Sie sind hier

Das Geheimnis von Schloß St. Juif

 

 

Harald Harst

 

Band: 345

 

Das Geheimnis von Schloß St. Juif

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Ein etwas unheimlicher Empfang.

Das kleine Dorf St. Juif liegt an einer tiefen, felsigen Bucht der normannischen Küste, fernab von jedem Verkehr, unberührt von den Ereignissen der großen Welt da draußen, und wenn der Regierungsdampfer alle acht Tage von der nächsten Hafenstadt herüberkommt und die Post und die Zeitungen bringt, bleiben die wenigen Bewohner des seltsamen Fischerdörfchens genau so gleichgültig, als hätten sie mit den Menschen und Dingen, die außerhalb ihres engen Horizontes noch vorhanden, überhaupt nichts mehr zu tun. Nach dem Binnenlande hin ist der Ort durch weite Sümpfe abgesperrt, – es ist so etwa das gottverlassenste Fleckchen Erde, das man sich vorstellen kann.

An einem trüben Frühherbstmorgen erschien nun in der Juif-Bucht eine kleine, halbwracke Motorjacht, deren beide Masten nur noch Stümpfe zeigten und deren Besatzung von vier Mann mühsam mit Hilfe von Rudern dem Strande zustrebte, wo ein paar finster blickende blauäugige, blondbärtige Dorfbewohner faul und mürrisch am Geländer der morschen Landungsbrücke lehnten und nicht die geringste Miene machten, den Engländern irgendwie zu helfen.

Auch der Motor der Jacht schien in Unordnung zu sein, und selbst die englische Flagge am Heck war recht zerfetzt, einige Fenster des Heckaufbaus waren zersplittert, und da in den letzten Tagen die See sehr friedlich gewesen, konnte die Jacht „Berenice“ nur auf ein Riff aufgelaufen oder mit einem anderen Fahrzeug zusammengestoßen sein.

Anders waren diese schweren Beschädigungen nicht zu erklären.

Einer der vier Leute der Jacht flüsterte jetzt einem in Matrosentracht steckenden Manne mit hagerem, scharfem Gesicht unauffällig zu: „Nun, Harst, habe ich auch nur ein Wort zu viel gesagt?! Betrachten Sie sich diese St. Juifer, und Ihnen läuft eine Gänsehaut über den Rücken!“

Harst schwieg dazu und schlang ein Tau um einen Pfahl. Im stillen gab er George Saltorp vollkommen recht. Die Kerle wirkten geradezu unheimlich.

„Hallo!“, rief der junge Saltorp hinüber. „Packt mit an, Leute! Ich zahle gut!“

Keiner der sieben Männer in den Wollwesten und den Wollkappen rührte sich.

Sie alle hatten buschige Augenbrauen, tief gebräunte Gesichter und harte, verschlossene Züge. In ihren Augen lauerten versteckte Feindseligkeit, Heimtücke und Mißtrauen.

„Weiß Gott, Harst“, flüsterte der reiche, vergnügte Saltorp abermals, „Lucie hat nicht übertrieben. Jetzt bedaure ich es nicht mehr, zu Ihnen nach Berlin gekommen zu sein und Sie und Ihren Freund nach all den endlosen Verhandlungen aus Ihrem Fuchsbau herausgelockt zu haben … – He, Mr. Schraut, ziehen Sie die Hecktrosse fester an …“

Die Jacht war vertäut, und wir drei kletterten auf den Steg, während Saltorps Bootsmann Tim Jatteroll auf der „Berenice“ zurückblieb. Da Harst und ich die Rolle von Matrosen spielten, überließen wir George die Anbahnung freundschaftlicher Beziehungen zu den St. Juifern, über die wir auch in der Umgebung in den Küstenorten wenig Gutes gehört hatten.

Saltorp, der fließend Französisch sprach, hielt dem Ältesten der sieben finsteren Gestalten mit harmlosem Lächeln eine Tausendfrancnote[1] hin. „Bitte, – besorgen Sie uns doch Notmasten und Benzin … Wir sind heute im Frühnebel draußen zwischen den Inseln auf ein Riff aufgerannt.“

Der alte Kerl wies die Banknote verächtlich zurück.

„Fremder, Sie sollen haben, was Sie brauchen, und dann erst bezahlen Sie!“

Er wechselte mit den andern ein heimlichen Blick, und wie auf Kommando drehten die langen Kerle sich um und schritten den strohbedeckten Häusern zu und verschwanden in einer Tür, neben der ein Schild mit dem französischen Staatswappen angenagelt war. Es schien das Haus des Gemeindevorstehers zu sein.

Saltorp war über diese kurze Abfertigung durch den Alten so verblüfft, daß er uns hilflos anstarrte.

„Die Bande ist ja noch schlimmer, als wir fürchteten“, murmelte er achselzuckend und steckte die Banknote wieder weg.

Harst beachtete ihn nicht und musterte nachdenklich die elenden Hütten und die dürftigen Felder und Gärten.

Dann sagte er etwas schroff: „Ungeschickter hätten Sie die Sache gar nicht einfädeln können, Saltorp. Sie wußten doch, daß Geld für die Leute keinen Wert hat … Miß Lucie hat dieselben Erfahrungen gemacht, und in den Nachbarorten bestätigte man uns, daß die St. Juifer sehr selten zum Fischfang hinausfahren und nur gerade so viel mit Netz und Angel erbeuten, wie sie selbst brauchen. – Was wird nun geschehen? Denken Sie an die Erlebnisse Ihrer etwas abenteuerlustigen Braut. Man wird die Jacht schleunigst mit Benzin versorgen und uns wegschicken. Die St. Juifer lieben keine Gäste.“

Auch der junge Engländer hatte sich die Ortschaft betrachtet. „Teufel, hier möchte ich nicht begraben sein!“, sagte er ärgerlich. „Aber ein Verlobter ist ein halber Narr, und was die Braut wünscht, ist Befehl. Nebenbei haben wir Engländer alle diesen gewissen Sensations-Spleen. Entweder wir lassen uns in Afrika von Schwarzen auffressen oder schlagen uns beim Boxen die Nasen platt oder verjuxen unser Geld bei blödsinnigen Wetten.“

„Sehr richtig!“, meinte Harst trocken. „Es gibt jedoch noch ein „Oder“ … Oder Sie verschwinden hier auf Nimmerwiedersehen, mein lieber George … Den Kerlen traue ich alles zu.“

Saltorp blickte ihn verdutzt an. „Ist das Ihr Ernst, Mr. Harst?“

„Ja. Ich war selten so ernst gestimmt wie jetzt. Die schroffen Felsen drüben, das elende Dorf, der trübe Himmel und manches andere lassen mich voller Sehnsucht an mein Berliner Heim denken. Immerhin, – ich bin Detektiv, Sie bezahlen mich einer Laune Ihrer Braut wegen, und ich werde meine Pflicht tun. – Dort hängt ein Wirtshausschild … Gehen wir hinein, vielleicht ist der Kneipenwirt etwas menschlicher als diese sieben Herren des Empfangskomitees.“

Harsts Empfindungen angesichts dieser Umgebung konnte ich nur teilen. Am auffallendsten war, daß außer Hühnern, Gänsen, Enten, Schweinen und Ziegen und Möwen- und Krähenschwärmen weder Weiber oder Kinder sich blicken ließen. Der Fischerort lag wie ausgestorben da.

Saltorp öffnete die verwitterte Haustür und betrat die Gaststube. Fingerdicker Staub lag auf den Tischen und Holzstühlen, aber die Fenster waren blank geputzt und die Gardinen neu und sauber. Hinter dem Schanktisch blinkten in einem Regal Flaschen und Krüge und Seidel, – – doch über allem lagerte Staub, und sogar die Fußbodendielen ließen unter unseren Stiefeln ganze Wolken hochwirbeln.

Plötzlich öffnete sich am andern Ende der Gaststube eine Tür und ein großer Mann mit blauer Leinenschürze stürzte herein, in der linken Hand einen gefüllten Wassereimer, in der rechten einen Schrubberlappen. – Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war einer der finsteren sieben Kerle, jetzt jedoch grinste er freundlich und bat uns wortreich und überhöflich um Entschuldigung, – er und seine Frau hätten mit der Kartoffelernte zu tun, er würde uns sofort bedienen, er wolle hier nur den Staub wegwischen, – – kurz, er redete und redete und bat uns schließlich, draußen zu warten … In einer halben Stunde sei alles sauber, und dann würde er herbeischaffen, was wir nur irgend wünschten.

Harst betrachtete den plötzlich so zappeligen Mann mit einem unergründlichen Lächeln. Dann schritt er hinter den Schanktisch und nahm einzelne Flaschen aus dem Regal. „Hm, Sie führen recht teure Likörsorten. Alle Flaschen sind noch verkorkt … Dort liegt sogar Champagner … Wer hätte das gedacht! – Gut, wir kommen also nach einer halben Stunde wieder … – – Wo befindet sich Ihr Kartoffelfeld …? Wir möchten Ihre Frau begrüßen, Monsieur…, – – wie war doch Ihr Name?“

„Bertillon … Jaques Bertillon, Herr … Aber das Kartoffelfeld, – – es liegt ganz weit vom Dorfe ab, Herr …“

„Nun, dann begrüßen wir Ihre Frau nachher … Auf Wiedersehen.“

Ich verließ das Wirtshaus „Zum Anker“ mit dem Gefühl, daß Frau Bertillon nur ein Fantasieprodukt sei.

Draußen auf der Dorfstraße flüsterte sogar George Saltorp sehr bedrückt: „Ein unheimliches Nest, dieses St. Juif!“

„Ein sehr, sehr geheimnisvolles“, sagte Harst bedächtig. „Kommt mit, – betreten wir eins der anderen Häuser …“

Wir suchten uns das blitzblankste aus, klopften an, gingen hinein: Leer! Keine Seele! Nur Staub und Fliegen! Aber die Fenster tadellos geputzt und die Gardinen blütenweiß!

Urplötzlich hinter uns der grollende Baß des alten Burschen, des Herrn Ortsvorstehers:

„Was wollen Sie hier?! Wie zum Teufel können Sie es wagen, in eine fremde Behausung einzudringen, deren Bewohner verreist sind?! – Raus mit Ihnen! Sofort! Oder – – es passiert was!“

In den jugendfrischen Augen des muskulösen Graubarts flackerte eine solche Wut, daß George Saltorp schleunigst hinter Harst Deckung suchte.

Harst lächelte freundlich. „Verzeihen Sie … Unser Chef, Monsieur Saltorp, wollte hier ein paar Antiquitäten erwerben … weiter nichts, zum Beispiel die alten Zinnkrüge dort auf dem Ofen …“

Unter den tief herabhängenden buschigen Augenbrauen des strammen Greises hervor traf Harst ein so argwöhnischer Blick, daß ich unwillkürlich nach der Hüfttasche faßte …

Dann erschien in der Tür ein neuer Mitspieler …

Sprachlos starrten wir ihn an …

In St. Juif ein solches Wesen?! – – Es war wie ein Traum, wie eine Traumerscheinung.

„Vater Pierre“, sagte die lieblichste Mädchenstimme, die ich je gehört habe, „du hast heute wieder deinen schwarzen Tag. Verkaufe doch den Herren die Zinnkrüge. Die Chavals sind arm wie wir alle …“ Und zu uns gewandt: „Meine Herren, ich bin die Gräfin von St. Juif … Die letzte dieses Namens. Wieviel bieten Sie für die Krüge? Nennen Sie einen Preis …“

George Saltorp trat schnell wieder vor und verbeugte sich höflich. „Gräfin gestatten, – ich bin George Saltorp, London, von der Weltfirma Saltorp und Kompagnie … Für die fünf Krüge zahle ich zweitausend Francs …“

Täuschte ich mich? War nicht über die regelmäßigen, feinen Züge der Gräfin eine dunkle Wolke gehuscht? Hatten nicht ihre grauen Augen sich rasch geweitet und schnell wieder halb geschlossen, so daß sie nur Schlitze bildeten, aus denen etwas wie Haß uns entgegenstrahlte?

Harst sagte bereits zu Saltorp im bescheidenen Tone eines Jachtmatrosen: „Sir, es ist der Dame zu wenig … – Lassen wir den Handel bis nachher … – Entschuldigen Sie, daß unser Herr hier eingedrungen ist … Er ist eifriger Sammler …“

Wir traten wieder auf die holprige Gasse hinaus.

Die Gräfin von St. Juif, die sehr ärmlich gekleidet war, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tun konnte, ging gesenkten Kopfes neben uns her.

Der alte Pierre deutete auf zwei Männer, die große Benzinbehälter schleppten: „Dort haben Sie Brennstoff für Ihren Motor, meine Herren … Die übrigen Schäden Ihrer Jacht lassen Sie besser im nächsten Hafen ausflicken. Glückliche Reise … Das Benzin kostet nichts, es stammt von einem gestrandeten Schiffe.“

Die junge Gräfin verabschiedete sich gleichfalls sehr kurz. „Ich dürfte Ihnen die Zinnkrüge doch nicht verkaufen, meine Herren … Leben Sie wohl …“

– Auf diese Weise wurden wir, wie Harst richtig vorausgesagt hatte, schleunigst wieder aus St. Juif hinauskomplimentiert.

 

2. Kapitel.

Das tote Dorf bei Nacht.

Als unsere Jacht seewärts durch die Windungen der Bucht sich schlängelte, sagte George Saltorp in verbissener Wut, indem er auf die Türme der alten Burg St. Juif deutete, die auf der Halbinsel nach Westen zu trutzig, obwohl nur noch Ruine, die ganze Umgebung überragten: „Wir kommen wieder!! Diese junge Gräfin, die angeblich in Kairo ihre Lunge ausheilt, hat Kairo nie gesehen! Das ganze Dorf ist ein Piratennest, nichts weiter!“

Harst saß neben Saltorp am Steuer. Der Bootsmann Tim Jatteroll, eine alte Wasserratte, und ich setzten in den Heckaufbau neue Fensterscheiben ein. Die ganzen Beschädigungen der „Berenice“ hatten wir auf Harsts Befehl eigenhändig verursacht. Wir mußten doch einen Grund haben, in die Juif-Bucht einzulaufen.

„Saltorp“, meinte Harst sehr gelassen, „natürlich kommen wir wieder. Aber so leicht wird es nicht sein, in dem Dörfchen nachts all jene Feststellungen zu treffen, die auf meinem Programm stehen. Ich glaube, Sie unterschätzen die Gefahren, mein Lieber. Sieben Kerle dieses Schlages, wahre Riesen, und dazu als Verbündete ein bildhübsches Weib, – das ist eine üble Gegnerschaft.“

Die offene See mit den kleinen Felseninseln lag nun vor uns. Saltorp wollte sich damit begnügen, außerhalb Sichtweite den Tag über zu kreuzen, bis die Dunkelheit uns die Umkehr gestattete.

Mein Freund Harald deutete schweigend mit der glimmenden Zigarette nach dem bereits fernen Buchteingang hin. Wir drei anderen blickten zurück … Aus der Bucht schoß ein gedecktes Motorboot hervor, das grünblau gestrichen und daher kaum zu bemerken war.

Drei Stunden später lagen wir im Hafen der nächsten Küstenstadt, – die Verfolger waren uns bis zuletzt auf den Fersen geblieben und hatten erst gewendet, als wir um die Hafenmole herumschwenkten. Harst war stiller denn je. Aber es war nun einmal seine Eigentümlichkeit, seine spürenden Gedanken nie preiszugeben. Nur eine Bemerkung machte er: „Das grünblaue, schnelle, moderne Motorboot lag nicht am Buchtstrande von St. Juif neben den wenigen Fischerbooten. Die St. Juifer haben sehr viel zu verbergen.“

Am Tage tat er dann nichts anderes als dauernd in der Nähe der Bootswerft zu bleiben, wo die „Berenice“ schleunigst repariert wurde. Um sechs Uhr nachmittags begann es zu regnen, eine kräftige Brise kam auf, und wir stachen in See. – „Ich habe keinen Spion bemerkt“, hatte Harald erklärt. „Trotzdem traue ich den St. Juifern nicht.“ –

Kurz vor Mitternacht näherte sich ein kleines Fahrzeug ohne Lichter der Spitze der Halbinsel, welche die St. Juif-Bucht nach Westen begrenzt. Tim Jatteroll mußte nachher wieder an Bord bleiben, die Berenice lag gut versteckt in einer der zahlreichen Wassergrotten der Felsenküste, und wir drei wanderten nun im strömenden Regen mühselig dem Dörfchen zu. Als wir am Schlosse St. Juif vorüberkamen, blinkte uns aus einem Erdgeschoßfenster ein einsames Licht entgegen.

Endlich erreichten wir die Felder und die ersten Häuschen, wir waren recht erschöpft, wir hatten gefährlichste Kletterpartien im Dunkeln gewagt, unsere Hände waren zerschunden, unsere Stiefel zerrissen und durchweicht, und unter den wasserdichten Ölmänteln verloren wir ganze Bäche von Schweiß.

Im Dorfe rührte sich nichts. Nirgends ein Lichtschein, – seltsamerweise waren auch keine Hunde vorhanden, in den Ställen meckerten verschlafene Ziegen, gackerten Hühner, – – sonst Totenstille …

Das Dörfchen war wie ausgestorben, und das merkwürdige Gefühl, daß St. Juif überhaupt unbewohnt sei, beschlich mich jetzt abermals – genau wie am Morgen angesichts der verstaubten beiden Häuser, die wir betreten hatten.

Harst ging jetzt, wie er es uns angekündigt hatte, ohne sein Vorhaben zu begründen, ganz systematisch vor. Wir begannen mit der Durchsuchung des ersten Hauses am weitesten nach Osten zu, nachdem wir das Dorf im Bogen über die Felder umschritten hatten. Dieses erste Haus – es war verschlossen – bildete gleichsam das unheimliche, rätselhafte Merkmal des gesamten Ortes. Wir drangen mit Nachschlüsseln ein, wir banden Staub, Fliegen, Motten, Mäuse, – alle Möbel waren von Staub bedeckt, in allen Stuben dasselbe trostlose Bild, aber blanke Fenster, saubere Gardinen!!

In der Schlafstube standen das breite altmodische Ehebett und eine Kinderwiege. Die Betten waren sauber zugedeckt, jedoch verstaubt wie alles … Auf dem Nachtschränkchen blinkten matt drei verstaubte Medizinflaschen. Harst betrachtete sie, las die aufgeklebten Schildchen, und George Saltorp machte einen faulen Witz über die Modekrankheit „Grippe“ …

Nachher verging ihm das Witzemachen gründlich.

Wir schlichen zum zweiten Hause …

Genau dasselbe Bild … genau: Staub, Motten, Fliegen, Mäuse, saubere Fenster und Gardinen.

Schon hier wurde der reiche junge Engländer merklich ängstlich und hielt sich dicht neben mir. „Schraut, – das ist ein verhextes Dorf!“, flüsterte er scheu.

Im dritten Hause wieder derselbe Anblick, und Harst, der kopfschüttelnd abermals ein paar Medizinflaschen prüfte, ward immer vorsichtiger. „Verhüllt eure Laterne noch mehr!“, befahl er. Dann steckte er seine entsicherte Pistole in die rechte Manteltasche.

Uns war zumute, als ob uns unsichtbare Geister umschwebten. Diese unbewohnten, verstaubten Häuser, siebzehn an der Zahl, hatten etwas unnennbar Bedrückendes an sich. Nur das eine Haus, das achtzehnte, das des Ortsvorstehers Pierre, wurde offenbar dauernd benutzt, war blitzblank, der Büroraum sogar behaglich, die sieben Betten – sieben! – frisch bezogen, Nachthemden lagen unter den Steppdecken, in der Küche roch es nach Speisedunst, – – aber kein Mensch war anwesend.

Dann das Gasthaus „Zum Anker“, – auch verschlossen, alles genau so verstaubt wie morgens, keine Hand hatte hier etwas gesäubert!

Saltorp war stumm wie ein Fisch und hielt nur seine Pistole dauernd umklammert. Harsts Züge erschienen düster wie ein Gewitterhimmel, – ich selbst?! – Ehrlich gestanden: Ich sehnte mich weit weg!!

Wir duckten uns unter das überhängende Dach des letzten Häuschens zusammen, das wir soeben besichtigt hatten. Der Regen plätscherte, der Wind heulte drüben in den schroffen Felsen, und ganz fern schimmerte matt das einsame Lichtlein des alten Schlosses, dessen Herrin in Kairo zur Kur weilen sollte, – so war’s uns noch heute wieder in der Hafenstadt bestätigt worden. Jeanette Gräfin St. Juif, hieß es, sei seit Jahren abwesend.

Der junge Millionär Saltorp, der sich im Juni mit Mademoiselle Lucie Rostan, Paris, verlobt hatte (sie war Waise und eine Verwandte der Grafen Rostan, die in der Geschichte Frankreichs allzeit eine bedeutende Rolle gespielt hatten), – dieser junge, nette George fragte flüsternd:

„Harst, was geht hier vor? Wo sind die Bewohner? Alle verreist?! Ausgeschlossen!“

Mein Freund lehnte an der Hauswand und starrte regungslos in die Finsternis hinaus.

„Glauben Sie, ich sei ein Hellseher, Saltorp?! Soll ich mich hier als genialer Charlatan gebärden und Ihnen, weil Sie uns bezahlen, läppische Schlußfolgerungen auftischen?! – Haben Sie Geduld und … Mut, Saltorp, – Mut vor allen Dingen! Dieses Dorf ohne Bewohner birgt zweifellos – ich übertreibe nicht! – entsetzliche Geheimnisse.“

George, der Millionär, atmete hastiger. „Lucie mag der Teufel holen!“, entfuhr es ihm. – Zuweilen war er etwas drastisch in seinen Ausdrücken, obwohl er sonst einen vollkommenen Gentleman darstellte.

Harst gebot ihm Schweigen. Er trat in den Regen hinaus und schien zu horchen. Auch wir vernahmen nun Fetzen von Musik … Irgendwo spielte ein großes Orchester eine schwermütige Melodie … Ich fand schnell heraus: Es war ein Stück von Grieg.

Gerade die Grieg’sche Musik in dieser Umgebung zerrte an allen Nervensträngen …

Harst winkte. Wir schlichen hinter ihm drein nach Nordost auf die zerklüftete hohe Felswand zu. Die Musik wurde immer deutlicher, lauter … Dann war das Stück zuende, und wir glaubten eine sonore Stimme zu hören.

Harst drehte blitzschnell den Kopf.

„Jetzt hab ich’s! Folgt mir … Schritt für Schritt. Kein Geräusch!“

Er klomm einen Felsgrat[2] empor …

Da begann das unsichtbare Orchester von neuem:

Einen Walzer!

Harst kroch auf allen Vieren weiter bis zu einer Art Felsterrasse, auf der einige Büsche und Krüppelkiefern wuchsen.

Er verschwand hinter dem Gebüschstreifen, und als wir neben ihm anlangten, hatte er bereits eine lose an die Felswand gelehnte Steinplatte beiseite gerückt.

Jetzt erreichten uns die Töne mit voller Kraft.

„Ein Lautsprecher“, hauchte Harst. „Radioempfang in St. Juif, dem toten Dorf!! Das stellt alles auf den Kopf!“

Es sollte noch ärger kommen. – Wir schoben uns in den Höhlenstollen hinein, dann eine Biegung, dann schräg unter uns ein Panorama, wie es wirklich kaum fantastischer sein konnte.

Die Grotte war unten flach und hatte glatte Wände. Die Decke hing ziemlich tief herab, und Wände und Decke waren mit blaßblauer, gefalteter Seide bespannt, während der Felsboden mit kostbaren Teppichen belegt war. Modernste Möbel standen an den Wänden, sogar ein kleiner Flügel, überall waren elektrische Beleuchtungskörper angebracht, an der Decke hingen zwei Kristallkronleuchter, – das Seltsamste, Unwirklichste war jedoch der große eichene Mitteltisch mit seiner stillen, finsteren Tafelrunde von sieben Männern und die Sektflaschen und Sektgläser und der überreiche Tafelschmuck auf blütenweißem Damast.

Saltorp keuchte vor Erregung.

Harst betrachtete[3] das Bild mit unerschütterlicher Ruhe …

Vor uns führte eine weißlackierte Treppe in den Prunksaal von St. Juif hinab. Das Geländer schützte uns … Die sieben Männer schienen sich auch völlig sicher zu fühlen.

Sieben Männer?!

Waren das noch dieselben Fischergestalten?!

Nein, – das waren zwar dieselben tiefgebräunten düsteren Gesichter, aber die Leute selbst trugen tadellose Smokings, blütenweiße Oberhemden und saßen in ihren Klubsesseln da wie feinste Gentlemen eines vornehmen Zirkels von reichen Nichtstuern.

Je länger man das Bild mit all seinen Einzelheiten kritisch musterte, desto spukhafter erschien es.

Denn die sieben da unten wechselten kaum ein Wort, rauchten ihre Zigarren mit gemessenen Bewegungen, tranken zuweilen und stierten zumeist vor sich hin, als ob sie an alledem keine besondere Freude fänden, als sei ihnen all das eine gewohnte Zerstreuung.

Der alte Pierre, der jetzt in dem hochlehnigen Sessel fast wie ein echter Edelmann aussah, war der schweigsamste.

Er saß an der Schmalseite des Tisches uns gerade gegenüber und nahm mitunter eines der Rostbrötchen von seinem Teller und handhabte Messer und Gabel mit zwangloser Sicherheit.

Der Walzer hörte auf, und der Ansager meldete sich. Es war der Pariser Sender.

Der moderne Radioapparat und der vorzügliche Lautsprecher standen auf dem Deckel des Flügels. Der Ansager kündigte den Walzer „Wenn die Liebe stirbt …“[4] an, – einen der besten französischen Walzer, zugleich einen der wehmütigsten.

Die Köpfe der sieben St. Juifer da unten senkten sich, und schon nach den ersten Takten holte dieser und jener ein Seidentüchlein hervor und betupfte diskret die Augen.

Plötzlich sprang der alte Pierre auf und schaltete den Apparat ab.

„Es ist Zeit“, sagte er hart, „gehen wir zu Bett!“ – Er schritt auf die Seidenbespannung zu, schlug sie auseinander und betrat einen Nebenraum.

Zehn Minuten später kletterten sieben kräftige Fischer in Wolljacken und Wollmützen und hohen Transtiebeln dicht an unserem Versteck den Felsgrat hinab und verschwanden im Hause des alten Pierre.

 

3. Kapitel.

Ein junges Menschenleben erlischt …

Wir warteten, bis alle Fenster des Hauses wieder dunkel geworden waren und wir die Gewißheit hatten, daß die geheimnisvollen sieben wirklich schlafen gegangen waren. George Saltorp hatten die letzten Vorgänge vollends die Lust genommen, noch irgendeine Äußerung zu tun. Gerade er, dem das Zufallserlebnis seiner Braut hier in St. Juif (es handelte sich um eine Notlandung eines Passagierflugzeuges) den Anstoß gegeben, uns in Berlin aufzusuchen und uns durch ein sehr hohes Honorar zu ködern, wobei man seine echt englische Abenteuerlust mit in Betracht ziehen mußte, schien schon jetzt von all diesem Absonderlichen übergenug zu haben und erklärte, wir könnten doch besser die weiteren Ermittlungen auf die nächste Nacht verschieben.

Harst war vollkommen taub gegenüber derartigen Vorschlägen. Saltorp kannte ihn eben nicht. Wenn man einen schneidigen Polizeihund erst einmal auf eine Fährte setzt, gibt es für das ehrgeizige kluge Tier kein Halten mehr. Mit Harst war’s ähnlich. Ich merkte, daß der Fall „St. Juif“, dem er zunächst mit allergrößter Skepsis gegenübergestanden hatte, für ihn nun wirklich das Problem geworden, eben etwas völlig Neuartiges, außerhalb des Kreises sonstiger Aufgaben Liegendes.

Wir fanden die Steinplatte wieder vor das Grottenloch gelehnt, und zwischen Felswand und Platte gähnte ein mannsbreiter Zwischenraum, da die Wand voller Höcker war.

Harst bückte sich. Nur er hatte seine Laterne eingeschaltet. Ein Wink, und wir blieben zurück.

„Was gibt’s“, fragte Saltorp heiser.

„Weiß nicht, – – still!“

Harst kniete und hatte nur den Kopf in die Öffnung geschoben. Er schien zu horchen.

Ich begriff seine Vorsicht vollkommen.

Wir hatten es immer noch mit Gräfin Jeanette zu tun. Daß im Schloß St. Juif das einsame Licht noch immer brannte, wollte gar nichts besagen.

Ich hatte den Blick nicht vergessen, mit dem die schöne Gräfin gerade Saltorp gestreift hatte, als er seinen Namen nannte, und daß dies Harst nicht entgangen, war selbstverständlich. Gräfin Jeanette kannte zumindest Saltorps Namen, und schon dies mahnte zu größter Vorsicht.

Dann rückte Harald die Steinplatte etwas beiseite und leuchtete den Boden erneut ab, hob einen kleinen blanken Gegenstand auf, beroch ihn und schob ihn in die Tasche.

Plötzlich vernahmen wir ein leises Stöhnen, – Harst war verschwunden.

George Saltorp drängte sich noch näher an mich heran.

Er war alles andere, nur kein Feigling, er hatte weite Reisen und zahllose Jagdabenteuer hinter sich, nur in letzter Zeit schien Mademoiselle Lucie Rostan ihn durch ihre Launen und bräutlichen Zärtlichkeiten etwas aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht zu haben. – Lucie weilte zum Glück jetzt bei Verwandten in Nizza, um an einem Tennisturnier teilzunehmen. Wir kannten sie nur von Bildern her. Ich hätte dieses Sprühteufelchen nicht als Braut haben mögen.

„Schraut, diese Nacht ist fürchterlich“, flüsterte Saltorp. „Wir sollten vernünftig sein und …“

Ich war bereits vorwärtsgehuscht, in der Linken die Taschenlampe, in der Rechten den Neunmalspucker. Ich sorgte mich um Harst, – das tiefe Stöhnen war nochmals erklungen.

Dann Haralds gedämpfte Stimme: „Hierher, – schnell, – er stirbt mir unter den Händen!“

Ich schlüpfte in den Grottenstollen, Harst kniete neben einer regennassen Gestalt, deren Kopf er im Schoße hielt. Seine Laterne stand neben ihm, und der Lichtschein zeigte mir zu meinem unbeschreiblichem Entsetzen ein bleiches, junges Gesicht mit geschlossenen Augen. Mühsam würgte ich den Schrei hinab, der mir über die Lippen dringen wollte, – aber George Saltorp hatte sich nicht so gut in der Gewalt, er kannte ja unseren jungen Famulus und Freund von Berlin her. Wie Fred Steen allerdings trotz Haralds Befehl, uns unter keinen Umständen nachzureisen (was Fred sich schon häufiger und meist zu unseren Gunsten erlaubt hatte), hier in St. Juif auftauchen konnte, war mir genau so unbegreiflich wie sein trostloser Zustand.

Fred lag im Sterben. Das sah auch ein Laie. Die Nase war weiß und spitz geworden, die Augen tief eingefallen, der Mund halb geöffnet und mit blasigem rötlichen Schaum bedeckt …, – Lungenschuß!

George rief ehrlich erschüttert: „Mein Gott, das ist ja Ihr Fred, Mr. Harst!!“

Als ob der Verscheidende seinen Vornamen noch gehört hätte: Er öffnete die Augen und blickte Harald starr an.

Dann versuchte er zu sprechen, – man merkte, wie er seine letzten Kräfte zwecklos verbrauchte, – nur ein Gurgeln kam über die zuckenden Lippen, dann sank der Körper schlaff zusammen, und alles war vorüber.

Ein junges hoffnungsvolles Menschenleben war hier jäh dahingewelkt, – unser Freund Fred, treuer Gefährte so mancher aufregender Erlebnisse, war durch Mörderhand ausgelöscht worden.

Harst, gleichfalls sehr bleich, legte den Kopf des Toten behutsam zu Boden und rückte die Laterne näher. Seine Finger zitterten, als er Mantel und Jacke Freds zurückschlug und die Brust freilegte. Saltorp war auf einen Felsvorsprung geglitten, – die Beine versagten ihm den Dienst.

Mein Hirn schien leer, wie ausgebrannt.

Fred war tot …

Es schien unmöglich, es konnte nicht wahr sein, – – und in diesem leeren Hirn flatterte ein einziger Gedanke wie ein verirrter Totenkopffalter: „Wie kam Fred hierher, wer erschoß ihn?!“

Der Einschuß saß neben dem Herzen. Die Kugel war quer durch die Brust gegangen, der Blutverlust war gering, der Ärmste war innerlich verblutet.

Harsts Lippen bildeten nur eine dünne Linie, um den Mund lagen diese Falten wortlosen Schmerzes, und doch tat mein Freund alles das, was hier nun Freundespflicht und Pflicht zu künftiger Vergeltung bildete, mit automatenhafter Selbstverständlichkeit.

Er durchsuchte Freds Taschen. Im Mantel steckten Pistole und Lampe, – nur Freds elegante Brieftasche, ein Geschenk Haralds zu unsers jungen Freundes zwanzigstem Geburtstag, fehlte.

Saltorp saß da, den Kopf in beide Hände gestützt. Noch bleicher als wir. Als Harald sich nun erhob, fragte er tonlos: „Fred sollte doch in Berlin bleiben?! Harst, verstehen Sie das alles?!“

„Leider!“, lautete die seltsam dumpfe Antwort.

„Sie kennen den Mörder?“

„Vielleicht, lieber George …“

Er faßte in die Tasche und hielt uns eine Patronenhülse hin, Kaliber 6,4.

„Sie war noch warm, als ich sie aufhob, Saltorp … Fred wurde kurz vor unserem Erscheinen am Eingang niedergeknallt, und der Mörder hat einen Schalldämpfer benutzt und fand nicht mehr Zeit, die Leiche zu beseitigen. Wir verjagten ihn … Nur die Brieftasche nahm er mit. Wenn wir einen Polizeihund zur Verfügung hätten, würden wir wenigstens feststellen können, ob der Schütze noch in der Grotte steckt, obwohl ich dies nicht glaube.“

Saltorp schaute Harst forschend an.

„Denken Sie an … die Gräfin Jeanette?“

„Hübsche Weiber sind schlimmere Bestien, als Sie ahnen, lieber George“, erwiderte Harald unendlich schmerzlich. „Hübsche Weiber stiften mehr Unheil an, als die Welt je erfährt. Die berüchtigtsten Giftmörderinnen waren entzückende, geistvolle Geschöpfe, und wenn wir uns die harmlosere Gattung der Hochstaplerinnen betrachten, könnte man eine Schönheitsgalerie zusammenstellen. – Mein armer junger Freund Fred hat seinen Übereifer diesmal zu teuer bezahlt. Nun, der Tag wird kommen, wo ich der Mörderin die Hand an die Kehle lege, und – bei Gott, Saltorp, ich werde es ohne jede Rücksichtnahme tun! – Würden Sie beide es unternehmen, den Toten nach der Jacht zu bringen? Schraut, ihr könnt eins der Fischerboote von St. Juif benutzen und rudern. Der alte Pierre und seine sechs Söhne – denn es sind seine Söhne, – werden euch nicht hören, ihr Sektverbrauch war allzu groß, – – vielleicht können sie nur schlafen, wenn der Alkohol ihr Gewissen zum Schweigen bringt.“

Saltorp erhob sich rasch. „Ich bin kein Schwächling, – dieser Mord hat mich aufgerüttelt. Ich schaffe die Arbeit schon allein, – suchen Sie beide nur die Beweise gegen die Gräfin! In einer Stunde bin ich wieder zurück. Auf mich ist Verlaß … jetzt ja, – – jetzt – – wieder!!“

Der junge Millionär und ich trugen Fred bis zum Strande. Dann ruderte Saltorp allein mit seiner traurigen Ladung in Regen und Dunkelheit hinaus.

Als ich in der Prunkgrotte wieder erschien, saß Harald einsam in Vater Pierres großem Sessel und rauchte eine seiner Mirakulum. Vor ihm auf dem Tische stand eine frisch geöffnete Flasche Champagner, und in der Linken hielt er einen der feingeschliffenen Kelche, in dem die Perlchen des bernsteinfarbenen Schaumweines hochstiegen.

Ich war überrascht über dieses ungewöhnliche Bild.

Harsts Gesicht hob sich, und der harte Ausdruck um den Mund schien noch schärfer ausgeprägt als vorhin.

„Setz’ dich, mein Alter … Ich habe auch die Nebengrotte bereits untersucht. Sie enthält nur Möbel, Kleiderschränke, eine Lichtanlage, die durch einen unterirdischen Wasserfall betrieben wird, und zehn Kisten mit Goldbarren.“

Er sagte das alles so monoton, als ob es sich um die gleichgültigsten Dinge von der Welt handelte.

„Goldbarren?!“, entfuhr es mir ungläubig.

„Ja.“

Ich lehnte mich schwer auf den Tisch.

„Harald, – und wenn die Gräfin auch uns niederschießt! Ich finde, du bist sehr unvorsichtig.“

„Mag sein … Freds Tod hat mich sehr mitgenommen. Mehr als du ahnst, denn – – ich bin schuld daran.“ Er sprach sehr leise. Ich stand dicht neben ihm.

„Du – – schuld daran?! Aber Harald, du hattest doch …“

„Setz’ dich …! Sollte die Gräfin sich hierher wagen, werde ich sie rechtzeitig hören … – Trinken wir ein Glas – – zum stillen Gedenken Freds … Wir brauchen unsere Nerven … und geistige Sammlung. Der Fall „St. Juif“ darf kein neues Opfer fordern.“

Er füllte ein Glas und schob es mir hin …

In seinen Augen lag eine Traurigkeit, die mich tief erschütterte.

Er sollte schuld an Freds jähem Ende sein?! – Niemals! Das war ja ein Unding, daß er sich mit solchen Gedanken quälte.

Ich blieb stehen und trank … Der schwere Schaumwein tat mir wohl, er ging ins Blut und scheuchte die Gespenster des leeren Dorfes hinweg: Gerade diese Erinnerungen an die verstaubten öden Häuser von St. Juif lauerten ja im Hintergrunde als nicht zu bannende finstere Rätsel.

„Hier wird eine große, große Komödie aller Welt vorgespielt“, sagte Harald noch leiser. „Siehst du ein, mein Alter, daß die geputzten Fenster, die Gardinen, die vielen Hühner, Gänse und Enten und die bestellten Äcker nur Lug und Trug sind? Der alte Pierre, die Gräfin und die sechs Söhne Pierres sind die einzigen Bewohner hier … Wenn alle acht Tage der Postdampfer kommt und nur die Pakete und Briefe für die Bewohner und die Zeitungen abliefert, bietet das Dörfchen das Bild friedlicher Behaglichkeit dar. Die Fenster sind blank, die Gardinen frisch, alle Schornsteine rauchen, wer sollte Argwohn schöpfen?! – Ja – alle Schornsteine rauchen … Denn die Herde in den Küchen werden benutzt, das sah ich … Wer weiß, wie viele Jahre bereits hier diese unbegreifliche Tragödie, die sich auf diesem Fleckchen Erde abgespielt haben muß, verheimlicht wird!“

„Und – wo sind die Bewohner?“, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort schon selbst gegeben hatte.

„Tot … alle tot, das unterliegt keinem Zweifel.“

Er trank sein Glas leer und stellte es wieder hin.

„Komm, mein Alter, – – die Goldbarren sind sehenswert!“

Er stand elastisch auf. „Vergessen wir den armen Fred! Das Leben den Lebenden! In St. Juif sind Kinder und Greise gestorben – vielleicht ebenso schnell wie Fred, – sind Männer und Frauen jäh verschieden, – – St. Juif ist ein großer Friedhof, und auf Friedhöfen sprießt aus den Gräbern neues Leben!“ – Er nahm seine Laterne und schlug die faltige mattblaue Seide auseinander …

 

4. Kapitel.

Der Mann auf der Treppe.

Die Nebengrotte war so belassen worden, wie die Natur sie einst geschaffen hatte. Sie war kleiner als der Prunkraum nebenan, aber auch hier hingen Wandleuchter und ein Kronleuchter. Ich hörte sanftes Brausen von Wasser, – dann knackte ein Lichtschalter, und die Höhle wurde taghell.

In einer Ecke standen zehn Holzkisten mit Eisenbändern, Klappdeckeln und modernen Vorhängeschlössern.

„Zehn Millionen, schätze ich …“, sagte Harald gleichmütig. „Der Schatz von St. Juif … – Woher stammt er …?!“

Er erwartete keine Antwort. Er wußte es wohl ebensowenig wie ich.

„Ich habe die Schlösser geöffnet“, fügte er hinzu. „Die Goldbarren sind in Stanniol gewickelt und tragen ein Zeichen, das ich nicht kenne. Ich habe auch jeden Winkel hier durchsucht, Freds Mörderin ist nicht hier, und ich bezweifle, ob sie etwas von diesem Schatze weiß.“

Ich blickte ihn überrascht an.

Er nickte ernst. „Sie sucht diesen Schatz, mein Alter … Ohne Grund streut man nicht das Gerücht aus, in der Fremde fernab von St. Juif zu weilen.“

Seine Logik erschien mir verfehlt. Ich schwieg jedoch.

Harst war in den hintersten Winkel der Grotte getreten, wo die kleine Turbine für die Lichtanlage aufgestellt war und wo in einer Spalte von oben das Wasser herniederschoß und in unbekannte Tiefen verschwand.

Er hielt seine Laterne ganz hoch, und in dem Felskamin erblickte ich neben dem schäumenden Wasserstrahl eine offenbar mit Blei in den Fels eingegossene eiserne schmale Leiter.

„Eine Leiter!“, sagte ich aufmunternd.

„Ich weiß … Aber die Leiter führt nur in eine winzige Grotte, die eine Art Schleusenanlage zur Regulierung der Wassermenge enthält … Ich war oben, und …“

Plötzlich begann der Wasserstrahl merklich dünner zu werden.

Harst riß mich zurück, hatte im Nu die Beleuchtung angeschaltet und drängte mich hinter einen Schrank.

Wir standen im Finstern …

Das Wasser rieselte nur noch ganz schwach …

Wir horchten angestrengt, – wir sahen einen Lichtschein, und dann huschte eine Gestalt zu der Seidendraperie, eine Laterne in der Linken.

Es war die bildhübsche Gräfin Jeanette, in einen engen dunklen Gummimantel eingeknöpft, auf dem Kopf eine Ölkappe mit einem Kinnband.

Sie zog die Seidenfalten auseinander, blickte in das Dunkel der Prunkgrotte hinein, lauschte eine Weile mit vorgestrecktem Kopf und betrat den Nebenraum.

Harst war mit schnellen Schritten an der Draperie, lugte hindurch, kehrte jedoch sofort fluchtartig zurück.

Kurz nach ihm erschien Jeanette, in den Händen ein Teebrett mit Sektgläsern und Flaschen …

Sie stellte die Flaschen beiseite, spülte die Gläser aus, trocknete sie ab und barg sie in einem der Schränke uns gegenüber. Dann holte sie aus der Prunkgrotte auch die Teller mit den Röstbrötchen, verwahrte alles und verschwand abermals.

Es war jetzt etwa halb drei Uhr morgens.

Mit einem Male ertönte nebenan der kleine Flügel, – erst wurden nur ein paar weiche Akkorde gegriffen, dann spielte Gräfin Jeanette – wir beobachteten sie – Grieg’sche Melodien, – aus Enoch Arden[5] und anderes.

Sie spielte künstlerhaft, sie hatte den Wandleuchter neben dem Instrument eingeschaltet, und ihr feines Gesichtchen, jetzt ohne die Ölkappe, zeigte die hohe Stirn und das leichtgewellte aschblonde Haar … Ihre Züge waren traurig, schmerzbewegt, ihr Blick hing visionär an der seidenbespannten Decke, und dann glitten ihre Hände plötzlich in den Schoß und ihre langen dunklen Wimpern tropften von schillernden Tränen.

Gerade da geschah’s, daß Harald meinen Unterarm umspannte …

„Die Treppe!“, hauchte er …

Ich schaute hin …

Auf der weißen Treppe drüben stand eine Gestalt im Halbdunkel, den Oberkörper vorgebeugt, – ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen, tief in die Stirn gedrückter Sportmütze und starkem blonden Schnurrbart. Mehr war von seinem Gesicht nicht zu erkennen.

Harst bückte sich schnell, – neben uns standen leere Flaschen, und als der Fremde den Arm hob, flog die schwere Sektflasche ihm genau vor die Brust, so daß er zurücktaumelte und blitzartig davonhuschte, während die Flasche polternd die Stufen hinabrollte.

Jeanette war aufgesprungen … Der Strahl ihrer Laterne folgte der herabkollernden Flasche, – von dem Fremden konnte sie nichts mehr bemerkt haben und ahnte daher nicht, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte.

Unschlüssig stand sie da, verwirrt durch den dumpfen Lärm der schweren Flasche, sicherlich auch im unklaren, was hier eigentlich vorgegangen sei.

Zaghaft schritt sie der Treppe zu, hob die Flasche auf, schüttelte mehrmals den Kopf und stieß dann einen leisen Pfiff aus.

Zu unserem Erstaunen erschienen plötzlich durch die Falten der Wandbespannung drei große schwarze Katzen, schmiegten sich mit steif erhobenen Schwänzen schmeichelnd an Jeanettes Beine und schnurrten zärtlich.

Die Gräfin von St. Juif streichelte die Tiere, dann ging sie die Treppe empor, beleuchtete den Stollen, wo tatsächlich ein paar Flaschen standen, und rief den Katzen vorwurfsvoll zu:

„Ihr solltet euch schämen, mich so zu erschrecken! Ihr habt hier die Mäuse zu verjagen, nicht aber Flaschen umzuwerfen! Geht, – ihr habt mir diese friedliche Nachtstunde gründlich verdorben!“

Die Katzen flüchteten vor ihrer ärgerlichen Handbewegung, – Jeanette schloß den Flügel, schaltete den Wandleuchter aus, und wir eilten wieder hinter den Schrank, hörten die Gräfin vorüberschreiten, sahen den Lichtschein verschwinden und vernahmen das Gurgeln und Schäumen des wieder in alter Stärke herabschießenden Wassers.

Harst zog mich in den Prunksaal, ohne seine Lampe anzuknipsen.

„Leise!“, warnte er … „Wir müssen unseren abenteuerlustigen Millionär am Strande erwarten … Sonst könnte es geschehen, daß dieser neue Mitspieler nochmals seine Pistole benutzt … Sahst du den Schalldämpfer auf der Waffe? – Leise!! – Hier ist die Treppe …“

Er kroch mir voran ins Freie … Der Regen peitschte mit voller Wucht hernieder, der Wind jaulte in den Felsen, und irgendwoher kam ein seltsamer Ton. – Ein Brausen, wie von einem riesigen Zuge von Wildgänsen oder anderen großen Zugvögeln, die nachts unter dem Gewölk, nur ihrem Instinkt gehorchend, ihrem unbekannten Ziele zustreben.

Harald stand neben mir hinter den Büschen und Krüppelkiefern, – der arme Fred war vergessen, hier ging es um Dinge, die unsere vollste Aufmerksamkeit erforderten, hier ging es um seltsamste Geheimnisse eines toten Dorfes, in dem nur sieben Männer und eine Frau die dunklen Geschehnisse hüteten und dafür sorgten, daß das Sterben der Bewohner des Dörfchens nie entdeckt würde.

Und doch!! – Während wir beide den knatternden Regentropfen preisgegeben waren und um uns her die zum Sturm angewachsene Brise ihr schrilles Konzert in den Felszacken und Felsenwinkeln in wechselnder Stärke vollführte, während all unsere Sinne gespannt waren, um irgend eine unmittelbare Gefahr zu wittern, ließ mich doch der eine Gedanke nicht los, daß Haralds lose Schlußfolgerungen, die Gräfin suche den Schatz von St. Juif, unmöglich richtig sein könne. Sollten ihr denn die neuen Holzkisten nicht aufgefallen sein?!

Harst schlich davon, winkte … Diesmal wandte er sich nach links. Bisher hatten wir die kleine Terrasse stets von rechts erstiegen.

Dieser neue Weg war weit mühsamer. Wir waren in Schweiß gebadet, als wir unten anlangten und zum Strande huschten. Wir kamen gerade noch zur rechten Zeit. Aus der Finsternis der fallenden Regenschnüre tauchte Saltorp mit dem Boote auf. Wir halfen ihm, es an Land zu ziehen. Dann erst erklärte er flüsternd: „Harst, vorn in der Bucht lag ein Wasserflugzeug, eine ganz moderne kleine Maschine … Ich hatte Mühe vorüberzukommen, ohne bemerkt zu werden … Jetzt ist sie aufgestiegen, ohne jedes Licht, mit sehr leise surrenden Propellern und doch blitzschnell …“

„Wir hörten sie“, sagte Harald kühl. „Nun wollen wir irgendwo Nachtquartier beziehen, am besten in einem der Häuser nach Osten zu … Folgt mir nur. Gespenster gehen hier zwar um, aber die werden uns ruhig schlafen lassen …“

Als wir das allerletzte Haus im Osten dicht an den Felsen der Halbinsel von rückwärts musterten, bemerkten wir hinter dem Giebelfensterchen, das verhängt war, zwei schmale Lichtstreifen.

„Die sah ich schon vorhin“, meinte Harst. „Freds Mörderin hätte das Fenster sorgfältiger abblenden sollen …“

„Die Gräfin schläft hier?!“ fragte George ungläubig …

„Warum nicht?! – Wählen wir das nächste Haus. Es hat auch eine Giebelstube … Wir … – hallo, – die Lichtstreifen sind verschwunden, die Dame hat sich zur Ruhe begeben. Sie muß gute Nerven haben!“

Das stimmte wohl. Ich hätte mir ein anständiges Hotel hierher gewünscht, jedoch nicht ein solches Geisterquartier wie ein Fischerhaus mit verstorbenen Bewohnern.

Harst öffnete mit dem Dietrich die Hintertür.

George raunte mir hastig zu: „Schraut, ich habe eine Flasche Whisky im Mantel!“

„Gott sei Dank …!!“

 

5. Kapitel.

Die zankenden Stimmen.

Die schmale Treppe zur Giebelstube des Hotels „Gespensterhof“ war seltsamerweise frei von Staub.

Harst beleuchtete die Stufen.

„Das gefällt mir gar nicht“, flüsterte er … „Bleibt unten … Ich will erst einmal allein die Stube besichtigen. Diese Sauberkeit ist verdächtig.“

Er zog die nassen Schuhe aus, erstieg das Treppchen an der Seite, die Stufen knarrten kaum, und dann kehrte er plötzlich um.

„Besetzt!“, sagte er leise.

„Wie?! Woher wissen Sie das?!“, meinte Saltorp verblüfft.

„Ich roch es, lieber George … Der Mann raucht Pfeife und einen vorzüglichen Tabak … Ich roch es durch das Schlüsselloch … Wahrscheinlich stärkt er seinen Brustkasten nach dem Renkontre mit der Sektflasche. – Gehen wir, – das Gasthaus „Zum Anker“ wird wohl leer sein …“

Als wir nun droben im „Anker“ eine passende Stube gefunden hatten, als das Fenster dicht verhängt war, zog George sein Nervenmittel hervor und auch ein Glas.

„Lieber Harst“, erklärte er feierlich, „mit Ihnen würde ich nie mehr derartige Rätsel lösen wollen wie dies hier. – Bitte, trinken Sie!“

„Danke, nach Ihnen … Sie haben doch übrigens“, meinte er mit einem Male wieder sehr traurig, „noch niemanden eingebüßt, der Ihnen so nahe gestanden hätte wie uns der arme Fred Steen. – Wie benahm sich Ihr Bootsmann Tim, als Sie ihm unseren lieben Toten brachten?“

„Tim Jatteroll …, – das Geständnis fällt mir schwer, – Tim war nicht mehr an Bord und hat nur einen Zettel zurückgelassen, daß ihm der Dienst bei mir nicht mehr zusage. Sie wissen, ich hatte ihn erst in Folkestone zu dieser Fahrt angeheuert, er gefiel auch Ihnen, und …“

Harald nickte. Wir saßen um einen verstaubten Tisch herum, und der Lärm, den der Sturm auch hier unter dem Strohdach und an den klapprigen Fenstern erzeugte, ließ uns immer wieder aufhorchen. Wir waren alle drei längst bettreif, und wenn wir eine wirklich behagliche Unterkunft gehabt hätten, wäre ich wohl im Sitzen eingeschlafen.

„George, Sie rauchen doch mit Vorliebe Pfeife“, meinte Harst, als Saltorp auf sein Kopfnicken hin nichts mehr äußerte. „Der Tabak, den ich vorhin durch das Schlüsselloch roch, dürfte Ihren Vorräten entstammen. Gewiß, Tim gefiel mir sehr, und als er heute für Sie in der Hafenstadt, wo die Berenice neue Masten erhielt, auf dem Postamt nach postlagernden Briefen Ihrer Braut fragte, blieb ich aus Anhänglichkeit hinter ihm. Sie erhielten einen Brief aus Nizza, seltsamerweise war aber auch für Tim ein Brief vorhanden, natürlich nicht aus Nizza, immerhin ein Brief … – Begreifen Sie, daß dieser bierehrliche alte Seebär uns einen Bären aufgebunden hat?! Er wußte ja gar nicht, daß Sie Ihrer Braut gerade die Hafenstadt als bequemste Poststelle angegeben hatten, er wußte überhaupt nicht, was wir vorhatten, als wir von Folkestone in See gingen, und inzwischen ist er nirgends an Land gekommen. Berührt Sie das alles nicht seltsam?! Jatteroll muß geradezu über hellseherische Fähigkeiten verfügen, – wie könnte er sonst einem Freunde genau wie Sie Ihrer Braut die Hafenstadt drüben für postlagernde Nachrichten benannt haben?! Und jetzt seine Flucht von Bord der Jacht?! – Mein lieber George, Sie starren mich so erschrocken an, als ob Mister Tim statt Ihres Pfeifentabaks Kleinodien gemaust hätte. Ehrlich gesagt: Ich habe Tim den altgedienten Matrosen nie geglaubt, aber ich nahm ihn ruhig mit, weil es mir lieber ist, Gegner im Auge zu behalten. Zur Zeit logiert Mister Tim fünf Häuser weiter nach Osten und raucht Ihren Tabak.“

Ich kenne Haralds Art, Klienten aus allen Himmeln stürzen zu lassen. Ich kenne sogar seinen besonderen Ton, in dem er diese Überraschungen ganz sanft ironisch zu servieren weiß.

Armer George! Millionär sein ist ja eine hübsche Sache, aber mit Harst auf Abenteuer ausziehen, – nein, da würde ich doch abraten. Selbst ich war durch diese Eröffnungen recht kräftig – Verzeihung! – vor den Kopf geballert … Aber George!! Der war einer Gehirnlähmung nahe.

„Nicht möglich!“, brachte er endlich über die Lippen. „Und wofür halten Sie Tim, lieber Harst?“

Harst trank seinen Whisky und nahm eine Zigarette. Er knipste das Feuerzeug an. „Ich halte ihn für einen sehr gewiegten Schlaukopf, lieber George, – nicht etwa für ein klägliches Subjekt dritten Ranges der Gaunerzunft, sondern für eine Kapazität, für einen Star, für eine Leuchte! – Sehen Sie, George, Tim ist mindestens fünfzig Jahre alt … Kein Matrose dieses Alters ist ohne Tätowierungen, und unser Tim besitzt nicht einmal einen Anker oder einen Dolch oder ein durchbohrtes Herz in Blau auf seinen Armen. So etwas gibt es nicht. Der Mann ist nicht Matrose, und gerade sein hervorragendes schauspielerisches Talent beweist, daß er „Klasse“ ist … – Still, – – was war das?!“

Er hatte sich mit einem Ruck von seinem Stuhl erhoben und schaute auf die Tür.

George flüsterte stockend: „Das …waren … Schritte … auf der Treppe … – Da, wieder … – Und jetzt …“ – er schnellte hoch …

Dicht vor der Stubentür vernahmen wir ein Tuscheln, Scharren und dann einen dumpfen Fall und einen halblauten schrillen, kreischenden Ton …

Ich sage ausdrücklich „Ton“, – nicht Aufschrei.

Es konnte aber auch ein Schrei gewesen sein …

Harst schlich zur Tür …

„Um Gottes willen, – öffnen Sie nicht!“, stöhnte George.

Harald hatte die Laterne in der Linken und faßte nach dem Türdrücker.

Mit einem blitzschnellen Armbeugen und Zurückspringen riß er die Tür weit auf, – der Lichtschein fiel auf die Treppe und den Flur, – – nichts war zu sehen, gar nichts … Wir standen und lauschten angespannt, aber der um das Haus wehende kräftige Seewind machte diese Anstrengung illusorisch.

Harst schaute mit halb zugekniffenen Augen auf die Dielen vor der Tür. Unsere schmutzigen Stiefel hatten dort geringe Mengen feuchter Erdkrümchen zurückgelassen, – weiter war nichts zu sehen.

George bat nochmals, Harald möge doch die Tür schließen und von innen verriegeln, aber er war mit seinem Gestammel noch nicht ganz fertig, als von unten plötzlich laute Stimmen heraufdrangen, offenbar ein Zank zwischen Mann und Weib, in französischer Sprache, mit Kraftworten gespickt, – der Streit artete in Tätlichkeiten aus, eine Frauenstimme schrie um Hilfe, dann knallte ein gedämpfter Schuß, – – und alles wurde wieder still.

Harst hetzte schon die Treppe hinab, ich blieb dicht hinter ihm, George folgte uns nur, um oben nicht allein zu sein, wir fanden die Tür zum Schankraum, die vorhin geschlossen gewesen, halb offen, wir durcheilten das ganze Erdgeschoß, die Außentüren waren versperrt, selbst im Keller entdeckten wir nichts, und als wir wieder in der Gaststube standen, deutete Harst schweigend auf zwei umgefallene Stühle, zwischen denen ein nasser welker Kranz lag, der in diese Moderluft einen Hauch von Kirchhof, von Leichenhalle oder dergleichen hineinmischte.

George hatte sich in meinen Arm gehängt und fuchtelte bedrohlich mit seiner Pistole umher … „Harst, ich … – habe Sie beide bereits honoriert, ich bin Ihr Auftraggeber, ich verlange, daß … wir sofort nach Folkestone zurückkehren. Ich habe diese Geschichte satt!! Ihr Freund Fred ist tot, dieses verfluchte Dorf ist tot, – – ich will leben!!“

Harst betrachtete den schlanken Engländer wie erstaunt.

„Ja, armer Fred!“, sagte er schmerzlich … „Fred war ein so gelehriger Schüler … Er hätte Ihnen sofort erklärt, daß dieser famose Spuk nur inszeniert wurde, um uns zu verscheuchen. Dieselbe Person, die oben vor unserer Tür wie eine gequälte Katze jaulte und die Geräusche erzeugte, hat hier – bitte – dieses Grammofon spielen lassen …“ Er zeigte auf einen modernen Kastenapparat, klappte den Deckel hoch und beleuchtete die aufgelegte Platte. Dann schob er den Hebel zurück, die Platte drehte sich, und wir hörten die Fortsetzung der Zankszene nach dem „Schuß“. – Es war ein Teil einer selten gespielten Oper von Bizet[6] – eine Eifersuchtsszene, die Musik setzte ein, und Harst stellte den Apparat schnell wieder ab und klappte den Deckel zu und fuhr mit dem Finger darüber.

Der Deckel war naß vom Regen.

George machte ein Gesicht, als ob er uns fressen wollte. Aber diese Kur hatte doch geholfen.

„Ich bleibe!!“, erklärte er beschämt.

„Sehr nett von Ihnen“, nickte Harald anerkennend. „Ich wette, daß Gräfin Jeanette mit diesem Grammofon anderswo mehr Erfolg gehabt hat. Die beiden Giebelstuben, die vorhin in den andern Häusern besetzt waren, dürften leer sein.“

Bemitleidenswerter George!! Die Überraschungspillen, die Harst hier verabfolgte, waren zu kräftig … Auch für mich.

„Die Gräfin?!“, stotterte George kopfschüttelnd.

„Natürlich! Sie ist klüger, als ich dachte, – sie hat nie an die Katze, die die schwere Sektflasche die Treppe herunterwarf, geglaubt, und nachdem sie mir und Schraut diesen Bluff vorgemacht hatte, hat sie uns beobachtet und das übliche Radikalmittel angewandt, ungebetene Gäste aus St. Juif zu verscheuchen. Besinnen Sie sich doch, George, – Ihre Braut erlebte hier im „Anker“ ja ganz Ähnliches und wollte nicht eine Nacht mehr zubringen! Das war ja mit der Hauptpunkt all dessen, was Sie uns in Berlin über Mademoiselle Lucies Erlebnisse hier erzählen sollten …!!“

„Allerdings“, murmelte Saltorp kleinlaut. „Aber … aber die Gräfin von St. Juif – – und diese Komödie hier?! Mir will das nicht in den Kopf!“

„Wird schon werden!“, tröstete Harald … „Ich will Sie ungläubigen Thomas aber vollends kurieren. Ich glaube, wir werden Ähnliches wie Kirchhofskränze auch in den beiden vorhin im Giebel bewohnten Häusern finden. Schlafen können wir jetzt doch nicht … Überzeugen wir uns, ob Mr. Tim ausgekniffen ist, er ist vielleicht abergläubisch. Genau so wird der zweite Logiergast ausgerückt sein.“

„Und wer ist das?“, fragte George wißbegierig.

„Das ist die Mörderin Freds, vermute ich“, erwiderte Harst leise.

„Also die Gräfin selbst?! – Das sind ja Widersprüche, die kein Mensch begreift.“

„Ich ja, und das genügt vorläufig“, meinte Harst sehr liebenswürdig und nachsichtig.

 

6. Kapitel.

Im Schloß St. Juif.

Er behielt übrigens in allen Punkten recht. Dort, wo Tim[7] logiert hatte, war der eine Fensterflügel der Giebelstube offen, die Tür war nur angelehnt, und vor ihr lagen ein ganz alter nasser Kranz und ein Totenschädel. Tim hatte sogar bei seinem überstürzten Sprung durch das Fenster (die Häuschen waren ja nicht hoch) auf dem staubigen Tische seinen Tabaksbeutel vergessen.

Im letzten Hause etwa dasselbe Bild: Auch hier war die Bewohnerin durch das Fenster entwichen, auch hier hatte die scheußliche Sprechplatte also ihre Schuldigkeit getan, nur daß hier vor der Tür des Giebelzimmers zur Abwechslung eine tote, nasse, ruppige Eule lag. Daß das Vieh Glasaugen hatte und ausgestopft war, hatte der verängstigte Logiergast wohl kaum bemerkt. Die Eule ist eben so eine Art Zaubervogel und gehörte früher als notwendiges Requisit in jede Hexenküche hinein.

Freund George hatte nunmehr eingesehen, daß er sich mit seiner Geisterfurcht unsterblich blamiert hatte, und sagte zu allem Ja und Amen, was Harst vorschlug. Hier draußen im Regen konnten wir nicht bleiben, der Schlaf war uns vergangen, und jetzt sollte Gräfin Jeanette eine Nachtvisite abgestattet werden. Ob sie sich im Schloß befände, war uns gleichgültig, sie würde allmählich wohl heimkehren, nachdem sie hier im toten Dorfe so geschickt Gespenst gemimt hatte.

In der Prunkgrotte war nichts an Veränderungen zu merken, aber nebenan, wo die zehn kleinen, festen Kisten mit dem Schatz von St. Juif standen, entdeckten Haralds unermüdliche Augen Tabakreste und Tabaksasche, die noch warm war und die aus einer Pfeife stammen mußte, die dem Raucher entfallen war.

„Die Gräfin hat Männerneigungen, besser männliche Angewohnheiten“, meinte er so nebenher und verwischte Tabak und Asche mit der Fußspitze.

Dann kletterte er als erster die Eisenleiter empor, wobei wir alle reichlich viel Wasserspritzer abbekamen.

George fieberte jetzt vor Gier, die hübsche Gräfin einmal gründlichst ins Gebet nehmen zu können. Für meinen Geschmack redete er zu viel von ihr.

Droben in der winzigen Höhle zog Harst den Eisenhebel zurück, und die Eisenplatte, die daran befestigt war, verschob sich, der dicke Wasserstrahl floß in eine andere Kluft hinein, und über uns gähnte ein künstlich erweitertes Loch im Gestein, durch das wir in eine neue, recht ausgedehnte Höhle gelangten.

Genau wie die felsige Ostküste Englands weithin von Grotten durchlöchert ist, ebenso findet man in der Normandie ganze Höhlensysteme, und die Grafen von Juif, die einst sicherlich bessere Piraten gewesen, hatten ihre Burg über dem zweiten Ausgang dieser langen Grotte auf einem steilen Felsenwürfel errichtet.

Eine uralte verrostete Eisentür führte in die Burgverließe. Sie war verschlossen, aber diese Sorte Schlösser entlocken sogar einem Einbrecheranfänger nur ein Lächeln.

Etwas anderes freilich war’s mit der Fortsetzung dieses Weges, denn die beiden Verließe hier zeigten nur kahle Wände und keine Spur einer Tür, die uns dem Ziele näher gebracht hätte. Harst beleuchtete sofort die Decken und dies war angesichts einer alten klobigen Eichenleiter, die an der Wand lehnte, der einzig richtige Gedanke.

Die Falltür war denn auch leicht zu finden, nachdem man erst einmal auf den richtigen „Dreh“ gekommen war, und Minuten später standen wir im Flur des neueren Flügels des Normannenschlosses, wo es geradezu trostlos ausschaute. Die Tapeten hingen von den Wänden, die Dielen waren verfault, Flurläufer gab es nicht, – – genau so armselig war das Zimmer, durch dessen Schlüsselloch uns Licht entgegenschimmerte, und in dem Jeanette Gräfin St. Juif lesend am Kamin gesessen hatte. Als Harst ohne weiteres eintrat, blickte das schöne, rassige Mädchen nur flüchtig auf. Die Petroleumlampe ließ die Tür im Schatten, und Jeanette fragte gleichmütig: „Pierre, bist du’s?“

Dann erst sprang sie auf, das Buch fiel zu Boden, und sie blickte uns drei streng und empört an. „Meine Herren, – welche Unverfrorenheit?! Wer sind Sie?!“

Sie hatte gute Nerven, dieses schlanke Geschöpf, das zusammen mit den sieben Fischern gegen jeden kämpfte, der die dunklen Rätsel dieses einsamen Küstenortes aufzuhellen trachtete.

Harst schloß die Tür und verneigte sich, nannte unsere Namen und fügte höflich hinzu, die Umstände zwängen ihn leider, um eine Unterredung zu bitten, von der er vieles erhoffe.

Im Kamin brannte ein kleines Holzfeuer, – stumm und eisig nickte die Gräfin und deutete auf ein paar schäbige Lederstühle. Das Hauskleid, das sie trug, war von schwarzer, zerschlissener Seide und gehörte einer Mode von vor etlichen vierzig Jahren an. Trotzdem wirkte Jeanette vornehm und zart, sie war in allem große Dame und saß zwanglos da und spielte mit einem Wappenring, dem einzigen, den sie am Finger trug.

Das leicht Spukhafte, Unwirkliche und ein wenig Unheimliche, das als unklares Empfinden mich schon gestern morgen beim Anblick der verstaubten Häuser beschlichen hatte, bemächtigte sich meiner von neuem. Die Gräfin war blaß und erschöpft, ihr bleicher Gemmenkopf geisterte im Halbdunkel wie eine starre kalte Marmorskulptur. Das Zimmer roch nach Lavendel, Katzen und Moder, und der Sturm draußen winselte im Kamin wie die gequälten Seelen armer Häscher im Fegefeuer.

Harst begann gedämpft … – Jedes laute Wort wäre hier Nervenpein gewesen. „Gräfin, Sie wissen nun, wer wir sind, und ich weiß, daß Sie uns hier erwartet haben, nachdem Sie zwei Leute verscheuchten, was Ihnen bei uns nicht gelang. Ja, Sie haben uns erwartet, und Sie sind daher auf meine Fragen vorbereitet, – das heißt, Sie werden, verzeihen Sie, mich zu täuschen suchen.“

Jeanette blieb stumm.

Nur der Gentleman George sagte entrüstet: „Warten Sie doch ab, Harst, ob die Gräfin nicht doch der Wahrheit die Ehre gibt! Beleidigen Sie keine Dame, die …“

„Optimist“, unterbrach Harald ihn mit einem Achselzucken. „Gräfin, wo befinden sich die Bewohner des Dorfes?“

Jeanette von St. Juif schaute ihn gelassen an. „Sie sind ausgewandert, Herr Harst, allerdings heimlich, und leben als Kolonisten seit Jahren zufrieden irgendwo auf der Insel Island. Pierre, der Ortsvorsteher, hat alles in seinen Akten vermerkt. Er wollte nicht, daß St. Juif entvölkert würde, aber die Männer sperrten ihn und seine sechs Söhne ein und kauften einen Schoner und verließen das Dorf vor drei Jahren. Ich befreite Pierre und seine Söhne, und wir beschlossen, da Pierre sich schämte, derart behandelt worden zu sein, das Geschehene zu verheimlichen und …“

… Ein heulender Windstoß im Kamin jagte Rauch und Flammen ins Zimmer …

„Wundervolles Märchen, Gräfin“, meinte Harst nachsichtig lächelnd.

George empörte sich: „Gestatten Sie, Harst, das klingt durchaus glaubwürdig!“

„Für Sie, nicht für mich!“, sagte Harald etwas schroff. „Lesen Sie lieber den Brief Ihrer Braut, George, – bisher haben Sie ihn nur sehr schnell überflogen …“

Und abermals zu der jungen Gräfin gewandt:

„Gut, lassen wir das Kindermärchen vorläufig unangetastet. – Woher stammt das Gold in den Kisten der Nebengrotte, woher stammen die kostbaren Seidenbespannungen, die Möbel, die Weinvorräte? Wurden sie mit Goldbarren bezahlt?“

Jeanette lachte leise. „Gold?! Leider handelt es sich nur um Barren aus Messingbronze, die ich aus den alten Geschützen der Burg einschmelzen ließ. Das Geld für die Möbel und alles andere gab ich her. Ich habe die Waffensammlungen und Gemälde des Schlosses veräußert. Davon lebe ich, im übrigen bin ich sehr arm. Wollen Sie die Abrechnungen des Pariser Antiquars sehen, der die Sachen erwarb, Herr Harst?“

„Danke, Gräfin … – Ich bewundere Sie … Ich würde Sie auch kaum weiter belästigen, da ich die Geheimnisse von St. Juif für eine Verkettung unseliger Umstände halte, wenn nicht mein junger Freund Fred Steen …“ – Pause – „… am Eingang der Prunkgrotte in dieser Nacht erschossen worden wäre.“

Die Gräfin neigte sich weit vor. „Ist das wahr?“ hauchte sie entsetzt.

Ein Zittern ging über ihre Gestalt hin … „Mein Gott“, fügte sie mit gefalteten Händen vollkommen verzweifelt hinzu, „also – – ein Mord!! Grauenvoll!! Wenn Pierre das erfährt, wird … es mit ihm zuende gehen … Entsetzlich!! Und gerade in der Grotte, wo …“

Sie verstummte, preßte beide Hände vor das Gesicht und begann trostlos zu schluchzen.

George fauchte Harst wütend an: „Wie können Sie nur!! Sie sind brutal!! Sie sind…“

Er trat schnell auf Jeanette zu. „Gräfin, ich verwünsche die Stunde, wo ich …“

Sie ließ die Hände sinken. Ein langer prüfender Blick traf sein Gesicht. „Mr. Saltorp“, sagte sie, bereits wieder vollkommen gefaßt, „verwünschen Sie nichts, am wenigsten Herrn Harst, den Sie wohl beauftragt haben, uns nachzuspüren. Gehen Sie nebenan in den Salon, dort brennt Licht, – lesen Sie den Brief, Sie sind ja verlobt, und Ihre Braut wird zweifellos sehr lieb geschrieben haben …“

George war sichtlich sehr peinlich berührt, daß Lucie Rostan hier mit in das etwas seltsame Gespräch hineingezogen wurde. Unwillkürlich holte er den dicken Brief hervor, der auch einige Amateuraufnahmen Lucies auf der Promenade in Nizza enthielt.

„Ja, sie hat … sehr viel geschrieben“, sagte er zerstreut. „Über das Tennisturnier, über das Wetter …, – in ihrer etwas fahrigen Art … Es lohnt nicht, den Brief nochmals zu lesen.“

Sein nettes, straffes Gesicht hatte sich umwölkt.

„Kennen Sie Lucie, Gräfin?“, fragte er plötzlich.

„Ja … Vom Sehen … Von der Notlandung her, die das Wasserflugzeug hier vornehmen mußte … Waren Sie damals schon mit ihr verlobt?“

„Nein …“ George wollte den Brief ins Kaminfeuer werfen. Harst griff schnell zu. „Sie erlauben, – besser nicht, lieber George!, Später würden Sie es bedauern …“

– Merkwürdige Unterredung …! Die Geheimnisse von St. Juif waren in den[8] Hintergrund getreten. Lucie Rostans Person hatte sich unwillkürlich in den Mittelpunkt gedrängt. Ich als stiller Beobachter gewann bei alledem den Eindruck, daß Gräfin Jeanette ebenfalls herausfühlte, daß es mit den herzlichen Beziehungen zwischen dem Brautpaar nicht weit her sein könnte, und daß sie dadurch gewissermaßen ihre geheime Abneigung gegen George aufgegeben hatte.

Der junge Millionär sagte eigentümlich rauh: „Ich werde den Brief also nochmals lesen … Sie entschuldigen mich, Gräfin“, – und er schritt durch die Seitentür etwas müde in den erleuchteten Salon.

Jeanette horchte nach der Tür hin. Dann flüsterte sie Harst zu: „Er will uns belauschen… Trauen Sie ihm?“

„Vollkommen!“

„Ich jetzt auch“, erklärte sie tief aufatmend.

 

7. Kapitel.

Der alte Eichensarg.

Harald rückte seinen Stuhl neben den Sessel der Gräfin und winkte mir, ein gleiches zu tun.

„Weshalb haben Sie Kairo verlassen?“, begann er von neuem.

„Ich war nie in Kairo. Die Nebenlinie der St. Juifs ist sehr reich … Eine entfernte Verwandte von mir heißt ebenfalls Jeanette. Ich unterhalte jedoch keinerlei Beziehungen zu diesen Verwandten. Wer arm ist, hat nur arme Freunde oder gar keine.“

„Sind Sie arm?!“, meinte Harald da ungewöhnlich herzlich.

Sofort erstarrte sie wieder zu eisigster Ablehnung.

„Sie glauben mir nicht, Herr Harst … Dann erübrigt sich jedes weitere Wort.“

„Nein, ich glaube Ihnen wenig, Gräfin … – Sind Sie auch mit den Rostans verwandt?“

Jetzt senkte sie schnell den Kopf und schwieg.

„Also ja“, nickte Harst. „Der arme George, – er ist eingefangen worden … Und mein armer Fred starb, weil er zu viel wußte.“ Er dämpfte seine Stimme noch mehr. „Selbst Schraut verschwieg ich es, daß ich Fred nach Nizza geschickt hatte … Seine Brieftasche fehlt, und der Mörder, der sie mitnahm, wußte, daß sie böse Aufzeichnungen enthielt.“

Jeanette hob den Kopf und hielt Harsts ernstem Blick ruhig stand. „Ich tötete ihn nicht“, sagte sie einfach und schlicht. „Auch Pierre und seine Söhne haben noch nie ein Verbrechen begangen. Es sind sehr bedauernswerte Menschen, Herr Harst. Die nächtliche Zerstreuung[9] in der Prunkgrotte bei Wein und Musik habe ich ihnen aufgezwungen, damit sie nicht in Schwermut verfielen“

„Das … habe ich mir gedacht“, meinte Harald wieder sehr herzlich. „Gräfin, sagen Sie mir doch die ganze Wahrheit …! Vergessen Sie nicht, daß die sieben Männer in einer unglücklichen Stunde auch zu gefährlichen Wahnsinnigen werden könnten, sie taumeln auf der schmalen Grenze zwischen halber geistiger Gesundheit und …“

„Still!!“

Jeanette war aufgesprungen.

Irgendwo im Kamin schrillte eine Glocke …

Die Gräfin von St. Juif schraubte die Lampe tiefer.

„Holen Sie Mr. Saltorp, – – schnell …! Nur schnell! Entfliehen Sie durch die Verließe und die Grotten … Beeilen Sie sich, – – da, hören Sie!!“

Unter den Fenstern ertönte Pierres gewaltige Stimme:

„Öffnen Sie, – – öffnen Sie!!“

Fäuste hämmerten dröhnend gegen eine ferne Tür.

Jeanette weinte fast vor Angst.

„Ich flehe Sie an, – fliehen Sie!! Wenn Pierre Sie drei wiedererkennt, gibt es ein Unglück …“

Saltorp trat hastig ein.

„Wer ist dort draußen, Harst?! Ich…“

Harst zog ihn in den Flur … Wir hasteten die Steintreppen hinab, hoben die Falltür auf, stiegen die Eichenleiter abwärts, und Harst schloß die Falltür.

Ich hatte gesehen, daß Jeanette ihm noch im letzten Augenblick etwas zugeflüstert hatte, und um was es sich dabei gehandelt hatte, merkten George und ich an seinem uns zunächst unverständlichen Benehmen.

Anstatt die verrostete Eisentür zu öffnen und die lange Grotte zu betreten, nahm er die schwere Leiter und lehnte sie im zweiten Verließ an die Ostwand, stieg empor, stemmte die Hände unter das rissige Gestein und hob so ein weit größeres Quadrat der Decke nach oben, als es die andere Falltür darstellte.

Er winkte …

Nachher stieß er die Leiter mit dem Fuße um, ließ die Felsplatte herabfallen und rief uns zu, wir sollten Steine zum Belasten der Tür herbeiholen. George und ich waren bereits bis zu einer Art Torbogen, der in einem zweiten Kellerraum mündete, vorgedrungen und hatten schon hier das ferne Geräusch brandender Wellen gehört und auch deutlich frische Seeluft gespürt. Ein zweiter Torbogen lag uns gerade gegenüber, zweifellos schloß sich an diesen eine Wassergrotte an, denn die hier zahlreichen Wasserratten, die eiligst davongehuscht waren, bewiesen ja gleichfalls die Nähe der Bucht. – Es war dies also der zweite Notausgang der Grafen von St. Juif, die einst als Seeräuber vornehmer Herkunft unendliche Kostbarkeiten zusammengehäuft haben sollten.

Wenn nun George und ich trotz Harsts Befehl uns nicht vom Flecke rührten, so hatte dies seinen ganz besonderen Grund.

In dem Kellerverließ stand nämlich als einziger Gegenstand ein großer länglicher Holzkasten auf zwei ebenso alten, dicken Eichenböcken, – eine sargähnliche Kiste mit zwei kleinen Sehlöchern[10], eins im Deckel, eins in der Seitenwand, und an der Mauer hinter dem Kasten lehnte ein fast elegant gekleideter älterer Herr im Jackenanzug ohne Hut, der uns beide mit äußerster Gelassenheit musterte, wobei sein an einer dünnen Schnur befestigtes, vor das rechte Auge geklemmte Monokel im Lichte unserer Taschenlampen seltsam schillernd funkelte und gleißte.

Harst trat neben uns. Er stutzte leicht, dann hob er seine Laterne und betrachtete den Fremden genauer.

Er machte noch zwei Schritte vorwärts, verbeugte sich und sagte zu George in jenem unmerklich überlegenen Tone, der nie irgendwie überheblich wirkt: „Lieber George, darf ich Ihnen den nicht tätowierten bekanntesten Detektivinspektor von Paris, Monsieur Garberoll, nicht Jatteroll, vorstellen …“

Garberoll lachte vergnügt, als George ihn wortlos anstierte.

„Harst hat mich erkannt, Mr. Saltorp. Wie er das fertig gebracht hat, weiß ich nicht.“

Er ließ sein Monokel ans dem Auge fallen und kam uns entgegen, drückte uns die Hand und schaute Harald fragend an.

Harst klopfte ihm gemütlich auf die Schulter. „Wenn Sie sich wieder Briefe postlagernd schicken lassen, Garberoll, so befehlen Sie Ihren Leuten, nicht gerade Dienstsiegel auf dem Umschlag zu verwenden.“

„Ach so!“, meinte der Franzose gedehnt. „Sie waren in der Hafenstadt im Postamt hinter mir? Ich verstehe …“

„Und ich verstehe wieder nicht recht, wie Sie herausbekommen haben, daß wir nach St. Juif wollten“, sagte Harald bedächtig und tippte dabei George auf die Brust. „Der Herr hat uns ein Riesenhonorar gezahlt … Verlobte erfüllen alle Launen ihrer Braut.“

Garberoll fixierte den Millionär eigentümlich.

„Ja – alle Launen“, nickte er. „Über die Frage reden wir später“, lenkte er sehr energisch ab. „Harst, was geht hier in St. Juif vor? Wissen Sie mehr als ich …?“

„Was wissen Sie denn?!“

„Nun, daß das Dorf tot ist, daß die Gräfin Jeanette Gespenst mit einem Sprechapparat spielt, daß Ihr armer Fred erschossen wurde, daß in zehn Kisten viele Barren liegen, – – und noch einiges, das wir besser unter vier Augen verhandeln.“

„Allerdings – sehr unter vier Augen“, sagte Harst mit allem Nachdruck. „Hätten Sie hier nur ein Wort zuviel geredet, Garberoll, würde ich Ihnen rechtzeitig die Pistole vor die Stirn gedrückt haben, unter solchen Umständen verstehe ich keinen Spaß!“

Der Pariser Sherlock Holmes, berühmt durch die Aufdeckung mehrerer komplizierter Verbrechen, streichelte seinen grauen Schnurrbart und erwiderte sinnend:

„Das begreife ich vollständig, Harst. Wir befinden uns in einer sehr üblen Lage. Zu den bisherigen Gespenstern werden noch andere hinzukommen … – Nicht wahr, wir verstehen uns?“

„Leider!“

Harst beugte sich jetzt über das Loch im Deckel.

„Ein menschliches Gerippe, Garberoll?!“

„Wie Sie sehen …“

„Seltsam …?!“

Harald trat zur Seite. „George, Schraut, – schaut es euch an. Man kann viel daraus lernen.“

– Der Fall St. Juif war in ein Stadium geraten, wo jedermann nur in Rätseln oder besser in unverständlichen Andeutungen sprach.

 

8. Kapitel.

Der geheime Friedhof von St. Juif.

Der Schädel des Gerippes lag unmittelbar unter dem Sehloch, war tadellos erhalten, gelblich-dunkel verfärbt, und der Knochenmann mußte hier bereits ungezählte Jahre ruhen.

Auch Saltorp warf einen Blick in den Kasten.

„Harst, ich möchte wissen, was man daraus lernen sollte?!“, meinte er achselzuckend.

„Nun – und Sie?!“, wandte Harald sich an den berühmten Pariser Sherlock Holmes.

Garberoll klemmte sein Monokel ein.

„In Spitzfindigkeiten sind Sie mir wohl überlegen, bester Harst. Reden Sie …!“

Harald bückte sich und hob Georges eine Mantelecke auf.

„Was ist das, Kollege ohne Spitzfindigkeiten?“

Garberoll prüfte den klebrigen Fleck am Mantel Georges und erklärte:

„Gift!“

„Stimmt, Klebstoff, der weich bleibt, Arsenik, Phosphor und Zyankali.“

Saltorp stotterte entsetzt: „Wie kommt das Zeug an meinen Mantel?!“

„Weil Sie zu nahe herantraten, lieber junger Krösus. – Was helfen alle Millionen, wenn man nicht Augen im Kopfe hat! Da – die Beine der Böcke, auf denen der Kasten steht, sind mit dieser Giftmasse bepinselt. Wozu wohl?!“

George war kein Detektiv, aber auch nicht begriffsstutzig.

„Natürlich der Ratten wegen! Die Ratten sollten nicht an das Gerippe heran!“

„Sehr gut“, lobte Harald. „Dort liegen zwei Rattenkadaver, dort wieder zwei … in den dunklen Ecken dieses Geheimkellers … Armes Viehzeug, ihr freßt alles, auch Knochen, Gummi, Gummistoff, sogar Wolldecken …“

Garberoll drehte seinen Schnurrbart.

„Danke, Harst“, meinte er nur.

George schaute vollkommen verständnislos von einem zum andern, und ich gab mir alle Mühe, geistreich auszusehen. – Diese Art Geheimdiplomatie mißfiel mir: denn ich konnte da nicht mithalten. Wenn zwei so geriebene Füchse wie Garberoll und Harst sich unklar ausdrücken wollen, kommt kein kahlköpfiger erfahrener Botschafter irgendwie mit, – er wird mit mehreren Nasenlängen geschlagen.

Garberoll drehte weiter an seinem Schnurrbart.

„Ein wundervolles Problem, teurer Harst …“

„Ein Leckerbissen für Ratten, werter Kollege. – Übrigens, – wieviel Leute haben Sie hier?“

„Drei …“

„Und die kamen mit dem Wasserflugzeug …“

„Ja …“

„Und wo befinden sie sich jetzt? Doch nicht etwa in Ihrer Giebelstube, aus der Sie nur ausgekniffen sind, um der Gräfin von St. Juif Sand in die schönen Augen zu streuen?“

Garberoll schmunzelte. „Muß die mich für feige gehalten haben!! – Haben Sie meinen Tabaksbeutel? Ich ließ ihn absichtlich liegen … Des besseren, echten Eindrucks wegen. – Meine drei Beamten sind auf der Jacht „Berenice“, und außerdem …“

Harst holte blitzartig die Pistole heraus und hielt sie dem Franzosen an die Stirn.

„Ich warne Sie!!“, sagte er drohend.

Garberoll hüstelte.

„Verzeihen Sie … – Nehmen Sie Ihr Schießeisen weg, es wirkt zu dramatisch, Mr. George ist ganz blaß geworden!“

George sagte finster: „Ich spiele hier eine klägliche Rolle, das fühle ich … – Wer ist hier nun eigentlich Freund und Feind?“

… Leider kam die Antwort von einer anderen Seite, die nur feindlich war. Der Ausdruck „feindlich“ genügt auch in keiner Weise, die Stimmung unserer riesenhaften Angreifer auch nur annähernd wiederzugeben. Als der alte Pierre, während gleichzeitig hinter ihm im ersten Keller mehrere Schiffslaternen von seinen Enakssöhnen enthüllt wurden, uns mit haß- und wutverzerrtem Gesicht, mit blutunterlaufenen Augen und geifernden Lippen sein wildes, halb gekreischtes „Arme hoch!“ entgegenbrüllte und in jeder Hand eine große Pistole, breitbeinig, urwüchsig, in ungebeugter Kraft wie ein alter angriffslustiger Riesenstier uns entgegentrat, hatte Harst seine Pistole bereits wieder in die Tasche gleiten lassen, – vielleicht zum Glück, und als zwei der baumstarken blonden Schößlinge dieses mächtigen Kolosses, alle wie der Vater nur auf dicken wollenen Socken näherschleichend, die Anzahl der drohenden Feuerwaffen noch vermehrten, – als wir wie auf Kommando gegenüber diesen wilden, fast tierischen Fratzen und unheimlich lodernden Blicken schleunigst die Hände emporhoben, da wir hier mit keinem Erbarmen oder mit keinem Einfluß eines verständigen, aufklärenden Wortes zu rechnen hatten, wußten zumindest Harald und ich, die wir die Geistesverfassung dieser Bedauernswerten kannten, daß uns nun Minuten oder Stunden bevorständen, in denen unser Leben und unsere Freiheit einzig und allein von unserer Kaltblütigkeit, List und Schlauheit abhängen würden.

Das, was in den Augen unserer fünf Überwältiger loderte (zwei der sieben mochten vielleicht die arme Gräfin bewachen, ging es mir durch den glühenden Kopf), war der vor nichts zurückschreckende, durch keine Vernunftsfessel mehr gehemmte Grimm von Tollhäuslern.

Wir hatten es mit Wahnsinnigen zu tun, die irgendwie, irgendwoher schon jahrelang die Keime geistiger Umnachtung in sich getragen hatten, die langsam hier in ihrer Weltabgeschiedenheit das Krankheitsgift durch Grübeln und Nachsinnen und durch die Stimme des eigenen Gewissens weiter genährt hatten bis zum endgültigen Ausbruch dessen, was Gräfin Jeanette wohl stets befürchtet hatte: Einer mordgierigen, verhaltenen Tobsucht!

Grauenvoll waren diese Gesichter, grauenvoll diese muskelstrotzenden Riesenleiber, grauenvoll die Augen voller Haß, Wut, tierischen Mordrausches, – vielleicht am grauenvollsten dabei die katzenartigen Bewegungen und das satanische Grinsen der Genugtuung, uns derart überlistet zu haben durch einen völlig lautlosen Angriff.

Am allergrauenvollsten endlich der Gedanke an Jeanette, an der diese Irrsinnigen ihren ersten Wutausbruch irgendwie ausgelassen haben konnten, weil Jeanette uns zur Flucht geraten und verholfen und uns nicht im Schlosse festgehalten hatte!

Das waren Gegner, die in sich alle Schrecken der Hölle des Wahnsinns vereinigten: Unnatürliche Stärke der Idioten, unnatürliche Schlauheit der Verrückten und die selbst vor dem Gesetz straffreie Gewalttätigkeit[11] bis zum kaltblütigsten Morde!

„Bindet sie!“, befahl der alte Pierre mit einem entsetzlichen Kichern. „Bindet sie, wie die andern, – mögen ihnen die Gelenke auch knacken und bluten! Sie haben’s verdient!“

Die Riesenkerle hatten Stricke mitgebracht, geteerte dünne Stricke, und sie verstanden ihr Handwerk, sie waren an der See groß geworden, und ihr Beruf hatte sie gelehrt, Knoten zu schlingen, die kein noch so gutes Gebiß öffnete.

Keiner von uns wagte auch nur einen Laut von sich zu geben, als das Blut uns aus der Haut der Handgelenke hervorsprang, – wie leichte Bündel wurden wir davongetragen, hinein in die noch unbekannte Grotte, in der irgendwo das Meer schäumte und in der jener seltsame Odem der weiten See, Geruch nach faulendem Tang und feuchten Sande, uns entgegenwehte.

Die Schiffslaternen der St. Juifer warfen lange Reflexe über das unruhige Wasser der Grotte und über den Rumpf eines mittelgroßen Schiffleins, dessen Masten wieder gekappt waren.

Es war unsere „Berenice“.

Aber bevor wir sie erreichten, kamen unsere Träger, die uns wie schlappe Säcke über die Riesenschultern geworfen hatten, an einem erhöhten trockenen weiten Streifen der nördlichen Höhlenseite vorüber.

Die Laternen beleuchteten hier eine niedere, saubere Steinmauer, beleuchteten Grabhügel an Grabhügel, alle sorgsam gepflegt, alle mit Gedenktafeln versehen – ein Friedhof, den niemand kannte, nur die sieben und die schöne junge Gräfin von St. Juif.

Hier also ruhten die Dorfbewohner, heimlich bestattet, heimlich geehrt durch die Grabsteine mit den darauf gemalten weißen Inschriften …

Ermordete all das?! Niemals!

Ein Mörder pflegt keine Gräber, ein Mörder läßt sein Opfer für immer verschwinden!

Und die sieben hätten’s doch so leicht gehabt mit diesem Verschwindenlassen, – das Meer ist tief und verschwiegen, und ein Sack, mit Steinen beschwert, steigt nie mehr empor und spielt nie Ankläger mit seinem stummen Inhalt!

Mörder die sieben?! Hätte denn Jeanette Gräfin St. Juif Mörder geschützt und Mörder bemitleidet und bei Mördern versucht, den keimenden Irrsinn durch die Luxusgrotte zu ersticken und in bessere Bahnen zu lenken?

Niemals! –

Worin, schoß es mir durch den Kopf, worin bestand das entsetzliche Geheimnis von St. Juif?!

Goldbarren, verstaubte Häuser mit blanken Fenstern und weißen Gardinen, Messingbronze-Barren, Radiomusik, Sekt, mattblaue Seide, ein Spuk-Grammofon und diese sieben Männer und diese wunderhübsche aschblonde Gräfin und ihr altes Schloß und schließlich noch dieser heimliche Friedhof hier spielten in meinem Hirn ein verwirrendes Auf und Ab und Durcheinander düster leuchtender Fackeln, – wie die Fackeln eines Jongleurs auf schwarzer, dunkler Bühne umherschweben und wie niemand die Hände recht erkennt, durch die sie immer wieder kreisen und kreisen und sinken und wieder emporsteigen …

 

9. Kapitel.

Am Tisch des Jachtsalons.

Eine Planke führte vom Grottenstrand zur verankerten Jacht.

Die Planke bog sich tief unter der Last der Söhne Pierres und ihrer Schulterbürde …

Die Planke stöhnte und knarrte, das Wasser gurgelte und schäumte ringsum sein unruhiges Lied, und Vater Pierre riß die Tür der erleuchteten Heckkajüte auf, die Freund George als Schmuckkästchen hergerichtet hatte.

Die „Berenice“ war sein Liebling …

Am runden, großen Mitteltisch unter der Deckenlampe saßen drei bleiche, barhäuptige Männer und ein Mädchen mit welligem schwarzen Haar und brennend roten Lippen und seltsam irrlichternden Augen, deren lange Wimpern einen seelenvollen Blick vortäuschten.

Die Hände der vier eng auf Schiffsstühlen aneinander gedrängten Personen waren genau so brutal gefesselt wie die unseren und an einen Riesennagel gebunden, der in die Mitte des Tisches getrieben war, – ein Schiffsnagel. –

Ich hatte bisher nur Bilder von Lucie Rostan gesehen.

Ich erkannte sie sofort …

Wenn mir schon die Bilder nicht gefallen hatten, da dem Gesicht, mochte es auch noch so vornehm hergerichtet sein, etwas Gemeines, Freches anhaftete, – diese „süße kleine Lucille“, wie George sie meist genannt hatte, die dort blaß und stier uns entgegenstarrte, stand unbedingt ihrer Charakterveranlagung nach noch weit tiefer, als ich sie eingeschätzt …

„George!!“, schrie sie gellend auf.

Aber die Faust des einen der beiden Wächter, die hier mit grinsendem Munde unseren Einzug beobachtet hatten, fuhr wie ein Schmiedehammer auf Lucilles fein ondulierten Kopf hernieder, und mit einem Ächzen sank der Oberkörper des Mädchens auf die an den Nagel gehefteten Arme und zuckte nicht einmal mehr …

George Saltorp blieb demgegenüber erstaunlich gleichgültig.

Ich schaute ihn von der Seite an, als man auch mich auf einen Stuhl drückte.

Freund George hatte nur die Zähne in die Unterlippe gepreßt und stierte auf die Tischplatte.

Auch wir wurden genau so an den Nagel und unten an den Tischfuß gefesselt wie die andern vier. Der Tischfuß war in das Parkett der Luxuskabine eingelassen, und ihn zu bewegen, war unmöglich.

Nun hatten Pierres Söhne auch diese Arbeit vollendet.

Sie standen stumm da, warteten …

Der alte Pierre lehnte an dem kleinen Büfett, und sein Gesicht verriet, daß er mit seinen Gedanken, mit seinen kranken Ideengängen nicht mehr bei der Sache war.

Etwas Geistesabwesendes lag in seinen Zügen.

„Vater!“, mahnte der älteste Sohn.

Pierre Benoit, Maire von St. Juif, Schloßvogt von St. Juif, einstiger langjähriger treuer Diener des verarmten Geschlechtes, hob den tief gefurchten Kopf. – Sein und seiner Familie Bild hatte in seinem Büro gehangen, und auf diesem Bilde waren noch seine Frau und zwei Töchter vorhanden gewesen. Ich hatte die Gruppenaufnahme nicht beachtet, Harald hatte die Söhne erkannt und daraus seine Schlüsse gezogen.

Der hünenhafte Greis fuhr sich mit der Linken über die Stirn …

„Es ist gut, Armand“, sagte er dumpf. „Du willst, daß ich ein paar Worte zu diesen Spionen spreche, die unseren Frieden stören wollten. Ja, es ist gut, – wir haben sie alle, alle … Niemand wird uns verraten, wenn sie alle tot sind … So sagte auch unser gräfliches Fräulein, und ich werde ihren Rat befolgen …“

Sein irrer, stumpfer Blick glitt über uns hin …

„Narren seid ihr, daß ihr euch nach St. Juif wagtet. Elende Narren …! Was suchtet ihr hier?! Das Gold des Chinesen?! Das Gold …?! Wir haben davon nichts angerührt … Es stinkt … nach der Pest … nach den dicken Beulen der höllischen Pest …! Das Gold brütete die Pest aus, – deshalb scheiterte das Schiff, deshalb verfaulten die Gelbgesichter im Boot, die die Kisten brachten … – Nicht wahr, Armand, es stank doch?“, brüllte er plötzlich, und die flackernde Wut glomm wieder in seinen Augen auf …

„Es stank, Vater!“, schrie der Sohn keuchend zurück. „Und – – wie stank es …! Ich rieche es heute noch!“

„Ich – – rieche es immer!“, röchelte der Alte … „Immer … immer … Auch die feinen Zigarren helfen nichts, die unsere liebe Gräfin besorgt, und ich höre noch immer das … das Freudengeschrei, als wir die erste Kiste zerschlugen … und Gold fanden … Und dann … sackte das Boot weg – – mit den Toten, mit den Kisten … Aber – – es stank, und wir heulten vor Ärger und wollten auch die andern Kisten haben …“

Er murmelte nur noch …

Ich schaute Harald an … Er beobachtete Pierre wie ein interessantes Studienobjekt, und dasselbe tat Garberoll mit derselben Ruhe.

Langes Schweigen folgte …

Der alte irre Mann hatte den Kopf wieder gesenkt.

„Drüben liegen sie“, flüsterte er rauh und weinte dabei … „Drüben … auf dem Friedhof – – alle, alle … Mein Weib, meine Töchter, – – alle … alle. Das Gold hatte Beulen … Wir bekamen das Gold und die Beulen … Drüben schlafen sie … Und die verfaulten Chinesen … Die …“ – er verlor vollends den Gedankenfaden … „… die … die Jahre …! Die Gräfin, unser Engel, – – ja, die Gräfin, – – Armand, was sagte sie doch?!“

„Festbinden, Vater, – – und die Jacht auf die Riffe rennen lassen … Es ist neblig, Vater …“

Pierre lachte schallend …

„Riffe, … und Benzin, – – und Feuer – und das Meer, – dann haben wir wieder Ruhe!“

Sein gewaltiger Körper straffte sich, sein Schädel flog in den Nacken …

„Also – – dann – – vorwärts, – schleppt die Jacht mit unserem feinen Motorboot in die Bucht … Kommt alle mit … Die Schurken hier sind uns sicher. Unsere Stricke reißen nicht …“

Seine Stimme schwoll immer mehr an …

„Ersäufen wir die Katzen, – verbrennen wir stinkendes Aas, – – macht schnell, damit wir wieder Frieden finden!“

Er ging breitbeinig zur Tür, die sechs Riesen folgten ihm, und die Tür schmetterte ins Schloß, die Planke knarrte, – – dann Stille …

George Saltorps graufahles Gesicht drehte sich hin und her, seine Stirn glänzte von eisigem Schweiß.

„Träumen wir das nur?“, fragte er heiser. „Lucille, Lucille, – – es ist deine Schuld!“

Das Mädchen war wieder zu sich gekommen. Plötzlich war sie sich ihrer Lage wieder bewußt.

„George, – – sie werden uns töten!!“, wimmerte sie mit versagender Stimme. „George, – – hilf mir, – – Herr Harst, helfen Sie uns, – – ich will nicht sterben, – – ich will – – nicht sterben, ich …“

„Und trotzdem erschossen Sie Fred Steen, der ebenso jung war wie Sie!“, sagte Harald eisig. „Sie haben hier in St. Juif damals im Frühjahr nach der Notlandung spioniert, Sie entdeckten die Prunkgrotte, Sie vermuteten heimliche Schätze, deshalb verlobten Sie sich mit George, deshalb sollte er mich hierher bringen, damit ich fände, was Sie nicht finden konnten! – Garberoll, wer ist Lucille Rostan?“

Der Franzose blickte das Mädchen drohend an. „Lucille, kennen Sie mich? Zweimal verhaftete ich Sie, – Harst, dieses Weib ist eine Rostan, aber ein faules Zweiglein einer Familie, die sie verstieß. Lucilles Freunde sind Banditen, Verbrecher, ihr Geliebter war der … Mörder Gagnard, der geköpft wurde … An demselben Morgen betrank sich Lucille vor Freude, denn – – sie hatte es nun auf St. Juif abgesehen und brauchte einen Gentleman als Verlobten, der Sie ködern sollte – – für St. Juif … – Ich bedaure, daß ich Ihnen, Mr. Saltorp, diese grausame Enttäuschung bereiten muß …“

George erwiderte kalt: „Sie irren sich, – ich wußte alles, ich wußte es – – durch den letzten Brief aus Nizza, den ein Verbündeter dieses Weibes dort aufgegeben hat … Ich bin nicht so töricht, wie es scheinen mag, – – die Fotografien von der Strandpromenade in Nizza, die sich Harst so sorgfältig angesehen hatte, weil auch er den Schwindel merkte, sind vom vorigen Jahr … Auf zwei Bildern sieht man eine Anschlagsäule, und die Plakate darauf künden das Motorbootrennen vom vorigen Jahre an, an dem ich selbst teilnahm, – – da, – wir fahren, wir werden in den Tod geschleppt …!“

Die Jacht schwankte leicht, – schwankte stärker, das Brausen der Brandung wurde lauter und lauter, – – plötzlich ging die Tür auf, eine Gestalt schlüpfte herein, und die totenblasse Jeanette flüsterte hastig: „Ich kann Sie jetzt noch nicht retten, – – fürchten Sie nichts … Ich bin im Vorschiff… bei… Fred Steens Leiche …“

Sie glitt wieder an Deck, prallte zurück …

Ein Riesenarm umfing sie …

„Gräfin“, sagte die mächtige Stimme des alten Pierre voller Vorwurf und doch mit aller Zärtlichkeit, „wollen Sie die Spione etwa erschießen?! Sie schießen so gut, – – aber ersäufen und verbrennen ist besser …!“

Er schlug die Tür zu …

Sein schreckliches Lachen gellte in der Bucht noch lauter als das Geschrei der aufgescheuchten Möwenschwärme.

Ich blickte Harald an.

Nun war ja unser Ende besiegelt. Pierre würde die Gräfin auf sein Motorboot nehmen und sie nicht mehr aus den Augen lassen.

Harst, der meinen trostlosen Blick aufgefangen hatte, sagte leise:

„Warten wir … Ich kenne Ihre Jacht besser als Sie, Freund George. Vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit, diesen armen Irrsinnigen zu entwischen …“

 

10. Kapitel.

Das Gold des Marschalls.

„Und welche?“, fragte George mutlos.

„Später …! Nicht jetzt! – – Still – – das Motorboot stoppt … Jetzt stößt die Jacht gegen Planken, – jetzt steigen Pierre und Jeanette hinüber, – – da, wir werden wieder geschleppt, wir sind allein … Und doch müssen wir warten, bis sie die Schlepptrosse loswerfen und unseren Motor laufen lassen … Dann erst ist es Zeit … – Ich habe Hoffnung …“

Lucille Rostan starrte als einzige regungslos auf die Tischplatte und ihre an den Nagel gefesselten Hände.

Garberoll schüttelte den Kopf. „Harst, ich fürchte, hier gibt es nicht viel zu hoffen … Meine Fesseln sind wie Eisendrähte. Trotzdem: Erzählen Sie uns jetzt, was Sie über das Geheimnis von St. Juif wissen …!“

„Alles!“, erklärte Harst mit Betonung: „Jetzt alles! Man braucht nur mit der Geschichte der Revolutionen in China leidlich vertraut zu sein, dann konnte man Pierres wirren Andeutungen alles entnehmen. Der Rebellengeneral Marschall Schankaichon mußte vor etwa vier Jahren China heimlich verlassen. Gerüchte wollten wissen, daß er einen Motorschoner bereithielt, der ihn und seine Reichtümer rechtzeitig in die Fremde bringen sollte. Der Schoner blieb verschollen, nur vor Jahren meldeten englische Zeitungen, es seien mehrere Chinesenleichen angespült worden. Zweifellos ist der Schoner hier draußen zwischen den Riffen gescheitert, während an Bord bereits die Beulenpest wütete. Ein Boot des Schoners mit den Goldkisten gelangte in die St. Juif-Bucht, die Chinesen starben an der Pest, und die St. Juifer öffneten eine der Kisten, fanden das Barrengold mit den chinesischen Zeichen, das Boot kenterte, versank, aber die St. Juifer beschafften sich Taucheranzüge, holten es heraus, und währenddessen … starb das Dorf durch die Pest langsam aus, und nur Pierre und seine Söhne blieben am Leben, ebenso die Gräfin. – Pierre Benoit, der zuerst aus Goldgier verabsäumt hatte, sich um die ersten Erkrankten zu kümmern und einen Arzt nach dem Dorfe zu holen, weil er eben die Krankheit nicht als Beulenpest erkannt hatte, besorgte dann Medikamente aus dem nächsten Hafen, – – als es leider schon zu spät war. Ich fand Arzeneiflaschen in den Häusern, und ich sagte mir daher schon damals, daß hier in St. Juif eine Seuche gewütet hatte, die wahrscheinlich Beulenpest gewesen sei. Zu Pierres Entschuldigung spricht weiter mit, daß ihm bekannt war, daß die Regierung das ganze Dorf der Verhütung der Ansteckung wegen niedergebrannt und auch Schloß St. Juif genau so vernichtet hätte. Er schwieg, er verfiel in Trübsinn, er verlor seine Frau, seine Töchter, und für ihn und seine Söhne wurde Jeanette der schützende Engel. Sie half dabei, die grausamen Folgen der Seuche vor aller Welt zu verbergen, sie suchte Pierre Benoit und seine sechs überlebenden Kinder vor dem nahenden Wahnsinn zu schützen, – – sie mag vieles getan haben, was ein Pharisäergemüt als schlecht, ungesetzmäßig verurteilen würde, aber was sie tat, tat sie aus Anhänglichkeit und Liebe zum alten, treuen Pierre. – Das wäre in großen Zügen die Geschichte des toten Dorfes, also das Geheimnis vom Schloß St. Juif, denn dieses Geheimnis streckt seine Fühler und Schößlinge durch die Verließe und die Grotte der alten Burg bis dorthin aus, wo in der Wassergrotte der Friedhof heimlich mit seinen Toten schlummert, streckt auch einen Seitenweg bis zu den zehn Kisten mit Barrengold aus, denn die Kisten enthalten Gold mit chinesischen Schriftzeichen, nicht Messingbronze, und ebenso endet einer der Seitenpfade vor dem alten Eichensarg mit den beiden Sehlöchern. In diesem Eichenkasten ruht obenauf ein Skelett, gewiß, – wer aber wie ich auch durch das Seitenloch schaute, erblickte Teile eines kupfernen Taucherhelms. Mithin liegen in dem alten Sarge unter dem Skelett die Taucheranzüge versteckt, die nicht von Ratten gefressen werden sollten, deshalb sprach ich von „Gummistoff“ … Garberoll hat mich sofort verstanden.“

„Ich gebe das zu“, nickte der Franzose. „Aber ich kam doch zu spät auf die richtige Erklärung der mit Giftmasse bepinselten Füße der Böcke des Sarges. – Etwas anderes, Harst … Hat Lucille schon im Frühjahr die Goldkisten gesehen? Wohl kaum …“

„Nein. Die Goldkisten werden irgendwo versteckt gewesen sein. Erst als die Gräfin Jeanette nach den Bildern in Sportzeitungen unseren George erkannte – sie hatte auch von seiner Verlobung mit Lucie Rostan gelesen –, glaubte sie, in uns dreien, die wir mit der „Berenice“ in der Bucht erschienen waren, Leute vor sich zu haben, die den Frieden von St. Juif bedrohen könnten. Sie wollte die Kisten im Meer versenken, aber sie kam nicht mehr dazu, die Ereignisse überstürzten sich, und das vorläufige Ende war der bei Pierre und seinen Söhnen ausbrechende Wahnsinn infolge der Erregung, als sie uns nachts im Wirtshaus in der Gaststube sahen, – nur dort können sie den Lichtschimmer bemerkt haben. Das alles sind jedoch derartige Nebensächlichkeiten, daß ich abschließend nur noch erklären will, daß fraglos noch mehr Goldkisten der Chinesen auf dem Grunde der Bucht ruhen, – wäre dies nicht der Fall, hätte Pierre die Taucheranzüge nicht so klug vor den Ratten geschützt, sondern sie versenkt. – Da – – ich bin gerade rechtzeitig fertig geworden, – – das Motorboot stoppt wieder, – – die Jacht stößt gegen das Boot, – – unser Motor springt an, und …“

Ein wahrhaft dämonisches Gelächter der armen Irren übertönte seine Stimme und das Gurgeln und Plätschern der Wogen. Die „Berenice“ kam in Fahrt, das höllische Lachen verklang, und wir starrten alle, alle Harst fragend an.

„Freunde“, sagte er ungewohnt lebhaft, „dieser Mitteltisch besitzt unten an seinem Fuß eine Leiste, die man nur herabzudrücken braucht, und der Tisch läßt sich aus dem Parkettboden herausheben. Ich fühle diese Leiste, – schiebt eure Stühle zurück, – – Achtung – – anheben!!“

Es glückte … Der dicke, viereckige Tischfuß stand nun neben einem quadratischen Loche im Parkett.

Gewiß, wir waren oben und unten an den Tisch festgebunden, aber die Stricke unten am Tischfuß ließen sich leicht herunterstreifen, und als wir erst einmal dies geschafft hatten, knotete Harst mit den Zähnen die Stricke vom Nagel los, so daß wir, wenn auch noch gefesselt, doch die Arme und Hände etwas benutzen konnten. Ich zerriß Haralds Hüfttasche, bekam sein Messer zu packen, öffnete es, – – und gleich darauf waren wir frei.

Harst war schon mit Garberoll an Deck gestürmt, um die Jacht durch die Riffe zu steuern. Es war die allerhöchste Zeit, – zwei Minuten später wäre die „Berenice“ als Wrack gesunken …

Auch ich stand nun mit am Heck, – der Nebel war nur leicht, wir fuhren mit halber Kraft, aber hinter uns her – ich sah’s zuerst! – rasten mit voller Geschwindigkeit das blaugraue Motorboot Pierre Benoits, und vorn am Bug drängten sich brüllende, wild drohende Gestalten, – Schüsse knallten, – – urplötzlich schwang sich drüben eine Frauengestalt über Bord und schwamm einer Klippe zu …: Die Gräfin Jeanette!

Wir wendeten sofort … Auch der alte Pierre suchte mit einem Bootshaken seine geliebte Herrin herauszufischen, das Motorboot stoppte, und klar und deutlich vernahmen wir Jeanettes helle Stimme:

„Pierre, – – entflieht!! Ich rette mich schon …!! Die Polizei ist hinter euch her!!“

Die grauenvollen Flüche des alten Mannes gingen in dem Lärm unter, den hier bei uns Lucilles toller Fluchtversuch hervorrief. Sie hatte einen Rettungsgürtel gepackt und war über Bord gesprungen, ‒ das unerbittliche Schicksal sprach hier das entscheidende Wort: Bevor wir noch recht begriffen, was geschehen, hatte das in voller Fahrt davonschießende Motorboot das Mädchen überrannt, – – ein letzter schriller Schrei, und das Drama von St. Juif war beendet!

Weder Lucilles Leiche wurde je gefunden noch hörte man jemals wieder etwas von Pierre und seinen Söhnen … Das Meer war auch ihr Grab geworden. –

Unseren armen Fred Steen begruben wir feierlich auf dem Grottenfriedhof, – er hatte keine Verwandten mehr, er hatte nur uns gehabt, und daß dieses Grab dort an der Bucht von St. Juif liebevoll gepflegt wird, wissen wir ganz genau, denn in jedem Brief, den entweder Jeanette, die jetzt Frau Saltorp heißt, oder ihr George uns schreiben, stehen stets einige Zeilen, wie sauber und freundlich Fred Steens letzte Ruhestätte im Schmuck der frischen Blumen sich ausnehme und wie würdig der Marmorstein wirke, – – und das ist uns ein großer Trost, unseren jungen Freund und Gefährten so gut geborgen zu haben – – inmitten des Geheimnisses von St. Juif, dem ich als Schlußwort nur noch eine Notiz einer Pariser Zeitung beifügen möchte:

„Die in St. Juif gefundenen Goldbarren des chinesischen Marschalls Schankaichon beweisen lediglich, daß die Freunde des räuberischen Marschalls, die das Gold für ihn zu Barren einschmelzen sollten, genau so üble Gauner waren wie er selbst. Die „Goldbarren“ haben sich bei näherer Untersuchung lediglich als leicht vergoldete Bleiklumpen herausgestellt.“

So schließt denn meine Geschichte mit einem ganz niedlichen, freilich uralten Worte der Weisheit: „Ein Gauner bestiehlt stets den andern“.

Frau Jeanette hat mir übrigens jenen Zeitungsartikel zugeschickt und geschrieben „George und ich sind sehr glücklich … sehr!! (Mit zwei Ausrufungszeichen). Wann besuchen Sie uns einmal? Vielleicht im Juli. Vielleicht feiern wir dann …“

Das nächste Wort war dick ausgestrichen. Harst entzifferte es trotzdem durch chemische Mittel als: „Kindstaufe“! – – Vor ihm ist eben nicht mal das diskreteste Geheimnis sicher.

 

Nächster Band:

Der Kongreß der Stummen.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Tausenfrancnote“.
  2. In der Vorlage steht: „Felsgrad“.
  3. In der Vorlage steht: „betrachtee“.
  4. Der Titel heißt auf französisch: „Quand l’Amour meurt“.
  5. Gemeint ist das Melodrama Enoch Arden von Richard Strauß. Die gleichnamige Oper von Ottmar Gerster wurde erst 1936, also nach dem Tod von Walther Kabel, uraufgeführt.
  6. Georges Bizet. Möglicherweise meinte Kabel hier die Oper „Das schöne Mädchen von Perth“.
  7. In der Vorlage steht „Jim“ (2 Mal).
  8. In der Vorlage steht „dn“.
  9. In der Vorlage steht „Zerstreung“.
  10. In der Vorlage steht „Seelöchern“.
  11. In der Vorlage steht „Gewaltätigkeit“.