Erlebnisse einsamer Menschen
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W. Belka.
Im Garten der großen Landwirtschaftsschule, die als Gefangenenlager für die in Plymouth von den deutschen Handelsschiffen herabgeholten Besatzungen in aller Eile eingerichtet worden war, standen an einem warmen Oktobernachmittag des Jahres 1914 hinter einer Dornenhecke ein breitschultriger Seemann mit leicht ergrautem Vollbart und zwei Knaben, – kräftige Burschen, die in ihren Matrosenanzügen trotz deren Abnutzung durch die nun bereits zehnwöchige Gefangenschaft ganz sauber und eigen aussahen.
„Gott mit Euch, Jungens!“ sagte Kapitän Leitner mit bewegter Stimme. „Es ist ein ziemliches Wagnis, das Ihr vorhabt. Aber ein Gelingen ist nicht ausgeschlossen, und deshalb will ich Euch nicht zurückhalten, zumal mir sehr viel daran liegt, daß die Papiere, die ich bisher den englischen Späheraugen glücklich entzogen habe, in die Hände meines Reeders in Emden gelangen.“
Nochmals schloß er seinen Sohn Heinrich jetzt in die Arme, drückte Fritz Burke die Hand und ging dann tiefer in den Garten hinein – schnellen Schrittes, um den Knaben zu verheimlichen, wie feucht es in seinen Augen schimmerte. –
Die beiden Schulfreunde – Heinrich hatte seinen um ein Jahr jüngeren Klassenkameraden während der Sommerferien auf dem von seinem Vater geführten Frachtdampfer mit nach England genommen, wo sie dann im Hafen von Plymouth durch den Kriegsausbruch überrascht wurden – hatten schon in den letzten Tagen allerlei Nahrungsmittel, die sich zum Mitnehmen eigneten, beiseite geschafft und in einer langen, schmalen Pappschachtel verpackt. Diese lag jetzt in einer leeren Tonne auf dem hinteren Hofe der Anstalt, die aus zwei im Quadrat erbauten Häuservereinigungen bestand. Jetzt begaben sie sich nach diesem Hofraum hin, um dort – alles in Verfolg eines schlau ausgeklügelten Planes – wie schon häufiger beim Abladen von soeben eingetroffenen Einrichtungsgegenständen für die Gefangenensäle zu helfen.
Die Betten, Schränke und Schemel waren auf zwei großen Tafelwagen von Plymouth herübergekommen und des drohenden Regens wegen mit Öltuchplanen bedeckt gewesen. Die mit Abladen beschäftigten Arbeiter kannten die Knaben bereits und hatten nichts dagegen einzuwenden, daß die kleinen Burschen sich hier nützlich machten. Auch der Posten, der den Eingang zu dem den Kriegsgefangenen verbotenen Wirtschaftshofe bewachte, ließ die Jungen stets ungehindert passieren, wie man ja überhaupt auf diese nicht besonders scharf acht gab, da man sie nicht recht für voll ansah.
Es dunkelte bereits, als auch der zweite Tafelwagen entleert war. Heinrich und Fritz schienen schon vorher von der Arbeit genug bekommen zu haben und waren mit einem Male verschwunden.
Jetzt setzten sich die mit je zwei Pferden bespannten Gefährte in Bewegung. Auf dem vorderen Wagen saßen wie immer die vier Arbeiter, die den Transport begleitet hatten, die kurzen Pfeifen im Munde.
Bei der Wache am Haupteingang gab es einen Aufenthalt. Der Korporal ließ sich den Passierschein zeigen, obwohl er die Leute längst kannte winkte dann gnädig, und die Wagen ratterten auf die Straße hinaus, um erst eine Viertelstunde später vor einer Kneipe in der Nähe des Hafens anzuhalten, wo die Kutscher und die Arbeiter schnell noch einen Abschiedswhisky zu sich nehmen wollten.
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Die Gegend hier inmitten der riesigen Lagerspeicher war jetzt menschenleer. Die Gäule der beiden Tafelwagen standen regungslos mit hängenden Köpfen da. Plötzlich kam in die Öltuchplane des zweiten Wagens, die bisher unordentlich zusammengeworfen in der Mitte der Plattform gelegen hatte, Bewegung hinein. Die eine Seite wurde vorsichtig gelüftet, und gleich darauf schwang sich erst Heinrich Leitner, dann auch Fritz Burke auf die Straße hinab. Beide glitten eilig in das Dunkel einer Lagergasse hinein.
Heinrich wußte hier gut Bescheid. Er war schon häufig mit dem Vater in Plymouth gewesen.
Recht dreist und ein paar Londoner Gassenjungen nachahmend, wandten sie sich nun den Kais zu, wo all die Schiffe der verschiedensten Nationen festgemacht hatten, um entweder ihre Ladung zu löschen oder neue einzunehmen. Heinrich rechnete damit, einen holländischen Dampfer zu finden, der alsbald nach der Heimat abging. Bald hatten die Knaben jedoch durch Studieren der Holztafeln, die am Kai vor jedem ankernden Schiffe angebracht waren und die Namen und Abfahrtzeit in Kreideschrift enthielten, festgestellt, daß der nächste Holländer erst in fünf Tagen „voraussichtlich“ abdampfte. Der Krieg hatte hier eben auch vieles geändert.
Das war eine bittere Enttäuschung für die beiden Flüchtlinge. Ihre Absicht war gewesen, sich an Bord eines Schiffes zu schleichen, sich dort zu verbergen und alles weitere der Vorsehung und ihrer eigenen Schlauheit zu überlassen. Dieser Plan scheiterte nun daran, daß kein Dampfer schon am nächsten Morgen abging und daß ihre Lebensmittel in der Pappschachtel nicht so lange ausgereicht hätten, bis man sich außerhalb des englischen Hafens befand. Auch der Durst würde sie gezwungen haben, ihr Versteck vorzeitig zu verlassen, und dann war ihnen die abermalige Internierung in dem Gefangenenlager und weit strengere Bewachung sicher.
Um zu beraten, was unter diesen Umständen zu tun sei, hatten sie sich hinter einem Stapel von Ballen und Kisten verkrochen, der vor dem Liegeplatz eines großen Dreimasters dicht am Wasser aufgeschichtet war. Ihre Aufmerksamkeit wurde dann nach einer Weile durch lautes Winseln auf einen großen Holzkasten gelenkt, der am nächsten nach dem Segler zu stand, bereits mit der Kette des Ladekranes umschlungen war und somit als nächstes Stück wohl gleich am Morgen an Bord befördert werden sollte.
In dem Kasten, der vorn ein Holzgitter hatte, befanden sich, wie die Knaben schnell feststellten, zwei große Wolfshunde, die mit weitheraushängenden Zungen jämmerliche Klagelaute ausstießen.
Die Aufschrift auf dem Transportkäfig verriet, daß die Tiere nach dem Hafen von St. Malo in Frankreich bestimmt waren, der Plymouth ungefähr gegenüber liegt, nur durch die Breite des Kanals getrennt.
Offenbar hatten die Hunde Durst. In dem Käfig befand sich ein leerer Blechnapf, und diesen angelte Heinrich nun geschickt heraus, nachdem er den Tieren eine Weile die Köpfe gekraut hatte, wofür ihm durch Händelecken und freudiges Winseln gedankt wurde.
Eine nahe Pumpe spendete das erquickende Naß, und dreimal füllte Heinrich den Napf, bevor der Durst der Tiere gelöscht war. Für diesen Liebesdienst wären die Knaben beinahe übel belohnt worden. Es fanden sich nämlich eine Menge Hafenarbeiter ein, und gleichzeitig flammten an Bord des Dreimasters zwei Bogenlampen auf. Die Arbeiter, die wohl argwöhnten, die kleinen Burschen wollten hier die Gelegenheit zu einem Diebstahl auskundschaften, jagten Heinrich und Fritz unter Drohungen weg, riefen auch nach einem Hafenwächter, so daß die Freunde schleunigst davonliefen, jedoch nicht weit. Der erfahrenere Heinrich schlüpfte in einen Stapel von Petroleumfässern hinein und teilte hier dem aufhorchenden Kameraden mit, daß der Dreimaster offenbar sofort den Rest seiner Fracht übernehmen und sicherlich dann in aller Frühe Plymouth verlassen werde.
„Mir ist nun ein guter Gedanke gekommen, Fritz, wie wir uns am leichtesten an Bord des Seglers schleichen und dort verstecken können“, fuhr Heinrich fort. „Der Transportkäfig für die Hunde ist sehr geräumig, der Boden dick mit Stroh und außerdem mit ein paar alten Säcken bedeckt. Gelingt es uns, in den Kasten hineinzukommen – die Hunde werden uns jetzt, wo wir sie getränkt haben, nichts tun –, so können wir uns an der Rückwand in dem Stroh verkriechen. Jedenfalls schlage ich vor, daß wir den Versuch wagen. – Vorwärts – wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Krampe des Vorhängeschlosses der Gittertür hoffe ich mit diesem Stück Eisenstange, das ich vorhin neben der Pumpe aufhob, herausziehen zu können.“
* * *
Eine Viertelstunde später hob der Dampfkran des Dreimasters, der den Namen „Antje van Grooningen“ führte, den Käfig an Deck, wo dieser auf dem Vorschiff seinen Platz erhielt.
Bei Morgengrauen spannte sich ein kleiner Schlepper vor den Segler, nachdem dieser von Polizeibeamten noch sehr sorgfältig wie jedes ausfahrende Schiff nach flüchtigen Gefangenen durchsucht war. Dem Hundekäfig schenkte man keine weitere Beachtung. Selbst der Matrose, der nachher den Tieren Futter und Wasser reichte, ahnte nicht, daß in dem halbdunklen Hintergrunde des Kastens zwei kühne Jungen versteckt waren.
Die „Antje van Grooningen“, zunächst nach St. Malo bestimmt, sollte diesen Hafen nie erreichen. Mittags bereits kam starker Nebel auf, dem ein heftiger Sturm mit Regenböen folgte. Das Unwetter wurde noch ärger, und der Kapitän des Dreimasters hatte sich daher bald genötigt gesehen, einen mehr westlichen Kurs zu steuern, um unter Wind der Insel Vannes, die halbwegs zwischen St. Malo und Brest zu suchen ist, vor Anker zu gehen.
Gegen neun Uhr abends erschütterte eine furchtbare Explosion das ganze Schiff. Das halbe Heck war durch eine treibende, von den Wogen gegen den Segler geworfene Mine fortgerissen worden, und in wilder Hast wurden nun die Boote zu Wasser gebracht und kamen mit der ganzen Besatzung auch glücklich vom Schiffe frei.
Heinrich Leitner merkte erst an der immer schräger werdenden Lage des Vorschiffes, was der Knall zu bedeuten gehabt hatte. Schleunigst verließen die Freunde nun ihr Versteck, um nicht zusammen mit dem Dreimaster wegzusinken. Ohne den geistesgegenwärtigen Freund wäre Fritz Burke verloren gewesen. Aber der Ältere wußte Rat. Die Boote waren bereits in der Dunkelheit verschwunden, und Rettung daher nur möglich, wenn man sich in aller Eile mit Korkwesten versah und womöglich noch einen größeren hölzernen Gegenstand in die See warf, an den man sich festklammern konnte.
Der zunächst ganz kopflose Fritz wurde bald wieder zuversichtlicher. In einem günstigen Moment flog dann der Transportkäfig, in den man noch schnell alle erreichbaren Schwimmwesten und Rettungsringe hineingeworfen hatte, um seine Tragfähigkeit zu erhöhen, über Bord. Die beiden Wolfshunde, die sich jetzt schon mit den Knaben sehr angefreundet hatten, sprangen dann, als diese sofort dem Kasten hinab ins Wasser folgten, ohne Zögern nach, wurden glücklich mit ihren Leinen an den Käfig festgebunden und machten nun den furchtbaren Kampf gegen die gierigen Wogen mit, der schließlich damit endete, daß nach Überwindung einer starken Brandung der Kasten mit den vier sich an ihn festklammernden lebenden Wesen in eine enge Wasserstraße zwischen zwei hohen Klippenreihen hineintrieb, wo es den beiden Freunden bald gelang, sich und die Tiere auf festes Land in Sicherheit zu bringen.
Völlig erschöpft, frierend und hungrig verbrachten Heinrich und Fritz mit ihren vierbeinigen Gefährten den Rest der Nacht zwischen kahlen Felsen, die ihnen aber wenigstens Schutz vor dem Sturme boten. In nächster Nähe tobte die Brandung, der Wind heulte und gelegentliche Regengüsse machten die Lage der Flüchtlinge auch nicht angenehmer.
Sobald es hell wurde – inzwischen war das Unwetter vorübergezogen – konnten die Freunde nun auch feststellen, wo sie sich eigentlich befanden.
Heinrich Leitner erklärte nach kurzer Umschau von einem hohen Felsen aus, daß sie auf den der Gruppe der Briennes-Inseln vorgelagerten Klippen gelandet seien. Es könne sich nur um die Briennes-Gruppe handeln, die, nördlich der Insel Vannes gelegen, jedem Seemann bekannt wären, der schon häufiger den Kanal passiert hätte, und deren Unwirtlichkeit und eigenartige Gestaltung ihnen den Namen Labyrinth-Eilande eingebracht hätten. Und dies mit vollem Recht, da es sich um einige hundert kleinster Inselchen handelte, die ganz eng beieinander lägen und von denen die Mehrzahl eigentlich nur als mächtige Felsen, bald in Form eines Turmes, bald als gekrümmte Hörner oder Kegel aus dem Wasser hervorragend, zu bezeichnen wären.
Bald sollten die beiden Knaben dieses Gewirr von Inseln und engen und breiteren Wasserstraßen auch genauer kennen lernen. Nachdem sie in der Nähe einige Möweneier gefunden und sich notdürftig gesättigt hatten (die Pappschachtel mit den Lebensmitteln war verloren gegangen), beschlossen sie, sich auf einem der Eilande einen vorläufigen Unterschlupf zu suchen. Aus der Transportkiste, den Schwimmwesten und Rettungsringen stellten sie sich dann eine Art von Floß her, auf dem sie, Holzstäbe der Gittertür als Stoßstangen benutzend, weiter nach Süden zu in das Insel-Labyrinth eindrangen. Die Hunde hatten sie eigentlich zurücklassen wollen, um sie später abzuholen, doch die beiden kräftigen Tiere, die jetzt schon eine große Anhänglichkeit an die Knaben zeigten, sprangen einfach ins Wasser und schwammen hinter dem plumpen Fahrzeug her, so daß man sie notwendig an Bord nehmen mußte. Diese Mehrbelastung hatte zur Folge, daß das Floß ziemlich tief heruntergedrückt wurde und man mit den Füßen dauernd im Wasser stand.
Heinrich lenkte bald in einen breiten Kanal ein, der von Nordost nach Südwest zu verlief und, eingerahmt von teilweise haushohen Uferwänden zahlreicher Eilande, gut siebenhundert Meter lang sein mochte. Er führte die Flüchtlinge ziemlich bis in die Mitte der Briennes-Gruppe hinein, endigte plötzlich vor einem steilen Felsen und zwang unsere Abenteurer daher zum Landen. Um jedoch das Floß nicht hier in dem breiten Fahrwasser so leicht sichtbar festzulegen, steuerte man in einen nach Westen zu sich hinziehenden ganz schmalen Kanal ein, in dem man dann auch eine flache Uferstelle fand, wo das schwerfällige Fahrzeug bequem festmacht werden konnte.
Zwei Stunden später hatten die Kameraden noch weiter im Südwesten der Gruppe, nachdem sie mehrere Wasserrinnen schwimmend zu überqueren genötigt gewesen waren, an einer unbesteigbaren Felsbarriere zufällig mehrere in das Gestein eingelassene, stark verrostete Steigeisen entdeckt, die es ihnen ermöglichten, die Felsenmauer zu erklimmen, die sich wie ein Wall um die mittelste und größte Insel der Gruppe herumzuziehen schien. Gerade das Vorhandensein dieser eisernen Stufen sagte ihnen, daß diese Felsenwildnis doch offenbar früher einmal von Menschen häufiger besucht worden sein mußte und daß vielleicht jenseits dieser Steinbarriere ein besonders sicherer Schlupfwinkel zu finden sein dürfte.
Ihre Annahme, bereits das mittelste der Eilande vor sich zu haben, erwies sich als irrig. Abermals stießen sie hinter der Felsenmauer auf kleine Inselchen von höchst phantastischen Formen und mit steilen, unzugänglichen Ufern, bis eine weitere Stunde mühseligen Umherirrens sie vor eine zweite Wand führte, in der sie, angebracht unter Buschwerk und Schlingpflanzen, abermals eine Reihe von Steigeisen vorfanden, die ihnen so den Weg nach einem Orte wiesen, bei dessen Anblick ihren Lippen ein lauter Ruf der Überraschung fast gleichzeitig entschlüpfte.
Sie hatten nach Ersteigung dieser zweiten Felsenmauer sich erst noch durch ein Gewirr hoher Blöcke hindurchzuarbeiten, ehe sich vor ihnen ein runder, vielleicht achtzig Meter breiter Talkessel zeigte, der nicht nur mit grünem Rasen bedeckt war, sondern auch in seinem östlichen Teile einen kleinen Teich, Sträucher, Büsche und ein Gehölz von Eichen, Kastanien und Edeltannen enthielt.
Die Freude der beiden Knaben über dieses fruchtbare Fleckchen Erde inmitten der Felsenwildnis der Briennes-Eilande läßt sich schwer schildern. Eiligst kletterten sie nun die Talwand hinab und besichtigten den „Garten Eden“, wie Fritz Burke den Felsenkessel begeistert nannte, ganz eingehend. Nirgends fanden sie eine Spur menschlicher Füße. Nichts deutete darauf hin, daß dieser Ort in letzter Zeit von irgend jemandem besucht worden sei. Diese Überzeugung, hier sich ganz sicher fühlen zu können, verscheuchte alle Niedergeschlagenheit aus den Herzen der Knaben, die der Schiffbruch und das schnelle Ende ihrer Seereise ebenso niedergedrückt hatten wie die Gedanken an die unsichere Zukunft.
„Hier gründen wir beide eine Kolonie“, meinte Heinrich Leitner gutgelaunt. „Passe nur auf, Fritz, wie gut wir es hier haben werden. Richtige Robinsons sind wir jetzt! Und nur von unserer eigenen Tüchtigkeit und unserem Erfindungsgeist wird es abhängen, ob wir wie die Wilden oder wie an gewisse Bequemlichkeiten gewöhnte Europäer leben werden.“ – –
Zwei Stunden später waren auch die Hunde nach dem Tale gebracht, – wahrlich keine leichte Aufgabe, da man die Tiere mit Hilfe ihrer zusammengebundenen Leinen auf die beiden Haupthindernisse, die Felsbarrieren, hinaufziehen mußte.
Die allermeiste Sorge war nun die Beschaffung von Nahrungsmitteln für Mensch und Tier. Das kleine Gehölz enthielt zum Glück achtzehn uralte Kastanien von der sog. eßbaren Art. Und diese Bäume waren so voller Früchte, daß man vorläufig sich ganz gut mit den gerösteten Kastanien durchhelfen konnte. Außerdem nisteten ja auch auf den Inseln zahlreiche Möwen, deren Eier gleichfalls den Speisezettel vermehrten. Freilich, für Max und Moritz, – so hatte Heinrich die Hunde inzwischen getauft –, mußte man notwendig auch Fleisch beschaffen. Die Tiere zeigten sich auch jetzt schon so ausgehungert, daß die Freunde beschlossen, der eine von ihnen solle im Tale bleiben und Kastanien rösten, während der andere auf Möweneiersuche ausgehen und gleichzeitig zusehen solle, ob er nicht einige Möwen durch Steinwürfe erlegen könne.
Heinrich übernahm freiwillig diese letztere, schwierigere Aufgabe. Er übergab Fritz vorher noch sein Luntenfeuerzeug, das erst in der Sonne getrocknet werden mußte, und brach dann mit einem frohen „Baldiges Wiedersehen!“ auf.
Es wurde ihm nicht leicht, den Weg zu den beiden Stellen, wo die Steigeisen eingelassen waren, wieder zu finden, obwohl er ihn nun schon zum vierten Male zurücklegte. Aber gerade dieses Suchen ließ ihn einen weit bequemeren Pfad bis zu der äußeren Felsenmauer entdecken, der den Vorteil bot, daß man trotz der dazwischenliegenden Inseln trockenen Fußes über in den schmalen Kanälen lagernde Klippen bis zu dem Floß hingelangen konnte. Als er dann nach dreistündiger Abwesenheit in das Tal zurückkehrte, hatte er sich seine Jacke wie einen Rucksack auf den Rücken gehängt und packte nun vor Fritz stolz die erbeuteten Herrlichkeiten aus: sechs Möwen, zwei Dutzend Eier und … vier verrostete, leere Konservenbüchsen, die er auf den Klippen im Nordosten der Gruppe gefunden hatte, wo offenbar vor nicht langer Zeit einmal Leute gelagert und sich eine Mahlzeit zubereitet hatten, – wahrscheinlich die Besatzung eines Fischerkutters, meinte Heinrich, da er auf See verschiedene kleine Segel bemerkt hatte, die er für Fangboote bretonischer Fischer hielt.
Auch Fritz war inzwischen nicht müßig gewesen. Er hatte mit Hilfe des Luntenfeuerzeuges glücklich ein Feuer in Brand bekommen, einen ganzen Haufen Kastanien gesammelt und davon einen Teil geröstet.
Die am Ufer des kleinen Teiches sorgfältig gereinigten Konservenbüchsen ergaben ganz leidliche Kochtopfe, in denen nun für Max und Moritz zwei zerkleinerte Möwen zusammen mit geschälten Kastanien gekocht wurden. Heinrich sorgte dafür, daß das Feuer stets mit trockenen Zweigen unterhalten wurde, um stärkeren Qualm zu verhüten, der leicht zum Verräter werden konnte.
Die beiden prächtigen Wolfshunde fraßen die für sie bereitete Mahlzeit denn auch mit Gier, zeigten sich auch später in der Kost wenig wählerisch, so daß die Flüchtlinge mit ihrer Verpflegung nicht allzuviel Mühe hatten.
Nachdem sie sich selbst gesättigt – mittlerweile war es etwa vier Uhr nachmittags geworden, wie Heinrich aus dem Stande der Sonne ungefähr zu berechnen wußte, machten sie, wie Heinrich sich ausdrückte, eine Bestandsaufnahme ihres gesamten Hab und Gutes.
Sie besaßen: Jeder einen vollkommenen Anzug, aber keine Kopfbedeckungen. Ihre Mützen hatten die Wellen der Brandung entführt. – Zwei Taschenmesser, zwei billige Nickeluhren nebst Ketten (die Uhren waren innen naß geworden und stehen geblieben) und andere, wertlose Kleinigkeiten des Inhaltes ihrer Taschen. Außerdem: zwei lederne Hundehalsbänder und zwei starke Hanfleinen, von denen jede etwa 1 einhalb Meter lang war. Schließlich das Floß.
Das war das tote Inventar der „Kolonie“, die Heinrich zu gründen beschlossen hatte. Das lebende bestand in Max und Moritz, die eigentlich nur als vierbeinige, gefräßige Gefährten ohne Nützlichkeitswert in Betracht kamen.
Somit begannen die Knaben ihr Robinsondasein eigentlich mit recht bescheidenen Mitteln. Aber Heinrich hatte auf seinem Ausfluge nach den Klippen, der ihm auch die vier Blechbüchsen eingebracht hatte, schon herausgefunden, wie man die geringen Besitztümer um manches wertvolles Stück vermehren könne.
Weit draußen auf den äußeren Riffen hatte er nämlich eine ganze Menge von angetriebenen Schiffstrümmern liegen sehen. Diese zu bergen, sollte nun die nächste Arbeit der beiden Robinsons sein. Hierzu durfte man freilich, um nicht etwa von einem vorüberfahrenden Fischerboote gesehen zu werden, nur die Stunden der Abend- und der Morgendämmerung benutzen.
Heute wollte man jedoch noch feiern. Sowohl Heinrich als auch besonders Fritz als der jüngere und schwächere fühlten sich nach den Schrecken und Anstrengungen der vorausgegangenen 24 Stunden so zerschlagen, daß sie nun schleunigst aus Zweigen sich eine kleine Nothütte errichteten, trockenes Laub und Gras als Lagerstätten darin aufhäuften und sich schlafen legten, während die Sonne noch über die westlichen Randfelsen des Tales, im Untergehen begriffen, hinweglugte.
Heinrich erwachte dann als erster. Der Morgen graute gerade. Schnell weckte der Ältere den noch fest schlafenden Freund, und gleich darauf eilten sie auf dem besonders Heinrich nun schon gut bekannten Wege nach dem Floße[1] hin. Die Hunde mußten zurückbleiben.
* * *
Diese erste Fahrt nach den Riffen weit draußen im Nordosten, wobei wieder der breite Kanal benutzt wurde, brachte reichen Gewinn. Außer Brettern und einigen Balken fanden die Knaben auch halbverfaulte Trümmer von Schiffen, die noch mit allerlei leicht loszulösenden Eisenbeschlägen versehen waren, außerdem aber auch den angetriebenen Mast eines Seglers mit einer Menge Tauwerk daran.
Das Brauchbarste von diesem Strandgut wurde sofort mitgenommen. Zu einer zweiten Fahrt nach den Riffen reichte die Zeit nicht mehr. Es war inzwischen schon zu hell geworden, und zwei in der Nähe der Riffe fischende Kutter warnten die Knaben eindringlichst vor jeder Unvorsichtigkeit.
Der Tag wurde wieder warm und schön. Ein richtiger Herbsttag mit durchsichtig klarem Himmel, leichtem Wind und erfrischender Luft. Die Freunde benutzten ihn dazu, sich zunächst einmal ein leichter zu regierendes Floß herzustellen.
Als der Abend nahte, brachen sie mit dem neuen Fahrzeug, für das sie sich sogar lange Ruder gefertigt hatten, abermals nach den Riffen auf. Da sie sich am Morgen gut gemerkt hatten, wo ungefähr noch für sie wertvolles Strandgut lag, erzielten sie auch jetzt eine ganz stattliche Beute an Holz und Eisenteilen.
Dieser Ausflug sollte jedoch nicht ohne einen aufregenden Zwischenfall abgehen.
Als das schwer beladene Floß, das noch einige Balken und Bretter im Schlepptau hatte, gerade auf der Rückfahrt bei ziemlicher Dunkelheit in den breiten Nordostkanal einbog, vernahm Heinrich plötzlich von See her taktmäßigen Ruderschlag. Nur mit Mühe gelang es den Freunden noch, schleunigst in einen Seitenarm einzubiegen und hier im Schatten einiger riesiger Klippen ihr Fahrzeug festzulegen.
Und dann wurden sie Zeugen, wie ein französischer Minendampfer in dem Nordostkanal Minen verankerte, hörten französische Kommandos, sahen Scheinwerfer aufblitzen, Ruderboote und Motorpinassen hin und her fahren und schwebten während zweier endloser Stunden beständig in Gefahr, von den Feinden entdeckt zu werden. Aus gelegentlichen Zurufen schlossen sie, daß die Minensperre hier angelegt wurde, um zu verhüten, daß etwa deutsche U-Boote die Briennes-Gruppe als gelegentlichen geheimen Stützpunkt benutzten.
Erst gegen elf Uhr abends lag der Kanal wieder einsam da. Die Minensperre kam nun den beiden Robinsons, die auf den Riffen noch so manches Brauchbare zu finden gehofft hatten, sehr ungelegen. Durften sie es jetzt doch kaum wagen, mit ihrem Floß bis in die Mündung des Nordostkanales hineinzurudern, wo, soweit sie gezählt hatten, etwa zwanzig Minen verankert worden waren. Anderseits aber waren sie jetzt auch sicher, daß kein Fahrzeug in diese Wasserstraße einlaufen würde.
Die am weitesten nach Süden zu versenkte Mine lag genau dem Seitenarm gegenüber, in den die Freunde sich mit dem Floß noch gerade im letzten Augenblick hatten hineinflüchten können. Jedenfalls war ihnen bei einiger Vorsicht der Rückweg nicht versperrt, und ohne Unfall gelangten sie denn auch wieder nach dem alten Liegeplatz des Floßes.
Am anderen Morgen überraschte Heinrich den Freund mit der Mitteilung, daß er sich vor dem Einschlafen die Sache mit der Minensperre habe nochmals durch den Kopf gehen lassen und entschlossen sei zu versuchen, das Floß durch die gefährliche Strecke hindurchzubringen.
Fritz wollte hiervon durchaus nichts wissen, bis der kaltblütigere ältere Gefährte über seine Absichten nähere Erklärungen abgab.
„Wenn wir die Minensperre nicht passieren lernen, sind wir in unserer Bewegungsfreiheit vollständig gehindert. Die anderen Wasserrinnen sind zu eng und zu verzweigt, um sie für unsere Zwecke, das Bergen von Strandgut, benutzen zu können. Ich habe nun folgendes vor. Das Wasser in der Mündung des Kanales ist meist ruhig, außerdem auch so klar, daß es nicht schwerfallen kann, die einzelnen Minen unter Wasser zu entdecken und die Stellen, wo sie liegen, auf irgend eine Weise zu kennzeichnen. Wir werden daher sofort nach dem Kanal rudern und mit aller Vorsicht das Minenfeld in Augenschein nehmen.“
Fritz hatte noch immer große Bedenken, mußte dem Freunde aber insofern recht geben, als die meisten der schönen Pläne, die man geschmiedet hatte, in nichts zerrannen, sobald man die äußeren Riffe mit ihrem Segen an Strandgut nicht mehr erreichen konnte.
So wurde denn wirklich sofort aufgebrochen, nachdem für die treuen Hunde, die von Tag zu Tag trotz ihrer englischen Herkunft weitere gute Charaktereigenschaften verrieten, das Fressen gewärmt worden war und die Knaben selbst ein paar in der Herdasche liegende geröstete Kastanien verzehrt hatten. Heinrich ließ noch eine Anzahl Taue und Stricke mitnehmen, ebenso auch eine Anzahl recht buschiger Äste von den Edeltannen.
Gerade als die Sonne aufging, befanden sich unsere Robinsons mit ihrem Floß an Ort und Stelle. Der Wind kam von Westen, und das Wasser des Kanales war daher fast überall glatt und ruhig wie ein Teich. Die den Kanal umsäumenden hohen Klippen hielten eben jede Luftströmung ab.
Die südlichste Mine war bald gefunden. Sie lag wie alle übrigen etwa 1 Meter unter der Oberfläche. Es war deshalb auch nicht weiter schwierig, eine Leine an der Ankerkette dicht unter der Mine zu befestigen. Dies geschah in der Weise, daß eine große Schleife gemacht wurde, die Heinrich schwimmend über den kugelförmigen Sprengkörper brachte. Nachdem die Schleife dann vom Floße aus zugezogen war, wurde in die Leine ganz dicht über der Mine ein Stück Kork von einer der Schwimmwesten angebunden, nachdem in den durchlöcherten Kork ein grüner Tannenzweig gesteckt worden war. Diese grüne Boje genügte vollauf, um die Stelle zu kennzeichnen, wo das gefährliche Weghindernis lag.
Zwei Stunden Arbeit reichten hin, um die Minensperre in dieser Weise sozusagen unschädlich zu machen. Heinrich meinte noch, die ganze Mühe sei eigentlich ziemlich überflüssig gewesen, da ihr Floß ja kaum einen halben Meter Tiefgang habe, also gar nicht die Sprengkapseln der großen Eisenkugeln berühren könne, aber … sicher sei sicher!
* * *
Am 12. November hatten die Robinsons dann so viel Baumaterial zusammen, daß sie mit der Errichtung einer Hütte beginnen konnten, die ihren Platz unter einer riesigen, uralten Kastanie dicht am Ufer des buschwerkumgebenen Teiches fand. Inzwischen waren sie auch nicht müßig gewesen, sich aus den gefundenen Eisen allerlei Handwerkszeug zu schmieden, die aus den Wrackstücken gezogenen Nägel wieder gebrauchsfähig zu machen und Bretter und Balken für den Hüttenbau vorzubereiten.
Deshalb nahm die Errichtung des kleinen Wohnhauses auch nicht allzu viel Zeit in Anspruch. Wenn es auch nur ein Bretterhäuschen mit einem nach hinten abgeschrägten Dach war, so machte es doch einen recht freundlichen Eindruck, zumal man es mit Kletterwinden rings umpflanzt und die Ranken an den Wänden an kleinen Holzpflöckchen festgebunden hatte. Freilich, den beiden Seitenfenstern fehlten die Scheiben; dafür besaßen sie aber Laden, die bei schlechtem Wetter Regen und Wind abhielten.
Mit jedem Tage schufen die beiden Freunde, von denen besonders Heinrich einen ausgesprochenen Sinn für das Praktische besaß, sich weitere Bequemlichkeiten, schnitten sich Teller aus Holz, ebenso Löffel und noch manchen anderen Haushaltungsgegenstand, vervollkommneten auch ihre Werkzeuge und waren so imstande, auch feinere Arbeiten auszuführen. Selbst Angelhaken schmiedeten sie sich und legten dann in dem Kanal, der recht fischreich war, Angelschnüre aus, die regelmäßig guten Fang lieferten. Ein Teil der Fische, darunter z. B. eine Art großer Makrelen, wurde auch in dem von Heinrich zum Räuchern eingerichteten Herde scharf geräuchert und für den Winter als Vorrat zurückgelegt.
Überhaupt sorgten die Robinsons sich für die bevorstehende kalte Jahreszeit, die hier an der Küste der Bretagne recht rauhes Wetter bringen mußte, aufs beste ein. Die Ernte an eßbaren Kastanien war recht beträchtlich gewesen. Die Früchte wurden in der Nähe des Herdes trocken gelagert und hielten sich sehr gut. Fritz wieder war es gewesen, der den Vorschlag machte, man solle versuchen, aus dem Mehl zwischen Steinen zerriebener Kastanien Brot zu backen. Übung machte auch hier den Meister. Die ersten Versuche schlugen fehl. Schließlich gelang es den Freunden aber doch, ein ganz leidliches Brot herzustellen. Erwähnt sei noch daß sie auch, um das etwas sumpfig schmeckende Wasser des Teiches genießbarer zu machen, die im Tale zahlreich vorhandenen Pfefferminzkräuter einsammelten und mit deren Hilfe einen aromatischen Tee bereiteten, den sie auch kalt genossen.
Alles das im einzelnen zu schildern, was die Freunde an kleinen und größeren Arbeiten verrichteten, um sich ihr Leben behaglicher zu gestalten, ist nicht gut möglich. Als frische, unternehmungslustige Jungen nahmen sie sich in vielem ihren berühmten Vorgänger Robinson Krusoe zum Muster. Daß sie nicht vergaßen, sich auch Waffen anzufertigen, ist selbstverständlich. Außer Wurfspeeren und Wurfbeilen stellten sie sich Bogen und Pfeile her. Im Gebrauch des Bogens waren sie bald so geübt, daß sie auf den Felsen ausruhende Möwen bis auf dreißig Schritt mit Sicherheit erlegten.
Mitte November machte sich dann der nahende Winter schon recht unangenehm bemerkbar. Es gab schwere Stürme, viel Regen, und auch einige starke Herbstgewitter. Nun tauchte die Frage nach warmen Kleidungsstücken immer dringender auf. Die blauen Matrosenanzüge der Knaben waren schon recht schadhaft. Heinrich erklärte sogar eines Tages: „Wir sehen wie die Strolche aus.“ – Das ließ sich nun freilich nicht abändern. Aber für die Beschaffung warmer Unterkleider und Decken hatte Fritz Burke einen guten Gedanken: die Bälge der erlegten Möwen wurden sorgfältig gesammelt und nach manchem mißglückten Versuch auch auf besondere Art weich gegerbt. Aus den gereinigten, eingefetteten und geräucherten Vogeldärmen wieder gewann man das nötige Nähmaterial. Die Nadeln gerieten zwar nicht besonders, erfüllten aber doch zur Not ihren Zweck. So wurden nun sowohl die Jacken und Beinkleider als auch das Unterzeug mit den weichen Möwenbälgen gefüttert, ebenso wie für die Kastenbetten auch Decken in derselben Weise hergestellt wurden.
Ende November gab es dann wieder ein paar sonnige, windstille Tage. Gleich den ersten benutzten die Freunde zu einem Ausflug nach den Riffen. Zwei Wochen hatten sie sich nicht aus den Kanal hinauswagen können, da die See zu unruhig war. Heinrich hoffte heute auf besonders reiche Beute. Aber nicht viel hätte befehlt, und die Robinsons wären auf dieser Fahrt samt ihrem Floß in die Luft gesprengt worden.
Als sie sich gerade der Minensperre näherten, bemerkte nämlich Fritz in dem infolge der Stürme ziemlich trüben Wasser einen dunklen Gegenstand, über dessen Natur sie sich nicht klar werden konnten. Daran, daß eine der Minen sich von ihrer Verankerung gelöst haben könnte, dachten sie nicht im entferntesten. Vielmehr glaubten sie, es handelte sich um irgend einen Tiefseefisch von abenteuerlicher Form, der sich hierher verirrt hätte.
Von Jagdeifer erfaßt ergriff Heinrich daher seinen Speer und stieß, sich weit vorbeugend, nach dem seltsamen Ding, traf auch und … taumelte erbleichend zurück, da er erst durch den Stoß gemerkt hatte, daß die Speerspitze an einer eisenharten Haut Widerstand fand. Gleichzeitig sah er nun auch die oben angebrachte Zündkapsel des Explosivkörpers. Doch die befürchtete Wirkung des Stiches trat zum Glück nicht ein. Das Floß glitt vorüber, und die Gefahr war vorläufig vorbei …
Vorläufig! – Heinrich sagte sich mit Recht, daß die treibende Mine sehr leicht von der den Kanal in schwer zu bestimmender Richtung durchziehenden Strömung gegen eine vorspringende Felszacke geworfen werden und explodieren könne, bevor man sich mit dem Floß genügend weit entfernt habe. Außerdem bedeutete sie, selbst wenn dieser Fall nicht eintrat, eine stete Bedrohung für diese Fahrrinne, in der die Robinsons ja auch ihre Angeln auszulegen pflegten.
Es war also unbedingt nötig, die Mine irgendwie zu beseitigen. Und zwar mußte dies sofort geschehen.
Mit aller Vorsicht wurde das Floß wieder näher an die Eisenkugel herangebracht und die Schleife eines Taues glücklich darüber geworfen, die sich auch ganz nach Wunsch um die Ankerkette dann zusammenzog, so daß man diese hochnehmen und einen schweren Felsblock sicher daran befestigen konnte, der den großen Sprengkörper wirklich in die Tiefe des Kanales hinabzog, so daß er nun etwa zwei Meter unter der Wasseroberfläche wieder festlag. Außerdem hatte Heinrich noch an der Ankerkette eine ähnliche Boje angebracht, wie man diese an die Minen der Sperre seiner Zeit angebunden hatte. Auch die nun wieder neu verankerte Mine war mit einem solchen Warnungszeichen versehen gewesen, das sich aber ebenfalls losgerissen haben mußte.
Durch diese gefährliche Begegnung zur Vorsicht gemahnt, näherten die Freunde sich jetzt mit größter Behutsamkeit dem Minenfelde, fanden dieses aber im übrigen im alten Zustande vor. Die Korkstücke mit den Tannenzweigen darin waren noch sämtlich bis auf eins vorhanden und zeigten, daß die anderen Sprengkugeln noch auf ihren Plätzen lagen.
Endlich hatte man nun nach diesem Aufenthalt das Ende des Kanales erreicht, wo die niedrigeren Riffreihen begannen. Über der See lagerten leichte Nebelmassen, gegen die die aufgehende Sonne vergebens ankämpfte. Weit vermochte man bei dieser diesigen Luft (diesig, rein seemännischer Ausdruck für die Fernsicht behindernde Dunstmassen) nicht zu sehen. Und doch bemerkte Fritz Burke sofort jenseits der äußersten Riffe, wo heute bei dem schwachen Südwind nur eine kaum wahrnehmbare Brandung stand, einen riesigen Gegenstand, der langsam nach Nordosten zu mit einer von den Knaben hier längst festgestellten Strömung weitertrieb. Wie ein oben abgerundeter Hügel ragte es dort aus dem Wasser heraus. Die Nebelschwaden machten die Umrisse des merkwürdigen Dinges so undeutlich, daß schon Heinrich Leitners scharfe Augen dazu gehörten, um in diesem Gegenstande das Wrack eines Dampfers zu erkennen, das mit dem Heck steil aus den Fluten hervorschaute, während das Vorschiff senkrecht fast nach unten hing.
„Ohne Zweifel ein torpedierter Dampfer, der Holz geladen hat und nun in dieser seltsamen Stellung auf seiner Ladung schwimmt!“ rief Heinrich erregt. „Vorwärts, – sehen wir zu, ob wir nicht an Bord gelangen können. Vielleicht finden wir dort noch etwas Mitnehmenswertes.“
Mit Eifer wurden nun die Ruder bewegt. Heinrich berechnete genau, daß das Wrack dicht am Rande der östlichsten Riffreihe vorüberkommen mußte, steuerte dorthin und dann dem Dampfer entgegen. Je mehr das Floß sich dem Wracke näherte, desto deutlicher konnte man darauf allerlei Einzelheiten unterscheiden. Es hing wirklich mit dem Bug nach unten, während das Heck, Schraube, Steuer und etwa ein Drittel des Schiffskörpers, sich über Wasser befanden.
Sehr langsam und schwerfällig hin und her pendelnd trieb der Dampfer dahin. Heinrich lenkte das Floß jetzt um ihn herum. Bisher hatte man nur den Schiffsboden und die Steuerbordwand vor sich gehabt.
Fritz Burke war es, der nun plötzlich auf der Rückwand des hinteren Kajütaufbaues vier Tiere bemerkte, die ängstlich dicht aneinander gedrängt dastanden. Eben wollte er den Freund auf diese merkwürdigen Schiffsbrüchigen aufmerksam machen, als ein klägliches Meckern ertönte …
„Hurra – Ziegen!!“ schrie Heinrich ganz begeistert. „Die müssen mit …!“
Und schon drückte er das Floß ganz dicht an das Wrack heran.
Die unsichere Zufluchtstätte der armen Tiere lag nur etwa anderthalb Meter über dem Wasserspiegel. Daher war es auch nicht allzu schwierig, die vier Ziegen auf das Floß zu schaffen. Immerhin erforderte dies aber doch so viel Zeit, daß der Dampfer mittlerweile beinahe aus Sicht der äußersten Riffe gekommen war und die Freunde sich beeilen mußten, die Rückfahrt anzutreten. Zu einer Durchsuchung der noch aus dem Wasser herausragenden Seite des Schiffes blieb ihnen also keine Zeit. Trotzdem waren sie mit dem Ergebnis dieses Abenteuers mehr als zufrieden.
Die Ziegen, durch die Nähe der Menschen jetzt wohl von ihrer Todesangst erlöst, hatten sich auf dem Floße erschöpft niederlegt. Heinrich erging sich nun, während man kräftig die Ruder gebrauchte, in allerlei Plänen, wie man diese Bereicherung des lebenden Inventars der Kolonie zu einer willkommenen Ergänzung des Speisezettels ausnützen könne, plante sofort den Bau eines Stalles und einer Hürde für die neuen vierbeinigen Gefährten, erklärte, daß man jetzt sofort noch möglichst viel Gras hauen müsse, um es als Heu für die Ziegen verfüttern zu können, und streichelte immer wieder die glücklich Geretteten, die ihm dankbar die Hand leckten.
Gerade als man wieder in den Kanal einbog, tauchte aus den leichten Nebelschleiern ein Fischerkutter auf, der offenbar Eile hatte, das Wrack schnellstens zu erreichen. Die Leute im Boot mußten das Floß unfehlbar gesehen haben, kümmerten sich aber nicht im geringsten darum.
Heinrich als der in allen seemännischen Dingen Vertrautere zeigte jetzt auf einen zweiten, mehr von Nordwest kommenden Kutter.
„Die Fischer halten uns fraglos für Schiffbrüchige von der Besatzung des treibenden Dampfers“, sagte er spöttisch. „Jetzt ist ihnen das Wrack aber wichtiger als wir, denn dasjenige Boot, welches es zuerst erreicht, hat alleinigen Anspruch auf alles, was sich daraus noch bergen läßt. Daher also diese Wettfahrt zwischen den beiden Fahrzeugen.“
Die Kutter verschwanden wieder in den Dunstmassen. Das konnte unseren Robinsons nur angenehm sein, da die Fischer so nicht feststellen konnten, wo das Floß blieb.
Nach einer Stunde waren die Ziegen glücklich in das Tal geschafft, wo sie sich sofort mit Gier über das Gras hermachten.
Max und Moritz, die beiden Wolfshunde, benahmen sich zunächst wenig kameradschaftlich gegenüber den neuen Mitgliedern der Kolonie. Aber ein paar Jagdhiebe mit dem Speerschaft, die Fritz ihnen versetzte, genügten vollauf, um den klugen Tieren ein für allemal klarzumachen, daß die Ziegen fortan mit zum Hauswesen gehörten.
Noch an demselben Tage wurde etwas abseits von der Hütte ein Stall und eine Hürde für die Ziegen gezimmert, ebenso auch gleich mit dem Einernten des Grases begonnen, eine Arbeit, die auch noch die zwei folgenden Tage in Anspruch nahm.
Das Geschäft des Melkens besorgte Heinrich, der sich überhaupt am meisten mit der Besorgung der Wirtschaft, Kochen, Backen, Räuchern usw., befaßte, während Fritz Burke mehr als Handwerker sich betätigte.
Jedenfalls kannten die beiden Freunde keine Langeweile. Hatten sie gerade nicht sehr dringende Arbeiten zu verrichten, so lebten sie nach einer bestimmten Tageseinteilung, die freilich häufig genug auch durch die Witterung umgeworfen wurde.
Mit Hellwerden erhoben sie sich von ihrem Lager, hielten am Ufer des Teiches große Morgenwäsche ab und frühstückten dann. Hierauf wurde zumeist erst ein Ausflug nach einer Felskuppe im Süden des Tales unternommen, von wo aus man bei klarem Wetter die Insel Vannes und auch die bretonische Küste gut erkennen konnte. Gewöhnlich endete dieser Spaziergang mit einer Jagd auf Möwen oder einer Floßfahrt. Die Angelschnüre wurden gehoben, die gefangenen Fische von den Haken genommen und diese mit frischem Köder besteckt. Dann kehrte man nach dem Tale zurück, wo Heinrich sich an die Zubereitung des Mittagsessens machte, während Fritz sich auf andere Art beschäftigte. Nach der Mahlzeit übten die Freunde sich stets im Gebrauch ihrer Waffen, schossen mit Pfeilen nach allen möglichen Zielen, schleuderten die Speere und die Wurfbeile nach einer abgestorbenen Eiche und versuchten sich auch als Tierdresseure, wobei es für Max und Moritz stets mehr Lobsprüche als Tadel abgab, da die Hunde alles spielend leicht begriffen. Auf diese Stunden der Zerstreuung folgten zumeist kleinere häusliche Verrichtungen oder eine längere Floßfahrt. Diese war stets insofern etwas aufregend, als die Knaben ja jeden Augenblick damit rechnen mußten, vielleicht bretonischen Fischern zu begegnen, die einmal die Briennes-Gruppe besuchten. Deshalb benahmen die kleinen Abenteurer sich auf diesen Ausflügen zu Wasser auch stets „wie die Indianer auf dem Kriegspfade“, wie Heinrich die ganze Art des vorsichtigen Vordringens in das Labyrinth der zahllosen Wasserstraßen bezeichnete. Aber gerade das Bewußtsein einer möglicherweise lauernden Gefahr gab diesen Fahrten einen gewissen Reiz. Mit der Zeit wagten unsere Robinsons sich immer weiter auch nach Süden und Osten zu, und stellten so fest, daß es im Südwesten und Südosten noch zwei andere, dem Nordostkanal ähnliche breite Wasserstraßen gab, die an ihren Mündungen jedoch ebenfalls durch Minenfelder gesperrt waren. Zweimal geschah es bei diesen längeren Fahrten, daß man unweit der Außenriffe französische Wachtschiffe, Torpedozerstörer und armierte Dampfer, beobachtete, die offenbar auf ein deutsches U-Boot Jagd machten. Als die Freunde die Ziegen von dem Wrack herabholten, wußten sie schon in den zahllosen kleineren Kanälen so gut Bescheid, daß sie sich mit größter Sicherheit überall zurechtfanden. Sie betrachteten sich sozusagen als die Herren der Briennes-Gruppe, die ihnen ja auch als Jagdgebiet auf Seevögel und Fische allein zur Verfügung stand. – Der Abend war für die Freunde wieder die Zeit behaglichen Ausruhens. Die immer kürzer werdenden Tage mit dem früheren Einbruch der Dunkelheit zwangen sie, sich auch künstliche Beleuchtung zu schaffen. Ausgeschmolzenes Möwenfett und ein Docht aus den Hanffasern eines Schiffstaues ergaben in einer flachen natürlichen Steinschale, die man bei einem der Ausflüge gefunden hatte, eine bescheidene Lichtquelle. Oft genug saßen sie dann in ihrer Hütte an kühlen Abenden und schmiedeten allerlei Pläne, wie man in die deutsche Heimat zurückkehren könne. Die Hunde lagen zu ihren Füßen, schliefen und winselten im Traum. Draußen rauschten die Bäume, und in der Ferne brandete die See und sang ihr gleichmäßiges, erhabenes Lied. – Die Einsamkeit, in der die beiden Freunde, nur aufeinander angewiesen, lebten, die Notwendigkeit, für sich selber sorgen zu müssen, und der stete innige Verkehr mit der Natur sowie die ganze wildromantische Umgebung dieses kleinen, fruchtbaren Fleckchens Erde ließen die Knaben schneller auch geistig ausreifen, als dies unter anderen Verhältnissen geschehen wäre. Körperlich gediehen sie bei diesem Leben prächtig. Besonders Fritz Burke, früher ein etwas schmächtiger, blasser kleiner Kerl, war tüchtig in die Breite gegangen, während sein Gesicht von Wind und Wetter genau so gebräunt war wie das seines älteren Kameraden. Mit einem Wort: das Robinsondasein bekam beiden sehr gut, und wenn nicht die Sehnsucht nach Hause gewesen wäre, hätten sie sich als Kolonisten auf den Briennes-Inseln restlos glücklich und zufrieden gefühlt. – –
* * *
Nachdem das Heu gut eingebracht und in dem neuen Stalle unter dem Dache gelagert worden war, wollte Heinrich nunmehr das nachholen, was man des Wrackes und der Ziegen wegen bei dem letzten Ausflug versäumt hatte: das Absuchen der Riffe nach Schiffstrümmern, nach Strandgut überhaupt.
Das Wetter war jetzt noch immer sommerlich warm nach der langen Sturmperiode. So wurde denn am fünften Tage nach dem Zuzug der neuen milchspendenden Gäste das Floß eines Morgens flott gemacht und nach den Außenriffen gerudert. Hier fanden die Freunde zu ihrer Überraschung außer allerlei Brettern und Planken gut ein Dutzend angeschwemmte Rinder- und Pferdekadaver, ekelhaft aufgetrieben und einen häßlichen Anblick darbietend.
Daß die Rinder zu einem Viehtransportdampfer gehört hatten, den ein deutsches U-Boot zu den Fischen hinabschickt hatte, war ziemlich sicher.
Mit Genugtuung besprachen die Freunde dieses Ereignis. Aber Heinrich gewann ihm auch eine nützliche Seite ab.
„Vielleicht gelingt es uns, ein paar von den Kadavern abzuhäuten“, meinte er. „Das Leder könnten wir gut gebrauchen. – Sieh, Fritz, dort weiter nach Westen hin liegen auch einige Kälber. Ich denke, bei denen versuchen wir zunächst unser Glück.“
Es war ein hartes, wenig angenehmes Stück Arbeit. Aber es gelang schließlich doch, wenn auch erst nach mehreren Stunden. Und mit einer Ausbeute von fünf Kälber- und zwei Rinderhäuten sowie einer Menge von Brettern und Eisenteilen kehrten unsere Robinsons gegen Mittag nach ihrem Tale zurück.
Fritz begann gleich am Nachmittag mit dem Reinigen und Zurechtmachen der Häute für das spätere Gerben. Gerade als dann der erste Schnee Mitte Dezember fiel und eines Morgens auch der Teich mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war, hatten die Knaben ihre neuen Lederanzüge fertig, ebenso sandalenähnliche Schuhe und auch Kopfbedeckungen, – alles sauber gearbeitet und sogar mit Muscheln und an den Nähten der Beinkleider und Ärmel mit Mähnenhaaren der Pferdekadaver verziert, die man bei einem späteren Ausfluge nach den Riffen mitgenommen hatte.
Mit dem Eintritt des eigentlichen Winters änderte sich vieles in der Lebensführung unserer Robinsons. Zuweilen mußten sie der Ungunst der Witterung wegen ganze Tage daheim bleiben. Diese Zeit benutzten sie dazu, allerlei zierlich geschnitzte Hausgeräte anzufertigen und ihren Vorrat an eisernen Nägeln durch Schmieden von neuen aus Eisenstücken zu ergänzen.
Im allgemeinen war der Winter aber, abgesehen von heftigen Stürmen, ziemlich mild und ging schneller vorüber, als die Freunde gedacht hatten. Bereits Anfang März sproßten die ersten frischen Grashalme hervor, und von Tag zu Tag wurde der Rasenteppich des Talkessels grüner und üppiger, vergrößerten sich auch die Blattknospen an den Bäumen.
Nach der Winterpause gab es nun für unsere Robinsons allerlei zu tun. Vierzehn Tage vergingen fast, ehe sie ihre Wirtschaft wieder völlig in Ordnung hatten.
Gleich bei dem ersten Ausfluge mit dem Floße sahen sie auch, daß die kunstlosen Bojen, die sie an den Minen der Sperre des Nordostkanals befestigt hatten, sämtlich entfernt und die Minen selbst an anderen Stellen verankert waren. Daß dies von einem französischen Kriegsfahrzeug bewerkstelligt war, unterlag keinem Zweifel. Sehr wahrscheinlich hatten die Franzosen angenommen, deutsche U-Boote waren es gewesen, die die Bojen hergestellt hatten. Diese Vermutung war ja auch recht naheliegend.
Die Freunde verzichteten darauf, die Minensperre abermals durch Korkstücke und Tannenäste zu kennzeichnen. Inzwischen hatten sie die Angst vor den gefährlichen Eisenkugeln überwunden, die, wenn man nur vorsichtig war, kaum Schaden bringen konnten.
Ende April erlebten die Knaben dann ein recht interessantes Schauspiel.
Französische Kriegschiffe hielten im Süden der Briennes-Gruppe Scharfschießen nach schwimmenden Scheiben ab. Heinrich und Fritz, durch den Geschützdonner auf ihren Ausguckturm, die Felskuppe, gelockt, wagten es, sich die Schießübung aus nächster Nähe von einer kleinen Insel aus anzusehen, freuten sich über die geringe Anzahl von Treffern und bedauerten, daß kein deutsches Tauchboot die Franzosen bei dieser Munitionsverschwendung störte.
* * *
Zehn Tage später, am 2. Mai 1915, sollte es dann für unsere Robinsons ein weit aufregenderes Ereignis geben.
In der Nacht kurz vor Tagesanbruch hörte Fritz, der gerade munter geworden war, in kurzen Abständen mehrere Kanonenschüsse, deren Schall der Wind offenbar von der Insel Vannes herübertrug. Dort ankerten häufiger französische Kriegschiffe, und Fritz nahm daher an, daß es sich vielleicht um die Jagd auf ein deutsches U-Boot handelte.
Er weckte also den Freund, und beide erkletterten nun, während noch nächtliche Dunkelheit über der Briennes-Gruppe und dem Meere lagerte, die Felskuppe im Süden und hielten von hier scharf Ausschau, ob sie nicht etwas Besonderes wahrnehmen könnten.
In weiter Ferne liefen weiße Streifen über die See hin, – kreuzten sich wie blitzende Degenklingen, tasteten hinein in das Dunkel wie die Fühlfäden eines gespenstischen Ungeheuers.
„Es gilt fraglos einem unserer U-Boote“, meinte Heinrich erregt.
„Hoffentlich entkommt es“, fügte Fritz hinzu.
Eine Viertelstunde verstrich. Im Osten wurde der Horizont lichter und lichter. Aber die Schatten der Nacht verhüllten noch das Meer und die Vorgänge, die sich dort im Südwesten nach der Küste der Bretagne zu abspielten.
Dann packte Fritz des Freundes Arm mit hartem Griff.
„Hörst Du …?! Das ist doch das Geräusch des Propellers einer Flugmaschine …!“
Das kennzeichnende Brummen wurde stärker, kam näher.
„Ich begreife das nicht“, flüsterte Heinrich atemlos. „Es klingt doch genau so, als ob das Flugzeug dicht über dem Wasser des Südwestkanals dahinfliegt: … Ja, genau so, als schwebe es dicht über den Inseln hin … Vielleicht ist es doch ein Motorboot …! – Aber nein!“ verbesserte er sich schnell, „ein Motorboot kann es nicht sein. Dessen Motor rattert anders … – – Hörst Du, Fritz, das Propellergeräusch erstirbt … Da, jetzt ist es ganz verstummt. Seltsam!“
Klopfenden Herzens suchten zwei Augenpaare von der Felskuppe aus das Dunkel zu durchdringen, und zwei Paar Ohren lauschten auf jeden Ton, der aus den schwarzen Schleiern der Nacht hervorkam.
Nichts zu sehen, nichts zu hören … Nur einige früh wache Möwen kreischten in der Luft, und an den Außenriffen im Süden rauschte eine leichte Brandung.
Der helle Schimmer im Osten wuchs jetzt weit über den halben Himmel hin. Das Morgenzwielicht war da mit seiner eigenartigen, fahlen Beleuchtung. Die Inseln ringsum mit ihren kahlen Felsen reckten sich scheinbar gierig der Tageshelle entgegen. Der flimmernde Streifen des Südwestkanales begann sich deutlich abzuheben von den unregelmäßigen Gesteinsmassen.
Minuten waren wieder mit endloser Langsamkeit verstrichen.
Dann richtete Heinrich sich höher auf, beugte sich vor.
„Fritz, dort – dort, halbrechts von uns, – der helle Fleck, – siehst Du ihn …? Es sind die Tragflächen eines Flugzeuges. Jede Wette gehe ich ein …!“
Fritz Burke suchte, suchte und … sah nun auch, was er sehen wollte.
„Ein Flugzeug!“ wiederholte er leise.
Der neue Tag hatte gesiegt. Inseln und Meer konnte man jetzt weithin überschauen. Aber vorher war noch eine Regenbö vorübergezogen. – Was tat die Nässe den beiden Freunden in ihren Lederanzügen …?!
Das Flugzeug, ein Doppeldecker, war von der Kuppe aus nur teilweise zu übersehen. Aber daß er sich dort an jener Stelle dicht vor dem Nordende des Kanals, wo dieser schon recht schmal war, mit den Tragflächen zwischen den Felsen festgeklemmt haben mußte, unterlag für die Knaben keinem Zweifel mehr.
Und nun war es Fritz, der den Kameraden auf zwei menschliche Gestalten aufmerksam machte, die über dem Flugzeuge auf den Felsen einer Insel standen.
Zwei Männer waren’s, in graue Anzüge von militärischem Schnitt gekleidet und mit Mützen auf den Köpfen, die nur zu sehr deutschen Soldatenmützen ähnlich sahen.
„Wenn’s Landsleute wären …!“ meinte Heinrich zweifelnd.
Da fiel sein Blick zufällig mehr nach links, wo die weiße Brandung vor den Außenriffen stand.
Ein Kutter mit eingezogenen Segeln trieb dort, schwerfällig schaukelnd, auf der See. Und auf diesen Kutter kam jetzt in windschneller Fahrt ein langes, dunkles Dampfboot zugejagt, – ein Torpedozerstörer.
Und abermals wiederholte Heinrich:
„Wenn’s Landsleute wären …!! – Fast scheint es so. Das ist alles so merkwürdig: der Kutter ohne Segel, der Zerstörer, und dort das Flugzeug und die beiden grauen Männer, die doch sicherlich mit dem Doppeldecker bis hier in das Inselgewirr vorgedrungen sind …“
Jetzt kletterten die beiden Männer zu dem Flugzeug hinab, eilten auf der oberen Tragfläche hin und her.
Was sie taten, war nicht genau zu erkennen. Aber Heinrich glaubte zu bemerken, daß der eine den Arm schwang, als haue er mit einem Beil auf die Tragfläche ein.
Dann verschwanden die Leute. Die Felsen entzogen sie den Blicken der Knaben.
Aber noch etwas anderes verschwand: der Doppeldecker. Langsam tauchte er tiefer und tiefer ins Wasser ein, das sich bald über ihm schloß.
Da jubelte Heinrich mit schwer unterdrückter Freude heraus:
„Freilich – ich habe recht …: Es sind Deutsche – deutsche Soldaten, die sich hierher geflüchtet haben und die von dem Zerstörer verfolgt werden! Jetzt bin ich meiner Sache ganz – ganz sicher!“
Inzwischen hatte der Zerstörer wohl festgestellt, daß der treibende Kutter leer war, hatte sich sehr vorsichtig der Mündung des Südwestkanales genähert und setzte Boote aus, die sich durch die auch hier befindliche Minensperre hindurchwagen sollten.
Die beiden Feldgrauen tauchten wieder auf. Einer von ihnen trug ein großes Bündel auf dem Rücken.
„Siehst Du, sie haben sich verschiedenes aus dem jetzt versenkten Flugzeug mitgenommen“, sagte Heinrich eifrig. „Krieche weiter zurück und verbirg Dich besser zwischen den Felsen …! Du darfst nicht vergessen, daß die Leute in den Booten wahrscheinlich über Fernrohre verfügen und uns leicht erspähen können, wenn wir uns nicht gut decken.“
Eine Viertelstunde verging. Hin und wieder bekam man die beiden Flüchtlinge zu Gesicht, die jetzt an der auch den Knaben nur zu gut bekannten ersten Felsbarriere angelangt waren, welche wie ein schützender Wall sich um den Mittelpunkt der Briennes-Inseln herumzog.
„Sie suchen offenbar eine Stelle, wo sie die Felsen erklimmen können“, meinte Fritz hastig. „Aber es wird ihnen nicht gelingen, wenn wir ihnen nicht zu Hilfe kommen.“
Heinrich griff diesen Gedanken sofort auf. Auch er hatte schon ähnliches beabsichtigt.
„Gut. Eile Du den Landsleuten entgegen. Ich bleibe hier und beobachte die Franzosen weiter.“
Fritz kletterte an der Nordseite, wo er nicht gesehen werden konnte, die ziemlich steile Kuppe hinab, eilte nach dem Tale und holte sich aus der Hütte den ledernen Lasso, den die Freunde sich aus den Rinderhäuten gleichfalls geflochten hatten.
Dann schlug er den Weg nach der Stelle der äußeren Felsbarriere ein, wo die eisernen Klammern in das Gestein eingelassen waren. Am Rande der Steilwand nachher entlangkriechend, hörte er bald unterhalb seines Platzes Stimmen, – deutsche Worte, rief die beiden Feldgrauen an und bedeutete ihnen, wie sie zu ihm hinaufgelangen könnten.
Die Überraschung der Flüchtlinge ist schwer zu beschreiben, als sie sich plötzlich einem kleinen Landsmanne gegenübersahen, der ihnen das Erklimmen der Wand noch dadurch erleichtert hatte, daß er das ziemlich schwere Bündel mit dem Lasso zu sich heraufzog.
Es waren ein Leutnant und ein Gemeiner, beides Pioniere, die nun dem Knaben dankbar die Hand schüttelten und ihm dann nach dem Talkessel folgten.
Ihr Erstaunen, hier in dieser Felsenwildnis ein solches Paradies vorzufinden, war nicht geringer als der freudige Schreck bei dem ersten Anruf durch heimatliche Laute. –
Leutnant Fritz Meinke und sein treuer Bursche Jannek (Johann) Krapatkul, ein stämmiger Ostpreuße, hatten in der auf der Insel Vannes gelegenen Festung gleichen Namens bereits mehrere Monate als Kriegsgefangene zugebracht, waren dann in der vergangenen Nacht, als sich endlich eine günstige Gelegenheit für die längst vorbereitete Flucht bot, glücklich entkommen und auf recht abenteuerliche Art schließlich auf die Briennes-Inseln gelangt. –
Für Heinrich und Fritz sollte das Eintreffen der Landsleute jedoch nur einen neuen Abschnitt ihres Robinsondaseins, einen weit aufregenderen als den bisherigen, bedeuten.
Obwohl die von dem Torpedozerstörer gelandeten Patrouillen, nachdem sie stundenlang die Eilande abgesucht hatten, schließlich wieder abziehen mußten, ohne von den Flüchtlingen auch nur eine Spur entdeckt zu haben, drohte den vier Deutschen bald auf andere Weise eine fast unausbleiblich scheinende Gefangennahme.
Aber der grüne Talkessel auf der mittelsten Insel der Briennes-Gruppe besaß Geheimnisse, von denen die beiden Knaben bisher auch nicht im entferntesten etwas geahnt hatten.
Es gab da in dem kleinen Gehölz uralter Bäume eine Eiche, in deren Rinde eine merkwürdige Zeichnung eingeschnitten war, die von den beiden kleinen Robinsons zwar längst bemerkt worden war, ohne daß sie ihr besondere Bedeutung beilegten.
Erst als Heinrich den jungen Pionieroffizier auf diese Zeichnung, die mit dem Wachstum der Eiche immer undeutlicher geworden war, aufmerksam gemacht hatte und dem Leutnant deren Enträtselung gelang, kamen die Geheimnisse des Tales ans Tageslicht.
Gerade zur rechten Zeit! Nur der Rindenzeichnung allein hatten die Deutschen es zu verdanken, daß sie den Franzosen noch im letzten Augenblick entschlüpfen konnten und eine neue Zufluchtstätte fanden, wo es ihnen glückte, sich ein merkwürdiges Fahrzeug zu bauen, mit dem sie schließlich, nachdem sie noch andere Deutsche bei sich aufgenommen hatten, in die Heimat wohlbehalten zurückkehrten.
Die Erlebnisse Leutnant Meinkes und seines wackeren Krapatkul sollen in dem nächsten Bande unter dem Titel „Die Flucht aus Vannes“ geschildert werden.
Ende.
Das nächste Heft enthält:
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
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