von
W. Neuhofer.
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Der Geheimrat Grunert nahm seiner Gattin den Brief ab, den diese soeben in ihres Einzigen Frackschoßtasche gefunden, und sagte mit traurigem Kopfschütteln: „Es muß ein Irrtum sein, Hermine! – Wenn das bei unserer Erziehung herausgekommen wäre! –
Laß mich lesen –“
Während er las, saß Frau Hermine stocksteif im Rohrstuhl des kleinen Stübchens, das Geheimrats ausschließlich trotz der Siebenzimmerwohnung benutzten. Ihr längliches, reizloses Gesicht mit den stets so argwöhnischen Augen und den herabhängenden Mundwinkeln war heute wie ein Bild hellsten Entsetzens. In dem Herzen dieser Frau schien nur zweierlei zu leben: Eine wahre Affenliebe zu ihren Kindern Heinz und Emilie, stets Mielchen genannt, und eine krankhafte Reinmachewut. –
Im übrigen kannte sie keine Wünsche, keine Neigungen, keine Interessen. –
Und der Geheimrat überflog nun folgendes:
Liebes Musterknäbchen! Also Freitag abend ½ 12 im ‚goldenen Affen‛! –
Ich freue mich, daß Du meinen Vorschlag angenommen hast. Es gibt dort ein gemütliches Zimmer und sehr nette Mädels, die keinem Jungfrauenverein angehören und die sich Dir gern auf den Schoß setzen werden, was Du ja als die einzige Dir bisher bekannte weibliche Annäherung für genügend hältst, Dein Mannestum zu wecken, dessen weitere Betätigung Dir Deine Ollen so infam vergrault haben, als ob nicht auch du einer sehr trauten Stunde zu zweien Dein Leben verdanktest. Dein Sparkassenbuch habe ich gleichfalls erhalten und – nicht fünfhundert, sondern vorsichtshalber gleich tausend Emmchen abgehoben, denn bei Mutter Rammler sind fünfhundert wie die Spreu, – die der Wind zerstreut. –
Ich rate Dir, zunächst Deinen Ollen gegenüber trotz des Dir nunmehr bewilligten Hausschlüssels weiterhin das solide Lämmchen zu spielen. Wenn Du Freitag aus der Juristischen Gesellschaft kommst, stumpfsinne Dich noch zehn Minuten bei ihnen, geh’ dann wie früher zum Schein schlafen und klettere auf dem alten Weg zum Fenster hinaus. Gewiß – das ist für einen frisch gebackenen Assessor demütigend, aber – vergiß nie, daß Du Deine verehrten Herren Eltern, die Dich doch nun einmal um jeden Preis allen Sünden dieser schönen Welt fernhalten möchten, erst langsam daran gewöhnen mußt, daß du das ewige Bevormundetwerden satt hast und Dich noch ein wenig zum Lebemann auszubilden gedenkst, bevor Deine Mutter, wie sie schon andeutete, für Dich die ‚einzig passende Frau‛ aussucht. Meinen Erfahrungen nach sind diese von Müttern uns empfohlenen Damen zumeist Geschöpfe, die die ‚einzig für uns nicht passende Frau‛ darstellen. Das so nebenbei. –
Also auf Wiedersehen Freitag gegen ½ 12 im ‚goldenen Affen‛, der Dir als Milieu einer Berliner Studentenkneipe in Berlin N. um so interessanter sein wird, als du bisher nur die ‚Satanas-Bodega‛ in der Motzstraße mit ihrem Luxus und ihren ‚schoßsitztfreudigen‛ Damen genossen hast. Der ‚goldener Affe‛ ist weit ungenierter. Vom Privatzimmer führt ein dunkler Gang zu Mutter Rammlers Schlafkabine, die nötigenfalls müden Gästen gegen eine entsprechende ‚kleine‛ Entschädigung zur Verfügung steht. Leb’ wohl und sei vorsichtig! Wer im Verein zur Bekämpfung der Großstadtlaster im Vorstand sitzt und wer so und so oft studienhalber die ‚berühmtesten‛ Cafées besucht, der –
Na – ich will nichts gesagt haben! Es ist dein Vater. –
Gruß –
Wust
Der Geheimrat war sehr rot geworden. „Wer – wer in aller Welt ist dieser gemeine Bube, dieser Wust?! Nie hat Heinz von ihm gesprochen! –
Oh – welch ein Abgrund moralischer Verkommenheit spricht aus diesen Zeilen. Welch ein Lump, der es wagt, den Verein, dessen edle Ziele ich so warm unterstütze, derart zu verdächtigen, mehr noch, mich zu verdächtigen! Oh – Hermine, Hermine, mir ist’s, als hätten wir unseren Sohn verloren! Bodega, auf dem Schoß sitzen, aus dem Fenster klettern – oh – das – das –!“
Der kleine Herr mit dem wohlgepflegten grauen Spitzbart ließ sich in den nächsten Stuhl fallen.
Da schnellte Frau Hermine förmlich hoch: „Was gedenkst du zu tun, Karl? – Schnell, sprich! Heinz kann jeden Augenblick nach Hause kommen. Und übermorgen ist bereits Freitag! Wir müssen einen Entschluß fassen. Sollen wir ihm diesen Brief zeigen und ihm all seine Schlechtigkeit vorhalten?“
Er überlegte, der geheime Finanzrat Dr. jur. Grunert, überlegte mit gerunzelter Stirn und dachte: ‚Dieser verdammte Wust! Wer mag’s sein?! Der Mensch scheint mehr über mich zu wissen, als mir lieb ist!‛ –
Dann erklärte er laut: „Heinz ist sechsundzwanzig Jahre alt, ist Assessor. Wenn wir hier eine große Szene hervorrufen, wird er vielleicht gar aufsässig, verläßt unser Haus – leider besitzt er ja genug eigenes Vermögen von deiner verstorbenen Schwester her – und verkommt dann vollständig in diesem gottverfluchten Sumpf Berlin.
Nein – ich habe einen besseren Gedanken, Hermine. Ich werde mich an ein Detektivinstitut wenden und in jene Kneipe eine der Detektivinnen beordern lassen, die – das Schlimmste für Heinz verhüten muß, – das Schlimmste – Du weißt, was ich meine, Hermine. Bisher, so hoffe ich, ist seine Seele noch rein, bisher wird er das Laster noch nicht völlig – genossen haben. –
Und ich selbst will gleichfalls am Freitag mich irgendwo in der Nähe jener Stätte der Verführung aufhalten, will mir von der Detektivin vielleicht Bericht erstatten lassen und – na, es wird sich schon ein Weg finden, Heinz jenen ‚goldenen Affen‛ so zu verekeln, daß –“
„Gut – sehr gut!“ fiel ihm die dürre Rätin ins Wort, die schon vor siebenundzwanzig Jahren genau so reizlos und so streng moralisch wie heute gewesen, die ihrem Mann in der ersten Nacht empört und entsetzt kräftige Ohrfeigen verabreicht hatte, bis am folgenden Tag dann ihr Herr Papa, der weltfremde Astronom und Prof. Kegler, ihr in wohlgesetzter Rede klargemacht hatte, daß die Ehebetten im Schlafzimmer nicht lediglich zum Ausruhen, sondern vielmehr zu einem staatserhaltenden Zweck da wären, von dem er schon in der heiligen Bibel hieße: Seid fruchtbar und mehret euch! –
Und da war die junge Frau Grunert denn gottergeben in ihr Heim zurückgekehrt, hatte sich, erfüllt von einem Pflichtgefühl wie der Soldat, der sich mit geschlossenen Augen in das Kampfgewühl stürzt, bereits um zwei Uhr nachmittags entkleidet und war in ihr Bett geschlüpft, mußte aber noch bis zehn Uhr abends mit knurrendem Magen warten, bis ihr geohrfeigter, beleidigter Gatte aus seiner Stammkneipe mit einem gehörigen Schwipps heimkehrte und sie ihm dann unter Tränen mit dem Gesicht in den Kissen versöhnlich zuraunen konnte: ‚Ich warte seit zwei Uhr auf dich – hier im Bett!‛ Und da war der damalige Finanzassessor Gruner wirklich Ehemann geworden. Aber – der bittere Vor- und Nachgeschmack dieses Liebesglücks blieb für alle Zeiten so rege in ihm, daß Frau Hermine sich nie über ein Allzuviel von ungestümen Zärtlichkeiten zu beklagen hatte, was sie zum Glück auch nicht vermißte, denn ihre absolute äußere Reizlosigkeit hielt sich mit ihrer Temperamentlosigkeit durchaus die Wage. –
„Gut, sehr gut,“ lobte sie jetzt den Einfall des Gatten. „Und – was mich betrifft, so werde ich nun sofort das in die Wege leiten, was ich längst im Auge hatte: Die Anna von Pank muß unsere Schwiegertochter werden. Ein so tüchtiges, fleißiges Mädchen, so tadellos erzogen, aus so guter Familie, dabei bettelarm, so daß sie sich nicht lange besinnen wird, ob sie Heinz heiraten soll, der ja leider – hm ja, in dieser Beziehung muß man ehrlich sein! – äußerlich nicht gerade dem Ideal entspricht, das sich ein junges Mädchen von ihrem Einzigen entwirft.
Doch – was heißt Ideale? Das Glück in der Ehe beruht lediglich auf gegenseitigem Taktgefühl –“
Der Geheimrat nickte würdevoll, dachte aber: ‚Taktgefühl?! – Allerdings – so war unsere Ehe! Nur Takt, nur kühle Höflichkeit, – von Gefühl keine Spur.‛ Und – er seufzte heimlich, seufzte über sein verpfuschtes Leben, über seine inhaltsleeren Jahre, die er – der Mitgift des Fräulein Hermine Kegler zu Liebe geopfert hatte. –
Heinz erschien. Ganz Gelehrter, ganz Stubenhocker. Nichts Frisches, nichts Natürliches an dem ganzen Menschen. Zur Heuchelei gezwungen in dieser Luft seines Elternhauses, das stets ein eisiger Hauch durchwehte, erfüllt von einem Sehnen nach Freiheit und warmer Zärtlichkeit, das von Tag zu Tag stärker in ihm wurde, gequält von Selbstvorwürfen ob all der Lügen, mit denen er sich umpanzern mußte, damit seine Eltern ihn nicht durchschauten, hatte er sich eine liebenswürdige, aber für Kenner allzu aalglatte Höflichkeit angewöhnt, die zu seinen unbeholfenen Bewegungen, seiner steten Verlegenheit Fremden gegenüber und zu dem unsicheren Blick seiner Augen nicht recht paßte. –
In einer Beziehung hatte sich jedoch Frau Hermines Mutterauge bei ihrem Einzigen stets geirrt: Was seine Häßlichkeit anbetraf. Sie, die für Menschen nur Verständnis hatte, die in eine ihr bekannte Schablone paßten, hatte ebenso wenig Verständnis für Gesichter. Heinz Grunert wäre bei all seiner Häßlichkeit ein Charakterkopf gewesen, wenn seine Züge nur ein wenig mehr den Stempel der Energie getragen hätten. –
Als er nun seinen Eltern bei Tisch gegenübersaß und dann so nebenbei erklärte, er wurde übermorgen den Vortrag der Juristischen Gesellschaft besuchen, da warf das Elternpaar sich einen tief schmerzlichen Blick zu.
2. Kapitel
Es war dort heute sehr leer. Die drei jungen Damen, die für das leibliche Wohl der Gäste – nach Wunsch der Wirtin, Frau Rammler, in möglichst weitgehender Weise – zu sorgen hatten, langweilten sich und gähnten, saßen am Büfett an einem Tisch zusammen und lasen, allerdings recht zerstreut.
Der ‚goldener Affe‛ hatte zwei Schankräume mit insgesamt zwölf Tischen. Der dritte Raum, an dessen Eingang links vom Büfett stets ein Pappschild mit
Privat – Eintritt verboten!
hing, war jedoch die Haupteinnahmequelle von Mutter Rammler. Hier tagten nur ‚geschlossene Gesellschaften‛, das heißt, diejenigen der Stammgäste, die über einen wohlgefüllten Geldbeutel verfügten, Wein tranken und den bedienenden Damen gelegentlich ein Zehnmarkstück in den Halsausschnitt oder anderswohin steckten, was ihnen das Recht gab, eigenhändig danach zu suchen. Zur Zeit waren nur zwei Gäste anwesend, ältere, verschuldete Studenten, die bei einem Kännchen Lichtenhainer stumpfsinnig vor sich hin dösten und demjenigen fluchten, der dem Monat so viele Tage gegeben hatte, denn es war heute der 18., und sie waren daher längst mit ihrem Wechsel fertig. Hätte Mutter Rammler nicht ein Einsehen gehabt und das Ankreidenlassen gestattet, wären sie gezwungen gewesen, daheim zu bleiben und womöglich gar zu arbeiten.
Die drei Heben1, ganz hübsche, junge Mädels – die Rammler hatte Geschmack und wußte, was ‚zog‛ – kümmerten sich um die alten Semester nicht im geringsten. Wozu auch?! Da war ja doch nichts zu holen. –
Das heißt: Eigentlich kümmerten sich nur zwei um Blintze und Wust nicht. Die dritte, die neue, erst gestern eingetreten, beobachtete sie hin und wieder verstohlen und fragte nun die ‚kalte Else‛, ein dunkelhaariges Geschöpf mit einem geradezu klassischen Profil und mit dem Gehabe einer unnahbaren Fürstin:
„Der eine sieht recht nett aus, Fräulein Heid, – der mit dem langen Durchzieher2, – wie heißt er, was ist er?“
Else Heid blickte von ihrem Roman nicht auch, erwiderte maulfaul: „Wust – und ewiger Kandidat der Medizin –“
Dann schaute sie die Neue mit ihren großen Augen mißbilligend an, fügte hinzu: „Wir nennen uns beim Vorname – das ist so üblich. – Lassen Sie das ‚Fräulein‛. – Ich sage ja auch Lotti zu Ihnen –“
Lotti Müller war aschblond, trug Madonnenscheitel, hatte ein frisches, zartes Gesichtchen, eine schmale Nase und geradezu glühend rote, schöngeschwungene Lippen. Das Rot der Lippen war echt, was man von Elses interessanter Blässe und der ‚roten Paula‛ rosigem Teint nicht gerade behaupten konnte. Es war dies hier angeblich erst Lottis zweite Stelle, und ein gewisses Etwas in ihrem ganzen Sichgeben verriet dem Menschenkenner, daß sie einst bessere Tage gesehen hatte oder daß ihr an der Wiege nicht prophezeit worden war, gerade diesen Beruf einmal ausüben zu müssen.
Der Kandidat der Philologie Blintze erhob sich jetzt, warf zwanzig Pfennig Trinkgeld auf den Tisch, reichte Wust die Hand, sagte brummig: „Ich kriech’ in die Falle“ und ging. –
Wust schaute nach der Uhr, horchte dann auf die Straße hinaus, wo der Frühjahrsregen gegen das Schaufenster prasselte, und rief der gerade hinter dem Büfett erscheinenden Mutter Rammler zu:
„Um ½ 12 gibt’s großen Betrieb, Rammlern, – verstanden?! Großen Betrieb! Mit Sekt! Assessorfeier! Ich habe meinen Freund Heinz breitgeschlagen, daß er hier sein Examen begießt –“
Der Name Heinz hatte auf die kalte Else und die roten Paula einen merkwürdige Wirkung ausgeübt. Beide standen schnell auf, traten an Wusts Tisch heran und musterten ihn neugierig. Auch die Rammlern hatte ihre zwei Zentner Fettmasse in Bewegung gesetzt und watschelte herbei.
„Ach nee, Wust, wörklich – wörklich der reiche Heinz? – Na nu – daß der sich doch mal hier nach ‛n Norden verirrt! Bis jetzt hast ‛n doch nur stets in die Bodega in die Motzstraße jeschleppt, von wejen die Ollen – weil er doch nie ville Zeit hat zu sein Amisemang –“
Wust, dessen glattrasiertes Gesicht mit den tief liegenden Augen einen schwermütigen, aber auch leicht ironischen Ausdruck hatte, erklärte kurz: „Die Ollen haben ihm jetzt den Hausschlüssel anvertraut. Vorgestern hat er sein Assessorexamen mit Note gut bestanden, vorgestern abend war Familienfete dieserhalb, gestern Familienfete dieserhalb bei seiner Schwester, heute ist Vortrag in der Juristischen Gesellschaft, und im Anschluß daran die richtige Feier dann hier – im ‚Privat‛ natürlich.“
Die Rammlern strahlte. Dann aber hörte sie das Toben des Unwetters draußen. „Bei den Juß, Wust, – da wird doch vielleicht nischt draus,“ meinte sie ängstlich.
„Gerade des Regens wegen wird was draus. Also los – alles zu rüsten. Es ist jetzt neun – Heringssalat, Appetitbrötchen, zwölf Schampus kaltstellen, acht Rotwein – und so weiter. Ich habe Vollmacht bis fünfhundert Emmchen.“
Für Mutter Rammler, die kalte Else und die rote Paula war Heinz, der Musterknabe, eine geradezu legendäre Gestalt. Sie wußten bisher nur, daß Wust ihn zufällig kennen gelernt hatte, daß er, obwohl bereits Referendar und obwohl in Berlin groß geworden, infolge der strengen Erziehung durch seine Eltern vom Leben so gut wie nichts genossen hatte, abgesehen von jenen Nachtstunden, die er heimlich außerhalb des Hauses zubrachte, daß er ferner über ziemlich unbeschränkte Mittel verfügte und – daß Wust ihn seltsamerweise nie anpumpte, was er ebenso unverständlicherweise dadurch begründete, daß man als ‚anständiger Kerl die Unerfahrenheit eines Kindes nicht ausnutzen dürfte‛.
Die kalte Else setzte sich jetzt neben Wust. –
„Du, Fritz, – ist das auch alles wahr?“ meinte sie. „Dir traue ich nicht – du hast immer so allerlei Flausen im Kopf.“ –
Und die rote Paula nahm an seiner anderen Seite Platz, fragte: „Wer von uns soll denn bedienen, Fritzchen? – Hör’ nicht auf die Else. Ich glaub’ an die Assessorfeier.“
„Wir alle drei bedient. Ohne Damen kein Vergnügen. Und damit wir nicht gestört werden, Rammlern, wird die Bude zugemacht: Wejen Todesfall eene Nacht jeschlossen!“
Lotti Müller war nun auch hinzugetreten. Wust musterte sie von oben bis unten. –
„Bist ja ein rarer Happen, Mädchen,“ meinte er dann. „Schmeiß’ dich an den Heinz ran. Der sucht was Festes. Da bist du in guten Händen. Ein Charakter wie Gold und ein Gemüt wie’n Hammel – so harmlos. –
Doch nein – den Heinz will ich nicht mit der Lauge meines Spottes übergießen. Der arme Kerl ist zu bemitleiden. Wenn ich so bornierte Eltern gehabt hätte, wäre ich ja wohl längst praktischer Arzt in Schrimm, Schradabumst, Krotoschin oder einer ähnlichen Weltstadt, wäre aber auch für das Leben genau so unbrauchbar wie er. Da bin ich lieber Kand. med. und brauchbar – nicht wahr, Else?“
Die überhörte die Frage. Mutter Rammler nahm sie und Paula dann auch mit in die Küche – zum Heringssalat-Herrichten und so weiter.
„Setz’ dich zu mir,“ sagte Wust zu Lotti. „Nenn’ mich du und Fritz. Ich bin’s hier nicht anders gewöhnt. Seit einem Jahr bin ich nun tagtäglich hier.“
Er sprach’s, und man wußte nicht – sollte es ironisch klingen, oder war’s trübe Zerfallenheit mit sich selbst.
Lotti ließ sich neben ihm nieder. Sie hatte von der roten Paula schon gestern unter dem Siegel der Verschwiegenheit gehört, daß Wust mal vor einem halben Jahr ein paar tausend Mark geerbt und diese zusammen mit der kalten Else in Nizza und Umgegend ‚auf den Kopf geschlagen‛ hatte. Als das Geld alle war, war auch Elses Liebe vorüber. Anders anscheinend bei Wust, der es zu verheimlichen suchte, daß er sie noch immer gern hatte.
Wust nahm Lottis linke Hand, drehte sie um, schaute kritisch auf die Handlinien, sagte: „Armes Ding, du bist auch nicht zur Kellnerin geboren. In deiner Hand lese ich so allerlei. Ich verstehe was davon. Aber – du wirst Glück im Leben haben, glaub’ mir, nur – du mußt das Glück zu greifen wissen. –
Wir kommen heute abend zu acht Mann her, – alles Heinz’ Freunde, von denen seine hochwohlgeborenen Eltern keine Ahnung haben. Ich fürchte, die Paula wird sich mächtig an ihn ranschmeißen. Sie hat bekanntlich den Sparfimmel, an dem viele Euresgleichen leiden. Bis zum dreißigsten Lebensjahr will sie so viel erübrigt haben, daß sie – wieder anständig werden und einen braven, einfachen Mann heiraten kann.
Aber – für diese Paula ist der Heinz zu schade, Lotti. –
Ich drechsele nie Phrasen, benenne die Dinge, wie sie sind. Also: Wenn du Wert darauf legst, einen vermögenden Freund von tadellosem Charakter zu bekommen, so halte dich an Heinz. Ich bin kein Kuppler, Kind. Ich liebe meinen Freund auf meine Weise. Er tut mir leid. Seine Eltern haben aus ihm ein unglückseliges Geschöpf gemacht. Und bald, fürchte ich, wird seine Mutter ihn an ein Wesen verheiraten, das ihrem Geschmack entspricht. Dann hat der arme Kerl nie die süßen Stunden jener von allen Philistern3 in Grund und Boden verdammten ‚Verhältnis–Liebe‛ gekostet, die doch in unseren Erinnerungen einen weit höheren Platz einnimmt, als unsere späteren legitimen Lebensgefährtinnen ahnen. –
Wie alt bist du, Lotti? – Erst zwanzig? – Ja, man sieht’s dir an. –
Mädel – um dich ist’s schade. –
Doch – lassen wir das –“
3. Kapitel
Das Grammophon im ‚Privat‛ spielte. Und alle, selbst Mutter Rammler, sangen mit:
Bösewicht, Bösewicht – laß das sein,
Faß mir nicht in mein kleines Nest hinein,
Es ist ja so weich, so warm, so fein,
Es ist für mein Vogelmännchen allein…
Nein – nicht alle sangen mit.
Zwei saßen auf dem kleinen Sofa in der Ecke, hielten sich bei den Händen und flüsterten leise miteinander – zwei, Lotti und Heinz.
Fast zwei Uhr morgens war’s jetzt. Zigarettenrauch schwamm in dicken Schwaden um die große, dunkelrote Ampel, die das ‚Privat‛ in ein molliges Halbdunkel hüllte; süßliche Weindünste füllten die Luft, vermischt mit dem aufdringlichen Parfüm der roten Paula; Speisengeruch war zu spüren, denn die vorsorgliche Rammlern hatte noch schnell zwei warme Gänge hergestellt. –
Die fünfhundert Emmchen hatte der Wind hier wirklich längst wie Spreu verweht. Was tat das Heinz?! –
Heinz hatte ja seine erste, große Liebe gefunden.
Was kannte er bisher von Frauen? Nichts! Oder doch nur die seiderauschenden Huldinnen aus der ‚Satanas-Bodega‛, – geschminkt, lasterhafte Augen, begehrliche Hände, die es stets auf seine Brieftasche abgesehen hatten. –
Oft, wenn er dort für kurze Stunden dieses unbestimmte Sehnen nach einem Weib, das ihm ganz gehören sollte, im Anhören anzüglicher Witze, im Anstarren gern gezeigter, eleganter Seidenstrümpfchen und im scheuen Betasten der Miedergegend zu betäuben gesucht hatte, war ganz unvermittelt ein würgender Ekel vor all dem Treiben in ihm aufgestiegen. Dann war er davongelaufen, kopflos, verlegen und verfolgt von dem Hohngelächter derer, die auf seine Kosten in teuren Getränkemischungen geschwelgt hatten.
‚Keuscher Josef – keuscher Josef!‛ – So nannten sie ihn dort. –
Und doch war er immer wieder hingegangen – immer wieder, und stets war Fritz Wust dabei gewesen, stets, ohne daß Heinz ahnte, weshalb dieser ihn so getreulich begleitete.
Und nun – hatte er hier im ‚goldenen Affen‛ das Glück erhascht – endlich! Nicht jenes Scheinglück mit getuschten Brauen und lüsternem Lächeln, mit dem ganzen Raffinement der eleganten Halbweltdame, – nein, ein Mädel, jung, zurückhaltend, bescheiden, mit einem lieben, herzigen Gesicht, offenem Blick, dunklen Rätselaugen unter blondem, gewelltem Scheitel, süßen Lippen, – ein Mädel, das sich sofort von dem alten Raubein, dem Rechtsanwalt Meixner, jede Anzüglichkeit sehr energisch vertreten und gesagt hatte: ‚Wir können auch vergnügt ohne – Gemeinheiten sein!‛ Und da hatte Wust ‚Bravo!‛ gerufen, und die anderen hatten in dieses Bravo eingestimmt, worauf Meixner mit tadelloser Verbeugung sich entschuldigt hatte: ‚Es wird nicht wieder vorkommen, Fräulein Lotti. Man muß erst wissen, wie der Hase läuft. Und hier bei Ihnen läuft der – überm Durchschnitt –“
Und Lotti Müller? – Saß sie jetzt nur deswegen Hand in Hand mit Heinz Grunert in der dunkelsten Ecke, weil sie an Wusts Worte dachte: ‚– vermögender Freund?‛ –
Nein, als Wust zu ihr vorhin, als sie beide allein im Büfettraum am Tisch saßen, von Heinz gesprochen, den er liebte und den er bedauerte, da war ein tiefes Interesse in ihr rege geworden für diesen fraglos absonderlichen Menschen, den sie hier beobachten und beschützen sollte, sie, die Angestellte des Detektivs Gamberg, Detektivinstitut ‚Phylax‛, der sich seit einem halben Jahr ihrer bei besonders delikaten Aufträgen bediente. Ein tieferes Interesse, – das des Weibes an einem Mann, der sich nach etwas Liebe, nach Wärme sehnte.
Und dann war er erschienen. Sie hatte sich ihn so ganz anders vorgestellt, weit schüchterner, unbeholfener. Was ihr sofort an ihm gefiel, war eine gewisse Vornehmheit, die in seinem ganzen Wesen zu Tage trat. Als sie merkte, wie er sie heimlich mit Blicken verschlang, wie er versuchte, ungestört sich mit ihr eine Weile unterhalten zu können, da war sie es gewesen, die es so einzurichten wußte, daß sie sich eine halbe Stunde absondern konnten, da hatten sie vorn im ersten Zimmer fast im Dunkeln gesessen, und da war’s plötzlich über ihn gekommen, wie’s jeden einmal überkommt, dessen Seele übervoll ist von verborgener Qual.
Nun kannte sie ihn ganz. Nichts hatte er ihr verschwiegen. Und sie hatte nur zuweilen leise gesagt:
„Sie Ärmster!“
Und wieder verging dann eine Stunde. Man tanzte zum Grammophon-Gekratz. Und Lotti und Heinz hatten auf Wusts Aufforderung den Walzer eröffnen müssen. Eng aneinandergeschmiegt waren sie in dem engen Raum für Minuten dahingeglitten wie über frischgrünen, frühlingsfrohen Rasen im Maisonnenschein. So war ihnen zumute dabei. Der Frühling, der heute draußen mit Regen an die Fenster pochte, hatte ihnen hier trotz Zigarettenrauch und trotz der ganzen Umgebung beseligenden Maizauber in die Herzen, ins Blut gegossen. Und dann war Heinz von der roten Paula in die Arme genommen worden. Sie war wütend auf die Neue, war eifersüchtig. Zum ersten Mal gelang es ihr bei diesem Heinz nicht, ein Feuer zu entzünden, zu dem sie sonst weder Streichhölzer noch sonstiges Material brauchte – nur ihren an gewissen Stellen rundlichen, sonst biegsamen Körper, ihre vielverheißenden Blicke und schmachtenden Seufzer und ihr vieldeutiges Lächeln.
All das hatte heute vollständig versagt. Der fette Bissen hier drohte ihr zu entgehen. Das durfte nicht sein. Oh – es gab ja noch den Walzer, das Wiegen, das Ansichschmiegen.
Und sie nutzte die Gelegenheit, raunte Heinz dabei allerlei zu. Ihre prall gefüllte Seidenbluse mit dem tiefen Ausschnitt fühlte er dauernd mit starkem Druck an seiner Brust. Er fühlte noch mehr. Sie tanzte ganz langsam: „Schieben ist am schönsten!“ lachte sie. Und er spürte das feste Fleisch ihrer Schenkel durch die dünnen Röcke hindurch an seinen Schenkeln; er hätte genau angeben können, wo ihr Mieder aufhörte. –
Ja – die Paula verstand’s! Aber – hier kam sie heute an den Unrechten. Heinz dachte nur an Lotti. Diese Aufdringlichkeit der roten Hexe stieß ihn ab, ihre eindeutigen Bemerkungen widerte ihn an. –
„Ich werde schwindelig,“ entschuldigte er sich, verbeugte sich sehr knapp und wollte zu Lotti. Doch die kalte Else hatte bereits darauf gewartet, ihm als dem Veranstalter dieses Abends ebenfalls einen Walzer zu gönnen – richtig zu ‚gönnen‛, denn sie drängte sich niemandem auf.
Sie war nicht umsonst die ‚kalte‛ Else. Aber vielleicht war diese Zurückhaltung nur ein guter Trick. Schlecht fuhr sie dabei jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Viele Törichte gab’s, von denen sie sich in Theater und Weinkneipen führen und allerlei schenken ließ. Aber – Erfolg hatte niemand. Wer plump vertraulich wurde, den schaute sie ganz starr wie in maßloser Verwunderung an. Und in diesem Blick lag so ein gewisses Etwas, was selbst ‚ganz Gerissene‛ scheu machte. Sie tanzte auch jetzt nur dreimal in dem engen Raum mit Heinz herum, tanzte wie – in der Tanzstunde, blieb ganz Dame, dankte und flüsterte schnell:
„Nehmen Sie sich vor Paula in acht!“
Heinz war wieder frei und saß nun mit Lotti auf dem kleinen, altmodischen Sofa, Hand in Hand. Sein Herz war übervoll. Und sein Mund floß abermals über. Aber jetzt war’s nicht ein Hadern mit seiner verkümmerten Jugend, nicht ein Anklagen des Schicksals, das ihm zwei Gefangenenwärter als Eltern beschert hatte, – nein, jetzt waren’s halbtrunkener Worte, wie sie nur die erste, große, jäh erwachte Liebe findet zum Preis eines Glückes, auf das man nie zu hoffen gewagt hatte.
Lotti sprach wenig. Gut, daß es hier in der Ecke so dunkel war. Er konnte daher nicht sehen, wie schmerzlich es so und so oft um ihren Mund zuckte.
Er sprach ihr von Liebe! Und sie fühlte es: Das, was er mit dieser Liebe meinte, war rein, edel, war jenes Gemisch von Seelenharmonie und Begehren, das so unendlich beglücken kann.
Ihr sprach er davon – ihr, Lotti Müller, Detektivin, Ernährerin zweier jüngeren Geschwister, ihr, der Tochter des im Gefängnis verstorbenen Rechtsanwalts, der ein Vermögen unterschlagen und dessen Frau vor Gram gestorben war.
Wer war sie – wer war er?! Wozu sprach er ihr von Liebe?! Etwa doch nur, weil Wust ihn auf sie aufmerksam gemacht hatte, – weil er ‚eine Freundin‛ – ‚besseren Genres‛ – haben wollte – er, der Assessor, der Sohn eines Geheimrats?! Glaubte er, daß sie etwa wie die rote Paula für Geschenke, hauptsächlich in bar, zu haben war?! –
Weg mit diesen Gedanken! Daß er sie anders, ganz anders einschätzte, merkte sie – fühlte sie. Er gab sich ihr gegenüber, als wäre sie seine Braut, der er sich soeben erklärt hatte. Sie war ihm so unendlich dankbar dafür. Sie hatte ja bereits so viele trübe Erfahrungen hinter sich. Oberflächlich hatte sie als frühere Buchhalterin genug Herren kennen gelernt. Und gut die Hälfte hatte versucht, sie zu erobern, hatte sie mit jenen frechen, heimlichen oder raffiniert hinter erlogener Freundschaft versteckten Begehren verfolgt.
Sie war ja nur die Tochter – eines Zuchthäuslers! –
Heute zum ersten Mal trat ihr ein anderer Männertyp gegenüber. Ein fraglos durch und durch anständiger Charakter, ein Reiner, einer von den wenigen Männern, die mit sechsundzwanzig Jahren Frauenliebe oder doch das, was davon als Ersatz für Geld feilgeboten wird, noch nicht genossen haben. Sie wußte ja von ihrem jetzigen Chef, wovor dieser Heinz Grunert bewahrt werden sollte. Dazu war sie ja hierher geschickt worden. Aus dem geschäftlichen Interesse, das sie an ihm genommen hatte, war dann sehr bald ein rein menschliches geworden; Mitleid war hinzugekommen, schließlich inniger Dank, daß er sie ganz wie eine aus seinen Kreisen behandelte.
Und nun noch das Letzte: Seine schwärmerischen Versicherungen, daß er sie liebe, nur sie, daß er jetzt an eine Liebe auf den ersten Blick glaube, daß er sie nie vergessen würde.
Da zog auch in ihr Herz der Frühling und das Liebessehnen ein. Sie war jung, gesund, mit gesunden Sinnen ausgestattet. Sie fühlte, wie in ihrem Inneren sich eine Wendung so schnell vollzog, wie sie dies nie für möglich gehalten.
Für wen sollte sie sich wohl rein erhalten – für wen?! Heiraten?! Niemand würde sie wählen – niemand: Zuchthäuslerstochter mit zwei unversorgten Geschwistern! Und die Jahre, die Jugendtage würden schwinden ohne einen Schimmer von Glück, ohne Erinnerungen zu hinterlassen. Das Alter würde kommen, und in ihrem Gedächtnis würde kein Berg mit goldenem Gipfel sein, der ihr tröstend zuwinkte: ‚Es hat sich doch verlohnt, gelebt zu haben!‛ –
Ganz leicht schmiegte sie sich plötzlich an ihn, flüsterte:
„Heinz – auch ich will glücklich sein – und wär’s nur kurze Wochen. Komm’ – all dies hier ist nichts für uns beide. Komm’, ich habe ein Stübchen, das gerade leer steht. Der Mieter, ein alter Beamter, ist gestern ausgezogen. Dort können wir plaudern. Ganz heimlich wollen wir verschwinden. Wust mag hier alles für dich in Ordnung bringen. Unsere Mäntel hängen draußen. Komm’, Heinz, – es ist schade, hier – hier von Liebe zu reden.“
Sie ging hinaus in den Büfettraum. Heinz nahm schnell noch Wust beiseite. –
„Du, Fritz, ich muß heim. Höchste Zeit. Hier sind noch vierhundert Mark. Ich begleite erst Lotti nach Hause –“
Er stotterte etwas.
Wust sah ihn scharf an. „Heinz, die Lotti, – bleib, wie du’s bisher war’s, – ein anständiger Kerl! Wenn du merkst, daß das Mädel – Doch – da ist schwer zu raten. –
Gute Nacht. Es tut mir leid, daß ich dich hierher gebracht habe. Du bist wie ich. Und ich kann auch – durch eine Kellnerin unglücklich werden – aus Liebe –“
Er drückte ihm die Hand. Dann rief er – um die anderen abzulenken: „Kinder – nochmals das schöne Lied vom Bösewicht. –
Musik! –
Also los:
Bösewicht, Bösewicht, laß das sein –“
Lotti zog Heinz durch den zweiten Ausgang, den Hausflur, auf die Straße. Der Regen war vorüber. Im Osten lag’s über den Silhouetten der Hausdächer wie ein hellerer Schein. Der Morgen nahte.
„Komm’!“ und sie hing sich in seinen Arm.
Da – hinter ihnen eine helle, keifende Stimme:
„Viel Vergnügen, angenehme Ruh’ zu zweien!“
Die rote Paula war’s. Sie trat ein paar Schritt auf den Bürgersteig hinaus, rief nochmals: „Und das ist nun die anständige Lotti! Feine Nummer! So’n heuchlerischer Fratz!“
Da hatten die beiden bereits ein Auto bestiegen. Und die rote Paula drohte dem Kraftwagen nun mit der Faust nach: ‚Die hat’s besser verstanden als ich, die – die Neue!‛ dachte sie.
Neben ihr tauchte ein älterer Herr auf: Zylinder, Bügelfalten, Perle in der Krawatte, Goldkneifer.
„Fräulein, gestatten Sie eine Frage.“ Er hielt ihr dabei einen auseinandergefalteten Zwanzigmarkschein hin.
Paula stutzte erst. Aber schnell begriff sie und – griff zu, ballte den Schein in der kleinen Faust zusammen, sagte:
„Kommen Sie in’n Hausflur. Nicht hier auf der Straße.“
Er folgte ihr zögernd, blieb in der offenen Tür stehen.
„Also eine Frage, Fräulein. – Wer war das Pärchen, das da soeben im Auto davonfuhr? Mir schien’s, als kenne ich die Dame –“
Oh – die Frage kam der Paula gerade recht. Nun konnte sie der Lotti doch eins auswischen.
„Na – das war eine, die glücklich einen geangelt hatte, einen Dummen, – wissen Sie, so einen, den seine meschuggen Eltern bisher stets mit verlöteten Blechunterhosen rumlaufen ließen, damit er – keusch bleiben mußte. Heute scheint er ne Blechscheren mit zu haben, oder – die Lotti Müller hat eine bei sich zu Hause –“
„Danke vielmals!“ sagte der Herr sehr reserviert plötzlich. –
Aber – die rote Paula war auf den Geschmack gekommen. Sie hatte Blut geleckt. – Zwanzig Mark! Vielleicht ließ sich hier noch weit mehr erobern.
„Bleiben Sie noch,“ bat sie. „Ich kann Ihnen über den Herrn der Lotti noch viel erzählen. – Aber nicht hier.“
Sie trat ganz dicht an ihn heran. Der Laternenschein traf voll ihr Gesicht. Der Herr sah, daß sie jung war, daß sie ein pikantes Gesichtchen hatte. Und – er spürte etwas Weiches, Elastisches an seiner Brust, warf einen Blick nach unten, erblickte pralle, weiße Halbkugeln die seidene Bluse wölben, fühlte, wie ihm siedend heiß wurde, dachte einen Moment – nur einen Moment an Hermine, bei der sich nie – nie etwas gewölbt hatte.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie etwa in eine Räuberhöhle geraten,“ lächelte Paula girrend. „Ich führe Sie nur in das Schlafzimmer der Wirtin vom ‚goldenen Affen‛. Dort sind wir ungestört. –
Wirklich – ganz ungestört –
Und abermals lockte das Weiche, Elastische mit wildem Druck.
Paula merkte, daß er nur noch halb zögerte. Da nahm sie ihn bei der Hand. –
Ein langer Flur – Bratendunst darin. Dann ein Zimmer, sehr behaglich; in der Mitte ein breites französisches Bett. Zarter Parfümgeruch in der Luft. Und über dem Bett eine japanische, gelbe Seidenampel.
Paula verschloß die Tür von innen.
Er stand noch da wie einer, der lieber fliehen möchte. Doch – im Augenblick waren ihm Zylinder, Mantel und Schirm abgenommen. Und nun saß er neben der rothaarigen Paula auf dem hochlehnigen Paneelsofa, und die rief plötzlich mit lustigem Aufquieken: „Oh – eine Maus – eine Maus!“ sprang auf den Sitz, raffte die Röcke ganz hoch, immer höher. –
Eine tadellos geformte Wade, Spitzen von teueren Schlüpfern kamen zum Vorschein. –
Frau Hermine hatte stets nur Leinen oder Wolle getragen. Und selbst die Leinenhöschen mit Spitzen hatten stets brav eine handbreit übers Knie gereicht. –
Und hier – das war schick, das war – die Sünde, die lockende Sünde.
Dem armen Geheimrat wurde schwindelig.
Zwei – ja zwei Monate war’s jetzt her, daß er solche reizende Schlüpfer nicht gesehen. –
Das schoß ihm so durch den Kopf – als Entschuldigung für – den Schwindelanfall. Zwei Monate!
Und er fühlte sich noch so jung, war’s auch noch, denn Hermine hatte im dieser siebenundzwanzigjährigen Ehe ihn nie sehr in Anspruch genommen – nie.
Zwei Monate.
„Oh Gott – ich glaube, die Maus ist an mir hoch gelaufen. –
Fühlen Sie doch mal. Sitzt sie nicht dort am linken Knie?“
Der Vorhang hob sich noch mehr.
Und der Geheime Finanzrat Grunert tastete – fühlte – suchte –
Wieder kreischte Paula auf. Dann glitt sie wie eine Schlange ihm auf den Schoß, – küßte ihn.
Noch nie hatte er so heiße Lippen auf den seinen gespürt, noch nie. –
Freilich – die Rothaarigen – da steht nicht nur der Kopf in Flammen. –
Plötzlich ein Rütteln an der Tür.
Der Geheimrat wurde ganz gleich.
„Still – es ist nur die Wirtin, Schatz. Ich werde ihr die zwanzig Mark von vorhin geben.“ Sie schlüpfte hinaus, kam gleich wieder – mit einem Sektkühler, darin eine dickbauchige Flasche. Zwei Gläser stellte sie auf den Tisch, ganz flache Sektschalen.
„Drüben feiert einer seinen Assessor, Schatz. ‛s war der, der mit der Lotti davonfuhr. – Prosit, – Sekt gehört zum Liebhaben. –
Du, aber von dir laß ich nie mehr ne Maus suchen! Du bist ja ein ganz schlimmer! Wo du Mäuse suchst! Das erlaube ich nicht mehr –“
Sie gähnte.
„Ich bin ja so müde –“ und sie saß wieder auf seinen Schoß, kuschelte sich eng an hin. „So sehr müde. Der eine Strumpfhalter spannt so. Hak ihm mir doch los, Schatz – schnell –“
Ein leises Stöhnen –
Und er hakte ihn los, wurde gar nicht fertig damit, küßte sie – küßte – küßte – –
Und als nach zwei Stunden die rote Paula das französische Bett wieder fein säuberlich mit der Spitzendecke verhüllte, als ‚er‛ seine Perle vor dem Spiegel in die Krawatte schob, da – war es halb sechs morgens geworden.
Nochmals umschlang er seine Gegenüber, küßte sie.
„Also übermorgen um acht – aber pünktlich!“ sagte er und legte einen Blauen und einen Fünfzigmarkschein auf den Tisch.
Sie brachte ihn auf die Straße. Aber weder sie noch er sahen Fritz Wust, der hinter der nahen Anschlagsäule stand und der nun dachte:
‚Donnerwetter – sollte ich mich so irren? – Wahrhaftig – es ist der Olle! Und ich fürchtete schon, der Heinz wäre doch noch irgendwie der Paula ins Netz gegangen.‛
4. Kapitel
Ganz leise schlichen Lotti und Heinz die drei Treppen empor, ganz leise schloß sie die Flurtür auf, geleitete ihn in das bescheiden möblierte, einfenstrige Zimmer, in dem bisher der Herr Sekretär Buchfink gehaust hatte.
Heinz war verlegen wie ein kleiner Junge. Lotti freute sich darüber, nahm es als besten Beweis seiner Unberührtheit hin, verstand es dann schnell, ihm eine gewisse Sicherheit wiederzugeben, spielte Hausfrau, band eine große Schürze vor; beim Kaffeeaufbrühen mußte er ihr in der Küche helfen, mußte den Tisch decken, mußte den Gaskocher regulieren, der wie ein kleiner Motor puffte. Und immer wieder mahnte Lotti: „Leise – leise – auf Zehenspitzen!“ Und dann lachten sie sich stets glücklich – übermütig an.
Nun saßen sie nebeneinander auf dem grünen Plüschsofa, knabberten Keks, tranken aus winzigen Täßchen, einem Geschenk eines Großindustriellen für die Detektivin Lotti Müller, die ihm wertvolle Zeichnungen wiederverschafft hatte.
Lotti war reizend in ihrer hausfraulichen Würde. Und Heinz war’s als wäre dies hier ihr gemeinsames Heim – so glücklich, so wohl fühlte er sich. Alle Unbeholfenheit war geschwunden. Noch nie hatte er eine Stunde wie diese verlebt, noch nie gewußt, daß ein so ärmlicher Raum so reich machen kann.
Er drückte ihre Linke, die er nicht mehr losließ.
„Lotti, wie soll ich dir danken. Mein Gott, ich habe ja nie geahnt, daß es irgendwo so grenzenlos behaglich sein kann. Bei uns – in meinem Elternhaus – da weht es stets wie ein Hauch von Kälte – stets! Du wirst das nicht begreifen, Lotti. Es ist so. Meine Mutter läuft nur mit dem Staubtuch umher. Der Papa darf nur in seinem Zimmer zuweilen rauchen. Meist tut er’s – im Badezimmer. Und in meiner hocheleganten Bude, – alles Mamas Geschmack, alles. – Wie soll da wohl von Gemütlichkeit die Rede sein –“
Sie lehnte sich an ihn. Und er umfaßte halb scheu ihre Schultern. Sie hatte die Empfindung: ‚Hier bist du geworden, hier an seiner Brust –‛ und sie dachte an – den Berg mit dem goldenen Gipfel, der einst das Alltagsgrau in ihrem Gedächtnis überragen sollte, an das Glück – kurz – kurz, aber doch ein Glück!
Und das sollte er ihr geben – er, der rein, rein wie sie selbst.
„Armer Liebling!“ sagte sie leise. „Nun wird das aber anders werden –“ ganz träumerisch klang’s. „Nun kommst du immer abends zu mir, wenn du dich einsam fühlst. Dies soll unser Nest sein. Und – damit die Leute mich nicht bereden, wirst du zum Schein mein Mieter –“
Dann nahm er auch ihre anderer Hand. –
„Lotti – ich weiß bisher nichts von dir. Erzähle mir – alles, wie ich’s getan. Ich fürchte, du leidest Not. Das darf nicht sein. Ich habe im Überfluß, was dir vielleicht fehlt. Sei nicht kleinlich, Lotti. Es gäbe für mich kein größeres Glück, als –“
Sie küßte ihn plötzlich.
Dann: „Sprich nicht davon. Nie – nie würde ich deine Hilfe irgendwie in Anspruch nehmen. Diese Liebe soll ohne jeden störenden Fleck bleiben – ohne jeden – wie ein schöner Spiegel, in den ich hineinsehen kann jederzeit, ohne mich schämen zu müssen. Ich habe zum Leben, was ich brauche. Ich bin bei der Firma ‚Phylax‛ angestellt und bekomme ein gutes Gehalt –“
Da gab es ihr einen kleinen Stich ins Herz. Jetzt wäre die Gelegenheit da gewesen, ihm ehrlich anzuvertrauen, weshalb sie gerade im ‚goldenen Affen‛ Kellnerin geworden und daß sie morgen schon wieder austreten würde.
Er schaute sie überrascht an. „Ich denke, du bist doch bei der Frau Rammler,“ begann er unsicher.
Sie errötete. „Es war ein Notbehelf, Heinz, – wirklich. Ich hatte mich – mit dem alten Chef überworfen, trat aus. Aber – er schrieb mir sofort wieder, ich solle zurückkommen. Lange wäre ich ohnedies nicht bei der Rammler geblieben. Ich – bin an solchen Ton nicht gewöhnt.“ –
Und dann sprach sie über ihre Eltern, ihre Kindheit, über den Vater, der ein leichtfertiger Genießer gewesen, über die zarte, vornehme Mutter, über Hänschen, den zwölfjährigen, und Thea, die dreizehnjährige, die dort drüben im gemeinsamen Schlafzimmer schlummerten. „Sie hängen an mir mit rührender Liebe, Heinz. Sie wissen, daß ich für sie arbeite. Und sie danken’s mir. Und Dank ist der schönste Lohn –“
Da drückte er sie ganz fest an sich.
„Du Engel. Nie verlaß ich dich, nie – du sollst mein werden für alle Zeit. Was sind mir die Eltern, was gilt mir –“
Schnell küßte sie ihn abermals. „Liebling, – das – das wären Träume. Ich kenne das Leben so etwas. Wohl besser als du. –
Wir wollen uns lieb haben, Heinz, uns ein heimliches Glück schaffen. An die Zukunft wollen wir nie denken – nie!“
Sie stand schnell auf, zog ihn mit hoch – mit sich in die Mitte des Zimmerchens.
„Ein heimliches Glück!“ flüsterte sie, sich ganz dicht an ihn schmiegend.
„Ein restloses Glück, Heinz – dein will ich sein, ganz dein –“ Sie barg den Kopf an seiner Schulter. „Ich weiß, du würdest zufrieden sein mit dem, was ich freiwillig gebe, würdest nie fordern. Aber – du darfst fordern –“
Er stand wie erstarrt. Eine heiße Blutwelle schoß ihm ins Gesicht. Er verstand sie. –
Sie war ja nicht mißzuverstehen.
Und er streichelte ihr welliges, aschblondes Haar, flüsterte zurück: „Ich bin keiner, der ein reines Weib auf dem Gewissen haben will. Es wäre mir, als hätte ich gemordet – eine Seele gemordet –“
Sie schaute zu ihm auf, lächelte süß: „Du Guter – du lieber, lieber Tor. Und wenn ich dir nun sage, daß du – meine Seele befreien sollst, daß du es bist, der meines Lebens Inhalt werden soll?! –
Mich mordest du nicht; verschmähst du – du mich, suche ich – vielleicht in einer Stunde trostloser Leere einen anderen –“
Sie schmiegte sich noch enger an ihn, und wie ein Hauch kam ihre Stimme:
„Lösch die Lampe aus, Liebling –“
Er zauderte einen Augenblick.
Dann wurde es dunkel. Nur von der Straße her drang durch die Vorhänge ganz wenig Helle herein.
Er hörte ein Rauschen, Knistern.
Er fand sie nicht gleich. –
Sie saß auf dem Bettrand, tief gebeugt, löste die Schnürsenkel ihrer Halbschuhe.
Dann kniete er schon vor ihr nieder. Irgendwo hatte er mal gelesen – von einer Hochzeitsnacht, von einem jungen Gatten, der sein ebenso junges Weib entkleidet – auch im Dunkeln.
Er kniete. –
Und mit zitternden Händen half er ihr. Ein Schuh – noch einer polterte leise auf den Boden. Dann nahm Lotti seinen Kopf in ihre beiden Hände, küßte ihn auf den Mund. –
Und Heinz Grunert fühlte diese brennend roten Lippen wie etwas ganz Neues auf den seinen.
Frauenküsse im Dunkeln – vor einem schneeweißen, aufgedeckten Bett ließen ihn plötzlich erkennen, daß er Mann war – jung, kräftig, unverbraucht.
Er richtete sich auf. Und wie er sie jetzt an seine Brust riß, – das war nicht das Musterknäbchen. –
Und wie er sie dann Hülle um Hülle entkleidete, wie er sie dabei immer wieder küßte, – das war ganz der Sohn des Geheimrats Grunert, der, obwohl an eine Hermine geschmiedet, doch zuweilen die Fesseln abgestreift und den ‚Besuch im Sittlichkeitsverein‛ zu kurzem, hoch zu bezahlendem Scheinglück benutzt hatte.
Ja – das war Grunert-Sohn, aber hier – kein Scheinglück.
Draußen dämmerte der junge Tag herauf. Und in Sekretär Buchfinks keuschem ehemaligen Stübchen feierte Frau Venus das wilde Fest ersten Genießens. –
Fast sieben Uhr morgens war’s, als er Lotti verließ.
Sie hing an seinem Hals, küßte ihn.
„Du – du, mein einziger Liebling – leb wohl – auf Wiedersehen!“
Und in ihm klang’s und sang’s wie ein Chor froher, seliger Engelstimmen. Er hatte die Liebe kennen gelernt. Und seine Brust war erfüllt mit einer Seligkeit, die sie zu sprengen drohte.
„Leb wohl, meine Lotti. Ich werde daran denken, was du mir geraten. Ich werde ruhig bleiben, energisch sein, – mögen sie’s anstellen wie sie’s wollen daheim, mich kriegen sie nicht mehr unter!“
5. Kapitel
Armer Heinz! Von heut’ zu morgen streift man nicht Ketten ab, die jahrelang geklirrt haben. –
Sie – kriegten ihn doch unter!
Sehr mutig kam er vorn die Haupttreppe empor. Aber schon als er den Schlüssel im Schloß der Flurtür umdrehte, war’s ihm, als sperre ein anderer Schlüssel jede Spur von Willenskraft von seinem Herzen ab.
Ah – wirklich. – Die Salontür tat sich auch schon auf. Der Kopf Frau Herminens wurde sichtbar. Dieser Kopf, umstarrt von einem Dutzend papierener Lockenwickel, wirkte mit dem gelblichen, spitznasigen Vogelgesicht heute mehr denn je wie der Kopf einer Hydra4.
Frau Hermine winkte dem Sohn – wortlos. Und ein schweigendes Winken kann schlimmer sein als die Tischrede eines Stotterers. –
Heinz schlich in den Salon, gebeugt, kraftlos, gepackt von der alten sklavischen Furcht vor den Eltern.
Dort saß der Geheimrat. Dort Mielchen, die Frau Staatsanwalt, die man telephonisch von ihrem Mann herbeordert hatte. Dort er, der Staatsanwalt Gräbner, sehr elegant, sehr Lebemann nach außen hin. Nur nach außen hin! Denn Frau Hermine hatte auch ihm gehörig unter der Fuchtel – scheinbar. Er hatte enorme Schulden gehabt, und die bereits mit zweiundzwanzig Jahren völlig reizlose Mielchen war seine letzte Rettung vor den Gläubigern gewesen. Mielchen war ganz die Mama – in allem, auch in ihrer Anspruchslosigkeit im ehelichen Leben.
„Setz’ dich,“ sagte der Geheimrat mild, wie zu einem Schwerkranken. „Du bist ein erwachsener Mensch, mein Sohn, aber du kannst es treubesorgten Eltern nicht verargen, wenn sie dich fragen, wo du bis zu dieser frühen Stunde warst. –
Ich will gleich erwähnen, daß wir zufällig von der heute geplanten Feier im ‚goldenen Affen‛ Kenntnis erhalten hatten, daß wir gleichfalls wissen, wann du mit einer gewissen Lotti Müller im Auto davongefahren bist. –
Wo also warst du von halb drei bis jetzt?“
Zwei Frauenaugenpaare musterten Heinz, als wäre er ein plötzlich entlarvter Schwerverbrecher. Der Staatsanwalt musterte ihn wie einen, der ihm leid tat seiner – Schlappheit wegen, denn er selbst mußte ja – schlapp scheinen – Frau Hermine gegenüber – aus Klugheit, um desto ungestörter die Abende bei seiner Fifi verbringen zu können. Und der Geheimrats wieder dachte: ‚Eine edle Komödie! Diese Bande hier sollte ahnen, wo – ich gewesen!‛
Heinz saß wie ein richtiges Häufchen Unglück da. In seinem wirren Hirn war nur ein Gedanke lebendig:
‚Schütze Lotti!‛
Und daher erwiderte er schnell: „Ich habe die Müller nach Hause gebracht und – und war dann noch im Cafée ‚Siegel‛, wo ich – wo ich –“
„Genug!“ Die Geheimrätin hatte sich erhoben. Und nun legte sie los: Elternliebe, Angst um das Seelenheil des Sohnes, Dankbarkeit, Pflichten gegen sich selbst, moralische Verirrungen – sie redete von allem, sie redete lange, zwischenein weinte und schluchzte sie. –
Dann das letzte Mittel – wie ein Aufschrei:
„Wenn du uns nicht dein Ehrenwort gibst, Heinz, daß du nie – nie wieder irgendwo hingehst, wovon wir nichts wissen, dann – dann bringst du mich ins Irrenhaus, mich, deine Mutter, die diese ganze Nacht durchgemacht hat, die vor Gott auf den Knien gelegen und gefehlt hat: ‚Erhalte mir meinen Jungen rein!‛ Die jetzt kaum mehr ihrer Sinne mächtig ist –“
Ihr Weinen wurde fast zu wildem Heulen.
Mielchen weinte auch. Und Gräbner trat schnell an das Fenster – sonst hätte er nicht so belustigt grinsen können, wie er’s jetzt tat. Der Geheimrat wieder dachte an die rote Paula – an Weiber, bei denen nicht nur der Kopf brennt.
So – kriegten sie ihn unter. – Die Mutter ins Irrenhaus – nein, das konnte er nicht auf sein Gewissen laden! Sie sah ja in der Tat schon jetzt wie eine Wahnsinnige aus. –
Er gab sein Ehrenwort. –
Und als er’s gegeben, da – reute es in schon, zumal die Geheimrätin sofort von Anna Pank zu sprechen begann: „Jung gefreit, hat noch niemand gereut. Und du mußt eine Frau haben – mußt, das sehen wir jetzt ein –“
Dann fiel ihr dieser gottverfluchte Verführer Wust ein: „Nie mehr ein Wort zu ihm – keinen Brief, nichts, – ich werde ihm schreiben. –
Gib mir auch darauf dein Wort, Heinz –“
Er gab’s. Ihm war jetzt alles so gleichgültig – alles.
Dann empfahlen Gräbners sich. Der Staatsanwalt zwinkerte Heinz heimlich zu, drückte ihm warm die Hand. Für Mielchen war der Bruder Luft. Und dann ließ Frau Hermine eigenhändig das warme Wasser in die Badewanne laufen, gab dem Gefallenen ein neues Stück antiseptische Seife mit. –
Als er im lauen Wasser saß, kam ihm endlich zum Bewußtsein, daß er nun für immer die zwei Menschen verloren hatte, an denen er Treue und Selbstlosigkeit erprobt: Wust und Lotti.
Ihm war so sterbenselend zumute.
Um zwölf mußte er dann zu Panks hinüber. Die wohnten im Nebenhaus. Der alte Herr war Postdirektor und hatte sechs Kinder – sechs bei dem knappen Einkommen! Anni war die älteste: groß, tadellos gewachsen, ein rassiges Gesicht mit dunklen, stets halb verschleierten Augen, sehr gemessen, sehr Dame, obwohl sie den Haushalt allein besorgte und auch alle gröberen Arbeiten tat.
Heinz ahnte nicht, daß seine Mutter eine Stunde vorher bei Panks gewesen und dort alles mit der Frau Postdirektor und auch mit Anna ins Reine gebracht hatte. Zu Anna hatte sie da gesagt: ‚Mein liebes Kind – Heinz lieb sie seit langem. Aber er ist so schüchtern. Kommen sie ihm etwas entgegen –‛ –
Anna hatte es versprochen. Und als die Geheimrätin gegangen, da hatte Annas Mutter ihre Älteste in die Arme genommen und vor Freude geweint: ‚Eine so gute Partie. Er hat von seiner Tante eine runde halbe Million geerbt – eine halbe Million – das sind allein zwanzigtausend Mark Zinsen.‛ –
Anna nickte zerstreut. Sie war nicht ihren Gedanken anderswo – wenn auch in der Nähe – oben im Dachatelier.
Und als Heinz dann erschien, zunächst nur als Überbringer eines Kochrezepts für die Frau Postdirektor, als er mit Anna allein war, da wußte er nichts – nichts zu sprechen.
Er kam sich so unglaublich töricht vor in dieser Rolle als Bewerber um ein Mädchen, das ihm völlig gleichgültig – ja fremd war. Bereits nach fünf Minuten verabschiedete er sich.
Auf der Treppe begegnete er dem Sohn des Hauswarts, einen bisher ganz unbekannten Kunstmaler. Es war ein flotter, hübscher Mensch, dieser Hans Kubicke, den die Geheimrätin stets nur naserümpfend: ‚Ach – der Portierssohn von nebenan‛ nannte.
Kubicke blieb stehen. „Gratuliere zum Assessor, Verehrtester. Sie sehen aber nicht die Spur vergnügt aus trotz des geglückten Examens. Wo drückt der Schuh? –
Wollen Sie nicht mal mit nach oben zu mir? –
Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein neuestes Bild. Morgen wird’s abgeholt. Dann hängt’s in der Frühjahrsausstellung.“
Heinz mochte Kubicke ganz gern. Das war so einer von denen, die er sich seit langem erfolglos zum Muster genommen hatte.
Hans Kubicke hauste im Dachatelier als richtiger Bohemien. Aber – gemütlich war’s inmitten all dieses Krimskrams. Und dann das Ausstellungsbild!
Heinz verstand etwas von Malerei. –
„Donnerwetter!“ entfuhr es ihm unwillkürlich.
‚Das Glück‛ hieß das Bild. –
An eine steile Gletscherwand, die von der aufgehenden Sonne zart rosa bestrahlt wurde, war ein nacktes, junges Weib geschmiedet. Ein prachtvoller Körper. Das Gesicht halb verhüllt durch einen knallroten Schleier, den der Wind zur Seite wehte.
„Donnerwetter,“ meinte Heinz nochmals. „Großartig. Sie müssen ein geradezu klassisch schön gewachsenes Modell gehabt haben. Nur – weshalb haben Sie’s ‚Das Glück‛ getauft? Die Allegorie verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht!“ lachte Kubicke. „Aber sagen Sie’s niemandem! – Glauben Sie mir: Die Herren Kritiker werden für das Publikum schon eine Erklärung finden. –
Und – mit dem Modell – das stimmt! Einen solchen Frauenkörper gibt’s nicht so leicht wieder –“
Heinz war näher an die Riesenstaffelei herangetreten. Jetzt erst gewahrte er am linken Unterarm des ‚Glücks‛ ein sonderbar geformtes Muttermal – fast ein kleines Kreuz.
Und da – da tauchte auch schon eine noch sehr frische Erinnerung in ihm auf – eine sehr frische.
Kubicke hatte sein Hinstarren auf das kleine Mal bemerkt, griff nach Pinsel und Palette, drängte ihn zur Seite: „Das muß noch weg – sofort, – ich hab’s leider vergessen bisher, sonst –“ Und im Nu war das braune Fleckchen unter Pinselstrichen verschwunden. –
Heinz verabschiedete sich nach einer Stunde, stieg dann sehr nachdenklich die Treppen hinab und nebenan wieder hinauf. Die Geheimrätin war einkaufen gegangen. Im Feilschen um jeden Pfennig war ihr nur noch Mielchen über.
Heinz ging in sein Zimmer und schrieb an Lotti. Er schrieb alles offen und ehrlich – alles, – unter anderem:
Mein Ehrenwort breche ich nicht – selbst um deinetwillen nicht. Ich werde also ein elender Mensch bleiben mein Leben lang. Ich liebe nur dich. Du bleibst die, die mich glücklich gemacht hat und die mich für den Rest des Lebens reich und überselig hätte machen können. –
Falls du Fritz Wust siehst, erzähle ihm, daß man mich überrumpelt hat, daß ich wieder Sklave bin. Erzähle ihm, daß ich auch ihn verraten habe durch dieses klägliche Ehrenwort.
Leb wohl für ewig! Du wirst mich nicht dadurch beleidigen, daß du das kleine Andenken zurückweist, daß ich dir zusenden werde –
Nochmals – auf ewig – dein armer Gefangener, – ein Sohn, an dem seine Eltern sich schwer versündigt haben und immer versündigen werden. –
Am Nachmittag kaufte er bei König &. Co. ein Armband mit Brillanten für fünftausend Mark und ließ es Lotti zuschicken.
Am Abend saß er und las den Eltern vor – aus einem Marlittroman. Um dreiviertel acht sprang der Geheimrat auf.
„Himmel – Exzellenz hat mich ja um acht zu einer Besprechung befohlen. –
Nein – daß man auch nicht mal abends sein eigener Herr ist. Hermine – schnell den Gehrock –“
Und dann saß er im Auto, rauchte eine Importe, lächelte in Vorfreude auf Paula – trat sie auch wirklich daheim an. Sie wohnte mit ihrer Mutter zusammen, die aber völlig unsichtbar blieb.
Die rote Hexe empfing ihn gleich im Schlafzimmer in einem kostbaren Morgenrock, der vorn nicht ganz schloß, so daß zuweilen ersichtlich war, daß Paula darunter so gut wie nichts mehr anhatte.
Der Geheimrat war damit durchaus zufrieden. Und sehr vergnügt kehrte er um halb elf von – Exzellenz zurück, schimpfte aber daheim weidlich auf diesen ‚rücksichtslosen Pedanten‛, der anderen Leuten nicht mal die Betttruhe gönne, – und dabei kam er selbst doch eben aus dem Bett.
Heinz spielte jetzt mit der Mutter Halma. Aber – seine Gedanken waren bei Lotti.
6. Kapitel
Am nächsten Tag blieb die Geheimrätin als angeblich krank im Bett, – sie, die noch nie krank gewesen. Und mit geradezu erlöschender Stimme erklärte sie dann Heinz: „Das ist dein Werk, deine Schuld!“
Eine halbe Stunde darauf ließ sie die Eierfrau an ihr Lager kommen und führte wegen dreier fauler Eier der letzten Lieferung eine Szene mit einer Stimmkraft auf, daß der gerade durch den Flur kommende Heinz stehen blieb und lauschte. –
War das die angebliche an Nervenerschöpfung danieder liegende Mutter?! –
Jetzt hörte er die Eierfrau sagen: „Aber aber, jnäg’je Frau, rejen Se sich bloß man nich so uf, es kennt Ihnen schaden. Und drei faule Hühnereier sind doch noch lang’ nich so schlimm wie ‛n –“
Und darauf die Mutter: „Krank – Unsinn! Ich habe meine Gründe dafür, krank zu sein, und wenn Sie denken, mich heute noch besser über’s Ohr zu hauen und mich durch widerliche Witze zu besänftigen, so –“
Da ging Heinz sehr langsam auf sein Zimmer, sehr langsam. In seiner Seele quoll etwas empor, das er bisher nie empfunden: Etwas wie Haß und Ekel. –
Er hatte die Komödie mit dem Kranksein durchschaut: Er sollte nur wieder ganz willenlos gemacht werden. –
Trotzdem blieb diese stumpfe Gleichgültigkeit in ihm. Er war wie eine Maschine ohne Denken. Was er an Gedanken absichtlich hervorlockte, galt Wust und Lotti.
Im übrigen waren Geheimrats sehr zufrieden mit ihm.
Täglich war er nun drüben bei Panks. Und täglich versuchte Anna neue Künste, ihn zu einem Antrag zu verleiten. Drei Wochen waren bereits verstrichen. Und wieder saß er mit Anna auf dem Balkon; sie heute in einem ganz niedrigen Faulenzer. Wieder trug sie das Hauskleid mit den weiten Ärmeln, kokettierte mit ihren wundervollen Armen. Und abermals hingen Heinz’ Blicke nachdenklich auf dem Muttermal am linken Unterarm.
Er war jetzt nicht mehr das harmlose Musterknäblein. Gerade der Schmerz um das verlorene Glück hatte ihm die Augen geöffnet.
Anna schlug die Beine übereinander! Er bekam ein Stück Wade zu sehen und durchbrochene Strümpfe. Dann beugte sie sich vor. Das halsfreie Kleid bauschte sich. Heinz konnte Aktstudien machen. Mager war die Anna von Pank nicht, wahrlich nicht!
Aber – er dachte doch nur an Lotti, wie sie an jenem Morgen in seinem Arm mit gelöstem Haar geruht hatte, wie das weiße Hemd an der Achsel die Knöpfe verloren und wie sie sich geschämt hatte, als er’s gewahrte und sie zum ersten Mal nicht – auf den Mund küßte.
Anna ließ es wie gesagt an nichts an Anbiederungskünsten fehlen. Doch – Heinz war gefeit. So viel ihm auch schon vor der erhofften Verlobung kritisch zu prüfen gestattet wurde – einmal kam sie ihm sogar im tiefsten Negligee die Tür öffnen und eilte dann aufkreischend davon, – bei ihm war wirklich Hopfen und Malz verloren.
Daher bereitete die Geheimrätin, die umsonst Tag für Tag ihm vorgeredet hatte, er hätte Anna durch seine häufigen Besuche bereits kompromittiert und müßte sich bald als anständiger Mensch mit ihr verloben, in aller Stille auf einen großen Schlag vor, um die Sache endlich zum Klappen zu bringen.
Mielchen wurde mit ins Vertrauen gezogen. Geheimrats gaben einen Tee dansant5, und bei dieser Gelegenheit sollte Anna sich von dem schüchternen Heinz dessen Zimmer zeigen lassen, und dann sollte die ganze Teegesellschaft plötzlich vor der Tür erscheinen, und die Anna würde zur rechten Zeit stolpern, Heinz in die Arme fallen, – dann war die Verlobung fertig, und Frau Hermine würde dies frohe Familienereignis von der Tür her verkünden – und Heinz nie den Mut finden, sich unter diesen Umständen weiter gegen diese Partie heimlich zu sträuben.
Am Morgen dieses bedeutungsvollen Tages – es war genau fünf Wochen nach Heinz Grunerts Glücksnacht – begegnete er seit langer Zeit einmal wieder Hans Kubicke. Der sah bleich und finster aus, schritt ohne Gruß vorüber. Heinz rief ihn an. Doch Kubicke wollte nicht hören, lief davon. –
Dieser kleine Zwischenfall gab Heinz sehr zu denken. Er stieg auf die Straßenbahn. Er sollte Konfekt einkaufen. Und – da stand Fritz Wust neben ihm. Heinz wurde rot – vor Freude. Endlich der lang erwartete Zufall. Wenn Wust ihm nun ansprach, dann war alles gut. Nur er durfte das nicht – das Ehrenwort!
Und Wust tat’s; schüttelte ihm die Hand.
„Siehst schlecht aus, armer Kerl,“ meinte er herzlich. „Steigen wir ab. Hätte ich dich heute nicht getroffen, wäre ich morgen zu dir gekommen – Lottis wegen!“
Lotti!
Wie ein Ruck ging’s durch Heinz’ Körper.
Dann saßen sie im Tiergarten auf einer einsamen Bank. Und nun erst begann Wust:
„Ich war gestern wieder mal bei Lotti! Ihr geht’s gesundheitlich nicht so recht. Übelkeit, Schwindel und so weiter. Wäre sie jung verheiratet, würde das ja nicht schaden. –
Aber – da der Ehemann fehlt, der an all diesen Anzeichen Schuld ist, – hm ja, deshalb hast du Pflichten gegen Lotti, die zudem ohne Stellung ist, weil ihr Chef – zu liebenswürdig zu ihr wurde, der Herr Inhaber des Detektivinstituts ‚Phylax‛ –“
Heinz schaute den Freund wortlos an.
„Ich – ich werde leider aus diesen Andeutungen –“
Wust schüttelte den Kopf, unterbrach ihn: „Sollte man’s für möglich halten?! Du, der schuldige Teil, begreifst nicht?! –
Heinz – die Lotti ist mir gegenüber ganz offen gewesen, das tapfere Mädel – ganz offen.
Also: Damals hatte ihr Chef sie zu der Rammler geschickt – deinetwegen – nur deinetwegen! Auf Wunsch und Kosten deiner Eltern. Sie sollte verhüten, daß du nicht etwa – einer Dirne in die Hände fielst.
Und der Erfolg: Bei euch beiden war Sehen und Lieben eins! Und der weitere Erfolg: Du wirst – Vater werden! Ich gratuliere dazu –“
Heinz war wie erstarrt.
„So – nun weiß du die Hauptsache. –
Und jetzt noch einige Nebenumstände,“ fuhr Wust gleichmütig fort. „Du hast bisher deine Sippe – deine Eltern, Schwester und Schwager – für das non plus ultra von Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit gehalten. Deine Eltern insbesondere für lediglich krankhafte um dein Wohl bedachte Menschen.
Gestattet, daß ich die Schleier etwas lüfte. Dein Schwager hat ein festes Verhältnis mit einer gewissen Felizia Schwarz, Fifi genannt, hat mit ihr zwei Kinder, besucht sie täglich und gilt im Hause als ihr Bruder.
Dein Vater hat vor vier Wochen der roten Paula ein molliges Nestchen in der Schickler Straße eingerichtet, hält sie dort vollständig aus. Damals an deiner Examensfeier im ‚goldenen Affen‛ lernte er sie in Mutter Rammlers Schlafzimmer ganz nahe kennen und nach zweistündiger eingehender Prüfung so sehr schätzen, daß er sie dem ‚goldenen Affen‛ entführte.
Urteile nun nicht zu streng über deinen Alten, Heinz. Die ganze Schuld an dem Eiseshauch bei euch daheim trägt deine Mutter. Es gibt Frauen, bei denen sich alles, was sie an Gefühlen aufbringen können, zu einer maßlosen Herrschsucht vereinigt. So ist’s bei deiner Mutter. Sie liebt weder dich noch deinen Vater. Sie will euch nur beherrschen. Dazu sind ihr alle Mittel recht.
Dein Vater ist genau so zu bedauern wie du. Das, was er mit Schuld an deiner verrückten Erziehung ist, trifft lediglich deine Mutter. Er heuchelte, um Ruhe und Frieden zu haben. –
Derartige Charaktere wie deine Mutter grenzen ganz dicht an jene Art von Geisteskranken, die man größenwahnsinnig nennt. Auch ich halte deine Mutter für nicht ganz normal.
Freilich – es handelt sich um so einseitige Äußerungen eines Gehirnsdefekts, daß nur Irrenärzte hier das Krankhafte erkennen würden. –
Kurz, mein lieber Junge, – du willst dein Lebensglück einer Frau opfern, die – nie gewußt hat, was Glück ist, es auch nie wissen wollte.
So liegen die Dinge. Nun wähle: Entweder Lotti oder – deine Mutter!“
Heinz nahm den Hut ab. Seine Stirn war feucht geworden. Minutenlang saß er still mit gesenktem Kopf da. Erinnerungen jagten durch sein Hirn: Der Mutter Vorwurf, sie würde durch ihn in ein Irrenhaus kommen, dann ihre angebliche Krankheit, ihre Versuche, Anni von Pank ihm – aufzuschwatzen
Jetzt hob er den Kopf. „Fritz, Freund, – hörtest du nicht soeben etwas wie Metallgeklirr?! Das waren die Ketten, die ich getragen habe und die nun für alle Zeit von mir abgefallen sind. Für alle Zeit –“
Dann sprach er weiter – lange, hastig: von Anna, von dem Muttermal, von Hans Kubicke, von dessen Gemälde, von dem heutigen Teenachmittag, den er fürchte, da er irgend ein Falle vorausahnte.
Wust überlegte eine Weile. Dann begann er zu reden, – auch von Anna von Pank und Kubicke:
„Natürlich ist sie sein Modell gewesen! Natürlich auch seine Geliebte, die er als armer Teufel nun deinetwegen aufgeben muß. Deshalb rennt er ohne Gruß an dir vorbei.“
Was er nun weiter Heinz vorschlug, fand dessen vollste Billigung.
Dann kam Lotti heran – dann er selbst und – die kalte Else: „Sieh mal, Heinz, – endlich weiß ich nun, daß die Else, die doch mir zuerst und bisher als einzige gehörte, mich noch genau so liebt als wie damals, als wir noch zusammen die Erbschaft verjuxten. –
Weshalb sie mich dann so schlecht behandelt hat? –
Gewissensbisse waren’s bei ihr und die Hoffnung, ich würde, wenn sie mich nicht mehr ablenkte, wieder zu arbeiten beginnen, es wirklich bis zum praktischen Arzt bringen. –
Vorgestern, als wir bei der Rammlern ganz allein waren, da ist doch die Sehnsucht plötzlich stärker geworden bei ihr als alle guten Vorsätze, da hat sie geheult wie ein Schloßhund und ist mit der Wahrheit herausgedrückt.
Und nun – werden wir heiraten. Ich gebe das sogenannte Studium auf, und wir sind schon auf der Suche nach einem ganz kleinen Zigarrenladen, der uns ernähren und der uns auch hochbringen soll –“
Eine Stunde darauf war das Kubickesche Gemälde ‚Das Glück‛ für den Liebhaberpreis von fünfundzwanzigtausend Mark in Privatbesitz übergegangen. Dann fuhr Heinz zu einem Kommissionär, der ‚alles machte‛. Hiervon wußte der bejahrte Kandidat der Medizin jedoch nichts. Der Assessor gab dem Geschäftsmann den Auftrag, ihm sofort ein verkäufliches Zigarrengeschäft mit anschließender Wohnung nachzuweisen. Als Adresse gab er an:
Heinz Grunert, bei Fräulein Müller – und so weiter
Als Preis, den er anlegen wollte, etwa dreißigtausend Mark einschließlich der Lagervorräte.
Er war heute wie ausgewechselt. Alles Unsichere, Gekünstelte und Scheue in seinem Wesen war wie weggewischt. Diese Verwandlung drückte sich auch in seiner Körperhaltung, seinem Gang aus. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich frei, fühlte er sich ganz als selbstständiger Mensch.
Diese Änderung war ja nicht lediglich der einem Stunde auf der Bank im Tiergarten vorhin zuzuschreiben, nein, – sie war langsam ausgereift, hatte mit der Erkenntnis der mütterlichen Krankheitsheuchelei begonnen und heute nur einen etwas schnellen Abschluß gefunden. –
Von dem Kommissionär ging’s zu Postdirektors.
Anna öffnete ihm die Flurtür – mit strahlenden Augen, denn vor kaum zehn Minuten hatte ihr Kubicke ein Briefchen durch einen Dienstmann geschickt:
Unbekannter Kunstfreund hat soeben ‚Das Glück‛ für fünfundzwanzigtausend Mark erworben. –
Hurra! Nun hol’ der Deubel den reichen Assessor, nun – heiratete ich dich! –
Dein seliger
Hans
Mit leuchtenden Augen empfing sie Heinz, aber – die Augen galten nicht ihm. Im Gegenteil! Sie war sogar eisig kühl zu ihm, sagte sehr bald:
„Bitte, wollen Sie Ihrer Frau Mutter ausrichten, daß ich am Abend leider nicht kommen kann, da – ich mich heute verloben werde.“
Heinz lächelte sie an, reichte ihr die Hand. „Meinen innigsten Glückwunsch. –
Ehrlich gestanden: Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen etwas Ähnliches mitzuteilen. Auch ich muß dem Tee dansant fernbleiben, – weil ich mich gleichfalls verlobe.“ –
Er erhob sich. –
„Meine Mutter hat aus uns beiden ein Paar machen wollen, Fräulein Anna, und ahnte nicht, daß – wir längst fest vergeben waren.“
Noch ein Händedruck, dann ging er – stieg nebenan die Treppe hoch – elastisch, öffnete bei Geheimrats die Flurtür, fand im Flur den Vater vor, der ihm sofort entgegenrief: „Was ist denn los in Teufels Namen?! Deine Mutter hat mich soeben telephonisch aus dem Bureau hierher beordert.“
Er hing Zylinder und Stock an den Garderobenständer.
Da kam auch schon Frau Hermine von der Küche her den Gang entlanggeschossen. –
„Heinz – wo – wo warst du?! Die Wahrheit will ich wissen! Ich habe ich um dreiviertel zehn um Konfekt geschickt, und jetzt ist es nach eins! –
Wo warst du?! In meiner Angst habe ich den Papa herbestellt. In drei und einer halben Stunde kannst du weiß Gott was für – für schamlose Dinge getrieben haben! Ich traue dir nicht mehr. Wer einmal sich – sich lasterhaftem Treiben hingibt, der –“
Von dem kalten, fast drohenden Blick des Sohnes stockte nun doch ihr Redefluß. Dann öffnete Heinz die Salontür.
„Bitte, ich habe euch einige wesentliche Veränderungen in meiner Lebensführung mitzuteilen.“ –
Bei diesem seltsam starken Ton seiner Stimme stutzte die Geheimrätin.
Im Salon begann Heinz sehr ruhig: „Unser ferneres Zusammenleben ist unmöglich. Ich habe eingesehen, daß ich hier in dieser häuslichen Luft verkümmere. Ich werde jetzt selbst für mich sorgen – in allem! Und – ich verbitte mir jede Einmischung. –
Wenn ihr euren Sohn nicht für immer verlieren wollen, so findet euch in das Unabänderliche. –
Ich ziehe also aus – in eine eigene Wohnung. –
Ich liebe ein Mädchen, das ich sehr bald heiraten werde – jene Lotti Müller, jene Detektivin, die ihr für mich als Tugendwächterin zu meiner Examensfeier bestelltet. Von Herzen danke ich euch, daß ihr’s tatet, denn so habe ich endlich das Glück gefunden, nach dem ich mich lange sehnte. –
Anna Pank verlobt sich heute mit Hans Kubicke und erscheint zum heutigen Teenachmittag ebenso wenig wie ich.“
Der Geheimrat saß ganz sprachlos mit weit offenem Mund da. Dann warf er einen angstvollen Blick nach seiner Frau hinüber. Diese lächelte ironisch, wahrhaftig – sie lächelte. –
„Du bist betrunken, Heinz. Geh, leg dich ins Bett – sofort!“ sagte sie eisig.
Doch der Sohn beachtete diese herrische Aufforderung nicht. –
„Ich hoffe, daß der Tag kommen wird,“ fügte er nun mit einer gewissen Wärme seinen letzten Worten hinzu, „an dem wir uns wiederfinden. Denn vorläufig werdet ihr ja wohl unversöhnlich sein.“
Er ging auf seinen Vater zu, reichte ihm die Hand. „Leb’ wohl, Papa. Die Schuldfrage habe ich hier absichtlich nicht erörtert, wer mich zum willenlosen Musterknaben gemacht hat. Leb’ wohl!“
Dann verbeugte er sich vor seiner Mutter.
„Ich werde zu vergessen suchen,“ meinte er leise. „Leb’ wohl!“
Da kreischte die Geheimrätin plötzlich auf, warf die Arme in die Luft, glitt vom Sessel hinab auf den Teppich – wie leblos.
Heinz hatte die Tür schon geöffnet. „Sorge dich nicht, Papa,“ sagte er sehr laut. „Die Mama arbeitet nur wieder mit etwas starken Effekten –“
Unten auf der Straße fand er ein Auto. –
„Zu Lotti,“ rief er dem Chauffeur zu. Der grinste, meinte: „Na jut – zu Lotti! Aberscht – die Adresse?“ –
Heinz mußte lächeln. Wie zerstreut er war. –
Lotti saß in dem Wohnstübchen am Fenster und stopfte Strümpfe für den kleinen Bruder. Vor ihr auf dem Nähtischchen lagen ein Pfandschein und Geld. Sie war vorhin abermals im Leihhaus gewesen und hatte diesmal ihre goldene Uhr – auch ein Geschenk eines Mandanten des ‚Phylax‛ – hingetragen.
Sie sah blaß und leidend aus. Die roten Lippen leuchteten nicht mehr so wie früher.
Es klingelte. Müde, langsam ging sie öffnen, entfernte die Sicherheitskette, schaute durch das Guckloch. Und da taumelte sie zur Seite, raffte sich jedoch gleich wieder zusammen, riß die Tür auf. Und Heinz trat schnell ein, schloß die Tür wieder, nahm seine Lotti in die Arme und drückte sie an sich – wortlos – ganz zart.
So standen sie, und Lottis Tränen flossen. Dann küßte er ihre Stirn, streichelte ihr welliges Haar:
„Jetzt bleibe ich bei dir – für immer – für immer! –
Ich bin frei, Lotti, – ganz frei. Ich werde dort mein Zimmer nun beziehen. Und morgen – bestellen wir das Aufgebot –“
Gleich darauf kamen Hänschen und Thea heim. Lotti nahm sie bei der Hand, führte sie zu Heinz hin.
„Das ist mein Verlobter. Er will euch den Vater ersetzen.“ –
Abend war’s. Lotti, Heinz und die Kinder hatten in der Wohnstube um den Tisch gesessen und Lotterie gespielt. Nun sagte man sich gute Nacht. Heinz küßte Lotti, die Kinder. Dann ging er in sein Zimmer hinüber, dann streckte er wohlig die Glieder in dem frischen Linnen, schaute zur Decke empor, wo der Laternenschein der Straße in hellen Flecken tanzte und Worte zu geben schien:
Frei – frei !
Dann – dann öffnete sich ganz leise die Tür. Wie ein Gespenstlein schlüpfte etwas auf Pantöffelchen herein, setzte sich auf den Bettrand. Und Heinz umschlang seine Lotti, – und Lotti flüsterte verschämt:
„Ich – ich sehne mich so unaussprechlich nach dir –“ –
Als der Morgen graute, schlich sie wieder davon. Und am Vormittag überraschte Heinz sie, wie sie in der Küche leise trällerte:
Bösewicht, Bösewicht komm’ zu mir,
Mein Nest ist frei, mein Nest gehört Dir,
Es ist ja so weich, so warm, so fein,
Dich lad’ ich als Gast mir dorthin ein –
Sieben Monate später. Der Gutsbesitzer Heinz Grunert hatte aus Pommern, Rittergut ‚Liebemühle‛, folgende Depesche als erstes Lebenszeichen an seine Eltern geschickt:
Neunpfündiger Stammhalter einpassiert. Besichtigung sehr erbeten.
Heinz
Die Geheimrätin, inzwischen schneeweiß geworden, rechnete an den Fingern etwas nach, sagte dann zu ihrem Gatten: „Entweder ist ein Siebenmonatskind, oder – oder der Heinz, dem ich einen Neunpfündigen wahrhaftig nicht zugetraut habe, hat vielleicht gar damals jene Nacht bei – bei – unserer Detektivin zugebracht. –
Nun – mag sein. –
Was meinst du, Mann, ob wir – zur Besichtigung fahren?“
Und sie fuhren, trafen in ‚Liebemühle‛ noch zwei andere junge Ehepaare – Wusts und Kubickes; und im Salon hing Heinz Kubickes Bild ‚Das Glück‛; und in diesem Haus wohnte auch das Glück; und alles war fortan Friede, Jubel und Freude.
Ende.
Fußnoten:
1 griech.: Göttin der Jugend
2 Wunde eines Mensurkampfes
3 ironisch für Spießbürger
4 griech. sagenhafte Seeschlange
5 private nachmittägliche Gesellschaft