenken Sie auch, daß nur ich Sie vor der Rache der Pescherähs schützen kann, denen Sie einen Mann getötet und fünf schwer verwundet haben. – Zum Zeichen Ihres Einverständnisses brauchen Sie nur eine Laterne des Dampfers anzuzünden und auf dem Steuerhäuschen aufzustellen. Dann werde ich ein Boot senden, das Sie abholt. Ihre Waffen bleiben auf dem Wrack.

Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Bemerke ich dann die brennende Laterne nicht, so gehen Sie einem sicheren Tode entgegen. – Tom Burton.“ –

Als Blochstädt diesen Brief seinem kleinen Freunde vorgelesen hatte, sagte Ernst sofort:

„Sie wollen doch nicht etwa diesem Schurken sich ausliefern, Herr Blochstädt?! Aus dem ganzen Ton des Schreibens ersieht man ja, was man von Burton zu erwarten hat. Er will uns nur auf möglichst unblutige Art in seine Gewalt bekommen. Nie wird er sein Versprechen halten! Er hat es nur auf unsere Reichtümer abgesehen – denn uns gehören sie jetzt rechtmäßig! – und wird uns durch die Pescherähs ermorden lassen.“

Blochstädt nickte. „Ich traue dem Menschen ebensowenig. – Früher – noch vor zwei Monaten, wäre ich wahrscheinlich leichtgläubig genug gewesen, um auf diesen Schwindel hineinzufallen. Amerika hat mich aber kuriert – und gründlich!“

 

5. Kapitel.

Der Durchbruch.

Die Laterne erschien nicht auf dem Steuerhäuschen.

Blochstädt war nun recht gespannt, was Burton weiter unternehmen würde. Vorläufig war die Lage der beiden Belagerten ja derart günstig, daß sie in Ruhe den kommenden Ereignissen entgegensehen konnten. In dem Wrack hatten sie noch allerlei Lebensmittel in Konservenform gefunden, die sich trotz des langen Liegens tadellos gehalten hatten. Außerdem bewies ein Versuch Ernst Gerlichs mit einigen in der Kabine des Steuermanns entdeckten Angelschnüren, daß es auch hier allerlei Fische gab, die auf den Fleischköder anbissen. Und diesen Köder wieder lieferten die Fledermäuse, die man durch einen Schrotschuß zu Dutzenden von der Wölbung des Felsentores über dem Schiffe herabholen konnte. Schlechter war es mit dem Trinkwasser bestellt. Aber auch diesem Mangel wollte der kleine Deutsche auf recht einfache Art und Weise abhelfen. Wie dies geschehen sollte, werden wir später sehen.

Von einer Aushungerung war vorläufig also nicht die Rede. Weit mehr war ein Angriff zu befürchten, der, falls er gleichzeitig von beiden Kanalenden mit einigem Nachdruck erfolgte, für die Bewohner des Wracks besonders nachts leicht gefährlich werden konnte. Um sich nun wirksam gegen einen solchen Überfall zu schützen, brachten die beiden Gefährten an langen Bootshaken über dem Wasser offene, große Blechgefäße an, die sie mit Palmöl (der Laderaum war ja mit Palmölfässern bis oben vollgestaut) füllten, in das als Dochte Stücke von Putzbaumwolle aus dem Maschinenraum hineinkamen. Außerdem hatte Blochstädt, während der Knabe diese Beleuchtungsvorrichtungen anbrachte, die Kapitänskajüte nach etwa vorhandenen Waffen durchsucht und auch wirklich zwei Revolver nebst mehreren Schachteln Patronen und eine doppelläufige Schrotflinte, zu der ebenfalls einige sechzig Patronen gehörten, in einem Schranke aufgefunden.

Diese Schußwaffen genügten nach des früheren Offiziers Ansicht vollauf, um die Angreifer nicht nur zu verjagen, sondern ihnen auch das Wiederkommen zu verleiden.

Schließlich wurden auch drei noch vorhandene Petroleumtonnen an der Reling des Vorschiffes bereitgestellt, ferner mehrere Palmölfässer am Heck und Bug, die man in die Boote des Feindes hinabwerfen wollte, falls es diesen gelingen sollte, bis an die Bordwände des Wracks vorzudringen.

Über diesen Vorbereitungen war der Abend hereingebrochen. Blochstädt und Ernst, die am Tage stets abwechselnd den Kanal beobachtet hatten, verabredeten nun für die Nacht, daß jeder von ihnen vier Stunden wachen und dann von dem anderen abgelöst werden solle.

Frühzeitig wurden die Öllampen angezündet, deren Schein den Kanal weit genug erhellte, um jeden sich nähernden Nachen bereits auf fünfzig Meter erkennen zu können. Die geladenen Schußwaffen legte man griffbereit auf eine Tonne in der Mitte des Schiffes, um sie sofort zur Hand zu haben.

Ernst Gerlich übernahm dann die erste Nachtwache von zehn bis zwei. Bis dahin waren die Gefährten plaudernd auf dem Deck auf und ab gegangen.

Mit der Hinterladerflinte im Arm schritt der Knabe langsam immer denselben Weg entlang, – vom Vorschiff zum Heck, vom Heck zum Vorschiff. Zunächst paßte er sehr scharf auf, beobachtete sehr genau den Kanal, von dessen im Lichte der primitiven Öllampen schillernde Wasseroberfläche sich jeder Gegenstand deutlich abheben mußte – auch der Kopf eines Menschen, der versuchen wollte, das Wrack schwimmend zu erreichen. Auch an diese Möglichkeit hatten die Gefährten gedacht, sich aber sofort gesagt, daß ein Erklettern der Bordwände nur an einer einzigen Stelle möglich sei – hinten am Steuer, und auch hier hätte stets nur ein Mann nach dem anderen die beschwerliche Kletterpartie unternehmen können.

Nach Verlauf von zwei Stunden war dem Knaben dieser Wachtdienst bereits recht langweilig. Um nun einen Zeitvertreib zu haben, legte er eine Anzahl Angelschnüre aus, die er von Zeit zu Zeit nachsah.

Gerade hatte er auf der Steuerbordseite einen kräftigen lachsähnlichen Fisch von gut sechs Pfund Gewicht herausgeholt, als er eine dichte Masse Seetang bemerkte, die mit der Strömung langsam auf die „Marietta“ zugetrieben kam.

Die kleine Seetanginsel erschien ihm sofort verdächtig, da sie zu hoch aus dem Wasser herausragte. Er argwöhnte, darunter könnten ein paar Pescherähs stecken, die durch diese List unbemerkt an das Wrack herangelangen wollten.

Die Seetangmasse trieb denn auch auffälligerweise auf das Hinterschiff zu, wo das eiserne Steuerruder des mit einer Neigung nach vorn auf dem Riff liegenden Dampfers ein Stück aus dem Wasser hervorkam. – Ernst hatte sich nicht blicken lassen und beobachtete nun durch ein Loch in der Reling, was sich weiter ereignen würde.

Nach einigen Minuten begann die Tanginsel, die sich am Steuer festgelegt hatte, sich zu bewegen. Der Kopf eines Pescherähs tauchte aus den braunen Wasserpflanzen auf, und schon machte der Wilde Miene, einen langen Bootshaken, der sicherlich von dem Kutter stammte, oben am Rande der Reling einzukrallen, als Ernst einen Warnungsschuß abgab, auf den hin die Indianer schleunigst mit der Strömung davonschwammen. Im ganzen waren es fünf gewesen, die Burton zu diesem Überfall abgeschickt hatte.

Der Schuß rief in dem Gewölbe ein ohrbetäubendes Krachen hervor. Die zahllosen Fledermäuse, die schon vorher die Leuchtgefäße unruhig umflattert hatten, wurden jetzt derart aufgeregt, daß sie in ganzen Wolken umherschwärmten.

Blochstädt war sofort herbeigestürzt gekommen, sah dann aber, daß seine Vermutung, die Wilden griffen in größerer Anzahl an, nicht zutraf. Trotzdem blieben die beiden Gefährten bis zum Morgengrauen wach, aber nicht etwa deswegen, weil sie für ihre Sicherheit fürchteten. Nein – sie schmiedeten allerlei Pläne, wie sie das Wrack verlassen und nach Punta Arenas zurückkehren könnten. Und diese Pläne nahmen immer deutlichere Formen an, bis alles ins einzelne genau festgelegt war.

Die Anregung zu der Idee, die jetzt so bald als möglich zur Ausführung kommen sollte, hatte Ernst Gerlich gegeben. War es doch seine Absicht gewesen, dadurch das nötige Trinkwasser zu besorgen, daß ein aus leeren Öltonnen und Brettern zusammengefügtes Floß, auf dem wieder leere Fässer angebracht waren, mittelst eines langen Taues vom Wrack aus nach dem Ostende des Kanals bis außerhalb des Felsentores hindirigiert wurde, wo der häufige Regen die Fässer bald füllen mußte, die man nachher zusammen mit dem Floß wieder gegen die Strömung bis an den Dampfer ziehen und bergen konnte. – Dieser Gedanke war, wenn man die Sache geschickt anfing, immerhin zu verwirklichen. Das hatte Blochstädt nach einigen Bedenken, die sein kleiner Freund bald zu zerstreuen wußte, sehr wohl eingesehen.

Und durch diesen Gedanken eben, besonders durch das Floß, das dabei eine Hauptrolle spielte, kam der frühere Offizier dann auf den Plan, wie man aus dieser Mausefalle entschlüpfen könne.

Gleich am nächsten Tage wurden acht Palmölfässer mit Hilfe des Hebekranes an Deck geschafft, ihr Inhalt in den Kanal gegossen und die Spundlöcher dann wieder wasserdicht verschlossen. Diese sehr dauerhaft aus einer tropischen Holzart gearbeiteten Tonnen bildeten das Untergestell für ein Floß, indem sie durch Latten, die man aus dem Laderaum herausbrach, immer zu zweien mit etwa ein halb Meter Zwischenraum fest zu einem Ganzen verbunden wurden. Außerdem wurden aber, um eine Beschädigung dieses Schwimmkörpers, der eine erhebliche Belastung aushalten konnte, zu verhüten, die Tonnen noch durch einen spitzzulaufenden Rahmen von Balken auf der Unterseite geschützt. Oben auf diesen Schwimmkörper wurden ein paar ausgehobene Türen der Kajüten aufgenagelt, nachdem man ihnen die geeignete Form durch Wegsägen der überflüssigen Teile gegeben hatte. Die Ritzen dieses Floßbodens dichtete man durch in Teer getauchte Putzbaumwolle und Leinwandstückchen ab und nagelte auf beiden Seiten Leisten darüber. Dann erhielt das merkwürdige Fahrzeug noch Bordwände aus Brettern, die ebenfalls abgedichtet und durch Querhölzer gestützt wurden.

Nach einer Woche emsiger Tätigkeit war das Floß fertig und besser gelungen, als die Gefährten es je gehofft hatten. Sogar eine niedrige, enge Kajüte besaß es, die Blochstädt scherzend stets als „Hundehütte“ bezeichnete, ferner einen Mast, eine einfache Takelung und ein Steuer. Der Oberbau hatte die Form eines länglichen, drei Meter breiten und acht Meter langen Vierecks, dessen eine Seite in eine Spitze auslief und erhielt auf der Außenseite noch einen dicken Teeranstrich, so daß er völlig wasserdicht war.

Das Hämmern und Klopfen war von den Feinden, die die beiden Ausgänge des Felsentores bewachten, natürlich gehört worden. Zwei Mal hatten die Pescherähs in diesen acht Tagen neue Angriffe versucht, mußten aber stets schleunigst wieder flüchten.

Dann brachten die Gefährten eines Morgens ihr Fahrzeug mittels des Kranes vom Deck des Wrackes ins Wasser. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß das Floß ganz nach Wunsch schwamm, hißten sie es wieder ein paar Meter hoch und ließen es so hängen. Vorher schon hatten sie die meisten Gegenstände, die sie mitzunehmen gedachten, in der Kajüte und einem Verschlage im Vorderteil sorgfältig verstaut, darunter auch die Goldbarren und die Edelsteine. Das Elfenbein mußten sie leider zurücklassen, da es zu schwer war und zu viel Platz wegnahm.

In der folgenden Nacht wurde dann der Durchbruchsversuch gewagt. Noch während der Dämmerung hatte man die letzten Vorbereitungen getroffen, da um diese Tageszeit, wo die großen Ölbehälter noch nicht ihr Licht verbreiteten, die Feinde am schlechtesten beobachten konnten, was auf dem Wrack geschah.

Nach der Zeichnung des alten Braken mündete der Kanal nach Osten zu, also nach dorthin, wohin die Strömung ging, nach einigen Biegungen in ein breites Wasserbecken, aus dem wieder ein langer Sund in weitem Bogen nach der offenen See führte. In diesem Sunde lagen viele winzige Eilande, die den Unkundigen leicht in einen Nebenkanal locken konnten. Aber die Skizze des alten Seemannes erwies sich nachher als so sorgfältig angelegt, daß die kühnen Abenteurer sich leicht zurechtfanden.

Genau um Mitternacht flogen die drei Petroleumfässer und vier Palmöltonnen über die Reling, denen sofort ein paar brennende Ballen folgten. Roter Feuerschein und dichter Qualm erfüllte schnell das Felsentor, zog aber mit der Strömung dann nach Osten zu. Und dicht hinter diesem wandernden Feuerwall, der jeden Gegner schleunigst aus der Nähe des Kanals verscheuchen mußte, folgte das Floß. – Ernst bediente das Steuer, während Blochstädt die Schußwaffen bereit hielt, um auf jeden sofort feuern zu können, der es wagen würde die Fliehenden irgendwie zu belästigen.

Jetzt hatte das Floß die erste Krümmung erreicht, jetzt sahen die Gefährten an dem hohen Steilufer ihren Kutter liegen, dessen Segel lichterloh brannten. Dann von dem Rande der Küste, von hoch oben, ein schrilles Wutgebrüll. Der Lichtschein des bereits erlöschenden, schwimmenden Petroleums genügte gerade noch, um auf der Uferhöhle die Pescherähs zu erkennen, die ihrer Wut und Enttäuschung durch gellendes Geschrei Ausdruck gaben.

Aber schnell glitt das Floß vorüber, hinein in die Dunkelheit. Jetzt stand Blochstädt mit einem langen Bootshaken in der Hand auf der Spitze des seltsamen Fahrzeugs und sorgte dafür, daß es nicht gegen einen Felsvorsprung rannte. Ein paar bange Stunden noch, – dann war das offene Meer erreicht, gerade als der Morgen zu grauen begann.

Es wurde ein selten schöner, klarer Tag. Kap Hoorn schien zeigen zu wollen, daß es in seiner Nähe auch einmal freundliches Wetter gab. – Am Nachmittag nahm eine spanische Brigg die beiden Deutschen samt ihren Schätzen auf, und das waghalsige Unternehmen war geglückt. –

In der deutschen Heimat begannen Blochstädt und Ernst Gerlich, die sich nicht wieder trennten, ein neues Leben – trotz ihres Reichtums ein Leben strenger Pflichterfüllung und erfolgreicher Arbeit.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Ein Aufklärungsflug.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung des Verlages:

  1. ↑* Schouten van Hoorn, der es 1646 als erster umschiffte.

 

 

Anmerkungen:

  1. Der Satz: „… die das Fahrwasser zwischen den Inseln zu kreuzen, gefährlichen Wellen aufpeitschten …“ ergibt so keinen Sinn. Richtig muß es wohl heißen: „… die das Fahrwasser zwischen den Inseln kreuzen, zu gefährlichen Wellen aufpeitschten …“
  2. Auch hier muß Walther Kabel wieder eine sehr alte Karte oder einen sehr alten Atlas benutzt haben. Alle Namen, Schreibweisen und Zahlenwerte der Vorlage wurden ohne Änderung übernommen.
  3. In der Vorlage steht: „Teile“.