Harald Harst: Aus meinem Leben
Band: 251
Erzählt von
Max Schraut
Die bildschöne Irina Vanderkott, die sich als Filmdiva Irina Kotty genannt hatte, war nach dem bösen Autounfall, der ihren rechten Fuß um drei Zentimeter verkürzte, für die große Welt und die Filmateliers tot – erledigt. Nur ein kleiner Kreis ihrer Getreuen genoß noch die Gunst, in ihrer Villa empfangen zu werden. In der Öffentlichkeit sah man Irina nur noch in ihrem eleganten Auto auf entlegenen Waldwegen der schönen Umgebung Berlins, von der die Fremden so wenig wissen.
Irina Vanderkott war unsere Nachbarin. Zwischen dem Harstschen Grundstück und ihrer Villa liegt nur noch das bescheidene kleine Häuschen Doktor Pingallis, des bekannten Privatgelehrten, – eines Sonderlings aus verklungenen Zeiten. Weder Irina noch Pingalli unterhielten zu uns nähere Beziehungen. Wir standen auf Grüßfuß, das war alles. Irina hatte, so lange sie nicht lahm war und nicht die Narbe am Kinn ihr liebliches Gesicht verunstaltete, über uns beide mit der oberflächlichen Anmaßung so junger Filmgrößen hinweggesehen, und Richard Pingalli wieder war zu menschenscheu und zu sehr strenger Wissenschaftler, als daß ihm unsere Vagabundennaturen zusagen konnten.
Das alles sollte sich mit einem Schlage ändern. Irina hatte freilich schon nach dem schweren Verhängnis, das sie betroffen und das ihr den lahmen Fuß und die tiefe Kinnnarbe eingetragen, etwas freundlicher gegrüßt und sogar meine geringe Person zweimal eines vertraulichen Lächelns gewürdigt. Aber gesprochen hatten wir bisher mit ihr nie, und als es geschah, war es Nacht und Irina in Tränen aufgelöst. –
Es war zwei Tage nach der nächtlichen Aufklärung des Doppelmordes Menk-Gelling. Wir hatten nachmittags wieder einmal bei Cladow in der Havel geangelt, waren durch ein Gewitter überrascht worden und daher bereits um acht Uhr wieder daheim. Es wurde ein behaglicher Abend mit Haralds Mutter, der Regen störte uns nicht, wir saßen im Wintergarten und Harst las Teile aus Waldemar Bonsels[1] wunderbarer Indienfahrt vor. Die köstliche Schönheit der Sprache Bonsels, die eindrucksvolle Art seiner Charakterisierung, die einzigartige Anschaulichkeit seiner Naturschilderungen weckten stillen Neid in mir. Bonsels ist ein großer Künstler, ich bin nur ein armseliger Chronist, der das beste Wollen hat, dem aber das Können versagt ist.
Es war der 29. Juni. Man erinnert sich unschwer dieser schwülen Nacht, in der andauernd in der Ferne Gewitter grollten und ein lauwarmer Regen die dürstende Erde tränkte. Gegen elf zog sich Haralds Mutter nach oben in ihre Räume zurück, küßte ihren großen Jungen und drückte mir herzlich die Hand. Sie war ja stets so froh, wenn wir unruhigen Geister einmal daheim blieben und nicht unsere Haut aus Abenteuerlust auswärts zu Markte trugen.
Wir beide gingen in Haralds Arbeitszimmer hinüber. Vor ein Uhr meiden wir den friedlichen Pfühl. Wir brauchen wenig Schlaf. Schlafen ist Angewohnheit. Harst saß am Schreibtisch und klebte Zeitungsausschnitte in unsere Sammelbände ein. Ich faulenzte[2] im Klubsessel am Kamin. Das Zimmer war bald grau von Rauch. Wir sind Nikotinverehrer.
Dann klirrte und quietschte draußen die Vorgartenpforte – es läutete, und ich ließ Irina Kotty ein. Sie hatte nur einen Seidenmantel übergeworfen, sie war sehr bleich und sank sofort in einen Sessel und weinte völlig fassungslos.
„Ganotta ist soeben bei mir erschossen worden …“ rief sie dann verzweifelt. „Felix Ganotta, der Legationsrat … Bitte – bitte – – kommen Sie mit …! Ich habe die Polizei schon verständigt …“
Wir begleiteten sie denn auch. Im Salon ihrer Villa fanden wir vier verstörte Herren im Abendanzug vor, nebenan im Musikzimmer, dessen Fenster nach dem Garten hinausgingen, lag Ganotta neben dem Bechsteinflügel auf dem Perserteppich mit einer Kugel im Herzen. Neben ihm kniete Medizinalrat Kempner, den der Diener sofort im Auto geholt hatte.
Kempner erklärte achselzuckend, daß der Tod augenblicklich eingetreten sein müsse. Der Schuß sei aus größerer Entfernung abgegeben, und da die Fenster weit offen ständen, müßte der Schütze im Garten gestanden haben.
Wir rührten nichts an, wir waren in der Tür zum Salon stehen geblieben und ließen uns nun von einem der Gäste Irinas das Nähere erzählen.
Ich komme hierauf später zurück, möchte nur folgendes sofort anführen: Ganotta lag auf dem Rücken. Der Klaviersessel war umgefallen und bedeckte seine Füße. Das Gesicht des Toten zeigte einen Ausdruck von Schreck und Wut, wie ich ihn so deutlich kaum je in den erstarrten Zügen eines Ermordeten bemerkt habe. Sowohl der Deckel der Klaviatur als auch der des Flügels selbst waren geöffnet, letzterer in üblicher Weise abgestützt. Auf dem Notenhalter lehnte ein Notenblatt, ein moderner Schlager: „Und ist mein Herz auch noch so klein, es reicht bestimmt zum Glücklichsein.“ – Welch’ bittere Ironie war das!!
Nun die Wunde.
Felix Ganotta[3] trug zum Smoking ein halbweiches weißes Oberhemd. An der Stelle des Herzens hatte der Hemdeinsatz ein kleines Loch mit nach innen gedrückten Rändern. Blut war nicht zu bemerken. Der Arzt hatte das Hemd nach erfolgter Untersuchung wieder zugeknöpft. Die tödliche Wunde saß genau im Herzen und dicht am Rande des Westenausschnitts.
Das Musikzimmer hatte zwei Fenster. Beide standen offen. Ich hörte draußen den Regen plätschern und das Rauschen der Bäume. Ich kannte den Garten von Ansehen, denn auch er stieß an den Feldweg, der am Laubengelände entlanglief. Er war schmaler als der unsrige, das ganze Grundstück und die Villa kleiner. Sie hatte nur sieben Zimmer.
Sowohl die Klavierlampe als auch die Deckenbeleuchtung und die elektrische Krone brannten, und diese blendende Helle mußten es dem Meuchelmörder leicht gemacht haben, von draußen sicher zu zielen. – Im übrigen wäre über den Tatort nichts zu sagen.
Harst hatte, genau wie ich, all diese Einzelheiten sich genau eingeprägt. Sie schienen wenig bedeutungsvoll, und doch gaben sie die Unterlagen für bestimmte Schlüsse, die später außerordentlich wichtig werden sollten.
Harald und ich eilten nun zunächst in den Garten, bevor etwa der Regen die Spuren des Schützen und Mörders völlig verwaschen hätte. Wir hatten unsere Taschenlampen mit, und da der Regen nur schwach war, fanden wir auch auf dem Hauptwege neben einer Fontäne mit hohem Bassinrand eine Stelle, wo jemand längere Zeit gestanden haben mußte. Der nasse Kies war zertreten und der Rand des Bassins zeigte eine Menge Kiesstückchen: Der Mörder war auf das Bassin gestiegen und konnte nur von dort gefeuert haben. Vom Wege selbst war ein freier Einblick in das Zimmer unmöglich, wie wir sofort gesehen hatten.
Die Fährte des Täters war jedoch nirgends so klar ausgeprägt, daß man sie hätte messen können, sie war nur recht groß, – der Mensch mußte mindestens Schuhgröße 47 haben. Sie ließ sich bis zum Feldweg verfolgen, hier verschwand sie. Der Mörder war über den Zaun geklettert und schien oben auf dem Zaun die Stiefel ausgezogen zu haben und auf dem Grasrand des Weges geflüchtet zu sein.
Wir kehrten ins Haus zurück, und Harald telephonierte sofort an die Polizei und bestellte einen Polizeihund nebst Führer. –
Ich kann die nächsten zwei Stunden übergehen. Die Arbeit einer Mordkommission ist stets dieselbe. Irina Vanderkott und ihre Gäste gaben ihre Aussagen zu Protokoll, – der Polizeihund versagte wegen des reichlich fallenden Regens und genau um halb zwei morgens waren wir wieder daheim. Der Fall schien ziemlich aussichtslos. Irina hatte betont, daß Legationsrat Ganotta kaum einen Feind besäße, und die anderen Herren pflichteten ihr bei: Ganotta war ein liebenswürdiger harmloser Lebemann, alles andere als ein Wüstling, sogar ein sehr gediegener Charakter, eine durch und durch vornehme Natur. –
Und nun mag der Leser sich im Geiste in Harsts[4] Arbeitszimmer versetzen … Harst lehnte im Klubsessel am Kamin, ich hatte den zweiten Sessel inne, zwischen uns stand das Rauchtischchen mit der dampfenden Mokkamaschine, Tassen und Zuckerdose und Sahnennäpfchen, Aschbecher und Zigarettenkasten. Ich hatte einen großen Notizblock bei der Hand, dazu einen spitzen Bleistift. Harald diktierte, ich schrieb …
„… Irina Vanderkott, ledig, 24 Jahre, gebürtig aus Magdeburg, Kind armer Eltern, zuerst Mitglied einer Damenkapelle, dann deren Dirigentin, weit gereist, mit Zwanzig für den Film entdeckt, schneller Aufstieg, Star der Gelbbaum-Gesellschaft, ein Jahr in Hollywood, dann wieder in Berlin, kaufte vor einem Jahr die Villa Blücherstraße Nr. 12, verunglückt im April dieses Jahres bei Autofahrt, muß Filmkarriere aufgeben, da lahm und durch Kinnnarbe entstellt. Lebt nunmehr völlig zurückgezogen, besitzt Vermögen von rund einer halben Million, verkehrt nur noch mit einigen Bekannten. – Personal ihrer Villa: Zofe, Diener, Chauffeur, Köchin, – alle vier seit drei Jahren in ihren Diensten. – Tadelloser Ruf, Spitzname: Die kalte Kotty. – Ernsthafte Bewerber waren Felix Ganotta und Doktor Horst Ritschel.“
Harald trank seine Tasse leer, ich rauchte drei Züge …
„Am 29. Juni hat Irina fünf Herren zum einfachen Abendessen gebeten:
1. Felix Ganotta, Legationsrat der litauischen Gesandtschaft, Junggeselle, 33 Jahre, stattlicher, hübscher Mann, seit einem Jahr Irinas Bewerber.
2. Doktor Horst Ritschel, Redakteur der Zeitschrift „Bild und Wort“, 30 Jahre, Junggeselle, Charakterkopf, Spieler, Allerweltsgenie, verschuldet, – Irinas zweiter Bewerber.
3. Direktor Jakob Hirsch von der Gelbbaum-Film-A.-G., 40 Jahre, verheiratet, kühler, geriebener Geschäftsmann.
4. Major a. D. Günther von Spitzer, dreiundvierzig, Junggeselle, Filmschauspieler dritter Güte, problematische Natur, Heuchler, Mantelträger.
5. Heribert Prank, Filmschauspieler, 28 Jahre, netter, harmloser Mensch, guter Komödiant, Durchschnittsnatur.“
– Harald nahm eine neue Zigarette und füllte unsere Tassen …
„Nach dem Essen begaben sich Irina und die fünf Herren in den Salon. Man spielte um ganz bescheidene Einsätze Kartenlotterie. Um elf bittet Irina den Legationsrat, ihr den neuen Schlager vorzusingen. Sie begeben sich in das Musikzimmer, die Schiebetür zum Salon bleibt offen. Doktor Ritschel folgt den beiden. Ganotta nimmt am Flügel Platz, Ritschel stellt sich an das rechte Fenster des Musikzimmers und schaut in den Garten hinaus, Irina lehnt am Flügel, Ganotta singt und begleitet sich, hört plötzlich auf und stürzt ohne einen Laut von sich zu geben vom Klaviersessel. Ritschel dreht sich um, springt zu und kann die halb ohnmächtige Irina gerade noch auffangen.“
Harst trinkt, raucht zwei Züge und diktiert weiter:
„Niemand hat den Schuß gehört. Da Ganotta gerade eine Stelle des Liedes ganz Pianissimo spielte, hätten sowohl Ritschel als auch Irina und die Herren im Salon den Schuß vernehmen müssen, falls dieser etwa im Musikzimmer selbst oder dicht vor dem linken Fenster – am rechten stand Ritschel – abgefeuert worden wäre. – Der Polizeiarzt hat die Kugel mit einer Zange unschwer herausziehen können, da sie nur die eine Herzwand halb durchschlagen hatte. Diese Kugel ist ein Nickelmantelgeschoß Kaliber 6,9 und zeigte im Mantel die Eindrücke der Züge einer automatischen Pistole. – Hiernach ist es ausgeschlossen, daß etwa eine geräuschlose Luftpistole verwendet wurde, oder daß entweder Irina oder Horst Ritschel den Schuß abgegeben haben unter Benutzung eines Schalldämpfers. Selbst ein Schuß mit Schalldämpfer hätte von den drei Herren im Salon gehört werden müssen. – Im Hintergarten wurden Spuren einer Person entdeckt, die auf den Rand der Fontäne gestiegen war. Von dort aus war der am Flügel sitzende Ganotta deutlich zu sehen und ein Schuß möglich!“
Harald stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen.
„… Der Polizeihund versagte. Kommissar Doktor Lücke ließ auf dem Fontänenrand einen Pistolenschuß mit Schalldämpfer abgeben. Der dumpfe Knall wurde, obwohl Lücke leise Klavier spielte, im Salon deutlich gehört. – – Unterstreiche diesen Satz, mein Alter. – Mithin muß der Mörder sich einer Pistole bedient haben, die fast geräuschlos war, betonte Lücke.“
Harst tippte mir auf die Schulter …
„Nimm ein neues Blatt … Nun kommen meine persönlichen Bemerkungen und Beobachtungen …“
Ich schrieb wieder …
„… Man muß sich zunächst fragen: Weshalb holte Irina uns zu sich, weshalb kam sie insbesondere persönlich und überließ es nicht Heribert Prank, uns hinüberzubitten. – Die Polizei war gerufen worden, – Irina hätte uns doch weit einfacher telephonisch verständigt. Daß sie lediglich in ihrer Verstörtheit zu uns gelaufen kam, wäre zu verstehen gewesen, wenn sie mit Ganotta allein gewesen wäre. Sie hatte jedoch Gäste, und die vier Herren standen ihr freundschaftlich sehr nahe. Prank sagte mir auch insgeheim, er habe ihr abgeraten, uns zu holen, da wir der Polizei nicht vorgreifen würden. Sie blieb jedoch hartnäckig bei ihrem anfänglichen Entschluß und eilte davon. Ich fragte Prank, wie lange sie nach seiner Schätzung bei uns gewesen. Er erklärte, ihre Abwesenheit habe mindestens zehn Minuten gedauert. Bei uns hielt sie sich kaum drei Minuten auf, für den Hin- und Rückweg rechne ich je eine Minute, das sind im Höchstfalle sechs Minuten. Vier Minuten also verbrachte sie anderswo mit einem anderen Vorhaben. – Unterstreiche auch diesen Satz. – Was tat sie in diesen mindestens vier Minuten?! Das wäre unbedingt von uns aufzuklären.“
Ich blickte auf. „Du hegst Verdacht gegen sie?“
„Abwarten, mein Alter … – Weiter also. Schreibe … – Irinas Verstörtheit wirkte durchaus ungekünstelt. Sie war verzweifelt, vollkommen verwirrt und gab sich so, wie es den Umständen entsprach. Ein Argwohn gegen sie kann sowohl aus diesem Grunde als auch deshalb nicht aufkommen, weil sie unmöglich den Schuß abgegeben haben kann. Die Kugel stammt aus einer automatischen Pistole, die Eindrücke der Züge des Laufes im Mantel des Geschosses sind ein unumstößlicher Beweis. – Anderseits ist folgendes hervorzuheben, das ich ebenfalls Heribert Prank verdanke. In Irinas Salon haben dieselben Gäste schon häufiger ein harmloses Spielchen gemacht. Ich fragte Prank, ob der Spieltisch immer rechts vor dem Ecksofa aufgestellt worden sei, von wo aus ein Blick in das Musikzimmer nicht möglich ist. Prank erwiderte unbefangen, der Spieltisch habe sonst stets vor dem Wandsofa links gestanden. Mithin hat Irina an diesem Abend den Tisch anders stellen lassen. – Prank gab auch zu, daß Irina ihn, Spitzer und Direktor Hirsch bat, das Spiel fortzusetzen, während Ganotta ihr das Chanson vortragen sollte. Dieselbe Aufforderung galt auch für Doktor Ritschel, der sich jedoch als eifersüchtiger Verehrer Irinas nicht danach richtete und ebenfalls ins Musikzimmer ging. Prank hörte, wie Irina ihm halblaut zurief: „Sie sollten meine Wünsche mehr respektieren, Doktor …! Ganotta singt allein für mich!“ Dies mag Ritschel schwer gekränkt haben, deshalb stellte er sich mit dem Rücken nach dem Zimmer an das eine Fenster. – Man gewinnt hieraus den Eindruck, daß Irina mit Ganotta im Musikzimmer allein und unbeobachtet sein wollte. Hat also Irina etwa nur deshalb Ganotta um den Vortrag des Chansons gebeten, um ein Alleinsein mit ihm herbeizuführen?!“
„Einen Augenblick …!“ Ich mußte in neues Blatt nehmen. Selten wohl habe ich mit solcher Spannung Haralds Ausführungen niedergeschrieben. Er war an den Tisch getreten, trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort:
„Ich hatte Gelegenheit, Doktor Ritschel unverfänglich zu fragen, ob er denn nicht von seinem Fenster aus im Garten etwas gesehen oder gehört hätte. Er zögerte mit der Antwort. Schließlich erwiderte er: „Ich kann mich getäuscht haben, – es war ja sehr dunkel draußen, aber mir schien’s, als ob eine Frau neben der Fontäne stand. Eine Gestalt bestimmt. Ich beugte mich deshalb auch weit zum Fenster hinaus, um besser sehen zu können. Da hörte ich das Poltern des umstürzenden Klaviersessels und den dumpfen Krach, mit dem Ganotta auf den Teppich fiel. Ich drehte mich um, Irina stand am Flügel und taumelte mir halb bewußtlos in die Arme.“ Ritschel hat dies – die Gestalt an der Fontäne – erst der Polizei gegenüber erwähnt, nachdem ich ihn darauf hingewiesen, das sei doch sehr wichtig. – Ich gewann den Eindruck, daß Ritschel noch etwas verschwiegen hat, irgendeinen vielleicht geringfügigen Umstand, der ihm jedoch verfänglich erscheinen mag. Er ist als früherer Gerichtsreporter kriminalistisch gut vorgebildet und hat wiederholt als Amateurdetektiv große Erfolge gehabt. Dabei ist er keine ganz einwandfreie Persönlichkeit. Auf seine Angaben ist kein Verlaß. Man sagt ihm nach, daß er großzügiger Bestechung zugänglich sein soll. Man wird ihn nicht aus den Augen lassen dürfen. Seine Behauptung, er hätte keinen Schuß gehört, dürfte nicht stimmen. Er, der am offenen Fenster stand, befand sich dem Mörder am nächsten, und dieser feuerte ohne Zweifel von der Fontäne aus.“
Harald setzte sich nieder und bedeckte die Augen mit der linken Hand, – wohl um seine Gedanken noch schärfer zu konzentrieren.
„… Ziehen wir aus allem das Fazit, so kann man folgende Theorie aufstellen: Irina, die kalte Kotty, hat einen heimlichen Liebhaber, vielleicht einen verheirateten Mann, dessen Frau ihr bereits Drohbriefe geschickt haben mag. Diese Frau fürchtete Irina, deshalb ließ Irina, um vor heimtückischen Schüssen sicher zu sein, den Spieltisch in die Ecke stellen. Sie vermutete gerade für diesen Abend eine Gefahr, glaubte jedoch aus irgendwelchen Gründen, daß die Gefahr dadurch zu beseitigen sei, daß sie Ganotta im Musikzimmer gewisse Vertraulichkeiten gestattete, die vom Garten aus beobachtet werden konnten und die die Eifersucht der Frau zerstreuen sollten. Deshalb auch war ihr die Begleitung Ritschels so unangenehm. Sie wollte mit Ganotta allein sein. Die Frau sollte sehen, daß sie Ganotta bevorzugte, – sie lehnte sich an den Flügel neben Ganotta. – – Du wirst zugeben, mein Alter,“ sagte er lebhafter und ließ die Hand sinken, „daß diese Theorie allen tatsächlichen Feststellungen gerecht wird. Nimm an, die Frau, die von Ritschel an der Fontäne gesehen wurde, wollte gar nicht Ganotta, sondern Irina treffen, aber die Kugel ging fehl und tötete den Legationsrat. Möglich auch, daß die Frau zu Ganotta Beziehungen unterhielt. Das ist vorläufig gleichgültig. Zu meiner Theorie paßt am besten die Annahme eines Fehlschusses. Und ebenso paßt dazu folgende Erklärung für die Verwendung der noch freigebliebenen vier Minuten von Irinas Abwesenheit: Sie war im Garten, bevor sie zu uns kam!! – Beweis: Ihre Halblackschuhe! Würde sie nur über den Bürgersteig zu uns geeilt, hätten die Schuhe nicht gelbliche Schmutzränder von nassem Gartenkies haben können, – und sie hatten solche Ränder. Also war Irina in ihrem Garten. Zu welchem Zweck?! Und wo war sie?! – Nicht auf dem Hauptweg, nicht bei der Fontäne. Ihre Spur hätten wir sehen müssen. – Wo war sie? Ich weiß es nicht. Ich vermute nur, sie hoffte im Garten noch die Mörderin zu treffen. Vielleicht begegnete sie ihr wirklich noch und versprach ihr, sie nicht zu verraten …! – Auch diese Dinge bleiben zu klären. Vorläufig finde ich keine bessere Theorie, möchte nur noch sagen: Doktor Horst Ritschel kennt die Mörderin ebenfalls!“
Ich hatte Notizblock und Bleistift weggelegt und ein Zündholz angerieben. Meine Zigarre war ausgegangen.
„Du hältst es also für vollkommen ausgeschlossen, daß Irina etwa das Nickelmantelgeschoß in eine Luftpistole geladen und doch den Schuß abgefeuert hat?“ meinte ich bedächtig, denn Harsts Theorie erschien mir allzu gekünstelt. Ich selbst mißtraute Irina gründlich.
„Ausgeschlossen, mein Alter! Bedenke, daß eine Luftpistole auch nicht völlig geräuschlos ist, daß eine solche Waffe recht groß ist und sich nicht so leicht verbergen läßt. Bedenke weiter das ungeheure Wagnis, einen Mann niederzuschießen, während noch ein zweiter in demselben Zimmer weilt und nebenan drei weitere Herren, die sofort hereinstürmten. Wo sollte Irina die Waffe gelassen haben?! Ritschel drehte sich ja sofort um. Irina hätte sie nicht einmal zum Fenster hinauswerfen können.“
„Weshalb nicht?! Das ist im Moment getan.“
„Gewiß … du vergißt aber, unter dem linken Fenster – am rechten stand Doktor Ritschel! – befindet sich an der Mauer ein großes Frühbeet mit Glasfenstern. Ich habe es mir angesehen. Die Luftpistole hätte auf dieses Fenster fallen müssen …“
„Weshalb nicht darüber hinaus in das Blumenbeet?!“
„Weil die Entfernung zu groß ist. Von dem Bechsteinflügel, wo Irina stand, bis zum linken Fenster sind es sechs Meter. Das Frühbeet ist vier Meter breit. Wollte man eine Luftpistole durch ein offenes Fenster, dessen obere Scheiben aber geschlossen waren, weiter als etwa sieben Meter schleudern, könnte man dies nur durch einen Wurf in hohem Bogen. Irina hätte die Pistole fast horizontal schleudern müssen. Ein Wurf im Bogen war unmöglich, also – Irina hatte keine Pistole! Lücke hat auch das Zimmer so genau durchsucht, daß die Waffe nicht etwa versteckt worden sein kann. Wo auch?! Irina stand am Flügel, sie hätte die Pistole nicht einmal unter ihren Röcken verbergen können, dazu gehört Zeit. – Nein, den Gedanken lasse nur fallen, mein Alter … Der Schuß kam von draußen …“
„Verzeih’, – und wenn Irina nur deshalb im Garten war, um die Waffe zu holen, die sie hinausgeschleudert hatte?“
„Ich habe dort nach Spuren gesucht, mein Alter … Die hohen Absätze von Damenschuhen drücken in feuchtem Boden tiefe Löcher ein. Es waren keine Spuren vorhanden.“
„Dann allerdings …“
„Und doch – ein anderer Umstand muß beachtet werden, und gerade dies macht den Fall noch rätselhafter. Ich habe auch die Entfernung von der Fontäne bis zum Flügel genau geschätzt: Es sind mindestens neunzehn Meter. Wenn die „Frau“ mit einer automatischen Pistole feuerte, hatte sie wenig Aussicht zu treffen. Gewiß – nach meiner Theorie traf sie auch die falsche Person. Aber – gib acht! – bei neunzehn Meter durchschlägt ein modernes Nickelmantelgeschoß einen menschlichen Körper, wenigstens Weichteile, ganz glatt. Hier aber war die Kugel in der äußeren Herzwand stecken geblieben, nachdem sie nur das Oberhemd und ein dünnes, seidenes Unterhemd durchbohrt hatte. – Daß auch Lücke hieran gedacht hat, merkte ich ihm sehr wohl am. Lücke hegt auch Verdacht gegen Irina. Und doch wird er ihr niemals etwas beweisen können.“ Er schwieg und horchte … „Ein neues Gewitter scheint heraufzuziehen … Ich denke, wir können es jetzt wagen …“
„Was denn?“
Er hielt die linke Hand hoch und spreizte die Finger. „Ich nehme an, daß die Polizei sich entfernt hat und Irinas Gäste sich wieder einfinden werden. Irina flüsterte Prank etwas zu, und ich verstand: „Bestellen Sie auch die anderen …“ – Ich möchte dieser Versammlung als Ersatz für den toten Ganotta beiwohnen, und für dich wäre das auch ganz interessant …“
„Auch für Lücke,“ bemerkte ich ironisch „Glaubst du, daß Lücke die Villa unbewacht läßt?!“
„Ja. Soll er Irina argwöhnisch machen?! Doktor Hans Lücke ist mit der Beste vom Roten Alex. Hinter seiner Supereleganz verbirgt sich ein feiner Geist, das wissen wir am besten … Er hat seine besondere Arbeitsmethode, und … ich traue ihm nicht über den Weg, bei ihm gilt die Rede auch nur zur Verschleierung seiner Gedanken.“
Wir zogen die leichten Gummimäntel über, setzten die Schlappmützen auf, steckten das Handwerkszeug zu uns und waren gleich darauf in Irinas Garten neben der Fontäne.
Harald hatte meinen Arm umkrallt und wies nach vorwärts … In dem leichten Nebelregen erkannte ich unklar einen Mann der auf dem Hauptwege saß und beide Hände gegen den bloßen Hinterkopf preßte. Der Mann stöhnte leise und fluchte dazu …
Hans Lücke, der feudale Hans, flucht sonst nie.
Harst trat neben ihn. „Lücke, wer hat Sie denn hier niedergeschlagen?“
Lücke schaute zu uns empor. „Ein Weib, Harst … ein Weib … Ich habe meine fünf Sinne noch nicht ganz beieinander. Helft mir auf die Beine … Die Kanaille schlug blitzschnell zu … Schade um meine Beinkleider … Sie sind hin. Ich fiel dort in das Spalierobst, und das Loch am Knie läßt meine gelbseidene Unterhose vorschimmern.“
„Wenn Sie von Unterhosen reden, lieber Lücke, denken Sie sicherlich in Wahrheit darüber nach, weshalb oben alle Mansardenfenster der Villa hell sind. Ich glaube, Sie haben diese Fenster der Dienstbotenstübchen trotz ihres brummenden Schädels beobachtet und sich deshalb hier mitten in den Weg geschleppt.“
Hinter den Vorhängen droben huschten Gestalten hin und her. – Lücke erwiderte: „Sie packen! Sie ziehen ab!“
Wir stützten ihn, und er murmelte aufs neue eine Verwünschung gegen die Frau, die ihn hinterrücks erledigt hatte. „Ich war kaum drei Minuten hier im Garten, als die Person mir eins auswischte …“
Langsam schritten wir rechts um die Villa herum. Alle anderen Fenster waren dunkel, und – – die Haustür offen.
„Hm!“ meinte Harald. „Wartet hier mal.“ Er lief nach links, wo die Garage stand. Er kam auch sofort zurück. „Das Auto ist weg, und die Einfahrt ist ebenfalls weit offen.“
„Ja,“ nickte Lücke, „sie hat die Dienstboten abgelohnt und entlassen und ist ausgerückt. Ich werde sofort telephonieren.“
Wir betraten die Diele. Wir horchten, und von oben kamen allerhand Geräusche, Stimmen, Türenklappen und halblaute Zurufe.
Harald öffnete im Dunkeln die Salontür. „Leise!!“ mahnte er … „Hier geht noch mehr vor.“
Die Finsternis ringsum machte ein Zurechtfinden sehr schwer. Ich hatte Lücke untergefaßt. Wir beide standen etwa unter dem Kronleuchter, Harst war verschwunden.
Dann flammte draußen ein Blitz auf, und ich sah durch die offene Schiebetür in das Musikzimmer hinein und erkannte zwei Gestalten, die sich umklammert hielten und miteinander rangen. Es war nur ein Momentbild. Die Dunkelheit verschluckte alles …
Auch Lücke hatte dasselbe gesehen. Er trug seine Lampe vorn am Mantel. Ich hörte den Hebel knacken, und ein Leuchtkegel schoß vorwärts und zeigte uns Harst, der im Musikzimmer auf einem Menschen kniete.
Lücke taumelte auf die beiden zu.
„Einschalten, Schraut!“ rief er.
Ich knipste das Licht in beiden Räumen an. Wir rissen den fremden Kerl hoch, der uns mit seiner Stromervisage frech angrinste und dann sehr höflich sagte: „Ich bin Heribert Prank …!“
Harald lächelte. „Also der Falsche … schade! Lücke bedauert seine Beinkleider und ich bedauere diese Kraftvergeudung. – Weshalb gaben Sie sich nicht zu erkennen, Prank?!“
„Weil Sie eben auch der Falsche sind, lieber Harst … Hier war noch jemand, und da ich die Tür zum Flur abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt hatte und Sie durch den Salon kamen, muß der Bursche noch hier sein …“
Wir schauten uns um. In der linken Fensterecke stand ein Ziersessel. Dort saß in aller Seelenruhe mit übergeschlagenen Beinen Doktor Horst Ritschel. Wir hatten ihn bisher in unserer Erregung völlig übersehen.
Ritschel war ganz und gar ein Mann von heute. Eine dürre, übertrainierte Sportgestalt, ein hageres Gesicht mit eingefallenen Schläfen, dicken Hautwülsten um Mund und Kinn, kühl-spöttischen Augen. Ein eingefrorenes anmaßend-nichtssagendes Lächeln, bewußt nachlässige Bewegungen, dazu, wenn nötig, eine domestikenhafte Höflichkeit: Ein Charakterkopf ohne Charakter, ein rücksichtsloser Egoist, ein Mensch dem nichts heilig, der aber ebenso gut schon nach einer Stunde seines Vorteils wegen seine Gesinnung total wechseln konnte, – – ein Typ einer Zeit, die an solchen verlogenen Helden der Feder krankt. Natürlich trug er Monokel. Die Intelligenzbrille gehörte für ihn der Vergangenheit an. Sein Weizen blühte erst, seitdem Deutschland Leute von so grotesker Wandelbarkeit in Massen züchtete.
Aber er machte Figur, ohne Zweifel, und für die oberflächliche Kritikfähigkeit seiner Kreise war er Gott und Teufel zugleich. Sein Witz war brutal, seine Schlagfertigkeit war Routine, sein Geist war geschliffen zwischen dem Abfall einer Epoche ewiger Gährungen.
Er begrüßte uns durch eine Handbewegung … „Da sind wir ja wieder so schön beisammen, meine Herren. – Was tun Sie hier?!“
Doktor Hans Lücke musterte ihn starr.
„Und Sie?“ fragte er nur.
„Ich – – bin hier daheim – zu dienen,“ er zog ein Papier aus dem hellen Ulster … „Irina hat mir ihre Villa anvertraut … Ich sollte die Dienstboten auf den Schwung bringen … Irina ist unbekannt wohin davongesaust … Ich riet ihr ab. Aber Weiber lassen sich nichts jagen. Hier ist die Vollmacht für mich … Die Villa sollte nicht leer stehen. Ich wohne jetzt hier.“
Lücke nahm den Briefbogen, las und reichte ihn Harald. „Stimmt – der Hausherr in Vertretung … Nur eine Vollmacht ist das nicht, lediglich eine Bescheinigung, daß Sie als Wächter der Villa bestellt sind, Herr Doktor Ritschel. Was bekommen Sie dafür?“
Ritschel spürte die Gegnerschaft, steckte die Beleidigung ruhig ein und meinte achselzuckend: „Meine Anwesenheit hier ist berechtigt, – auch die Ihre, Herr Kriminalkommissar. Aber die Herren Harst, Schraut und Prank …, – ich müßte darauf bestehen, daß dieses Haus nicht Treffpunkt von Fremden wird.“
Lücke fragte kalt: „Wann gab Fräulein Vanderkott Ihnen diesen Wisch?“
„Vor etwa fünfzehn Minuten …“
„Wie kamen Sie wieder hierher?“
„Ach – ich wollte Irina trösten. Ich bin ihr Freund …“
„Da kann sie stolz sein,“ nickte Lücke ganz ernsthaft.
Ritschel wurde rot. Doch auch die Pille schluckte er. Nur seine Augen wurden klein, und Lücke hatte sich einen Todfeind geschaffen, dem die Spalten vieler Zeitungen offen standen.
„Schrieb sie diese Bescheinigung freiwillig?“ fragte Lücke noch eifriger.
„Natürlich … Unter Freunden ist das …“
„… durchaus nicht selbstverständlich, denn soweit mir bekannt, waren Sie hier stets nur geduldet, nicht erwünscht, – man fürchtete Sie, wie man uns fürchtet, nur mit dem Unterschied, daß wir für das Recht kämpfen … – Also Irina ist entflohen?“
„Habe ich das gesagt?! Nein. Irina ist lediglich mit den Nerven fertig und bedarf dringend der Entspannung.“
Diese höchst unerquickliche Szene wurde durch Heribert Prank beendet. Er, dieser hübsche, blonde, heitere Künstler, dem im Privatleben nichts vom Komödianten anhaftete, ging seinerseits zum Angriff über.
„Ich habe nichts zu verheimlichen. Ich war daheim, veränderte mich, und die Sorge um Irina trieb mich wieder hierher. Ich sah gerade ihr Auto im schnellsten Tempo davonfahren, ich erkannte Irina nicht, denn sie schien Herrendreß zu tragen, – ich fand die Haustür offen und schlich in den Salon. Da ich unter dem Flügel hier im Musikzimmer eine Gestalt wahrzunehmen glaubte, schloß ich rasch die Tür nach dem Flur ab und wollte eben das Licht einschalten, als Harst mich so warm begrüßte. – Das ist alles. – Weshalb krochen Sie unter dem Flügel umher, Herr Doktor Ritschel?“
Ritschel lächelte noch spöttischer.
„Ich suchte mein Monokel … Es war mir entfallen … Vielleicht hörten sie es klirren, Herr Prank.“
„Nein – bedauere … Ich hörte nichts klirren … Ein Monokel klirrt auch kaum auf einem Teppich … Man pflegt als Hausherr ein Monokel auch nicht im Dunkeln zu suchen – entschuldigen Sie schon!“ Auch Prank konnte bissig werden.
„Und doch war es so,“ meinte Ritschel leichthin. „Sie werden sich dabei schon beruhigen müssen. Im übrigen wiederhole ich: „Mit welchem Recht sind Sie hier?! Ebenso die Herren Harst und Schraut?! Es gibt einen Paragraph wegen Hausfriedensbruch …“
Harald hatte sich in aller Seelenruhe eine Zigarette angezündet und sagte überaus höflich:
„Herr Doktor Ritschel, vielleicht erklären Sie uns, weshalb Sie Ihren weiten Ulster nach beiden Seiten aufgeschlagen haben und weshalb Sie die Beine so dicht zusammenhalten …?! Es muß für Ihren Intimus Major von Spitzer höchst unbequem sein, in der Zimmerecke hinter dem Sessel zu hocken. – Herr von Spitzer, richten Sie sich getrost auf … Ich habe Sie längst bemerkt, und auch Sie werden noch einiges beantworten müssen – nicht mir, aber Lücke …“
Und dieser Lücke tat jetzt etwas, was Herr Doktor Ritschel, der recht bleich geworden war, ebenfalls wortlos hinnahm: Er packte zu und zog Ritschel mit kräftigem Ruck von dem Sessel, – gleichzeitig schoß in der Ecke das schwammige, käsige Gesicht des glatzköpfigen Majors in die Höhe, und hinter den Goldzähnen dieses fragwürdigen Gentleman bildete sich der fabelhaft weanerisch[5]-gemütlich sein sollende Spruch:
„Schaun’s, dös ist wirklich a Gaudi, meine Herren …“
Aber mit dem „Gaudi“ war es nicht weit her, denn Harst ließ sich plötzlich in die Knie sinken, kroch unter den Flügel und hob die Hand …
Am Unterteil des Bechsteinflügels war eine schwarze Tasche aus Tuch angenagelt, aus der Harald nun eine … Luftpistole hervorzog.
Diese Tasche war so angebracht, daß jemand, der an der Seite des Flügels lehnte, die Pistole im Moment in dieses schlaue Versteck verschwinden lassen konnte.
Lücke nahm die Waffe und meinte zu dem edlen Freundespaar: „Das ist ja überaus wertvoll … Ich danke Ihnen … Ihr Monokel, Herr Doktor Ritschel, werde ich in gutem Andenken behalten. – Nehmen wir Platz … Harst hat ganz recht, es gibt hier allerlei zu fragen …“ Er deutete auf das Sofa und die Sessel … „Vielleicht setzen Sie beide sich auf das Sofa … Wir drei begnügen uns mit den Sesseln. – Schraut, vielleicht telephonieren Sie an das Präsidium … Das Auto Irinas ist ein hellblauer Selbstfahrer mit Klappverdeck, Marke Benz … Das Telephon steht in der Diele.“
Ich verließ das Zimmer, bekam sofort Anschluß, und die Jagd auf Irina war damit eingeleitet. Als ich zu den anderen zurückkehrte, hörte ich gerade noch, wie Lücke fragte:
„… doch anscheinend gewußt, daß die Waffe dort verborgen war?“
Horst Ritschel, auch der österreichische Major a. D., schienen sich inzwischen wieder leidlich gefaßt zu haben. Ritschel entgegnete in einem recht überhebenden Tone: „Vermutet habe ich’s, Herr Kriminalkommissar.“
„Äußerst überraschend, Ihre Findigkeit, Herr Doktor …!“ Lücke blinzelte ihn spöttisch an. „Freilich, – Sie sind ja ein halber Detektiv … Und Ihr Freund Spitzer ist mit derlei Dingen auch ziemlich vertraut. Wie war das doch gleich, Herr von Spitzer, – hat man Sie nicht unlängst aus dem Berolina-Klub hinausgetan?! Sie sollen sich da beim Kartengeben geirrt haben …“
Spitzer fuhr wütend auf. „Ich verbitte mir solche …“
„Pardon – und wie war das doch mit der anderen Geschichte, Herr von Spitzer …? Hatten Sie nicht das Pech, in Verdacht zu geraten, einer Dame ein paar Briefe geschrieben zu haben, deren Inhalt sich als Erpressung deuten ließ?! – Setzen Sie sich nur wieder … Ich könnte Ihnen noch mehr von Ihrem … Pech vorhalten … Lassen wir das. – Sie wohnen jedenfalls mit Herrn Ritschel zusammen in Halensee in der Friedrichsruher Straße, vier Zimmer, zweite Etage … ein Eckhaus … das so nebenbei. – Reden wir besser über diese Luftpistole … Ich sehe: amerikanisches Fabrikat, ganz moderne Konstruktion, große Durchschlagskraft auf kurze Entfernung, Kaliber 6,9 – wie die tödliche Kugel. Sie bleiben also dabei, Herr Ritschel, daß …“
„Doktor Ritschel – – bitte!!“
„Nun ja, wenn Ihnen etwas daran liegt, auch diese Frage anzuschneiden. Herr Ritschel … Gegen Sie ist Anzeige wegen unberechtigter Führung des Doktortitels erstattet worden … Wir mußten uns auch notwendig in letzter Zeit mit ihrer Person etwas mehr beschäftigen, denn Ihre intime Freundschaft mit Herrn von Spitzer warf bedenkliche Streiflichter auf Ihre eigene … sagen wir … Einstellung gegenüber Moral und Sitte.“
Ritschel zuckte die Achseln. „Mein Doktortitel wurde mir von der Regierung eines Freistaates als Dank für …“
„… diese Regierung regierte genau drei Tage, und die Regierenden sitzen zum Teil noch heute im Zuchthaus, Herr Ritschel. Ich fürchte, die Luft hier in Berlin wird Ihnen in kurzem zu … dick werden … Sie kennen doch die Redensart „dicke Luft …“ – Wollen Sie zugeben, daß Sie von vornherein wußten, daß Irina den tödlichen Schuß abgegeben hat?!“ Lückes Tom war schneidend scharf geworden.
Ritschel biß sich in die Unterlippe. Er wurde erst rot, dann blaß … „Ich … bestreite das ganz entschieden,“ platzte er heraus. „Ich habe lediglich vermutet, daß …“
Lücke wandte sich an Harald. „Hätten Sie hierzu etwas zu bemerken?“
„Verschiedenes …“ Er stand auf und öffnete das rechte Fenster, beide Flügel, – genau so, wie wir das Fenster gleich nach dem Morde vorgefunden hatten. Die äußeren Fenster ließen sich nach außen öffnen. Er hakte sie fest, – in derselben Art, wie sie vor Stunden festgehakt gewesen. – „Herr Ritschel, Sie hatten sich, als der Mord geschah, hier hinausgelehnt und hielten Ausschau nach der Frauengestalt an der Fontäne …“
„Der Gestalt …“ verbesserte Ritschel kleinlaut. „Es kann auch ein Mann in einem Mantel gewesen sein …“
„Nun gut, – – gleichgültig! Sie schauten hinaus … Bitte – lehnen Sie sich genau so hinaus, wie Sie es taten …“
„Aber gern …“
Ritschel erhob sich und nahm die Stellung ein, die er angeblich im Moment des Mordes innegehabt hatte. Harst stand hinter ihm.
„Danke, Herr Ritschel. – Lücke, bitte … Lehnen Sie sich hinaus. Was fällt Ihnen auf?“
„Der rechte offene, äußere Fensterflügel spiegelt den Bechstein genau wieder. Man sieht das Instrument ganz deutlich, und man würde jede Bewegung Irina Vanderkotts nicht nur beobachtet haben können, sondern sogar gesehen haben müssen, da das Spiegelbild sich einem geradezu aufdrängt …“ – Lücke trat zurück und stellte sich dicht vor Ritschel hin. „Sollten Sie jetzt nicht die Wahrheit sagen, so verhafte ich sowohl Sie als auch Spitzer wegen Begünstigung. – Raus mit der Sprache!!“
Ritschel schloß wie betäubt die Augen. Erdfahle Blässe überzog sein Gesicht. Er hüstelte, senkte den Kopf … Seine Stirn glänzte vor Schweiß …
„Ich … ich …“ – er rang förmlich nach Luft … – „ich … gebe zu, daß Irina … geschossen hat …! Ich wollte sie schonen … Ich bin ihr ein treu ergebener Freund …“
Haralds ironisches Lachen ließ ihn herumfahren.
„Was … finden Sie dabei so komisch,“ hauchte er ihn an.
„Wenn Lücke gestattet, will ich Ihr schwaches Gedächtnis schnell heilen, Herr Ritschel. Sie sagen, Irina hätte geschossen …“
„Nun ja …“
„Und Sie sahen in der Fensterscheibe auch, wie sie die Waffe in dem flachen Beutel unter dem Flügel verbarg?“
„Ich sah nur, daß sie die Pistole unter den Flügel schob … Von dem Beutel wußte ich noch nichts.“
„So … so … Ihr Gedächtnis ist miserabel. Wenn Sie wieder mal einen Hammer in der Hosentasche tragen, wählen Sie besser einen kleineren …“
Ritschel prallte zurück. Seine Züge verzerrten sich …
„Lücke, nehmen Sie ihm den Hammer weg … Wahrscheinlich hat er auch Nägel in der Hosentasche, sogenannte Blauköpfe, und mit diesen ist das schwarze Tuch unten am Bechstein festgenagelt worden …“
Herr Doktor Horst Ritschel mußte sich am nächsten Sessel festhalten, seine Nerven versagten …
Lücke faßte ihm einfach in die Hosentasche, holte einen Hammer hervor, krempelte die Tasche um, und außer einer Anzahl von Blauköpfen fielen noch Stücke schwarzen Tuches und eine kleine Schere heraus.
„Ich denke,“ meinte Harald, „Herr Ritschel wird seine Angaben nun stark korrigieren.“
Lücke war rot vor Grimm geworden. „Sie … Sie elender Wicht, Sie haben das Versteck unter dem Bechstein erst jetzt angebracht!! – Wozu?!“
Aber Ritschel war vorläufig erledigt. Er war in den Sessel gesunken und schnappte nach Luft, während sein edler Freund Spitzer sich wie ein Verschmachtender die farblosen Lippen leckte und genau so erdfahl war.
Zu beider Unheil erklärte jetzt noch Heribert Prank: „Es wird damit schon seine Richtigkeit haben, denn als ich die Diele betrat, hörte ich dumpfes Hämmern. Ich glaubte, es käme aus dem Oberstock … Aber jetzt besinne ich mich genau, daß das Hämmern von einem merkwürdigen Klirren begleitet war, – das waren eben die durch Hammerschläge vibrierenden Saiten des Bechstein.“
Lücke nickte ihm zu. „Ein Glück, daß wir Sie noch als Zeugen haben, Herr Prank. Nun haben wir die Herrschaften endgültig fest.“ – Er setzte sich, und seine Miene verriet nichts Gutes. „Herr von Spitzer, weshalb dieser Schurkenstreich, weshalb brachten Sie beide die Tasche an der Unterseite des Flügels an?! Ihr Freund Ritschel scheint vorerst nicht antworten zu können. Also bitte …!“
Spitzer murmelte undeutlich:
„Ich … ich weiß gar nichts … Ich glaube, Ritschel hatte das so mit Irina verabredet …“
Lücke zog die Augenbrauen hoch. „Verabredet?! Wollen Sie mich veralbern?!“
Ritschel richtete sich auf … Die Augen quollen ihm fast aus dem Kopfe … Seine Blicke ruhten auf Harst, und er zischte diesen geifernd an: „ Sie haben das arme Geschöpf auf dem Gewissen, Sie … Sie Schnüffler!! – Irina fühlte recht gut, daß Doktor Lücke ihr mißtraute … Sie bat mich flehentlich, ihr zu helfen, den Tatbestand irgendwie zu verwirren … Ich kam auf die Idee, Spitzers Luftpistole hierzu zu benutzen. Wir nagelten den Stoff fest und legten die Pistole in das Versteck, – wir wollten sie nachher entweder selbst wie zufällig finden oder doch die Polizei irgendwie auf das Versteck hinweisen …“
„Blödsinn!“ sagte Lücke wegwerfend.
Aber Ritschel hatte noch einen Trumpf auszuspielen. „Kein Blödsinn! Haben Sie die Kugel bei sich?“
„Ja. Hier ist sie …“
„Versuchen Sie einmal das Geschoß in die Pistole zu laden. Die Pistole hat Kaliber 6,7, nicht 6,9.“
Lücke war sichtlich überrascht. Er nahm die Waffe, klappte den Lauf herab und wollte die Kugel in die Kammer schieben. Es war unmöglich. Das Kaliber des Geschosses war zu groß.
Auch Harald war verblüfft. Er beobachtete Ritschel und Spitzer, und als er wie ich merkte, daß die beiden jetzt allmählich ihre Sicherheit wiederfanden, sagte er nachdenklich: „Also den Tatbestand wollten Sie verwirren, – in Irinas Interesse angeblich … Ein seltsames Mittel, einen Verdacht von jemandem abzulenken …!“
Ritschel lächelte anmaßend. „Ein Mittel, Herr Harst, das seinen Zweck erfüllt hätte …! Die Polizei hätte herausgefunden, daß die Kugel gar nicht in die Waffe hineinpaßte, und würde angenommen haben, es handelt sich hier um einen Versuch des wahren Täters, den Verdacht gegen Irina zu verstärken. Mithin wäre Irina in der Tat entlastet worden. Und das wollte ich. Ein Jammer, daß die Umstände uns das Spiel verdarben. Irina ist ja niemals die Mörderin, das weiß ich am besten …“
Lücke fragte fast lauernd: „Sie sind doch stark verschuldet … Wieviel zahlte Irina Ihnen für diesen … Liebesdienst?“
„Nichts!“ rief Ritschel empört.
„Legen Sie den ganzen Inhalt Ihrer Taschen auf den Tisch – auch Sie, Herr von Spitzer!!“ befahl Lücke eisig. „Bitte – etwas fix!! Soll ich nachhelfen?! Ihr Zögern verrät genug …“
Horst Ritschel war wieder erheblich blaß geworden.
„Nun gut, – was ist denn schließlich dabei,“ meinte er achselzuckend. „Irina nahm ihr Bargeld mit, schenkte mir aber einige Schmuckstücke … Hier sind sie …“
Er legte ein Brillantarmband und anderes auf den Tisch, – es war ein kleiner Juwelenladen.
„Irina bezahlt glänzend,“ lobte Lücke … „Lieber Schraut, packen Sie doch die Kleinigkeiten ein. Ich beschlagnahme sie vorläufig.“ – Und zu Ritschel: „Trotzdem – leeren Sie Ihre Taschen, – – Sie auch, Herr Major …!“
„Ich protestiere!“ keuchte Ritschel in ohnmächtiger Wut.
„Meinetwegen, – aber gehorchen Sie … oder …“ – und er brachte ein Paar Handschellen zum Vorschein. „Ihre giftspritzende Feder wird niemandem mehr schaden, Ritschel. Überreife Pflaumen fallen ab und haben Maden …“
Ritschel hatte in der Brieftasche dreitausend Mark, Spitzer eintausend.
„Auch von Irina also …“ nickte Lücke gleichmütig. „Ein glänzendes Geschäft, so ein Kameradschaftsdienst …“
Die beiden feinen Herren schwiegen.
Lücke blätterte in den Papieren Ritschels, – sehr zu dessen Unbehagen. Mit einem Male stutzte Lücke. „Donnerwetter. – Sie scheinen ja mit Irina häufiger Geldgeschäfte gemacht zu haben … Hier ist ein Brief Irinas von vor zwei Wochen … Sie schreibt:
„Lieber R., ich werde Ihnen die Summe übermorgen übergeben. Morgen ist es unmöglich. Kommen Sie wie stets an die Fontäne, aber erst nach zwölf, es ist jetzt so sehr lange hell.
I. V.“
„Hm – also, nachher sollten Sie das Geld in Empfang nehmen …“
„Ein Darlehn,“ meinte Ritschel gelassen. „Was geht das Sie an?! Nichts!“
„Da haben Sie beinahe recht. Mich geht das nichts mehr an. Ich verhafte Sie beide, mache meinen Bericht, und ein anderer Kollege führt die Sache zu Ende, da ich mit dem Morde genug zu tun habe.“
Draußen blitzte es wieder … Das Gewitter, das zuerst wohl nicht über die Havel gekommen war, zog nun doch herauf. In das Grollen des Donners mischte sich ein anderer schriller Ton … Es klang wie der Ruf eines Nachtvogels …
Ritschel hatte lauschend den Kopf nach dem Fenster gedreht. Lückes Drohung hatte gegenüber dem, was Harst Ritschel jetzt zu fürchten schien, jede Bedeutung verloren. Er umkrallte die Sessellehnen, er stierte in die Dunkelheit hinaus. – Das Fenster war noch offen …
Ich sah, daß ein Zittern seine Gestalt überlief … Dann duckte er sich hinter der Sessellehne scheu zusammen und flüsterte heiser: „Schließen Sie das Fenster, – – um Gottes Willen, schließen Sie das Fenster und … ziehen Sie die Vorhänge zu …!“
Spitzer aber war wie ein Blitz unter dem Tische verschwunden, hatte sich einfach vom Sofa herabgleiten lassen …
Wir schauten halb erstaunt, halb erschrocken ebenfalls auf das Fenster. Mit einem Male schob sich der Lauf einer Büchse über den Fensterrand, ein Kopf folgte … Es war ein Mann mit einem unheimlich bleichen Gesicht, schwarzem Bart und einer Hornbrille.
Sein Befehl an uns war eindeutig genug … Oben auf der Mündung der Büchse saß eine trichterförmige Verlängerung …
Als Lücke nicht sofort die Arme hochreckte, ertönte ein schwaches Puffen, und eine Kugel fegte an Lückes Ohr vorüber.
Der zweite Befehl galt Spitzer und Ritschel.
„Kommt heraus – schleunigst!!“
Ritschel, verborgen hinter der Sessellehne, heulte entsetzt, – – ein gräßlicher Schrei war’s, wie ihn nur ein Mensch in höchster Todesangst ausstößt.
„Kommt, ich tue euch nichts!“ rief der bleiche Kerl … „Mein Wort, ich tue euch nichts!!“
Spitzer kroch unter dem Tische hervor … Er sprang als erster in den Garten hinab … Ritschel folgte, – – und dann – – erlosch das Licht im Musikzimmer und im Salon.
Ein neuer Blitz flammte auf … Aber der Bleiche war noch da …
„Rührt euch nicht!!“
Es puffte wieder, und ein Bild an der Wand zersplitterte …
Das Prasseln einer jäh herabstürzenden Regenflut übertönte alles übrige … Harst war zum Fenster gekrochen, – – er schoß in die Finsternis hinein, er feuerte viermal … Aber als wir nun die Verfolgung aufnahmen, waren die Flüchtlinge samt ihrem merkwürdigen Retter längst verschwunden.
Die halbe Stunde, die wir dann noch in der Villa zubrachten, war nur in sofern von Nutzen, als wir durch die Hausangestellten bestätigt erhielten, daß Irina ihnen für drei Monate den Lohn ausgezahlt und verlangt hatte, sie sollten die Villa sofort verlassen. Im übrigen konnten die vier – Zofe, Köchin, Diener, Chauffeur – nichts angeben, was die Dinge irgendwie geklärt hätte. Irina war offenbar sehr vorsichtig gewesen. Sie hatte das Personal immer früh zu Bett geschickt. Mit Ritschel und Spitzer hatte sie stets sehr gut gestanden, – was natürlich eitel Spiegelfechterei gewesen war, denn wir wußten es besser. Es waren ohne Zweifel von Ritschel und Spitzer seit längerem von Irina größere Summen erpreßt worden, denn Lücke hatte im Ofen der Zentralheizung unten im Keller eine Menge verbrannter Papiere gefunden, die zum Teil noch schwelten. Sie waren mit Spiritus begossen worden, und doch fischte Lücke noch ein paar Stückchen heraus, und auf dem einen war als Fragment zu lesen:
. . . | 13. | April | an R. – | 2000 |
am | 7. | Mai | an R. – | 1500 |
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 300 | |||
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . | 500 |
Lücke quartierte drei Beamte in die Villa ein und begleitete uns dann. Wir waren zu munter, um schlafen zu gehen. Inzwischen war es auch heller Tag geworden.
Hans Lücke saß im Klubsessel und betrachtete melancholisch sein zerrissenes Beinkleid.
„Das war wieder eine nette Nacht, Kinder …!“ meinte er und langte gierig nach der Tasse Mokka. „Hunger habe ich auch … Aber auf etwas Handfestes … Unter einem halben Meter Dauerwurst mache ich es nicht …“
Ich schleppte also noch allerlei „handfeste“ Dinge herbei, und Lücke futterte mit beneidenswertem Gleichmut. „Wir werden sowohl Irina als auch den Bleichen und die beiden Erpresser erwischen …“ redete er sich selbst das nötige Vertrauen ein
Harald, Liebhaber von Sardinen, fischte die letzte aus der Büchse. „Gott erhalte Ihnen Ihre Hoffnungsfreudigkeit! Glauben Sie wirklich, daß diese Sache so einfach zu erledigen ist?! Ich sage Ihnen: Wir wissen von alldem, was hier noch mitspielt, noch nicht einmal die Hälfte. Wir haben schon Überraschungen erlebt, die uns so ziemlich aus allen Himmeln stürzten, und wir werden noch mehr erleben. Eins ist gewiß, lieber Lücke: Der Bleiche mit dem drohenden Baß ist der Hauptmacher, ist der Mittelpunkt, ist Felix Ganottas Mörder und auch der, der Sie niederschlug. Ritschel und Spitzer hatten vor ihm eine gräßliche Angst, – sie kannten ihn sehr gut, sie kannten auch das Signal, mit dem er sein Erscheinen und Eingreifen ankündete. Dieser Bleiche hatte einen Helfershelfer, der den Hauptlichtschalter im richtigen Moment ausdrehte. – Weshalb griff nun dieser Mann überhaupt ein und rettete die beiden vor der drohenden Verhaftung?! – Darauf gibt es meiner Ansicht nach nur eine Antwort: Die beiden Erpresser wissen über Irina so allerlei, was nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte! Der Bleiche fürchtete vonseiten der beiden Verrat, daher entzog er sie uns. – Ich betone: Es kann so sein! Es kann aber auch ganz anders sein! Und – – ich habe so eine dunkle Ahnung, als ob auch diese meine Theorie nicht ganz stimmt.“
„Aber Ihre Dauerwurst ist erstklassig,“ lobte Lücke … „Ich finde, sie schmeckt am besten ohne Brot und Butter, und am allerbesten mit einem Schluck Rotwein, womit nicht gesagt sein soll, daß ihr noch eine Buddel Rotwein auffahren sollt, – immerhin, schaden kann es nichts …“
Es war sieben Uhr morgens, als er sich verabschiedete. Auf dem Tisch standen fünf leere Flaschen. Die Sonne schien in mein Schlafzimmer, als ich in den schwarzseidenen[6] Pyjama schlüpfte und mir beim Gähnen beinahe die Kinnlade ausrenkte. Ich schlief bis halb zwölf. Um zwölf wanderte ich im Gemüsegarten hin und her, und Harst fütterte die Hühner und Tauben auf dem Hofe. Unser Nachbar Doktor Richard Pingalli war auch schon wieder sehr mobil und zankte sich jenseits der dichten Hecke mit seiner Haushälterin herum, die mit uns und besonders mit unserer alten Mathilde sehr schlecht stand. Fräulein Eva Jänsch hatte überhaupt wenig Freunde. Nur ein Gutes hatte sie: Sie war halb taub!
Was nun den Privatgelehrten, Doktor Pingalli, betrifft, so wäre über ihn folgendes zu sagen. Er besaß das Häuschen neben uns seit etwa zehn Jahren. Er war ein Sonderling, nicht geradezu menschenscheu, aber doch sehr zurückhaltend. Sein Spezialgebiet war das Studium der Steinzeit. Er hätte längst irgendwo Professor sein können, aber seine angeborene Scheu vor der Öffentlichkeit ließ ihn jede Berufung auf einen Lehrstuhl ablehnen.
Wir sahen ihn selten, da außer der Dornenhecke noch ein hoher Bretterzaun uns trennte. Immerhin kannten wir ihn als einen liebenswürdigen, klugen Kopf, der mitunter, wenn er seine Hecke beschnitt und oben auf der Leiter stand, uns lange Vorlesungen hielt, die er mit sarkastischen Bemerkungen gegen die von ihm gründlich verachtete Menschheit geistvoll durchwob. Außer der schon erwähnten Eva Jänsch, einer Jungfrau von fünfzig Lenzen und beispielloser Magerkeit, hielt er sich noch ein Faktotum, einen kleinen buckligen Kerl, den jeder nur mit „Moritz“ anredete, obwohl dieses Original in Wahrheit Friedrich Morwitz hieß. Die Hauptperson drüben aber war Pingallis Adoptivtochter Helga, ein schlankes, lustiges Mädel von achtzehn Jahren, die er vor einiger Zeit als Waise an Kindesstatt angenommen hatte. Wenn ich Helga drüben singen und trällern hörte, ging mir das Herz auf. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete, bedauerte ich, nicht fünfzehn Jahre jünger und etwa so flott und hübsch zu sein wie Heribert Prank. Helga war drüben die Sonne, Eva Jänsch aber das Gewitter, und Moritz das Aprilwetter.
Wie gesagt, – ich rauchte meine Nachmittagsnudel, ging hin und her, sammelte Raupen von den jungen Spalierstammen und lächelte über Pingalli und seine Xantippe, die drüben wegen der Erdbeeren sich zankten. Des alten Gelehrten Fistelstimme überschlug sich zuweilen, und seine Redewendungen waren zum Teil so derb, daß Eva sicher gekündigt hätte, aber sie hörte zum Glück alles nur halb.
Dann mischte sich Moritzens Baß ein, und mit einem Male erschien die Spitze der Trittleiter über Zaun und Hecke, und Pingalli, bewaffnet mit der großen Gartenschere, wünschte mir einen guten Morgen und begann die Hecke zu köpfen. Sein tief gebräuntes Gesicht – er arbeitete fast den ganzen Tag in seinem großen Garten – hatte fast edle Züge. Das graue, lange Haar trug er frei zurückgestrichen, und um seinen Mund lag wie immer das gütige, halb verlegene Lächeln.
„Der Gewitterregen kam wie gerufen, Herr Schraut …“ leitete er die Unterhaltung ein. „Nur die Erdbeeren haben gelitten … Ich werde die erste Erdbeerbowle verschieben müssen … Ein paar Donnerschläge hat selbst Eva gehört, behauptet sie. Aber sie schwindelt gern. Ich wünschte mir ihren Schlaf. Damit ist es bei mir schlecht bestellt. – Was sagen Sie nur zu dem Morde nebenan bei der Kotty?! Moritz ist bereits auf dem Laufenden über alles. Er spioniert überall herum …“
Aber Moritzens Baß protestierte unsichtbar: „Der eine Kriminalbeamte hat mich ausgefragt, ob ich nichts gehört oder gesehen hätte! So war’s!“
„Sie und was hören, Moritz!“ meinte Doktor Pingalli und lachte. „Der Moritz schläft noch fester als die Eva … Ich habe übrigens dem Beamten bestellen lassen, daß es richtig ist, daß eine Frau gegen ein viertel Zwölf gestern auf dem Fontänenrand gestanden hat. Ich war auf meinem Balkon und sah sie ganz deutlich. Das heißt, – so weit man gestern bei dem Regen überhaupt etwas deutlich sehen konnte. Sie waren ja auch drüben, Herr Schraut. Soll diese Frau den Legationsrat tatsächlich erschossen haben?!“
„Mit Bestimmtheit läßt sich das noch nicht sagen, Herr Doktor … Haben Sie denn nichts bemerkt, das die Sache klären könnte?“
Harald kam herbei, winkte Pingalli zu und übernahm die Fortsetzung der Unterhaltung, die durch das Klappen der Gartenschere etwas gestört wurde.
„Ich habe nur kurze Zeit auf dem Balkon geweilt,“ erklärte unser Nachbar. „Ich kümmere mich nicht um das, was bei der Kotty geschieht. Filmkünstlerinnen und ihr Anhang sind nicht mein Fall. Die schöne Irina dankt kaum, wenn ich grüße. Herren über fünfzig schätzt sie wohl nicht.“
Die Schere biß wütend ein paar Schößlinge ab.
Harst rief: „Herr Doktor, ich hätte Sie so einiges zu fragen … dürfen wir Sie mal besuchen?“
„Natürlich … Kommen Sie nur, Moritz kann die Arbeit hier fortsetzen.“
Pingallis Haus gehört mit zu den ältesten Schmargendorfs. Es ist ein schmuckloser, zweistöckiger Ziegelbau mit Veranda und Balkon nach dem Garten zu. Das Haus ist von der Straße kaum zu sehen. Hecken, Büsche, alte Linden und Buchen bilden im Vorgarten eine grüne Wildnis.
Der Doktor in seiner schäbigen Arbeitskluft führte uns in den ersten Stock hinauf in sein Studierzimmer. Die Türen nach dem Balkon standen offen, und wir sahen sofort, daß von hier aus die Fontäne durch eine Baumlücke bequem zu überschauen war. Pingalli bot uns ein Glas Burgunder an, dazu tadellose Importen, – er war schwer reich, das wußten wir.
„Herr Doktor, ich muß Sie zunächst in großen Zügen mit dem Drama drüben bekannt machen,“ meinte Harald. „Ich rechne dabei auf Ihre Diskretion. Uns kommt es darauf an festzustellen, ob Irina Vanderkott durch Erpresser bedrängt wurde und ob Sie vielleicht nächtliche Zusammenkünfte Irinas mit Herren im Garten drüben beobachtet haben. Hier sind meine Aufzeichnungen zu dem Mordfall, hier das, was ich Schraut diktierte. Lesen Sie alles am besten durch …“
Pingalli nahm die Blätter ohne viel Interesse und erklärte nachher: „Ich habe bisher niemals für Detektivgeschichten etwas übrig gehabt. Dies hier bietet so viel spannende Einzelheiten, daß ich ehrlich eingestehe: Ich bin dadurch selbst zum Nachdenken angeregt worden, mein Gedächtnis hat sich geschärft, – vielleicht kann ich diese spannenden Details noch vermehren.“
Er reichte Harald die Notizen zurück. „Die Vanderkott hat häufiger nachts im Garten an der Fontäne sowohl einen Herrn als auch eine Frau erwartet, wie ich beobachtet habe. Besonders vor etwa drei Wochen, als wir Vollmond hatten, konnte ich eines Nachts deutlich sehen, daß die drei sehr erregt miteinander stritten und daß die Kotty heftig weinte. Die Frau war ohne Frage dieselbe, die ich gestern auf dem Fontänenrand stehen sah. Es ist eine schlanke Person mit dunklem Mantel und Hut und Schleier. Ich besinne mich auch, daß ich einmal ein Fernglas benutzte und feststellte, daß diese Fremde trotz der Wärme und Trockenheit Überschuhe anhatte – graue, moderne Überschuhe mit Reißverschluß. Gestern nacht – auch dies ist mir jetzt erst eingefallen – hatte die Frau einen Schirm mit und ein langes Etwas, das wie ein Stativ einer Kamera aussah. Sie knipste einmal für Sekunden eine Taschenlampe an, und das Licht fiel gerade auf diesen länglichen Gegenstand. Es ist möglich, daß es eine Schußwaffe, etwa ein kurzer Karabiner war. Doch möchte ich dies nur unter Vorbehalt behaupten. Meine Augen sind noch vortrefflich, aber …“
Er fuhr hoch …
Auch wir sprangen auf.
Unten im Hause war ein gellender Schrei erklungen, dem ein schrilles Pfeifen folgte …
Pingalli war leichenblaß geworden.
Er stotterte verstört: „Das war Eva … Sie hat sich wieder mit Moritz in den Haaren … Entschuldigen Sie … Ich bin sofort wieder da …“
Er rannte hinaus. Wir hörten ihn auf der Treppe schelten, dann wurde alles still.
Wir blickten uns an. Ich sagte leise: „Das war nur ein Zank?!“
Da tat sich die Tür zum Nebenzimmer auf, und Helgas blonde Lieblichkeit schwebte herein und sank vor Harst weinend in die Knie …
Armes Mädel! In solcher Verfassung hatte ich sie nie gesehen, auch nie geglaubt, daß sie, die allzeit fröhliche, so entsetzlich vergrämt aussehen könnte.
„Herr Harst,“ wimmerte sie, „Herr Harst, … ich … ich … weiß, wer den Legationsrat getötet hat!“
Harald als Beichtvater, als Tröster der Bedrängten ist vielleicht in seiner unübertrefflichen Art, geknickte Herzen wieder aufzurichten, noch unerreichbarer als auf seinem Spezialgebiet, der Entwirrung verschlungener Fäden eines Verbrechens.
Er nahm Helgas Kopf in seine Hände, schaute ihr in die tränennassen Augen und sagte leise – mit jener suggestiven Kraft, die nur ein Mann von ungewöhnlicher Konzentrationsfähigkeit aufbringt: „Mein liebes Kind, – bilden Sie sich das nicht auch lediglich nur ein?! Wie wollen Sie ein Rätsel lösen oder gelöst haben, das so unüberwindliche Schwierigkeiten bietet?! Gerade dieser Mord, kleine Helga, verleitet so leicht zu Trugschlüssen. Ich kann mir nicht denken, daß, sollten Sie auch irgend etwas gesehen oder gehört haben, dadurch eine Klärung der schwebenden Fragen eintreten könnte. Hüten Sie sich also, sich selbst die Seele unnötig zu beschweren … Sprechen Sie ganz offen. Sie werden doch sicherlich auch Ihrem Vater, mit dem Sie so innige Liebe verbindet, davon Mitteilung gemacht haben …“
Diese letzte Bemerkung Haralds war nur scheinbar ein höchst überflüssiger Fühler. Doktor Pingalli hätte uns ja niemals das verschwiegen, was ihm sein Adoptivkind anvertraut hätte, – er hätte es gar nicht verschweigen dürfen, da wir ihm so rückhaltlos reinen Wein eingeschenkt hatten. Harsts Frage bezweckte etwas anderes, das war mir sofort klar. Die blonde Helga mit den braunen Äuglein hatte Pingalli eben nichts erzählt, und Harald wollte von ihr, ohne direkt danach zu forschen, die Begründung dieser Unterlassung erfahren.
Die Wirkung dieser nur durch die Umstände gebotenen Diplomatie war überraschend, mehr noch: erschreckend!
Helgas Antlitz wurde starr, und ein Zug erhöhter Qual erschien um den blassen Mund. Sie schlug scheu die Augen nieder, und dann sprang sie auf, suchte ihre Hände aus denen Haralds zu befreien und rief: „Oh – lassen Sie mich gehen, ich bitte Sie …! Ich war ja von Sinnen, als ich Ihnen mein Leid anvertrauen wollte … Ich darf es nicht … Lassen Sie mich gehen, bevor noch der Vater zurückkehrt …“
Aber Harald hielt sie fest. Er erhob sich gleichfalls, legte den einen Arm um sie und sagte eindringlich: „Mein Kind, Ihre kleinen, zarten Geheimnisse werden wir hüten … Nicht wahr, Heribert Prank ist der, der Ihrem Herzen nahe steht …“
Ich war erstaunt. Woher wußte Harald dies?! Hatte Prank ihm gebeichtet?!
„… Kleine Helga, Sie müssen ehrlich sein … In der verflossenen Nacht hörte ich, daß Irina Vanderkott Prank heimlich etwas zuflüsterte. Ich verstand nicht alles, ich habe mir den Satz falsch ergänzt, wie ich nun weiß. In dem Satz kam Ihr Name vor: Helga. – Irina raunte Prank zu: „Bestellen Sie Helga, daß ich nicht …“ – Mehr vernahm ich nicht. Ich verstand, wie gesagt, zuerst: „Bestellen Sie auch die anderen …“ oder ähnliches, und ich glaubte, dies bezöge sich auf Irinas Gäste. Jetzt kann ich mit aller Sicherheit behaupten: Sie waren gemeint, an Sie sollte Prank eine Bestellung ausrichten, also kennen Sie sowohl Irina als auch Prank genauer, und … Ihr Vater weiß nichts davon.“
Helga ließ den Kopf mit einem leisen Stöhnen auf Harsts Schulter sinken und flüsterte schluchzend: „Es ist so … Und … und … ich habe Heribert im Garten gesehen, als … als der Herr ermordet wurde … Heribert … hatte … eine … eine Pistole in der Hand … Er … er stand links am Hause aus dem Stumpf der alten Eiche, der als Blumenkrippe hergerichtet ist … Er … er stand hinter den Efeuvorhängen der einen Kiefer … und … er zielte … und ich sah … sah, wie … der Schuß aufblitzte … sah auch den Doktor Ritschel am Fenster, aber Ritschel sprang mit einem Male vom Fenster weg …“
Ihr Stimmchen erstarb in einem qualvollen, unverständlichen Murmeln, – – wurde wieder lauter …
„Es ist ja nicht wahr, daß, wie der Beamte unserem Moritz erzählt hat, die drei Herren im Augenblick der Tat im Salon weilten … Sie … sie waren alle drei im Garten: Heribert, der Major und Direktor Hirsch … – Heribert hat es mir ja eingestanden … Ich sprach ihn ja, bevor er verkleidet wieder die Villa betrat … sprach ihn nur wenige Minuten, und … und zwischen uns ist nun alles aus, denn als ich ihm in meiner Herzensangst vorhielt, er habe doch geschossen, sagte er nur: „Also das traust du mir zu!!“ Und dann eilte er von der Zaunlücke weg und ließ mich im Regen stehen … – – Mein Gott, wie soll ich all das ertragen …?! Wenn ich es nicht gesehen hätte, daß Heribert die kleine Pistole …“
Die Tür, durch die vorhin Helga hereingekommen war, flog auf, und der bucklige, rotbärtige Moritz stürzte herein … Mit einem Gesichtsausdruck, als ob er uns zerfleischen wollte, brüllte er Harst an:
„Was haben Sie hier mit dem verrückten Mädel zu schaffen?!“
Und schon packte er Helga, riß sie zurück und stieß sie vor sich her in das Nebenzimmer. Die Tür knallte zu, der Schlüssel wurde umgedreht, und wir beide, die wir doch nicht so leicht außer Fassung zu bringen sind, schauten uns an und machten ziemlich hilflose Gesichter.
Dann aber erschien auf Haralds Gesicht ein schwaches, befreiendes Lächeln – so, als ob er auch dieses Eingreifen des kleinen Buckligen mit dem Wasserkopf und den langen Affenarmen nun völlig verstände.
„Ach so …!“ sagte er – und nickte. „Ach so …! Es war ja auch zu merkwürdig. Mir hätte das längst auffallen sollen … Es ist beinahe dasselbe Gesicht, nur die andere verrät die Stürme des Lebens, und diese hier ist rein wie ein Engel …“
Ich starrte ihm wortlos auf die Lippen … Und er flüsterte als Nachsatz: „Es sind Schwestern, mein Alter, Irina und Helga …“
Er setzte sich und trank einen Schluck Wein, beugte sich zu mir … „Ich bin nur neugierig, was Pingalli nun … zusammenlügen wird. Wir haben ihn gänzlich falsch eingeschätzt …“
Draußen knarrte die Treppe, – Doktor Pingalli mit seinen schweren Gartenstiefeln trat ein.
Schweigend nahm er Platz. Seine klaren, klugen Augen hatten nur flüchtig unsere Gesichter gestreift … Er fuhr sich mit der braunen, verarbeiteten und doch so schmalen Hand über die Stirn und meinte: „Es ist ein Elend mit dem Moritz und der Eva … Diese ewigen Zankereien!! – Ich habe mehr Sorgen, als Sie ahnen, meine Herren …! Und mein größter Kummer ist Helga … Ich war mit ihr bereits bei zwei Nervenärzten. Ihre Mutter starb im Irrenhause, und jetzt, wo dieses holde Kind zum Weibe erblüht ist, meldet sich auch das vergiftete Blut ihrer leiblichen Eltern. Der Vater war … Säufer. Die acht Kinder zerflatterten in alle Welt – wie armselige Papierschnitzel, die der Sturm der Armut und des Lasters entführt und durch Schmutzpfützen treibt. Helga ist … nicht normal, beide Ärzte haben es mir bestätigt. Sie bildet sich Dinge ein, die nur in ihrer kranken Phantasie existieren.“
Er sprach seltsam tonlos, seine Hände glitten nervös hierhin und dorthin.
Ein Blick von mir zu Harald hinüber. Er hatte die Augenbrauen hoch gezogen, und der Zug von Ironie um seinen Mund war geradezu gefährlich …
Doktor Pingalli hüstelte …
„Entschuldigen Sie, daß Moritz Helga von hier etwas roh fortbrachte … Helga wird Ihnen sicherlich allerlei törichtes Zeug vorgeschwatzt haben, sie hat heute ihren schlechten Tag …“
„Sie auch!!“
Pingalli fuhr bei diesem spöttischen Zwischenruf Harsts merklich zusammen. Dann blickte er langsam auf, und in seinen Zügen schimmerte es feucht.
„Komödiant!“ dachte ich.
Er meinte seufzend: „Ja, auch ich habe meinen schlechten Tag … Wie sollte es wohl auch anders sein, wenn ich meine kleine Helga nun doch in ein Sanatorium bringen muß. Ich trenne mich so ungern von ihr …“
Vielleicht hätte er noch mehr, noch schlimmer geheuchelt und gelogen. Harst verdarb ihm das Spiel.
„Herr Doktor, schenken Sie sich jedes weitere Wort … Helga ist genau so gesund wie Sie und wir. Ich werde es zu verhindern wissen, daß das arme Mädchen nur deshalb verschleppt wird, damit sie … nicht beichten kann.“
Pingalli tupfte wieder den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte, und ein seltsam ergreifender Ausdruck unendlichen Grams versteinerte sein fahl gewordenes Antlitz. „Ich dachte es mir, daß es so kommen würde, Herr Harst … Aber – überzeugen Sie sich selbst … Ich werde Helga herbeirufen …“
Er wollte aufstehen.
„Bleiben Sie sitzen … Sie gestatten wohl, daß ich Helga rufe,“ sagte Harst rücksichtslos. „Hier geht irgendein Intrigenspiel vor sich, das ich vorläufig nicht durchschaue – nicht ganz … – Sie können uns freilich die Tür weisen, Herr Doktor, und so unsere Einmischung wieder ausschalten. Sie würden dabei jedoch schlecht fahren, denn ich würde sofort die Beamten aus der Villa Vanderkott herüberrufen und ihnen einige Winke geben, die vielleicht diesen verschlungenen Knoten endgültig lösen dürften. Entscheiden Sie sich.“
Pingalli schien zu überlegen. Sein Gesicht hatte seine sonngebräunte Farbe zurückgewonnen. Er war sichtlich bestrebt, seine ungeheure Erregung vollkommen zu unterdrücken.
„Rufen Sie Helga,“ erklärte er dann. „Wenn die Polizei käme, Herr Harst, – – auf mein Wort! – würden Sie namenloses Unglück heraufbeschwören.“ Er blickte dabei Harald fest in die Augen, und – jetzt war er nicht Komödiant. Jetzt war er ein Mensch, der für das Wohl und Wehe anderer sich einsetzte. Meine Sympathie für ihn steigerte sich wieder. Ich hatte dem Gedanken, er könnte ein verkappter Schurke sein, nur ungern Raum gewährt.
Harald ging zur Tür, die zur Treppe führte. Er versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Als er am Schlosse rüttelte, hörte ich auf dem Balkon draußen ein Geräusch … Eine Leiter wurde angelehnt, – – und plötzlich schwang sich Moritz über das Geländer … war im Nu im Zimmer, – – sein rotes Borstenhaar sträubte sich … sein schiefes Gesicht troff vor Schweiß …
Er hatte in der rechten Hand einen uralten, plumpen, verrosteten Revolver … Er schien völlig von Sinnen … Seine Glotzaugen hingen ihm förmlich aus dem Schädel …
Der Mann war in dieser Verfassung ohne Zweifel gefährlich. Wenn es hier im Hause einen Verrückten gab, dann war es Moritz.
Doktor Pingalli schien ähnlich ernste Befürchtungen zu hegen. Er war dem Buckligen entgegengeeilt, wurde jedoch zur Seite gestoßen, und der kleine Kerl fauchte uns wie ein toller Kater an …
„Euch beiden werde ich’s schon eintränken!!“
Er hob seinen Revolver … Er hatte sich ganz zusammengeduckt …
Plötzlich hörten wir das leise Kreischen des Schlüssels in der Flurtür, – sie ging auf, und herein trat Helga, im blonden Haar einen Kranz aus Stiefmütterchen, in der Linken aber einen Palmenzweig – wohl von den Palmen aus Pingallis Gewächshaus. Ein leeres, törichtes Lächeln verzerrte ihre reinen Züge, und mit monotoner Stimme – etwa wie ein Geistlicher, der eine Litanei hersagt – sprach sie in die Luft hinein, ohne jemand anzusehen: „Friede sei mit euch …!! Gott ist die Liebe, und die Liebe duldet alles und verzeiht alles! Die Philister sind eingedrungen in das Reich der Gläubigen, und Simson mit der Keule will sie erschlagen. Aber Gott sendet mich als den Engel mit dem feurigen Schwerte, und Simson wird gehen, woher er gekommen …“ Dabei berührte sie Moritz’ Borstenhaar mit dem Palmenzweig …
Pingalli hatte beide Hände vor das Gesicht gepreßt und weinte. Mir lief es eisig über den Rücken. Harald beobachtete Helga mit nüchterner Sachlichkeit, und Moritz machte kehrt und kletterte wieder in den Garten hinab und nahm die Leiter weg. Ich hatte noch gesehen, wie auch ihm die Tränen in die Augen getreten waren und wie sein Gesicht nur noch tiefen Schmerz verriet. Helgas Einfluß auf ihn war zweifellos sehr groß.
Helga selbst wandte sich langsam und verließ das Zimmer wieder, indem sie leise einen Choral vor sich hin summte.
… Ich hätte diese letzten Szenen, die auf mich einen so tiefen Eindruck machten, hier auch weit eingehender schildern können. – Es gibt noch allzu viel zu berichten. Ich muß mich kurz fassen, ich erwähne nur, daß Harald sich nun mit einem höflichen: „Verzeihen Sie meine Schroffheit. Herr Doktor … auf Wiedersehen,“ von Pingalli verabschiedete und daß wir beide still die Treppe hinabstiegen und über den Feldweg in unseren eigenen Garten zurückkehrten.
Hier stehen an sonnigen, warmen Tagen unter dem großen Lindenbaum drei Liegestühle – für Frau Harst und für uns, je nachdem einer Sehnsucht nach Luft und Sonne empfindet.
Aus einem dieser Stühle erhob sich Heribert Prank, – etwas müde und verlegen, und unsicher begrüßte er uns …
„Ich wollte doch einmal fragen, ob der Fall Ganotta schon geklärt ist, lieber Harst …“
„Hm – das fragen Sie mich?!“ Und Harald lächelte ihn merkwürdig an … „Sie sind in der Tat ein glänzender Komödiant, Herr Prank … Herr Prank!“
Der Filmschauspieler, verwöhntester Liebling der Berliner, trotzdem ein bescheidener, liebenswürdiger Mensch, senkte mit zusammengepreßten Lippen den Kopf.
„Ihnen hätte ich’s niemals zugetraut,“ fügte Harst hinzu. „Ich möchte nur wissen, welche Motive Sie dazu bewogen haben?!“
Prank blickte schnell auf. „Was meinen Sie?! Was hätten Sie mir nicht zugetraut?!“
„Fragen Sie nicht so töricht … – Besitzen Sie eine kleine automatische Pistole?“
Prank wandte sich jäh zur Seite.
Aber zu meiner Überraschung blinzelte Harst mir jetzt vielsagend zu. – Ich begriff nichts …
„Haben Sie Helga gesprochen …?“ sagte Heribert leise. „Aber natürlich haben Sie sie gesprochen … Von wem sollten Sie sonst die Wahrheit erfahren haben?! Helga ist … ist … für mich verloren. Ich habe sie unendlich geliebt … Wir lernten uns zufällig vor zwei Monaten dort auf dem Feldwege kennen. Ich war bei Irina – wie so oft, und wie so oft widerte mich Ritschels fades Geschwätz und des Majors ekelhafte Gier nach Alkohol derart an, daß ich in den Garten und bis auf den Feldweg ging. Dort stand Helga im milden Glanz des Vollmondes – in einem hellen Mantel, wie ein köstliches Bild. Ich hatte sie bis dahin noch nie gesehen. Ich habe mich damals auf den ersten Blick in sie verliebt. Sie erschien mir wie die Erfüllung meiner stillen Sehnsuchtsträume nach einem wirklich reinen, keuschen Weibe … – Ich bin ein moderner Mensch und doch ein Schwärmer … Ich bin Filmheld und doch kein Lüstling. Ich habe mir meine Kraft und Fähigkeit, mit der Seele zu lieben, bewahrt.“ Er drehte sich langsam wieder um und zeigte uns seine versonnen-schmerzlichen Züge. „Wir haben uns damals eine Stunde unterhalten, Helga und ich … So, wie Menschen miteinander reden, die sofort den Gleichklang der Seelen spüren und ihre Herzen öffnen und glücklich sind, verstanden zu werden. Ich bat Helga um ein Wiedersehen. Sie schüttelte traurig den Kopf … „Mein Vater,“ sagte sie, „würde es nie erlauben, daß ich mit jemandem verkehrte, der bei Irina Vanderkott aus und ein geht …“ – Ich drang jedoch so flehentlich auf eine heimliche Zusammenkunft, daß sie mir schließlich erlaubte, am folgenden Abend an eine Lücke der Hecke nach Irinas Garten hin mich einzufinden. – So begann unser Liebestraum. Mehr darf ich Ihnen nicht mitteilen, genau wie mich auch mein Ehrenwort bindet, was die Vorgänge der verflossenen Nacht betrifft …“
Zu meiner Überraschung klopfte Harald ihm da derbvertraulich auf die Schulter. „Sie sind ein braver, lieber Kerl, Prank … Nur ein schlechter Menschenkenner. – Setzen wir uns, rücken wir die Liegestühle zusammen. So – hier eine Zigarette … Und jetzt geben Sie uns Feuer, Prank, – mit Ihrer Pistole … mit Ihrer Feuerzeugpistole …“
Ich stutzte … Mir ging ein Lichtlein auf.
Jeder kennt diese Feuerzeuge in Pistolenform. Sie sind aus schwarzem Blech gestanzt, die teueren aus dunklem Stahl mit Nagelfeile, Bürste und Zahnstocher, Messerchen und anderem im Kolben.
Prank faßte in die Tasche … drückte die „Waffe“ ab … Es sprühte, und ein Deckelchen am Lauf sprang auf und der Docht brannte.
„Das war der Schuß, den Helga sah, mein Alter,“ lächelte Harald. „Ich dachte mir es gleich, denn Prank hat ja in dem Film „Der Page Ihrer Hoheit“ mit dieser „Pistole“ sehr wirksam operiert … – Das wäre der eine Punkt. – Der zweite: Sie, lieber Prank, der Major und Direktor Hirsch war gar nicht im Salon, als Ganotta getötet wurde, sie drei waren leise hinausgegangen, und gerade Sie, Prank, erkletterten den Eichenstumpf im Hintergarten, wollten sich eine Zigarette anzünden … Da hörten Sie Irinas Aufschrei im Musikzimmer und eilten rasch hinein. Sie, Spitzer und Hirsch gaben sich dann gegenseitig das Ehrenwort, nicht zu verraten, daß sie den Salon verlassen hätten, damit nicht etwa der Verdacht auf einen von ihnen dreien fiele, den Schuß draußen abgegeben zu haben. – Es ist so. Sie brauchen nichts mehr zu leugnen, Prank, Sie haben Ihr Wort gehalten. Jetzt ist es Ihre Pflicht, alles zu sagen. Der Polizei gegenüber dürften Sie ja auch nicht schweigen. – Also, was sahen und hörten Sie von dem Baumstumpf aus?“
Heribert Prank nickte ernst. „Meine Aussage ist von Wichtigkeit – leider! Ich hatte die Villa nach rechts herum umschritten. Ritschel ahnte nicht, daß ich drei Meter entfernt von dem rechten Fenster stand, in dem er lehnte. Ich wollte nur einen Blick nach Pingallis Haus hinüberwerfen – nur das. Aber ich sah weit mehr … Zunächst: Die Gestalt auf der Fontäne war ein Mann!“
„Das weiß ich,“ – und Harald blies den Rauch in die Höhe. „Der Mann war Doktor Pingalli …!“
„Wie?!“ Prank wollte aufspringen.
Auch ich war entsetzt. Pingalli, – – an den hätte ich zu allerletzt gedacht.
„Ja, Pingalli,“ erklärte Harald. „Pingalli war auch der Bleiche mit dem schwarzen Bart …“
Prank lehnte sich zurück. „Entschuldigen Sie, das sind Vermutungen, nichts weiter, bester Harst.“
„Bester Prank, das sind Tatsachen …!“
„Beweise?!“
„Gedulden Sie sich ein wenig, – eins nach dem andern … – Wie war der Mann auf dem Fontänenrand gekleidet?“
„Mantel, Schlapphut, – – dunkler Bart …“
„Hatte er eine Waffe bei sich?“
„Ein langes Etwas …“
„Also den Karabiner, den der Bleiche ebenfalls benutzte. – Pingalli aber log uns vorhin in seinem Studierzimmer vor, es sei eine verschleierte Frau mit Regenschirm und Stativ gewesen. Mithin log er absichtlich. Fragen Sie nur Schraut …“
„Allerdings,“ bestätigte ich. „Es muß Pingalli gewesen sein … Weshalb beschwindelte er uns sonst so grob?!“
„Ja – und er hat recht große Füße, und im Flur standen ein Paar alte Gummischuhe, die die Spuren noch verschwommener machten … – – Prank, ich frage weiter: Sahen Sie, daß Pingalli schoß oder doch den Karabiner hob?“
„Ja … das sah ich … Aber er hatte kaum angelegt, als drinnen im Musikzimmer auch schon Irina aufschrie …“
„Hörten Sie das dumpfe „Plomp“ eines schallgedämpften Schusses?“
„Nein – nichts!“
Harald beschaute nachdenklich seine Stiefelspitze. „Das ist sehr merkwürdig,“ sagte er bedächtig.
„Gewiß, sogar völlig unverständlich, lieber Harst. Ich hätte selbst dieses dumpfe Plomp unbedingt vernehmen müssen. Ich stand ja auf dem Eichenstumpf in Fensterhöhe, wenn ich auch nicht in die Ecke schauen konnte, wo der Bechsteinflügel steht.“
Harst runzelte die Stirn. „Dieses Rätsel wird immer dunkler … Sollte doch etwa Pingalli gefeuert haben?! Aber die tödliche Kugel ist eine Pistolenkugel, niemals ein Karabinergeschoß. Oder – sollte doch eine Luftpistole verwendet worden sein?! – Wir tappen im Kreise. So kommen wir nicht weiter. Packen wir die Sache anders an. Erörtern wir erst Ihre Beobachtungen, Prank, und Ihre Beziehungen zu Irina und Helga und Ihr späteres Verhalten. Wir müssen eben schrittweise vorgehen. Jeder Gedankensprung führt uns hier in die Irre. – Sahen oder hörten Sie noch etwas auf Ihrem Baumstumpf?“
„Nein. – Das heißt … – es mag unwichtig sein, wenn es mich auch seltsam berührte: Auf den Schrei Irinas hin drehte ich den Kopf blitzschnell wieder nach links – nach den beiden erleuchteten und offenen Fenstern des Musikzimmers. Ritschel war vom Fenster schon verschwunden, und da erblickte ich im Zimmer Irinas rotseidenen Sonnenschirm …“
„Wie meinen Sie das, – Sie erblickten ihn?!“
„Ja – er flog vom Flügel her durch die Luft und fiel irgendwie in die Nähe des Wandschirms links neben der Tür ins Eßzimmer nieder. Ich hörte ihn noch auf den Teppich klatschen – eben das Geräusch eines mit Schwung geworfenen, niederfallenden Schirmes.“
Harald bückte sich und schnürte die Bänder seines linken, braunen Halbschuhes fester. „Das ist allerdings wertlos,“ sagte er. „Wo lag oder stand denn der Schirm vorher?“
„Er lehnte am Notenständer …“
„Also dicht am Bechstein …
„Ja …
Harst richtete sich wieder auf. „Und wo ist der Schirm geblieben?“
„Das weiß ich nicht, lieber Harst, ich habe mich um das Ding auch nicht weiter gekümmert.“
„Nun, – der Schirm war nicht mehr im Zimmer, als Irina uns geholt hatte. – – Genug davon. Etwas Neues jetzt … Sie wissen natürlich, daß Irina und Helga Schwestern sind?“
Prank nickte widerwillig, sagte jedoch nichts.
„Wann und wie erfuhr Helga, daß Irina ihre Schwester ist?“
Heribert seufzte. „Sie bringen mich da in eine sehr peinliche Lage … Ich habe Verschwiegenheit …“
„Unsinn, – hier geht es um ein Menschenleben, Prank! Reden Sie!“
„Nun gut … Sie haben recht. – Irina und Helga lernten sich persönlich erst wieder durch mich kennen. Sie waren so frühzeitig aus dem Elternhause zu Fremden gekommen, daß sie, zumal sie sich nie mehr sahen und nichts voneinander hörten, sich gar nicht wiedererkennen konnten. Außerdem heißt ja auch Irina mit ihrem richtigen Namen, den sie längst abgelegt hat, Elisabeth Müller … Wie sollten also die Schwestern …“
„Schon gut … – Wodurch ward dann doch beiden klar, daß sie Schwestern seien?“
„Eines Abends,“ berichtete Prank nun etwas träumerisch, „standen wir an der Lücke in der Hecke, Irina und ich auf der einen Seite, Helga auf der anderen. Irina war nur zu uns getreten, um Helga kurz zu begrüßen. Diese jedoch hatte mir allerlei von ihrer traurigen Jugend und ihren verkommenen Eltern erzählt und weinte leise. Irina fragte sie nach dem Anlaß ihrer Traurigkeit, und so geschah’s, daß Helga neue Einzelheiten aus ihren Kindertagen erwähnte. Plötzlich fiel Irina ihr um den Hals … küßte sie, weinte auch, und – – die Schwestern hatten sich gefunden. – Nun aber auch hierbei etwas sehr, sehr Merkwürdiges: Irina verbot Helga sehr eindringlich, ja nicht etwa ihrem Adoptivvater Pingalli mitzuteilen, was sich hier im Dunklen soeben abgespielt und herausgestellt hatte. Irina war dabei so energisch und so ängstlich – ängstlich vor Pingalli, daß Helga, die ja die Abneigung Pingallis gegen Irina kannte, schnell bereit war, sich nie etwas anmerken zu lassen und stets sehr vorsichtig zu sein, wenn sie sich mit Irina an der Hecke träfe. Auch von mir verlangte Irina strengste Diskretion und Vorsicht. Ich gewann bei alldem den Eindruck, daß Irina den Doktor Pingalli aus irgendeinem Grunde sehr fürchtete, und in der verflossenen Nacht, als Sie, Harst, diesen Ritschel als Erpresser entlarvten, kam mir der Gedanke, ob nicht auch Pingalli mit den beiden Schuften heimlich verbündet sei, – ein Verdacht, der jetzt zur Gewißheit geworden, da ja Pingalli der Bleiche war, der den famosen „Doktor“ Ritschel und diesen kläglichen Säufer namens von Spitzer befreite …“
„Hm …!!“ Harald schüttelte sanft den Kopf. „Lieber Prank, – und die Angst der beiden vor dem Bleichen, diese Todesangst?!“
Prank erklärte schlicht: „Auch Verbündete können sich verfeinden, zumal wenn zwei von ihnen vielleicht auf eigene Faust das goldene Huhn rupfen.“
„Stimmt, das kann sein … – – Aber – – weiter – – Schritt für Schritt … Das Dunkel lichtet sich schon … – Als Irina uns holte, wo war sie da noch vorher? Sie hatte doch Schmutzränder an den Lackschuhen …“
Prank blickte zu Boden …
Er schwieg.
Weshalb schwieg er?! Weshalb seufzte er wieder?!
Er antwortete äußerst widerwillig:
„Irina versuchte Helga am Heckenloch zu treffen … Natürlich war Helga nicht dort, und bevor Irina durch das Signal …“
„Welches Signal?“
„Die Schwestern hatten vereinbart, sich durch sogenannte Vogelpfeifen miteinander zu verständigen … – Bevor Irina also durch das Signal Helga herbeigerufen hätte – Helga schläft im Erdgeschoß, und Pingalli oben im ersten Stock –, wäre zu lange Zeit verstrichen, daher lief Irina wieder in den Vorgarten und zu Ihnen …“
„Und daher flüsterte Irina Ihnen nachher zu, Sie sollten Helga etwas bestellen …“
„Auch das ist richtig, lieber Harst. Und jetzt kommt wieder etwas sehr Eigentümliches, denn Irina trug mir auf, Helga folgendes auszurichten: Helga solle, falls sie etwa den Mann auf der Fontäne kenne, um jeden Preis dies verheimlichen. – Begreifen Sie das, Harst?! Ich nicht.“
„Ich … ja!“ sagte Harald gelassen. „Doch davon später. – Sie, lieber Prank, trafen dann Helga verkleidet am Heckenloch, und es kam zwischen ihnen beiden zu einem scheinbaren Bruch, weil Helga Sie verdächtigte, der Mörder zu sein. – Haben Sie Helga Irinas Bestellung ausgerichtet?“
„Ja. Sie war darüber sehr erstaunt, sie hatte niemand auf der Fontäne gesehen, konnte dies auch gar nicht von ihrem Platze aus, – nur mich sah sie auf dem Baumstumpf und auch Ritschel am Fenster. Ich habe Helga noch erklärt, daß wir drei, die wir angeblich im Salon weilten, uns das Ehrenwort …“
„Danke … – Was ich von Ihnen erfahren konnte, weiß ich nun, und – – Sie, lieber Prank, haben mir endlich die richtige Fährte gezeigt.“
Heribert Prank beugte sich vor und griff nach Haralds Hand. „Wer ist der Mörder?“ bat er … „Sagen Sie es mir, Harst … Es wäre ja entsetzlich, wenn etwa wirklich Irina …“
„Nein,“ fiel Harst ihm ins Wort, „so entsetzlich wäre das nicht, – – und Sie müssen sich schon damit abfinden, daß Irina den Legationsrat töten wollte … Sie dürfen auch das nicht vergessen, Prank: Irina war es, die das Licht ausschaltete, als Pingalli uns mit dem Karabiner bedrohte und als Ritschel und Spitzer geflohen waren. – Ich überschaue die Zusammenhänge noch nicht vollständig. Fragen Sie nichts … Irina wird auch kaum gefunden werden … – Übrigens ist auch Helga eine glänzende Schauspielerin. Vorhin hat sie den Friedensengel so echt gemimt, daß mein lieber Schraut eine Gänsehaut bekam. Nun marschieren Sie heim, bester Prank … Es wird alles schon leidlich in Ordnung kommen … Auf Wiedersehen …“
Prank mußte sich verabschieden, – gern tat er’s nicht, und kaum war er weg, erschien der patente Hans vom Feldwege her, Kriminalkommissar Doktor Hans Lücke.
„Tag, Kinder … Na, ihr habt hier ja mit dem Prank ein mächtig langes Palaver abgehalten … – Was Neues?“
Er warf sich in den Liegestuhl und fächelte sich mit seinem eleganten Filzhut Kühlung zu. „Natürlich habt ihr nichts Neues entdeckt,“ plätscherte sein gutgelaunter Redestrom weiter, „ihr armen Kerle findet ja nie ein Spürchen einer Spur …“ Er legte seinen Handspiegel auf sein hochgezogenes Knie und ordnete seinen schmalen Binder, in dem stets eine kostbare Perle als Nadel schimmerte. Er konnte sich eben alles leisten, der patente Hans, er war reich und nur aus Neigung zur Kriminalpolizei übergetreten, wo er das „Enfant terrible“ für seine Vorgesetzten, aber der beliebteste Mann seiner Untergebenen war. Nachdem er seiner Krawatte den nötigen Schwung verliehen, betrachtete er eingehend seine zart gemusterten Seidenstrümpfe und begann von neuem: „Mein Oberchef hat mir heut’ eine Nase versetzt, die war nicht schlecht. Erst wandte ich mich an den Chef. Der zeterte entsetzt: „Um Gotteswillen, den wollen Sie verhaften! Der Oberchef hat ja soeben befohlen, daß das Haus Doktor Pingallis scharf bewacht wird. Pingalli hat heute früh dem Minister mitgeteilt, daß er seine Sammlungen dem Museum schenkt und daß er den Abtransport schon angeordnet habe … Also gehen Sie zum Oberchef, Lücke!“ – Ich ging, und der Oberchef hörte zu und meinte dann: „Das ist alles Unsinn. Das hat Ihnen wohl der Harst suggeriert. Doktor Pingalli ist ein Ehrenmann, und Sie sind …“ – na, wie er mich titulierte, will ich nicht wiederholen, ich drehte mich jedenfalls kurz um und schmetterte die Tür ins Schloß und dachte: „Du kannst mir mal … und so weiter!“ – Ja, Kinder, – so schlau wie ihr bin ich auch. Ihr wißt natürlich einen ganzen Haufen. Ich desgleichen. Meine Quelle war Irinas Zofe, die ich mir heute gehörig vorband, und da erwachte ihr Gedächtnis. Pingalli hat Irina nachts sehr häufig besucht.“
Er blinzelte uns an. „Wußtet ihr das?!“
„Das sind olle Kamellen, lieber Lücke. Hatten Sie nichts Besseres auf Vorrat?!“ Harst feilte an seinen Fingernägeln herum.
Lücke lachte. „Olle Kamellen?! Die Kamellen stammen von Prank, von Helgas Liebstem. Auch das hatte die Zofe ausspioniert. Alle Zofen spionieren. Diese Zofe besitzt ein Theaterglas … Und von ihrem Mansardenfenster sah sie Pingalli mit einem Karabiner auf dem Fontänenrand. Pingalli schmierte sich nachher Schminke über die braune Edelfratze und war der Bleiche. Aber, wie gesagt: Der Oberchef, der volkstümliche Ausdrücke liebt und mich anfauchte, hat sich durch Pingallis Riesenstiftung für das staatliche Museum blenden lassen. Pingalli forderte Schutz für den Transport der wertvollen Steinsammlungen, Versteinerungen und Edelsteine, und nun stehen vier Mann Wache, und Pingalli lacht uns aus. Wer zuletzt lacht, lacht am klügsten, Kinder. Nun erzählen Sie mal, Harst.“
Der tat’s und verschwieg nichts. Lücke kokettierte mit seinen Brillantringen und warf ein: „Irina und Helga Schwestern – – olle Kamellen! Das wußte ich schon gestern nacht. Beide geborene Müller, beide aus derselben Stadt, beide vom Leben eklig herumgeworfen, Eltern tot, Mutter starb im Irrenhaus, der Vater im Straßengraben und im Suff – – pardon. Feine Familie …! – Damals, als Irina mit Ganotta im Auto verunglückte, sollte Ganotta vor Gericht wegen zu schnellen Fahrens. Damals schon habe ich meine Nase in diese Sachen gesteckt, denn Irinas Freundschaft mit Ritschel und Spitzer war anrüchig.“
„Am anrüchigsten ist der rote Sonnenschirm …“ sagte Harst da. „Das ist keine olle Kamelle, das ist sogar sehr wichtig. – Wo ist der Sonnenschirm?!“
Lücke blickte ihn fest an. „Harst, was soll das?! Ein fliegender Sonnenschirm von Prank beobachtet, hat den Wert einer Zigarettenrauchwolke … Ein Sonnenschirm ist kein Gewehrstock, Harst. Daran dachten Sie wohl.“
„Nein, mein Lieber. Aber ich frage mich: Wo blieb der Sonnenschirm?! Er ist weg, er verschwand aus dem Mordzimmer. Weshalb?! Wer ließ ihn verschwinden?! Wäre der Schirm harmlos, hätte sich keine Katz’ drum bemüht, ihn beiseite zu schaffen. Aber ein schlauer Kater tat’s doch. Wer?!“
Der patente Hans wurde nachdenklich.
„Sie haben recht, Harst …! – Überhaupt, es ist da vieles zu klären. Pingalli stellt Helga als geistesgestört hin, Moritz benimmt sich wie ein Amokläufer und Helga theatert als Friedensengel … Nette Geschichten!! Gehen wir zu Pingalli. Der Herr wird Farbe bekennen müssen …“
Moritz öffnete uns die Haustür.
„Der Herr Doktor ist verreist, Herr Kriminalkommissar, und Fräulein Helga ebenfalls,“ sagte der Bucklige mit übertriebenster Höflichkeit und dienerte immer wieder. Er verhöhnte uns.
„Wohin?“ fragte Lücke scharf und blickte durch den engen Flur und die offene Gartentür auf den Hof hinaus, wo eine Anzahl Leute allerlei Dinge in große Holzkisten vorsichtig verpackten, während ein Herr mit Brille dabeistand und aufpaßte.
„Der Herr Doktor ist mit Fräulein Helga nach dem Süden gereist,“ erklärte Moritz bereitwilligst.
„Ich denke, Fräulein Helga ist krank und sollte in eine Nervenheilanstalt,“ meinte Lücke gelangweilt – scheinbar.
„Das war nur ein Scherz …“ und Moritz’ Augen flackerten vor Hohn.
„Wer ist der Herr mit der Brille da auf dem Hofe?“
„Ein Assistent des Museums, Herr Kriminalkommissar, – zu dienen.“
„Mit welchem Zuge reisten der Doktor und das Fräulein?“
„Mit keinem. Mit einem gemieteten, großen Auto. Vor zehn Minuten verabschiedeten sie sich von Eva und mir. Eva ist die Haushälterin und Köchin.“ Moritz machte eine einladende Handbewegung. „Wollen die Herren nicht bitte freundlichst nähertreten … Es zieht hier …“
„Ja,“ nickte der patente Hans, „ man zieht hier … – Gut, treten wir ein. Ich möchte mir mal das Haus ansehen … Es ist sehr alt …“
„Unbeschreiblich alt …“ Moritz lächelte traurig. „So alt werde ich nicht werden.“ Er wackelte mit dem Eimerschädel und schloß die Haustür ab.
„Sagen Sie mal, haben Sie vielleicht einen roten Sonnenschirm gefunden?“ fragte Harst da und legte Moritz vertraulich die Hand auf die Schulter.
Moritz schielte ihn von unten an, „Hm – – Sonnenschirm … – na ja, das war komisch … Ein roter Sonnenschirm lag heute früh in unserem Erdbeerbeet unter den dichtesten Stauden, total verregnet und schmutzig … Ich habe ihn Eva gezeigt, aber sie wollte ihn nicht haben, und da hab’ ich ihn einem kleinen Mädel geschenkt, das auf der Straße spielte.“
Harst sagte ruhig: „Das ist gelogen. Wo ist der Schirm?“
Moritz grinste. „Ja, es ist gelogen … Ich habe den Schirm zerbrochen und die Stäbe für die Buschbohnen als Stützen benutzt.“
„Und der Stock?“
„Liegt hinten auf dem Müllberg … Ich hätte es nicht tun sollen, aber Eva meinte, der Schirm sei ein Dreck …“
„Zeigen Sie uns doch mal den Stock …“
„Aber gern …“
Wir schritten über den Hof in die Südwestecke des Gartens, wo hinter einem kleinen Kaninchenstall sich der Müllberg versteckt auftürmte. Oben zwischen allerlei Unkraut lag ein eiserner Schirmstock mit heller Holzkrücke, die in einen geschnitzten Papageienkopf auslief. Aber die ehemals wertvolle Schnitzerei war halb zerschlagen.
Harald wog den Stock in der Hand, der etwas verbogen war.
„Herr Morwitz,“ sagte Harald. „Sie könnten mir den Schirmstock schenken …“
Herr Morwitz schielte wieder und nickte. „Meinetwegen …“
Worauf Harst das Schirmfragment unter den Arm klemmte und zu Lücke bemerkte: „Wie mag er nur in die Erdbeeren gekommen sein?!“
Der patente Hans beäugte den krummen hohlen Eisenstock und antwortete: „Geflogen, – – er liebte das Fliegen, es ist neuzeitlich. Alles fliegt, mancher fliegt sogar ins Loch.“ Und er blickte Moritz scharf am. Für den Schirm hatte er kein Interesse mehr. Ich auch nicht. Aber für Moritz … Denn der hatte sich etwas verfärbt.
„Herr Morwitz,“ meinte Hans Lücke gleichmütig, „haben Sie einen Waffenschein?“
„Wie?! Waffenschein?!“
„Ja … Sie haben doch heute mit einem Revolver unziemliche Scherze gemacht. Und – hat Pingalli einen Waffenschein für seinen Karabiner?“
Der kleine Verwachsene fletschte plötzlich die Zähne. „Fragen Sie ihn …! Ich weiß es nicht, ich weiß nichts von einem Karabiner, das kann ich beschwören.“
„Dein Eid ist mein Eid … Meineid,“ murmelte Lücke scherzend. „Ach, Herr Morwitz, – wenn wir nur nicht Ihre Photographie und ihre Fingerabdrücke im roten Alex hätten!! Sie haben dreimal gesessen. Immer als Morwitz. Aber Sie heißen, denke ich, August Müller … Nicht wahr?“
Moritz’ Schädel sank auf die Brust. Sein Gesicht war kalkig. Lücke fügte seufzend hinzu: „Nun muß ich Helgas ältesten Bruder wegen Bedrohung mit einer Schußwaffe verhaften …“
Ich, Max Schraut, hielt den Atem an.
Harst lächelte nur. Ihm schien auch dies nicht neu zu sein. Er sagte zu Lücke: „Wir stellen keinen Strafantrag … Mag Herr August Müller sich seiner Freiheit weiter erfreuen. Aber – eine Frage: Ist Eva, die Xantippe, Ihre … Gattin?“
Moritz hauchte ein verstörtes „Ja!“
„Dann sind Sie genügend gestraft …“ lächelte Harald und fuchtelte mit dem Schirmstock umher. „Eva als Gattin macht alles wett. – Was wissen Sie über den Mord, Herr Müller?“
Moritz stöhnte gepreßt. „Es … ist ja nun doch alles verloren … Ich hätte den Herrn Doktor gern geschont …“
„Also hat er Ganotta erschossen?“
„Ich fürchte …“ und Moritz liefen die Tränen über die stoppligen Wangen. „Ich weiß nur, daß der Herr Doktor …“ – er zögerte – „Irina Vanderkott liebte und heimlich zu ihr ging – immer nachts … Und gestern nacht war er drüben, ich sah ihn, er … er hatte den Karabiner mit. Er war wohl sehr eifersüchtig … Mehr weiß ich nicht.“
„So?! – Helga ist Ihre jüngste Schwester. Und Irina?“
Moritz glotzte Harst verständnislos an.
„Wußte Helga, daß Sie ihr Bruder sind?“
„Gott behüte – nein!! Der Herr Doktor hatte es mir gesagt, aber mir gleichzeitig streng befohlen, Helga nichts merken zu lassen.“
„Und … Irina?!“
Moritz Augen leuchteten plötzlich auf. „Herr im Himmel, – – sollte es möglich sein?!“ rief er ungläubig.
„Es ist so, Irina ist Ihre Schwester. – Herr Müller, können Sie wirklich gar nichts mehr über die verflossene Nacht angeben.“
Moritz zuckte die schiefen Schultern. „Leider nein! Ich wünschte, ich könnte es … Ich hänge an dem Herrn Doktor, er hat uns nur Gutes erwiesen, er ist der beste, edelste Mensch auf Erden … Ich konnte ihn doch nicht fragen, ob er den Ganotta aus Eifersucht erschossen hat, – an dem Ganotta war übrigens nichts dran, er war ein ganz verfluchter Schürzenjäger, ich habe ihn und Irina mal belauscht – durch die Hecke, – Ganotta war wie ein Verrückter, Irina sollte ihn heiraten … Als sie ihn abwies, drohte er ihr …“
„Womit?“
„Er kreischte bissig: „Sie werden niemals einem andern gehören, – ich fiebere nach Ihnen, und – – mir ist alles gleichgültig!!“ Sie lachte ihn aus …“
„So … so!“ sagte Harald. „Also wäre auch das bewiesen …! Arme Irina, Ganotta war dein Verhängnis, dieser Mensch ohne jegliche Hemmungen …!“
Hans Lücke mischte sich ein.
„Harst, ich muß an den Chef telephonieren … August Müllers Aussage entscheidet. Pingalli muß verhaftet werden.“ –
Um drei Uhr nachmittags hatte die Kriminalpolizei ermittelt, daß das gemietete Reiseauto friedlich in die Garage zurückgekehrt war. Pingalli und Helga hatten das Auto in Königswusterhausen[7] halten lassen und waren mit ihren Koffern in einem Hotel abgestiegen, von wo sie eine halbe Stunde später mit einer Taxe verschwanden, – wohin, war nicht zu ermitteln. Auch der Verbleib Irinas und Ritschels und Spitzers war nicht aufzuklären.
Wir beide hatten nach dem Mittagessen in den Liegestühlen ausgiebig geschlafen, Harst sprach kein Wort mehr über das Rätsel dieses Mordes. Um sechs Uhr telephonierte Lücke und meldete, daß die gemeinsame Wohnung Spitzers und Ritschels genau durchsucht worden sei. Ritschel scheine auch Radiobastler zu sein, denn ein kleines Hinterzimmer sei als Werkstatt eingerichtet, und an dem Handwerkszeug, Schraubstöcke, Lötkolben und so weiter, fehle nichts … – Harst bat Lücke, sich doch auf jeden Fall abends gegen zehn bei uns einzufinden. „Ich wollte um acht kommen,“ erklärte der elegante Hans. – „Kommen, Sie um zehn, das reicht, das ist noch zu früh …“ und Harald hängte ab.
Er blieb in seinem Arbeitszimmer, während seine Mutter und ich ein Stück durch die Laubenkolonie und bis nach Dahlem hinein spazieren gingen. Frau Harst, meine allzeit mütterliche Freundin und kühle Kritikerin, meinte sehr ernst, sie hielte Pingalli nicht für den Mörder. – Ich betonte, daß der inzwischen in seinem Hause gefundene Karabiner genau das Kaliber des tödlichen[8] Geschosses habe und daß man eine Pistolenkugel auch in eine Patronenhülse, die für den Karabiner bestimmt sei, hineindrücken könne. Außerdem sei doch das Motiv der Tat ganz klar: Eifersucht!! Pingalli sei eben Irinas Liebhaber trotz des großen Altersunterschiedes gewesen … Pingalli habe sich als Mann tadellos konserviert und wirke wie ein Fünfziger.
Aber Frau Harst widersprach immer noch. „Ich nehme bestimmt an, Harald kennt den wahren Täter, lieber Schraut … Ich fürchte, es ist Irina selbst. Bedenken Sie: Ganotta hat doch offenbar bei der wilden Autofahrt Irina und sich selbst töten wollen. Irina hat ihm sicherlich ihre Fußverletzung, ihre Lahmheit und die Kinnnarbe nie vergessen. Freilich – manches, bei alledem, widerlegt mich auch, zugegeben.“
Ich hatte bisher mit meiner eigenen Ansicht vorsichtig zurückgehalten. Ich erklärte nun: „Man hat hier die Wahl zwischen Pingalli, Irina, Prank und Moritz, – denn auch diese beiden letzteren erscheinen mir verdächtig. Das ist bei mir wohl Gefühlssache, aber …“
Und dann betraten wir den Gemüsegarten, Harald band dort die Tomatenstauden fest, winkte uns zu, und ich schwieg.
Harald küßte seine Mutter und … zog ein Stück rote Seide aus der Tasche. „Ich war derweil bei Ritschel – kleiner Einbruch … Dies hier fand ich in seiner Werkstatt zwischen Putzlappen auf der Drehbank. Ritschel scheint Schirmfabrikant gewesen zu sein – im Nebenberuf.“
Frau Harst rief leise:
„Hältst du Ritschel für den verbrecherischen Schützen?!“
„Nein, liebe Mama … – Mathilde wartet schon mit dem Abendbrot … Es gibt Aal und Bratkartoffeln und Gurkensalat. Schraut wird wieder drei Tage Magenbeschwerden haben.“
Ich war sehr müde, als gegen zehn nicht nur Hans Lücke, sondern auch Heribert Prank erschien, den Harald gleichfalls zu einer kleinen Besprechung eingeladen hatte. Prank sah entsetzlich elend aus, und mir wieder war der eingelegte Aal schlecht bekommen, obwohl ich hinterher Natron und drei Kognaks geschluckt hatte. Mein Interesse für dieses erneute Konzilium war daher gleich Null. Auch der elegante Hans tat so, als ob ihm der ganze Fall Ganotta bereits zum Halse herauswüchse. „Die Flüchtlinge sind unauffindbar, mein Chef hat vom Oberchef eine Nase versetzt bekommen, und der Oberchef eine vom Minister, weil man nicht auf mich gehört hat und sich durch Pingallis Stiftung bluffen ließ. Diese Nasenverteilung hat mir ebenso viel Spaß gemacht wie Ihr Wachtdienst, Harst, den ich natürlich bemerkt habe. Statt von unseren Beamten wird Pingallis Haus jetzt von drei Leuten der Detektei Lux beobachtet, und die haben Sie doch bestellt, alter Freund. Sie wollen wohl die beiden Kisten nicht stehlen lassen, die noch nicht abtransportiert sind.“ Er besah sich seine Zigarre, legte sie wieder weg und rauchte seine eigene an. Meine Brasil sind ihm zu schwer.
Prank sagte gar nichts. Wir tranken Haute Sauterne, und Lücke erzählte neue Witze. Aber nur drei, und nach diesem Paprika meinte er: „Was sollen wir eigentlich hier?!“
„Warten,“ antwortete Harst. „Moritz hat einen Tafelwagen bestellt, wie meine Leute erkundeten. Wenn Moritz mit dem Wagen davonfährt, werden wir dem Leichenbegängnis folgen.“
Lücke zog die Augenbrauen hoch, „Donnerwetter, – glauben Sie etwa, daß in den beiden Kisten …“
„… Ritschel, Spitzer und Irina stecken – ganz recht! Die drei waren bisher in Pingallis Keller irgendwo verborgen, und Pingalli spendete dem Museum seine Schätze, damit die Riesenkisten nicht auffallen sollten … Als Schraut und ich oben bei Pingalli waren, rannte dieser davon, weil unten jemand wie am Spieße brüllte. Das war Frau Eva Müller, die Xantippe, die zufällig das Versteck der drei gefunden und einen Mordsschreck bekommen hatte – – klar!!“
Lücke verneigte sich überhöflich. „Harst, – Hut ab vor Ihnen!“
Dann kam Mathilde herein. „Herr Harald, hier ist das Rindfleisch … Juten Appetit …!“
Es war ein Schmorstück von sieben Pfund, schieres, zartes Fleisch. Harst packte es in Fettpapier ein und meinte: „Unser Proviant!“
„Blech!“ sagte Hans Lücke. „Wohin wird Moritz fahren?“
„Dorthin, wo Pingalli und Helga sind …“
Prank seufzte sehnsüchtig und trank das fünfte Glas Bordeaux.
„… Pingalli konnte die drei nur mit Hilfe der Kisten aus dem Hause bringen,“ erklärte Harald und legte auf das Fleischpaket den wertlosen Schirmstock. „Pingalli wird Ritschel und Spitzer reichlich mit Geld versehen und sie ins Ausland schicken. Moritz wußte, daß die drei im Keller waren. Er hat uns also belogen. Er geht für Pingalli durchs Feuer. Aber das alles wird ihnen nichts helfen. Die Erpresser kommen ins Loch, und der Mörder dorthin, wo er hingehört.“
Lücke putzte sein Monokel. „Sie haben irgendeine Überraschung in petto, Harst.“
„Eine Demonstration, lieber Lücke … Außerdem hoffe ich auf eine Radiodepesche aus Hollywood als Antwort auf meine Anfrage heute morgen. Wenn ich mich nicht irre, kommen gerade zwei Leute durch den Vorgarten.“ – Er blinzelte, es waren einer der Lux-Leute und ein Depeschenbote. Der Detektiv meldete, daß Moritz soeben die Kisten auf den Tafelwagen lüde, und die Depesche aus Hollywood lautete: „Harst, Berlin-Schmargendorf, Germany. – Ping heiratete in Nachbarort Western vor zwei Jahren in aller Heimlichkeit Irina V., damit gegen diese nicht Anklage erhoben werden könnte, weil sie ihn fahrlässig durch Bauchschuß bei Jagd schwer verletzt hatte. Als Ehefrau P’s ging Irina straffrei aus. – Gruß Collins & Comy.“
„Nun schlägt’s dreizehn!“ sagte Lücke. „Irina ist eine Frau Doktor Pingalli!! Dann durfte er sie nachts allerdings besuchen.“
„Gehen wir,“ meinte Harald und nahm das Paket und den Schirmstock. „Moritz dürfte bereits davonfahren.“
Moritz saß vorn auf einer Kiste und kutschierte.
Nach einer Stunde langte er – und wir vier hinter ihm – an einer Uferstelle unweit Pichelswerder an der Havel an, wo neben dem Restaurant so sehr viele Boote, Jachten und Anglerkähne vertäut liegen. Moritz schien seiner Sache so sicher zu sein, daß er sich nicht ein einziges Mal umgedreht hatte. Er lenkte den Tafelwagen dicht an einen Bootssteg, an dem eine große, elegante Motorjacht vertäut war. Sie besaß Vorder- und Achterdeck, und die Fenster der Heckkajüte waren erleuchtet. Auf der Heckbank saß ein Herr im hellen Anzug und Seglermütze und rauchte. Wir hörten, wie Moritz den schrillen Schrei einer Möwe tadellos nachahmte. Der Herr erhob sich und sprang elastisch auf den Steg. Wir lagen alle vier hinter ein paar Distelstauden jenseits des Weges, wir vernahmen hastiges Flüstern, dann wurde von Moritz der Deckel der einen Kiste hochgeklappt und eine Gestalt schlüpfte heraus und eilte den Weg entlang. Es war Irina in einem dunklen Sportanzug. Aus der anderen Kiste tauchten zwei Gestalten auf – natürlich die Herren Erpresser … Sie flitzten wie gejagt vom schlechten Gewissen ebenfalls in die Jacht hinein. Moritz schlug den Kistendeckel zu, und zu unserer Überraschung kam der schlanke Herr um den Wagen herum gerade auf unser Versteck zu … Er sah uns, wir erhoben uns, und Doktor Pingalli sagte höflich: „Meine Herren, ich habe den Kampf aufgegeben … Ich ahnte, daß Herr Harst den wahren Inhalt dieser Kisten durchschauen würde … Es hat keinen Zweck mehr, mit Heimlichkeiten zu operieren. Die einzige Hoffnung, die mir bleibt, ist die, daß Herr Harst auch den wahren Täter herausgefunden hat … Ist dies nicht der Fall, dann wird der Verdacht wohl nie von meiner Frau genommen werden – oder von mir …“
Harald reichte ihm die Hand. Er sagte mit der ganzen Schlichtheit seines Wesens: „Ihre Hoffnung wird erfüllt werden, Herr Doktor … Nur eins noch: Sie hielten Irina für die Mörderin, Irina hielt Sie für den Schützen … Sie beide suchten sich gegenseitig zu decken, und aus diesem Bemühen ergab sich der Wust von Irrungen und Wirrungen, der noch durch das Eingreifen der beiden Erpresser, durch Prank und uns vergrößert wurde. – Gehen wir …“
In der strahlendhellen Heckkajüte schnellten Ritschel und Spitzer bei unserem Eintritt wie von einer Tarantel gestochen hoch … „Verrat!!“ knirschte Horst Ritschel … „Das soll Ihnen teuer zu stehen kommen, Doktor Pingalli!! Nun sind Sie und Ihr junges Täubchen reif für das Gefängnis! Wer in polizeilichen Anmeldungen verschweigt, daß er verheiratet ist, – wer, wie Irina …“
Aber Harst schnitt diesem geifernden Buben herrisch das Wort ab. „Mit diesen Urkundenfälschungen, die sehr wenig besagen, wenn man die Umstände berücksichtigt, haben Sie beide, nachdem ein Zufall Ihnen die Tatsache dieser heimlichen Ehe zur Kenntnis brachte, Irina gefoltert … In letzter Zeit wurde Ihr Opfer jedoch weniger willfährig, die Summen flossen nicht mehr so reichlich … Da heckten Sie den teuflischen Plan aus, Irina in ein noch stärkeres Abhängigkeitsverhältnis von Ihnen zu bringen. Wer die Idee ausklügelte, Ganotta so zu ermorden, daß sowohl Irina als auch Pingalli in Verdacht geraten mußten, ist gleichgültig …“
Ritschel lachte höhnisch. „Sie … sind übergeschnappt, Herr Harst … Dann soll wohl auch einer von uns der Mörder sein …?!“
Harald zog langsam den Schirmstock unter dem leichten Gummimantel hervor … In demselben Augenblick sank Ritschel kreideweiß auf die Bank zurück, und auch der Herr Major taumelte neben ihn und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
„Lücke, geben Sie mir mal die tödliche Kugel … Schraut, packe das Fleisch aus und halte es in Brusthöhe … – Es ist überhaupt kein Schuß gefallen … Dieser rote Sonnenschirm, den Ritschel gestern abend Irina schenkte, ist eine teuflischere Waffe als damals die grüne Fliege … Sehen Sie her … Ich drücke den Schirmgriff herab, und hier unten klappt die eiserne Zwinge des hohlen Eisenstockes wie ein Doppellöffel auf … Die Zwinge ist sehr spitz. Ich lege die Kugel in den Löffel, er schließt sich … Ich stoße mit dem Schirmende in das Fleisch … Da – – die Zwinge bohrt sich ein, ich reiße den Schirm zurück, und im Schirmstock stößt eine Feder die Kugel in das Loch im Fleische, – die Kugel bleibt stecken, und jeder würde beschwören, es müsse mit einer Schußwaffe gefeuert worden sein … – Als Prank mir erzählte, der rote Schirm sei durch die Luft geflogen, – weil Ritschel ihn nämlich wegwarf, da war das Rätsel halb gelöst … – Sie, Frau Irina, schrien deshalb auf, weil Sie Ihren Gatten mit dem Karabiner auf der Fontäne sahen, – Ritschel sprang zu, ergriff den Schirm und stieß ihn hinter Ihrem Rücken Ganotta ins Herz … Sie hörten Ganotta vom Sessel fallen, Ritschel warf den Schirm weg, – – der Mord war verübt … – In der Tat, – satanischer, schlauer konnte niemand ein Verbrechen verüben …! – Hoffentlich haben Sie zwei Paar Handschellen bei sich, lieber Lücke … Diese elenden Gesellen sollen uns schleunigst aus den Augen …“
Helga flog mit einem Jubelruf ihrem Heribert an die Brust, und Pingalli preßte sein Weib an sich und küßte sie … – –
Der Schirmstock steht heute im Kriminalmuseum des Präsidiums, – – ich stehe vom Schreibtisch auf … Irinas Verhängnis ist beendet. Dem, der mir nachweist, daß er den Mörder schon vor Harsts Enthüllungen herausfand, zahl ich eine Million – – in Inflationsscheinen.
Nächster Band:
Die Hexe von Malvetta.
Anmerkungen: