von
K. Klein.
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Eine Geburtstagsfeier
Im Jungfernstift wurde heute Melas Geburtstag gefeiert – leider schon der 25te. Anwesend waren ein paar Freundinnen, Kolleginnen vom Zentralamt, und die Intimsten der Verwandtschaft. – Herren? – Ach, damit war’s schlecht bestellt. Nur der verheiratete Bruder Amtsrichter und der angeheiratete Vetter Redakteur entweihten das Jungfernstift durch ihre Anwesenheit. Im übrigen ging’s sehr gemütlich bei Kaffee, Kuchen, Torte, Bowle und zum Abendbrot bei belegten Brötchen, Heringssalat und Bier und Tee her. Um zehn Uhr war alles vorüber. Die Gäste brachen auf. Im Flur gab’s viel Lachen, viele Küsse. Dann – war die Dreizimmerwohnung im Gartenhause Erwin Str. 9, parterre wieder leer – bis auf die drei Bewohnerinnen, die Mela, Else und Elfriede Schütz, die nun schnell gemeinsam etwas Ordnung schufen, das Geschirr wegräumten und dabei noch Süßigkeiten naschten, Zigaretten rauchten und den Bowlenrest austranken.
Mela, das Geburtstagskind, besichtigte auch nochmals die Geschenke. Dann schloß sie den altertümlichen Schreibtisch im Wohnzimmer auf, holte ein Päckchen hervor, rief die Schwestern herbei.
„Da seht, – hübsch und elegant, nicht wahr?“ Sie hielt die silberne, funkelnagelneue Handtasche hoch.
Else und Elfriede, 23 und 21, staunten. Dann – gleichzeitig: „Woher – wer –?“
Mela, blond, schlank, mittelgroß, etwas zu volle Lippen, lächelte. „Mein Geheimnis! – Wenn ich nur erst wüßte, wie ich mich den Eltern gegenüber herausrede. – Na – ich sage einfach, ich hab’ sie von einer Bekannten ganz billig für alt gekauft.“
Die Eltern wohnten in dem nahen märkischen Städtchen Buckow unweit Berlin, kamen nur selten herüber, da der Vater dort als Amtsgerichtsrat stets überreichlich Arbeit hatte.
Elfriede, etwas größer, üppig, kohlschwarze Augen und mit stets recht unfrisiert aussehendem Bubikopf, erklärte jetzt: „Mela – du mußt es sagen. Wer hat sie dir geschenkt?“ – Sie war die energischste, obwohl die jüngste der drei Insassen des Jungfernstifts, – so hatte der Bruder Amtsrichter in seiner Harmlosigkeit die neue, gemeinsame Wohnung seiner Schwestern getauft. Else und Elfriede waren nämlich erst vor sechs Wochen von daheim mit vielen Ermahnungen und Warnungen nach dem Sündenbabel Berlin entlassen worden, um hier als Buchhalterin und Korrespondentin ihr Brot zu verdienen, – nicht ganz, denn die Frau Amtsgerichtsrat schickte jede Woche eine große ‚Futterkiste’, falls die Mädels sie sich Sonntags nicht selbst abholten.
Mela zuckte die Achseln. „So fragt man Dumme aus, Fritz.“ Elfriede war nämlich für alle Verwandten stets nur ‚Fritz’.
Dann sah Mela nach der Armbanduhr, die für einen ‚Fräulein vom Amt’ etwas zu kostbar war. – „Dreiviertel elf schon. Trotzdem muß ich noch ausgehn. Ich hab’ eine Verabredung.“ Sie hatte sehr oft Verabredungen – sehr oft. Und – doch wurde trotz Kino, Theater, Weinkneipen und so weiter ihre Börse nie leer.
Sie setzte den Hut auf, zog den weiten, modernen Mantel über. – „Wiedersehen! Macht, daß ihr ins Bett kommt – verstanden! Und – laßt mich morgen schlafen. Ich bin Gott sei Dank vormittags dienstfrei.“
Dann fuhr sie mit der Straßenbahn dem Zentrum zu, stieg in der Potsdamer Straße um und landete schließlich in Berlin W. vor einem älteren Hause, pfiff mit beneidenswerter Virtuosität ein Signal, worauf sich ein Fenster im Hochparterre rechts öffnete, und ein Herr ihr zurief: „Einen Augenblick –“
Der Prokurist Arthur Ewald war verheiratet. Aber seine Frau lebte seit einem Jahr ihrer angegriffenen Lunge wegen ganz in der Schweiz, in Davos. Kinder hatten sie nicht. Er hielt sich jetzt nur eine Aufwartung, bewohnte allein die beiden Vorderzimmer.
Schon im Flur zog er Mela in seine Arme und küßte sie stürmisch. Sie lächelte dazu ein seltsames Rätsellächeln, blieb kühl, wenn auch freundlich.
Dann führte er sie in sein Arbeitszimmer vor den Geburtstagstisch, den er ihr aufgebaut. Dort stand eine Torte mit zweiundzwanzig – hier nur zweiundzwanzig – bunten, brennenden Weihnachtskerzen; in der Mitte ein dickes Lebenslicht.
Mela war überrascht. – „Ach – du – das – das ist sehr nett von dir –“ Sie hatte nach der silbernen Tasche auf nichts mehr gehofft. Und nun – da lagen ein sehr eleganter Regenschirm, waschlederne Handschuhe, eine große Bonbonniere – und – ein Sparkassenbuch.
Mela legte ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich an ihn. In ihren Bewegungen war stets etwas Gekünsteltes. Sie liebte gut wirkende Posen, lauschte sie den Kinostars von der Filmleinwand ab
Er küßte sie wieder. Aber – mit demselben Sphinxlächeln drängte sie ihn von sich: „Du! Artig sein! Du weißt!“
Er war ein wenig enttäuscht. – Nun – später – Gerade heute hoffte er auf mehr. – Er war kein Adonis, der fast vierzigjährige Arthur Ewald. Sein Haar hatte er sich schon vor seiner Verlobung gehörig wegamüsiert. Seine Augen waren stets etwas entzündet. Und wenn er Mela auf dem Schoß hatte, dann wurden sie noch röter, tränten sogar. Vor sechs Wochen hatte er sie kennen gelernt – in der Straßenbahn. Und er hätte sie wohl längst wieder laufen lassen, wenn er nicht gewußt haben würde, daß sie aus guter Familie war und daß er wahrscheinlich noch – keinen Vorgänger gehabt hatte. Freilich – Mela ganz zu erobern, war nicht leicht und ihm bisher auch noch nicht geglückt. Sie besaß eine Virtuosität darin, stets im rechten Moment lachend zu rufen: „Halt, mein Herr, Sie gehen entschieden zu weit! Das gibt’s nicht!“
Also – Herr Arthur war etwas enttäuscht. Aber – und so sagte er denn, lüstern ihre neue, sehr tief ausgeschnittene Bluse musternd: „Ich habe Sekt kaltgestellt. Ich hohle ihn –“
Er verschwand nach der Küche zu.
Melas erster Griff war nach dem Sparkassenbuch. Nur hundert Mark! – Sie legte es wieder auf den Tisch zurück, schnüffelte dann auf seinem Schreibtisch herum. Er hatte ihr erzählt, er läge mit seiner Frau in Scheidung. Sie glaubte nicht recht daran. Und – sie war schlau, die Mela, war ebenso wie die Else und Fritz von der Mutter Rätin sozusagen auf den Mann dressiert: Ihr Sehnen galt einem eigenen Heim, – sie wollte geheiratet sein! Aber sie wußte – so bettelarme Mädels heiratet niemand heutzutage so leicht – niemand, wenigstens keiner, wie Mela ‚ihn’ sich wünschte. Daher versuchte sie durch List zu erreichen, was die fehlende Mitgift ihr verschloß.
Sie schlug Arthurs Briefmappe auf – Krokodilleder, sehr schick. Und – da lag ein Brief unter dem letzten Löschblatt – ein noch feuchter Brief – nur anderthalb Seiten erst. Doch – sie genügten Mela. Ah – also hatte er wirklich gelogen. Keine Rede von Scheidung. Seine Frau mußte sich irgendwo zur Kur befinden. –
Als er mit dem Sektkühler und zwei Gläsern wieder zurückkehrte, saß Mela im Klubsessel neben dem Geburtstagstisch und hielt sich die linke Wange.
„Ich habe plötzlich so furchtbare Zahnschmerzen,“ klagte sie weinerlich.
Er war entsetzt, sah all seine Hoffnungen in ein Nichts zerrinnen. Eine Frau mit Zahnschmerzen ist für heiße Wünsche ein total untaugliches Objekt. Das wußte er nur zu gut.
Er schleppte Medikamente herbei, er spielte Zahnarzt – und hätte so gern nur Don Juan gespielt. Er war innerlich wütend; äußerlich ganz Teilnahme und zarte Liebe.
Sie ließ sich bedoktern, hielt ganz still. Und dabei hatte er Gelegenheit, Einsicht in tiefere Regionen ihrer Bluse zu nehmen, aber keine Aussicht, von diesen Regionen irgendwelchen Nutzen zu ziehen. Das machte ihn – innerlich – noch wütender.
Es half alles nichts. Arthur war ein erstklassiger Bankprokurist, aber kein Zahnarzt. Tränchen flossen. Und schließlich bat Mela, er solle ihr doch ein Auto holen.
Sie müsse ins Bett. Nur die Bettwärme würde helfen.
Da flackerte nochmals das Hoffnungsflämmchen in ihm auf.
„Schatz, – du kannst doch auch hier dieses Heilmittel finden. Bitte, bitte – sei lieb, – ich werde auch wirklich ganz artig sein.“ Er redete noch mehr, redete sehr schön – doch vergebens.
Als er ein Auto suchen ging, fluchte er wie ein alter Maat. Dann gondelte Mela mit ihren Geschenken davon. Morgen wollte sie wiederkommen – ganz bestimmt. Schon um acht. Er solle den Sekt nur wieder kaltstellen. – Sie log nie sicherer als diesmal.
Im Auto gähnte sie, öffnete die Bonbonniere und naschte tüchtig, dachte: ‚Schade – ein verlorener Abend!’ Dann fühlte sie den Geldschein, den er ihr für das Auto in den Handschuhausschnitt gesteckt hatte. – Ah – zwanzig Mark. Eigentlich könnte man doch das Geld sparen. Wozu Auto?
Sie drückte auf dem Gummiball, bezahlte, nahm ihre Päckchen und wanderte zu Fuß weiter – über den Nollendorfplatz – bis zur Potsdamer. Hier wartete sie auf die Straßenbahn. An der Haltestelle standen nur wenige Leute. Dann fiel Mela ein Herr auf, wie er nun schon zum dritten Mal dich an ihr vorüberging und sie scharf fixierte – so einer mit Monokel, Lackschuhen mit hellem Einsatz, ganz kurzem Sportpaletot mit Seidenaufschlägen. – Oh – das war nichts für Mela. Die Sorte kannte sie! Die waren von vornherein Nieten in der Ehelotterie.
Sie beachtete den Herrn nicht. Er war für sie Luft. Sie liebte nur das mehr Solide.
Doch – er war hartnäckig. Als sie die Elektrische bestieg, tat er dasselbe, setzte sich ihr gegenüber.
Und Mela dachte: ‚Na – zum Spaß kannst du ja mal zusehen, was es für einer ist.’ Und sie ließ den Schirm umfallen. Er bückte sich schnell.
„Gnädigste, ich fürchte, die Silberkrücke ist etwas lose geworden,“ sagte er leicht näselnd. „Empfehle Ihnen das Jeschäft von Seligsohn zur Reparatur.“ Er hatte keine Ahnung, ob’s hier in Berlin einen Seligsohn gab, denn er war erst vor acht Tagen von ganz oben in Ostpreußen – russische Grenze, wo sich die Hunde gute Nacht sagen – nach der Reichshauptstadt versetzt worden.
Sie lächelte ganz schwach – ihr Sphinxlächeln, das sie der Morena abgeguckt hatte.
„Danke vielmals. Also Seligsohn. – Wo liegt das Geschäft?“
„Hm – ja richtig – Wilhelmstraße –“ Ihm fiel gerade keine andere Straße ein. „Wenn Sie gestatten, erkundige ich mich noch nach der Hausnummer und teile sie Ihnen mit, Gnädigste, – Sehr gern sogar.“ Er freute sich, daß er trotz der jahrelangen Verbannung in Ostpreußen doch noch immer der gerissene Bodo geblieben war, der schon in Heidelberg als Student den Mädels nie Ruhe gelassen hatte.
So kamen sie ins Gespräch. Aber Mela blieb zurückhaltend, obwohl er ihr sehr gefiel. Dann stellte er sich vor – auch alter Trick:
„Bodo Tessin, Versicherungsbeamter.“
Mela war ganz Dame – sie war schlau – Versicherungsbeamter – aha! Gerade unter diesen gab’s so alle möglichen halb gescheiterten Existenzen: Offiziere, Juristen.
Immerhin also: dieser Bodo kam in Frage!
Sie wurde etwas zwangloser, lächelte häufiger. Und dieses Lächeln verwirrte ihn. Er war doch lange in Heydekrug bei der Steuerbehörde gewesen. Die heutigen Berlinerinnen kannte er nicht. Die Heidelberger Mädels waren seiner Zeit doch meist Schäfchen gewesen.
Mela stieg ein paar Haltestellen vor dem Jungfernstift aus. Sie wollte noch länger mit ihm zusammen sein.
Die Nacht war kühl und dunkel. Herbstwind heulte um die Giebel. – Langsam schritten sie nun nebeneinander her durch die Straßen von Berlin S.
Bodo von Tessin wußte noch immer nicht, woran er hier mit dieser Sphinx war. Jedenfalls ein sehr nettes Mädel – frisch, munter, gewandt in der Unterhaltung, fraglos gebildet, – aber – aber dieses – verflixte Lächeln. – Er suchte Mela auszuhorchen. Umsonst. Da nahm er all seine Keckheit zusammen: „Ich glaube, Sie frieren, meine Gnädige. Darf ich Ihnen nicht den Arm reichen? Man – hat’s wärmer etwas enger aneinander –“
„Ich friere wirklich.“ Und sie duldete, daß er sich in ihren Arm einhakte. – Er dachte: ‚Die Maske lüftet sich etwas. Wollen weiter sehn.’ Und er erzählte, daß er sich hier in Berlin sehr einsam fühle; er sei erst kürzlich bei – bei der Union-Versicherung eingetreten, nachdem er jahrelang in – Tilsit als Generalagent einer anderen Gesellschaft tätig gewesen.
Mela freute sich: Generalagent! – Und er log weiter: früher Jurist gewesen, knappe Mittel, als Referendar umgesattelt – und so weiter. – Er drückte Melas Arm. Ein feines Parfüm umwehte ihn – ein aufreizendes Parfüm, dazu noch der Duft ihres Haares – etwas nach Brennschere, etwas nach – ja – eben, wie Frauen, junge Weiber duften.
Er spürte, ihm wurde siedend heiß. In Heydekrug die Damen – mein Gott, alles halb verbauert. Und diese hier neben ihm – das war Großstadtcharme, das war so – so halbe Unschuld, das lockte, reizte, regte auf.
Er umspannte ihre Linke mit seiner Rechten; er drängte sich enger an sie heran. Ihm wurde immer schwüler zumute, er stieß plötzlich hervor:
„Wer – wer sind Sie? Ich flehe Sie an: Sagen Sie’s mir.“
Sphinxlächeln – ein halb verschleierter Blick auf sein erregtes Gesicht.
„Nicht das, was Sie vielleicht vermuten, Herr Tessin.“
Dann blieb sie stehen; gerade hinter einem weit vorspringenden Bauzaun eines Neubaus, in einer windgeschützten Ecke.
„Ich bin hier daheim. Ich danke Ihnen für Ihre Begleitung, Herr Tessin.“ – Sie machte sich los, reichte ihm die Hand.
„Nein – nein – bitte, – noch zehn Minuten schenken Sie mir,“ stotterte er. Er war wirklich etwas verliebt in sie, ließ ihre Hand nicht los, riß Mela plötzlich an seine Brust.
Sie sträubte sich nur schwach. Er suchte ihren Mund, küßte sie, nahm sie ganz fest in seine Arme. Sie fühlte seine Kräfte, seine Jugend. Das war etwas anderes als Arthur Ewald – das war unverfälschte Leidenschaft.
Melas Blut begann sich zu regen. Alle Berechnung schwand; alle klugen Vorsätze vergaß sie. In ihren Augen glomm ein Flirren und Flimmern auf. Sie stöhnte leise.
„Oh – lassen Sie mich – lassen Sie mich,“ bat sie aus jäher Angst vor sich selbst. – Doch er gab sie nicht frei. Er sah, das Sphinxlächeln war verschwunden; etwas Hilfloses, Hingebungsvolles lag jetzt in diesem frischen Gesicht. Wieder küßte er sie.
„Du – du – wer bist du? – Ich muß es wissen,“ raunte er ihr ins Ohr. „Ich liebe dich. Und ich bin einsam.“
Da war’s Mela plötzlich, als hätte sie eine Vision. Sie sah sich als alte Jungfer verbittert zum Amt schleichen, sah sich trostlos Tag für Tag in der Tretmühle des freudlosen Daseins. Fünfundzwanzig war sie jetzt. Vielleicht bald verblüht. Dann begehrte sie niemand mehr. Dann lag der Rest des Lebens vor ihr als graue, traurige Straße. Sollte Sie nicht zugreifen – nicht diesem Manne geben, was er so vorsichtig forderte.
Und wieder trat das Sphinxlächeln auf ihre Lippen.
„Komm’,“ sagte sie ganz leise.
Und Arm in Arm gingen sie weiter – schweigend, mit jagenden Herzen. – Vor ihrer Haustür warnte Mela: „Still – wir müssen im Dunkeln über den Hof. Gib mir die Hand.“
Sie führte ihn so ins Jungfernstift, in den Wohnungsflur, in das kleine Hinterzimmer, ihr alleiniges Reich mit den auf Abzahlung gekauften, trotzdem netten Möbeln, zog die Vorhänge zu, zündete nur eine Kerze an, flüsterte: „Ich bin gleich wieder da.“
2. Kapitel
Der süße Fratz
Bodo von Tessin war allein, schaute sich um, schüttelte den Kopf. Etwas wie Argwohn glomm in ihm auf. Vielleicht doch eine – Dirne, nur eine ganz raffinierte?! – Doch nein – dazu war’s hier zu bescheiden, zu bürgerlich. Die gehäkelten Deckchen – die ganze peinliche Sauberkeit, das Bett mit der hellblauen Steppdecke. Das war nicht das Laster.
Aber – was, was war es sonst?!
Er setzte sich in den einen Plüschsessel; ein altes Stück, – doch bequem. Er schaute sich wieder um.
Da trat Mela ein, ohne Hut und Mantel, stärker nach jenem Parfüm duftend.
Er haschte nach ihr, zog sie auf den Schoß.
Das Licht auf dem Nachttischchen flackerte, knisterte, ging von selbst aus. Ein Siegellacktröpfchen war dran schuld. Mela siegelte ihre Briefe. Arthur Ewald hatte ihr eine hübsche Garnitur bunter Stangen nebst Petschaft geschenkt.
Und Bodo küßte sie; küßte ihren Nacken, ihren Hals, hörte ihr keuchendes Atmen, fühlte ihre glühenden Wangen und Hände, das leise Beben, das ihr zuweilen wie ein Schauer über den Leib ging.
Er verstand, wovor ihr bangte. –
Der Herbststurm heulte. Und Mela schmiegte sich an Bodos Brust und weinte. Draußen dämmerte der Morgen herauf.
Er streichelte ihr Haar. „Nicht weinen, Liebes, – bereust du?“
Dann hörte er im Flur Geräusche.
„Es sind nur meine Schwestern,“ beruhigte sie ihn. „Sie gehen zum Dienst.“
Und nun erst erfuhr er, was sie war, daß ihr Vater ein studierter Mann sei, nur ihren Vaternamen verschwieg sie.
Da packte ihn ein ernüchternder Schreck. Also wirklich: ein Mädel aus guter Familie! – Himmel – wenn er das geahnt hätte! – Er sah schon die segnenden Hände einer Schwiegermutter über sich und – er war doch Bodo, Baronen von Tessin, – und daheim auf dem westpreußischen Majorat saß der adelsstolze Vater, in Stettin wohnte die verheiratete Schwester, die Frau Oberregierungsrat.
Da – da hatte er sich ja eine nette Suppe eingebrockt.
Mela küßte ihn, flüsterte: „So nachdenklich?! Ich weine ja nicht mehr. Ich – ich habe dich ja so lieb – so lieb –“
Und er vergaß Vater, Schwester, den Baronen. Er kam aus Heydekrug und hatte dort zumeist wie ein Mönch gelebt. –
Um neun Uhr morgens saßen sie dann drüben im Wohnzimmer bei Kaffee und Torte und appetitlichen Brötchen.
Mela als Hausfrau in der großen Wirtschaftsschürze war reizend. Und – sie war auch so ganz Dame, und – so verliebt war sie – noch immer.
Um zehn mußte er fort. Mela schaute erst ins Treppenhaus, lauschte, ob die Luft rein war. Dann ging er nach einem letzten Kuß sehr sicher und ruhig über den Hof. Im Gartenhause wohnten acht Parteien. Wer konnte damals sagen, woher er kam
Abends hatte Mela bis neun Dienst. Dann wollten sie sich treffen – vor Cafee Josty, Potsdamer Platz.
Bodo Tessin freute sich auf das Wiedersehen. Die Angst vor der segnenden Schwiegermutter war geschwunden. Mela hatte ja nicht die geringste Andeutung gemacht, daß sie mehr wollte als nur seine Liebe.
Und Mela selbst?
Als Bodo gegangen, saß sie wieder am Kaffeetisch und überdachte diese Nacht lange und mit dem gereiften Verstande der Lebenskundigen. Sie bereute nicht, was vorgefallen war. Sie merkte, daß sie Bodo sich hingegeben, weil er ihr mehr war, als alle Männer, die ihr bisher begegnet. Sie fühlte trotz all der ernsten Gedanken ein Singen und Klingen in ihrer Brust, wie jubelnde Hochzeitfanfaren. Nur – klug wollte sie jetzt sein, sehr klug, so schwer es ihr auch werden würde.
Sie schrieb dann an Arthur Ewald – sehr freundlich, aber sehr kühl: Sie könnten sich vorläufig nicht wiedersehen, am besten wohl gar nicht mehr; sie hätte erfahren, daß seine Gattin krank in Davos weile; er hätte sie nicht so belügen sollen; sie wäre aus guter Familie, und er schiene sie doch sehr falsch eingeschätzt zu haben.
Als Arthur diesen Rohrpostbrief erhielt, fluchte er wie ein ganzes Dutzend Maate. Und er antwortete ihr auch per Rohrpost – nur zwei Sätze: ‚Kind – du willst geheiratet sein, aber – du fängst es falsch an – ade, Arthur.’
Als Melanie Schütz das las, lächelte sie ihr Sphinxlächeln: ‚Abwarten!’ dachte sie – ‚Abwarten!’ –
Bodos Dienst war um drei nachmittags beendet. Mit seinem Kollegen Harrig, einem dreimal gesiebten Berliner, ging er gemeinsam wieder in die ‚Traube’ zum Mittagessen.
Auch Erwin Harrig gähnte viel.
„Sie scheinen schlecht geschlafen haben,’ meinte Bodo und – gähnte.
„Genau wie Sie. – Wissen Sie, ich hab vergangene Nacht etwas Unglaubliches erlebt – Tatsache! Ich bin doch auf dem Berliner Pflaster groß geworden, und ich darf mich rühmen, schon an manchem reinen Kelch genippt zu haben. Benutzte Gläser sind nicht mein Fall. Dazu bin ich – zu reinlich. – Ich möchte Ihnen die Geschichte unter strengster Diskretion erzählen, Tessin, obwohl ich – na – Sie werden ja schweigen.
Also. Ich sitze gestern gegen Mitternacht allein im Cafee ‚Merkur’ – Unter den Linden; neues Lokal, sehr elegant, sehr intim, angenehmes Halbdunkel, diskrete Musik, besseres Publikum. ’s war ziemlich leer dort. Da nehmen am Nebentisch ein Mädel und ein blutjunges, schlankes Bürschchen Platz. Sie klein, zierlich, aber voll, pfiffiges Gesicht, lustige Augen; er so etwas Zigeunertyp. Ich dachte: vielleicht Mitglied einer italienischen Kapelle, zumal er das Haar recht lang trug, reichlich genial – unordentlich.
Ich hatte nichts Besseres zu tun, beobachtete die beiden. Na – und was soll ich Ihnen sagen: beide beginnen mit mir zu liebäugeln – beide! Auch der Italiano. Ich werde stutzig. Ich kenne mich doch auf alles aus. Und – ich werde doch nicht aus dem Bürschchen klug, der für Mädels geradezu gefährlich hübsch aussah. – Das Pärchen interessierte mich. Ich suchte Anknüpfung, finde sie auch, setzte mich zu den beiden, wir plaudern über dies und jenes, brechen zusammen auf.
Der schlanke Bursche und das Mädel – sie waren offenbar was Besseres – gaben sich als Geschwister aus, verschwiegen aber Namen und alles Nähere; nur die Vornamen bekam ich zu hören: Betsy und Fritz – also die Geschwister trennten sich dann am Potsdamer Platz. Betsy fuhr mit der Straßenbahn heim. Fritzchen und ich gingen noch in die nächste Bolz-Stube; nach drei Schnäpsen meinte ich, ich hätte daheim weit bessere. Inzwischen, Tessin, – hören Sie und staunen Sie! – hatte ich nämlich doch gemerkt, daß Fritzchens Weste sich aus sehr natürlichen Ursachen recht stark über der Brust wölbte –“
„Ah – ein Mädel – verkleidet?“ warf Bodo gespannt ein.
„Allerdings. – Ich hatte also Lunte gerochen. Auch die schmalen Hände und – so ein gewisses Weiberodeur verrieten mir die Wahrheit. – Doch ein ganz reizendes Abenteuer nicht wahr? – Oh – Sie machen ein so enttäuschtes Gesicht. Sie möchten gern noch mehr hören! – Hm – Sie werden den süßen Fratz ja nie kennen lernen, denn – wie gesagt – es ist wirklich etwas Besseres, eine – Delikatesse aus einem – Privathaus. – Die Fortsetzung also. Nun, Fritzchen kam wirklich mit zu mir. Sie kennen ja mein Heim, Tessin. Sie haben es über den grünen Klee als geschmackvoll, eigenartig und behaglich gelobt. Wir, Fritzchen und ich, saßen dann im Arbeitszimmer nebeneinander auf dem weichen Ledersofa, probierten meine Liköre und schwatzten. Sehr bald wollte ich meinen Gast so etwas auf den Zahn fühlen. Man konnte ja nicht wissen. Vielleicht war’s doch nur eine gewerbsmäßige Asphaltsblume – nur eine, die mit einem neuen Trick arbeitete. Heutzutage gibt’s ja ’ne ganze Menge, die als tiefverschleierte Witwen, Krankenschwestern oder gar Hallelujamädchen Gimpel fangen. Auf den Zahn fühlen! – Ich tat’s, indem ich einen leidlich gepfefferten Witz erzählte.
Und der Erfolg? – Oh, Tessin, – Weiber, die vor Verlegenheit und Scham blutrot werden, sind reizend! Der süßen Fratz wollte schier in ein Mauseloch sich verkriechen, suchte aber tapfer dabei die Jünglingsrolle weiterzuspielen, stotterte nur nach einer Weile leise: „Oh – bitte nicht solche Sachen. Ich liebe das nicht.“
Und – das alles war echt, Tessin, goldecht, dieses Rotwerden, dieses Kopfabwenden, dieses angstvolle nervöse Spiel der Hände.
Ich wurde also wieder hübsch manierlich. Aber – der Teufel soll neben einem so jungen, pikanten Mädel ruhig dasitzen, zumal wenn in den Herrenbeinkleidern ein paar so stramme Schenkel stecken und nennen das gebauschte Oberhemd sehr mollige, sehr rundliche, knospende Geheimnisse vermuten läßt.
Nein – der ‚Teufel’ – das ist Unsinn, – ein alter, fetter Eunuch des Harems des Sultans hätte es sein müssen! Und ich bin leider nicht Eunuch – oder Gott sei Dank! – bin 29, gesund, alles in allem kein übler Bursche, und – woran es den Eunuchen fehlt, eben an Liebessehnen, das ist gerade bei mir verdammt rege, so daß meine brave Mama mich täglich anfleht, doch ja nur bald zu heiraten, sonst – würde mein Gehalt bald für Alimente draufgehen, was nebenbei vollständig unrichtig ist, denn bisher bin ich stets mit dem blauen Auge davongekommen. Wir Berliner sind ja helle – sehr helle, in allem.
Lange hielt ich’s also so als schmachtender Liebestoller neben ihr in bloßer Bewunderung der in dem Herrenanzug steckenden Reize nicht aus. Sie ahnte offenbar nicht im entferntesten, daß ich sie längst durchschaut hatte, rauchte Zigaretten mit einer Grazie wie – etwa Sie, lieber Tessin, und erzählte, sie sei Korrespondent für Englisch und Französisch in einer Leder-Großhandlung, erzählte aber nicht, wo und wie sie wohne, was der Herr Papa sei – und so weiter.
Als eine Gesprächspause eintrat, nahm ich dann plötzlich ihre Hände in in meinen, drückte ihren Oberkörper fest gegen die Sofarückwand und – küßte sie – küßte sie immer wieder.
Sie war so überrascht, daß sie sich gar nicht wehrte.
Dann lachte ich sie vergnügt an: „Fritzchen – so, nun ist soeben Demaskierung gewesen – Sie sind ein weibliches Fritzchen – nein, Süßes, du bist ein weibliches Fritzchen, du lieber, kleiner Racker –“
Sie wurde ganz bleich. – Und nun schlug sie die schmalen Hände vor das pikante Bubengesicht, weinte, schluchzte.
Es dauerte nicht gar allzu lange, bis ich sie wieder beruhigt hatte.
Ja – und seltsam, Tessin – ich gebe ehrlich zu, in meinem Verbrechenherzen war plötzlich für den süßen Fratz etwas anderes aufgekeimt, etwas – na sagen wir Reineres als man sonst empfindet, wenn man Damenbesuch auf der Bude hat.
Sie muß wohl auch an meiner Art, wie ich sie tröstete, ihr gut zuredete, herausgemerkt haben, daß ihr von mir keine unmittelbare Gefahr drohte. Immerhin setzte sie sich jetzt in den Klubsessel neben das Sofa, und dann beichtete sie stockend.
Sie wohnt mit einem älteren Bruder und ihrer Schwester Betsy zusammen. Wo, verschwieg sie. Auch den Vatersnamen weiß ich bis jetzt noch nicht. Sie hat noch einen jüngeren Bruder – Student irgendwo. Dem gehörte der Anzug und so weiter. Er hatte seinen Koffer für ein paar Tage untergestellt und war zu den Eltern – irgendwo Nähe Berlin – gefahren. Die beiden Mädels haben dann die Abwesenheit ihres Tugendwächters zu dem heutigen Ulk benutzt. Daß diese Maskerade sehr übel unter Umständen hätte auslaufen können, daran dachten sie nicht.
Das also war Fritzchens Beichte.
Mittlerweile war’s fast halb zwei Uhr geworden und sie wollte nach Hause. Und er, Tessin, er – ja – wir Männer taugen doch zumeist alle nichts. Wenn erstmal das begehrliche Tier in uns rege geworden ist, dann – werden wir zu allem Möglichen – zu Schauspielern, Betrügern oder – Rohlingen. – Na – letzteres bin ich nie gewesen. Aber – hier diesem tatsächlich in seiner Art geradezu entzückenden Mädel gegenüber, zu der mich noch eine gewisse Seelenneigung hinzog, da vergaß ich die guten Vorsätze, die ich gefaßt hatte, als sie so jämmerlich schluchzte, – da habe ich plötzlich vor ihr gekniet, habe ihr die Hände geküßt, habe allerlei geschwatzt – von Liebe, von meiner Sehnsucht nach einem lieben Geschöpf, das mir ganz allein gehören sollte, da habe ich gebetet, gefleht, sie möchte nur noch eine Stunde bei mir bleiben. – Und – das von Liebe und Sehnsucht, das meinte ich wirklich ehrlich, denn ich war wirklich verliebt in sie.
Sie blieb. Sie saß wieder auf dem Sofa; wir hielten uns eng umschlungen. Und – sie küßte mich – scheu, zärtlich, aber leidenschaftlich; stammelte dazwischen, daß ich der erste sei, dem sie ihre Lippen preisgebe – wirklich der erste. – Ich zweifle nicht an ihren Worten: ich war der erste – das merkt man doch. Und weiter flüsterte sie mir so leise und so keusch zu: ‚Ich liebe dich auch – du hast mir gleich gefallen, Erwin – lieber Erwin –’
Nachher nannte sie mich nur noch Erwi. Das n ließ sie fort. ‚Es klingt zärtlicher,’ sagte sie.
Ja – und dann...
Dann wurden ihre Küsse, ihre Lippen immer heißer; ihre Augen waren wie von feuchten Schleiern bedeckt.
Und da ging denen auch der Rest der guten Vorsätze bei mir in die Binsen.
Wir taugen eben wirklich alle nichts, wir Männer.
Ein Weib, ein reines, junges Weib, das in einem Herrenanzug steckt, zu erobern – hm, das ist – nicht so einfach, lieber Tessin.
Ich will nicht zu ausführlich werden. – Ach Tessin, ich fürchte, ich werde diese beiden Stunden nie vergessen. Mehr sage ich nicht.
Als mein Fritzchen sich dann wieder ankleidete in meinem Schlafzimmer, da wurde mir der Abschied verteufelt schwer. Ich wollte sie heim begleiten. Sie lehnte sehr energisch ab. Überhaupt – sie hat für ihre Jugend eine verblüffende Willenskraft, klare Überlegung und Selbstständigkeit.
Sie küßte mich zum letzten Mal: ‚Ich habe dich lieb – ehrlich lieb, sonst – wäre all dies nicht geschehen,’ sagte sie und schmiegte sich an mich. ‚Ich bin ein blutarmes Mädel. Wenn ich nun alte Jungfer bleiben sollte, dann – dann habe ich doch wenigstens die Seligkeit einmal genossen.’
Ich brachte sie bis zum nächsten leeren Auto, drückte ihr noch schnell zehn Mark Fahrgeld – etwas ängstlich – in die Hand. Und sie? Ganz verständig meinte sie leise: ‚Ich danke dir. Von meinem Gehalt kann ich mir Autofahren nicht leisten. Den Rest gebe ich dir morgen zurück –’
Dem Chauffeur nannte sie als Ziel Bahnhof Friedenau-Wilmersdorf.
Ich schaute dem Auto nach. Sie winkte lange mit dem Taschentüchlein; ich tat dasselbe.
Und jetzt, Tessin, jetzt – gähne ich und – sehne mich, – freue mich auf den Abend, denn um acht treffen wir uns vor dem Palast-Kino – ich und mein Fritzchen –“
Bodo von Tessin hätte nun auch so manches erzählen können – etwas ganz Ähnliches. Er sah vor sich Melas Gesicht mit dem Sphinxlächeln, dann Mela als Hausfrau.
Nein – diese Erinnerungen waren doch zu schön, um sie mit einem Anderen zu teilen.
3. Kapitel
Alle drei
Fritzchen gab dem Chauffeur am Bahnhof Friedenau-Wilmersdorf ein neues Ziel an, ließ das Auto dann aber ein paar Häuser vor Nummer 9 halten, stieg aus, bezahlte, gab eine Mark Trinkgeld und – wurde plötzlich angesprochen:
„Fritz wie – du auch jetzt erst! Es ist ja halb sechs bereits.“
Es war Schwester Else.
Die beiden vermieden es, sich anzusehen. Keine fragte die andere, wo sie solange gewesen. Wie die Einbrecher schlichen sie über den Hof ins Jungfernstift, gingen ebenso leise in ihr gemeinsames Schlafzimmer, steckten die Lampe an, die kleine Petroleumlampe mit der rosa Glocke, setzten sich auf das winzige Kordsofa und – ließen die Köpfe hängen.
Else-Betsy seufzte auch wiederholt; auch ein paar Tränen rollten ihr über die Wangen.
Dann blickte Elfriede die Schwester verstohlen von der Seite an, griff nach ihrer Hand, rutschte ganz nahe an sie heran und fragte leise:
„Wo – wo warst du?“
Else weinte stärker. „Erzähl du erst,“ bat sie.
„Oh – ich habe mit ‚ihm’ sehr nett auf seiner Bude geplaudert. Er ist ein so lieber Mensch. Es war ganz harmlos natürlich. Gewiß – geküßt hat er mich. Man darf heutzutage als armes Kirchenmäuschen nicht prüde sein. Aber – ich lasse mich nie mehr von ihm küssen, nie mehr, nichts erlaube ich ihm, nichts. Wenn er mich wirklich lieb hat, dann – dann wird er mich gerade dann nicht vergessen, dann wird er sich immer mehr nach mir sehnen, und – vielleicht verlobt er sich mit mir. Ach – er war wirklich so lieb. Und er muß reich sein. Denk dir, seidene Nachthemden hat er, und überm Bett einen blauseidenen Baldachin – echt japanisch –“
Else hob blitzschnell den Kopf: „Seidene – Nachthemden – Bett – Baldachin?“ sagte sie langsam. Aber in ihrer Stimme war dabei nichts Vorwurfsvolles – nein, eigentlich mehr etwas Freudig-Überraschtes.
„Na ja,“ meinte Fritzchen schnell. „Erwin erzählte mir davon. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich in seinem Schlafzimmer war. – Und nun, – Else – nun deine Beichte –“
Else weinte nicht mehr. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Sie wußte jetzt, daß auch für Fritzchen in dieser Nacht die bedeutungsvolle Stunde ohne elterlichen Segen, ohne Pfarrer und Standesamt geschlagen hatte – genau wie für sie.
„Ach – meine Beichte – was gibt’s da zu beichten,“ begann sie und nahm sich nun gleichfalls eine Zigarette, denn Fritzchen hatte schon vor–hin sich eine angezündet. „Kaum hatten wir uns getrennt, da sprach mich ein Herr an. Er saß neben mir in der leeren Straßenbahn. Erst war ich sehr zurückhaltend. Er trug sich ganz schwarz – Trauer. Er paßte gut zu mir, war nur etwas größer, sah sehr fein aus, hatte Spitzbart und eine moderne Hornbrille. Schließlich kamen wir doch ins Gespräch. Er merkte, daß ich nicht – ‚so eine’ – war, und er behandelte mich danach. Wir gingen dann noch in eine Weinstube in der Tauentzinstraße. Er war sehr nett, sehr zutraulich, erzählte mir, daß er seine Frau vor einem halben Jahre verloren habe nach kurzer, sehr unglücklicher Ehe. Er hatte sie heiraten müssen, weil er ganz verschuldet war. Er ist Doktor phil. und Tierarzt, hat aber wenig zu tun. Und er heißt mit Vornamen Ernst. Er ist auch recht ernst, und er freute sich so, daß wir uns so zwanglos und anregend unterhielten. Dann – dann – gingen wir noch – spazieren – so durch die Straßen. Abends treffen wir uns. Um acht Uhr – am Bahnhof Wittenbergplatz.“
Fritzchen glaubte nicht recht an dieses Spazierengehen.
„Dann seid ihr ja stundenlang durch die Straßen gelaufen, Else,“ meinte sie.
Betsy wurde sehr – sehr rot. – „Ja – er hat mir ja noch seine Wohnung gezeigt – nur fünf Minuten war ich da – sehr hübsch eingerichtete vier Zimmer – alles Eiche – Schlafzimmer nur Satin – Nußbaum mit Einlagen –“
„Ah – im Schlafzimmer wart ihr auch?“
„Oh – ich habe nur reingeguckt – ganz flüchtig.“
„Ob er denn vermögend ist? – Hat er von seiner Frau etwas geerbt?“ examinierte Fritzchen weiter, denn sie ahnte, daß Else die Hauptsache verschwieg.
„Sehr vermögend. Und – Wäsche war in den beiden Spiegelschränken im Schlafzimmer aufgestapelt – das hätte für drei Aussteuern gereicht! Und – die Damastbezüge hatten ein entzückendes Muster, und an der Decke eine elektrische Lampe, ein Amor, der ein großes Herz hält, das ganz mattgelb strahlte – so ein recht molliges Halbdunkel –“
„Hm – Damastbezüge! – Er hat dir wohl erzählt, was für ein Muster sie haben –“
„Natürlich – natürlich, – und – gewiss, – ich habe mich auch küssen lassen. Aber – nur küssen. Er tat mir so leid. Er hat so schlecht mit seiner Frau gestanden. Sie war acht Jahre älter als er – und so ganz ohne Temperament. – Übrigens – ich wird’ jetzt auch die Zurückhaltende spielen wie du, Fritz, – du hast ganz recht, vielleicht –“
Fritzchen gähnte: „Es lohnt nicht mehr, zu Bett zu gehen. Ich werde uns Kaffee aufbrühen –“
Sie verschwand, kam aber sehr bald zurück, ganz lautlos, aber etwas erregt.
„Du – Else, die Mela muß krank sein, fürcht’ ich,“ sagte sie sehr grüblerisch. – „Zieh’ dir doch auch die Schuhe aus; aber leise dann. – Wollen mal an Melas Tür lauschen –“
Im Dunkeln horchten sie dann.
Da zog Fritzchen die Schwester in die Küche, drückte die Tür ganz, ganz behutsam zu, knipste das Licht an, setzte sich auf den Küchenstuhl ans Fenster und – lachte, lachte – aber ohne Geräusch.
„Du, Else, – ich glaube, wir beide haben in dieser Nacht uns zwei fremde Nestchen angesehen, aber die Mela – die hat ihr eigenes einem gezeigt – einem Manne! Jedenfalls, krank ist sie nicht, im Gegenteil!“ Und sie lachte wieder so recht spitzbübisch. –
*
Betsy und Fritzchen gähnten sehr viel während der Arbeit. Und abends waren sie dann so müde, daß sie ihre Verehrer schwer enttäuschten, weil sie nach dem Besuch des Palast-Kinos und des Theaters des Westens sofort nach Hause fuhren. Ziemlich gleichzeitig trafen sie daheim ein, und auch Mela, die sie den Tag über nicht gesehen, erschien sehr bald nach ihnen, wurde von den beiden Jüngeren mit seltsamen Blicken gemustert und – vergeblich ausgehorcht.
Die drei Jungfernstiftlerinnen – armer Bruder Amtsrichter, du hättest ahnen sollen, wie wenig der Name noch paßte! – hatten sich ins Wohnzimmer gesetzt und naschten Konfekt, plauderten noch, während sie sich gemächlich die Schuhe auszogen, das Haar zur Nacht aufsteckten und Blusen und Mieder öffneten.
Fritzchen klopfte bei Mela immer wieder umsonst auf den Strauch. Nur eins gab Mela zu, daß sie heute mit einem Bodo – einer Bekanntschaft von gestern, bei Dressel, Unter den Linden, gewesen, zum ersten Mal bei Dressel.
Dressel imponierte selbst Fritzchen. – „Wie heißt dein Bodo denn weiter?“ fragte sie.
„Bodo Baron von Tessin. Und Regierungsassessor ist er. Gestern, als wir uns kennen lernten, hat er mich erst beschwindelt und den Adel verheimlicht. Heute, als ich – sehr nett sonst, aber – sehr vorsichtig war, wurde er ehrlich.“ Sie lächelte wieder ihr Kino-Sphinxlächeln und – gähnte. „Ich gehe zu Bett, Mädels,“ fuhr sie fort. „So müde wie heute war ich noch nie. Ich habe vergangene Nacht schlecht geschlafen – so unruhig geträumt –“
„Wohl von – Bodo,“ neckte Fritzchen.
Wieder das Sphinxlächeln: „Vielleicht – jedenfalls sehr lebhaft. Gute Nacht.“
Im Jungfernstift erloschen die Lampen. Die drei Bewohnerinnen aber lagen noch lange wach und – sehnten sich, hofften, – sehnten sich sehr, aber nahmen sich trotzdem nochmals vor, ganz – ganz fest zu bleiben – nur hin und wieder einen Kuß zu bewilligen, denn – vielleicht war dies der einzige Weg, auf dem man als Kirchenmäuschen vor den Traualtar kam. –
*
Bodo Tessin und Erwin Harrig saßen wieder in der ‚Traube’ beim Mittagessen.
„Na,“ meinte der Baron, „ist Ihr Fritzchen gestern erschienen?“
Harrig nickte zerstreut, zerlegte weiter den Lachs mit holländischer Tunke.
„Enttäuscht?“ fragte Tessin interessiert. „Doch wohl eine schlaue Gewerbsmäßige, die nun – den ersten schüchternen Pumpversuch gemacht hat.“ Dabei dachte er an Mela und den Abend bei Dressel gestern. Auch er hatte Ähnliches geargwöhnt, hatte sich aber getäuscht. Mela war wirklich Dame – trotz allem!
„Enttäuscht, lieber Tessin, – nein, das nicht,“ erklärte Harrig zögernd. „Und – von Pumpversuch keine Rede! Fritzchen ist wirklich kein Blender gewesen, nur –“
„Nur?“ ermunterte der Baron.
„Hm – ich hätte so sehr gern wieder mit ihr in meiner Wohnung – Likör getrunken, zumal sie als Mädel, ohne Bruder Studios Anzug, noch reizender ausschaute. Aber der süße Fratz war gestern so entsetzlich ehrpusselig, sehr lieb, sehr zärtlich, nur – kaum einen Kuß bekam ich auf der dunklen Straße –“
Bodo Tessin dachte wieder an seinen Mela. Merkwürdig, auch sie hatte sich gestern so ganz als Dame gegeben. Er hatte ihr sein Heim zeigen wollen. Nichts davon! Sie hatte sich zwar an ihn geschmiegt, aber den Kopf geschüttelt: ‚Nein, du, – nein, du schätzt mich falsch ein. Was gewesen, darf nicht mehr sein! Ich habe dir bewiesen, wie lieb ich dich habe, – ein Mal bewiesen. Damit mußt du dich begnügen.’ Und er hatte gebettelt, gefleht, – es half alles nichts. Mela blieb standhaft, lächelte ihr seltsames Lächeln, schaute ihn zärtlich an und – küßte ihn wild und toll, als sie durch die kleine Passage gingen, die ganz einsam war. Aber mehr – mehr gewährte sie nicht. –
Erwin Harrig trank einen Schluck Mosel, fuhr fort:
„Also – mein Fritzchen war ganz die keusche, gab sich ganz, als hätte sie nie bei mir auf dem Ledersofa im Dunkeln im allertiefsten Negligee auf meinem Schoß gesessen. Ein kleiner Racker! Und – schlimm bei der Geschichte ist nur, daß ich jetzt schon ganz ehrlich und ganz unsinnig ernsthaft in sie verliebt bin. Was soll daraus werden?! Ich – ich kann sie doch nicht gut heiraten, obwohl sie wie gesagt aus – studierten Kreisen stammt. Wenn ich nicht gewaltsam Schluß mache, so – so geht die Liebe mit mir durch, und – ich verlobe mich mit ihr. Zunächst werde ich aber mal abwarten. Vielleicht – ist sie doch ohne Standesamt wieder mein süßes Frätzchen – Fritzchen.“
Tessin hätte jetzt rufen können: „Genau meine Gedanken und Absichten!“ Aber er – schwieg. Der Kollege wußte ja nichts von Mela. –
Nach dem Essen gingen sie noch zu Josty Kaffee trinken. Kurz vor dem Lokal kam ihnen ein Herr entgegen, bei dessen Anblick Erwin Harrig stutzte.
„Herr Gott – das ist doch der Ernst Kriebel, mein Bundesbruder!“ rief er dann. „He – Kriebel, Mensch, Viehdoktor, her mit dir! Dich hat man ja ein ganzes Jahr nicht gesehen.“
Tessin fand den Tierarzt sehr sympathisch. Zu dreien saß man nun bei Josty in drangvoll fürchterlichster Enge. Der Baron verabschiedete sich dann bald. Er mußte seine Schwester, die Frau Oberregierungsrat, vom Bahnhof abholen. Sie hatte sich zu Einkäufen telegrafisch angemeldet.
Ernst Kriebel schüttelte nun dem Fremden sein Herz aus, berichtete vom Tode seiner Frau und dann – mehr zufällig – auch von einem fremden Mädel, das er letztens kennen gelernt hätte. Als er sie ganz begeistert genau beschrieb, wurde Harrig erst nachdenklich, fragte dann: „Wie heißt denn dieses Perlchen, daß dich nun so innig getröstet hat und auch noch weiter trösten wird?“
„Else – auch Betsy nennt sie sich. Vatersnamen? – Nicht zu wollen! – Aber, Erwin, – von wegen ‚weiter trösten’ – nein, da scheine ich mich verrechnet zu haben. Gestern abend war sie überaus lieb, aber auch überaus zurückhaltend. Ein merkwürdiger Mädel-Typ jedenfalls. Ich werde nicht recht klug aus ihr –“
„Stimmt! Sehr merkwürdig!“ nickte der Regierungsassessor. „Sehr. Aber – das ist wohl erbliche Belastung in der Familie –“
„Was – was heißt das?! Kennst du denn –“
„Ne – die Familie nich, mein Lieber. Unter strengster Diskretion, nur die jüngere Schwester – sehr genau; ein lieber, süßer Kerl ist’s, jedoch – auch sie huldigt dem Prinzip: ‚Einmal ließ ich dich naschen von meines Kelches süßem Wein; jetzt – sind verkorkt dir alle Flaschen, ich – will nicht deine Dirne sein!“
„Ah – ganz recht, – eine Schwester erwähnte sie, meine Else. – Also du – du und diese Schwester – komischer Zufall!“
„Ne, lieber Ernst, – nenn’ das bitte nicht komisch! Das ist eher traurig, denn – ich bin leider schon in mein Fritzchen so verschossen, daß ich kaum den Abend abwarten kann, obwohl – obwohl vielleicht abermals nur ein heißer Kuß dabei herauskommt –“
„Verschossen? – Reich mir die Hand, Bruderherz, – mir geht’s genau so!“
4. Kapitel
Sieg oder Niederlage?
Und es ging den dreien auch weiter genau gleich.
Als ihre Lieben ihnen eine ganze Woche lang hartnäckig jede zärtlichere, nähere Vereinigung verwehrten, als die drei Liebhaber merkten, daß die eine Nacht in ihrem Herzen ein Feuer entfacht hatte, das nicht so leicht zu löschen war, da – setzten sie sich hin und schrieben ihren Freundinnen jeder einen Brief. Diese Briefe hatten so ziemlich denselben Wortlaut, gingen auch postlagernd an dasselbe Postamt ab unter einer vereinbarten Chiffre, – denn die Bewohnerinnen des Jungfernstifts hatten es bisher sehr gut verstanden, Namen und Wohnung weiter zu verheimlichen.
Mela fragte als erste am Schalter wie täglich nach: ‚Etwas da unter M 100?’ Denn Bodo hatte ihr erklärt, er könnte doch mal plötzlich verhindert sein, und da wäre es sicherer – und so weiter. Und aus demselben Grunde hatten auch Erwin und Ernst eine tägliche Nachfrage auf dem Postamt für zweckdienlich erachtet.
Mela hatte bisher stets vergeblich den Gang zum Schalter gemacht. Heute – war ein Rohrpostbrief da – M. 100 – es stimmte.
Sie trat sofort an ein leeres Schreibpult, öffnete den rötlichen Umschlag, las.
Mein Liebling !
Ich will nicht Redensarten machen. – Was du mir bist, geworden bist, weißt du! Ich liebe dich! Aber – ich liebe dich zu sehr, um tagtäglich mit dir zusammen zu kommen und tagtäglich mich umsonst in Sehnsucht nach einer Wiederholung jener einen traumhaft schönen Nacht zu verzehren. Von Erinnerungen wird man – nicht satt! Im Gegenteil. Der Hunger steigert sich nur, und wenn du dann willig mir deine Lippen bietest, dann – dann steigen diese Erinnerungen so übermächtig in mir auf, daß der Hunger mich geradezu krank macht. Ich bin bereits übernervös geworben, schlafe schlecht, träume nur immer von dir. Und was träume ich! Oh, Mela, es fällt mir ja so unendlich schwer, dich aufgeben zu müssen, aber – es geht nicht anders, weil es – eben nicht so weitergehen kann. Daher, leb wohl, Mela, – für immer! Ich danke dir nochmals für all die reizenden Stunden, die du mir schenktest! Leb wohl! Auch ich werde dich nicht so leicht vergessen.
In innigster Liebe –
Dein Bodo
Mela las und lächelte ihr Sphinxlächeln. –
‚So leicht nicht vergessen,’ schrieb er. Nun – sie hoffte, er würde sie überhaupt nicht vergessen. Und wenn er das selbst eingesehen hatte, dann –
Auch Fritzchen fand heute einen Rohrpostbrief vor unter F 11, las ihn im Gehen auf der Straße und – nickte befriedigt, entsprechend ihrem zielbewußten Charakter, dachte: ‚Also das zweite Stadium hat begonnen! Nun wird sich ja herausstellen, ob Mutter oder – ich recht behalte! Mutter hat ja stets gepredigt: ‚Kinder, seht zu, daß ihr heiratet. Aber – einen Mann bekommt nur ein bescheidenes, zurückhaltendes Mädel! Merkt euch das! Zeigt nie einem Manne allzu deutlich, daß ihr ihn gern habt – nie! Ihr müßt selbst schon sehen, ob ihr die richtige Grenze da findet. Gute Lehren passen nicht auf den Einzelfall.’ – Ja, so hat Mutters Rezept gelautet. Mein Himmel – es war ja so veraltet! Mag mal früher was genützt haben! Heutzutage? Auch deshalb hab’ ich mir auch mein eigenes Rezept geschrieben, bin ja auch zurückhaltend gewesen, habe aber erst mal – dem Patienten, meinem Erwin, den Mund etwas wässrig gemacht. – Jetzt heißt’s abwarten. Meine Firma kennt er ja. Und wenn er nach etlichen Tagen vielleicht doch zu der Überzeugung gelangt ist, ich würde eine sehr fesche Frau Regierungsassessor abgeben, dann –’
Als dritte holte Else ihr Abschiedsbrieflein ab.
Und sie – auch entsprechend ihrer ganzen Veranlagung – weinte erst ein paar Tränlein. Sehr bald kamen ihr aber genau dieselben Gedanken wie Fritzchen.
*
Komisch, an diesem Abend – es war gerade ein Sonnabend – waren die Bewohnerinnen des Jungfernstifts seit neun Tagen wieder einmal sehr häuslich. Saßen in ihrem Wohnzimmer um den Tisch herum und lasen, rauchten Zigaretten, unterhielten sich.
Fritzchen war dann die offenste, begann als erste von ihrem Erwin zu erzählen, der – ihr heute den Laufpaß gegeben hätte, fügte hinzu: „Wollen sehen – er wird sich eines Besseren besinnen!“
Dann rückte Else mit der gleichen Neuigkeit heraus, dann auch Mela. Aber keine zeigte ihren Abschiedsbrief den anderen, denn – in jedem standen ja so allerlei Andeutungen, über die man sich ein Bissel schämen mußte. –
Nachher sagte Mela: „Kinder, ich denke, wir fahren morgen Sonntag mal wieder nach Hause. Die Eltern werden sich freuen. Ich muß auch meine Schuhe mitnehmen. In Buckow ist das Besohlen billiger. Und dann muß ich auch Mutter beim Einkochen helfen. Allein wird sie mit dem Apfelgelee doch nicht fertig. Für mich wird’s ein arbeitsreicher Sonntag werden. schadet nichts!“
So kam’s, daß am folgenden Tage die drei Mädels der Frau Amtsgerichtsrat nacheinander in aller Heimlichkeit anvertrauten, sie hätten da – ‚durch Kolleginnen’ – einen Herrn kennen gelernt, der – vielleicht –vielleicht – ‚Aber Näheres sage ich noch nicht,’ lautete stets der Schlußsatz.
Trotzdem war die Rätin glücklich. Sie liebte ihre drei hübschen, frischen Töchter, und sie hätte Jahre ihres Lebens freudig hingegeben, wenn sie sie hätte gut verheiraten können. Aber – mein Gott, – so ohne Mitgift! Und die Aussteuer konnte doch auch nur sehr bescheiden sein. – Sie war also glücklich und hoffte, – allerdings nur ganz wenig hoffte sie. Zwischen Lieben und Heiraten – die Kluft, die dazwischen liegt!
Dem Herrn Rat wurde von alledem nichts gesagt. Das war ein etwas weltfremder, gütiger Charakter, der außer seinen Dienstgeschäften sich nur noch um seine Rosenzucht kümmerte. –
*
Sechs Tage weiter.
Bodo und Harrig hatten in letzter Zeit stets sehr schweigsam ihre Mahlzeiten eingenommen. Zuweilen hatte sich dazu auch der ‚Viehdoktor’ eingefunden, stets freudig von den beiden Leidensgefährten begrüßt. Man hatte sich inzwischen ganz offen über diese ‚ganz verfluchte Geschichte’ – wie Harrig sie nannte, ausgesprochen; auch Bodo, freilich, ohne zu sagen, dass ‚seine’ ganz verfluchte Geschichte Mela hieß und ohne zu ahnen, daß sie die Schwester von Fritzchen und Betsy war.
Man hatte sich ausgesprochen, und auch die Abschiedsbriefe hatten dabei ihre Rolle gespielt, hatte sich auch nachher berichtet, daß keine der leider wieder so keusch gewordenen Lieben sich irgendwie noch gemeldet hätte.
Auch heute, am Freitag, erschien Ernst Kriebel wieder in der ‚Traube’. Während aber Bodo und Harrig, abermals mit Leichenbittermienen dasaßen, schwatzte er von allem Möglichen, war überhaupt sehr aufgeräumt, lebhaft und ganz anders als beim letzten Beisammensein.
Harrig fragte schließlich übellaunig: „Du – zum Deubel – was ist eigentlich in dich gefahren? – Hat etwa – Betsy was von sich hören lassen?“
Der Doktor schüttelte den Kopf, bestellte beim Ober eine Flasche Sekt, meinte: „Ich lade freundlichst dazu ein. Ich möchte meine Niederlage begießen!“
Harrig und Bodo schauten ihn verwundert an.
„Tatsache! Meine Niederlage!“ erklärte er. „Das heißt, ich habe mich selbst besiegt – meine Vorurteile, was Else anbetrifft. – Wir werden nach dem alten, abgenutzten Lehrbuch über Moral allesamt erzogen. Darin steht etwa: ‚Du sollst nur ein reines Mädel frein. Selbst eine solche sollst du nicht frein, die dir ihre Liebe durch völlige Hingabe bewiesen hat, denn sie hat dadurch das höchste Gebot aller Moral verletzt: Nur das Ehebett ist von Gott gesegnet!’ – Meine Herren – dieses Lehrbuch habe ich heute in den Ofen geschmissen. Ich liebe Else, kann sie nicht vergessen. Sie ist meiner durchaus würdig. Nichts stand bisher einer Verlobung entgegen als dieses soeben genannte blödsinnige Vorurteil. – Kurz, ich habe vorhin Else einen Brief in ihr Geschäft geschickt, nachdem ich durch Nachfrage bei ihrem Chef glücklich ihren Namen – Schütz, Buckow – vollständig in Erfahrung gebracht hatte. In dem Brief habe ich in aller Form um ihre Hand angehalten und sie gebeten, ihre Eltern auf meinen Besuch am kommenden Sonntag vorzubereiten, gleichzeitig aber auch ihrem Chef zu kündigen und um sofortige Entlassung zu bitten.“
„Donnerwetter!“ entfuhr es Bodo.
Harrig sagte zunächst gar nichts. Er stierte wie gebannt auf seinen Teller, auf dem ein Rebhuhn lag. An diesem Rebhuhn war nichts Besonderes zu sehen. Also mußte Harrig es wohl als Ruhepunkt für seine Augen auserkoren haben, um schärfer nachdenken zu können.
Dann hob er mit einem fast hörbaren Ruck den Kopf, rief:
„Ober – stellen Sie eine zweite Sekt gleich mit kalt!“ Und zu seinem Tischgefährten sagte er nun: „Auch ich habe soeben etwas in den Ofen geschmissen – auch einen veralteten Moralkodex. Ich will also gleichfalls meine Niederlage feiern. Auch ich schreibe sofort nachher meinem Fritzchen genau dasselbe wie du, göttlicher, einsichtsvoller Bahnbrecher!“
Während nun diese beiden eifrig berieten, mit welchem Zuge sie Sonntags nach Buckow auf die Freite fahren sollten, saß Bodo Baron von Tessin mit tief gerunzelter Stirn da. Sein Monopol hatte er vor sich auf den Tisch gelegt. Dann:
„Ober!“
Der Ober kam: „Herr Baron befehlen?“
„Nehmen Sie das Rebhuhn weg. Bringen Sie mir einen Kognak.“
Harrig und der Doktor fragten gleichzeitig: „Na nu – Kognak?“
Tessin warf ihnen finstere Blicke zu. „Euren Sekt sauft allein. Ich halte nicht mit! Ich werde mein Pech in Kognak ersäufen.“
„Pech ?“
„Was sonst! – Ihr beiden habt Schwein – ihr wißt jetzt den Namen eurer Ersehnten, werdet Sonntag Verlobung feiern. Ich weiß von meiner großen Leidenschaft nichts weiter als – den Vornamen Mela. Nichts weiter. Die Hausnummer und die Straße habe ich total vergessen; ich – ich war ja nur mal flüchtig bei ihr. – Also nur, daß sie Mela heißt und irgendwo bei der Post beschäftigt ist. Ich kann doch nicht überall nachfragen, ob da oder dort vielleicht eine Mela – Vatersnamen unbekannt – arbeitet.“
Harrig ließ einen „Hm – allerdings!“ hören, fügte hinzu:
„Jedenfalls würden Sie also ganz gern unserem Beispiel folgen, lieber Tessin, und auch – was in den Ofen schmeißen.“
„Allerdings – sehr gern. Des Doktors Mannestat hat auch mir den rechten Weg gewiesen. – Gewiß – meine Familie wird ja zunächst über die Ehe mit einer Bürgerlichen Zeter und Mordio schreien, aber – laß sie schreien! Ich bin unabhängig, reich, und – ich sehne mich nach Mela. – Wenn ich ihr nur mal begegnen würde.“
„Beauftragen Sie doch einen Detektiv, Tessin,“ meinte Harrig. „Der findet sie schon.“
Der Baron sprang auf. „Famoser Gedanke. Ich werde sofort telefonieren. Im Adressbuch suche ich mir die bekannteste Detektei heraus.“
Er begab sich in die Telephonzelle, blätterte im Adressbuch. –
Aha – also Zentrum 5335.
Und er nahm den Hörer vom Haken und verlangte:
„Zentrum 5335.“
Es meldete sich: „Hier Trikotagenfabrik Isaaksohn & Co.“
Der Baron fluchte: „Falscher verbunden.“
Wieder verlangte er 5335. – Wieder meldete sich nicht Detektiv Schirrwächter, sonder: „Hier Rechtsanwalt Jakobi 6.“
Tessin geriet in Wut: „Falsch verbunden!“
Und dann schnauzte er: „Fräulein – schlafen können sie zu Hause, nicht im Dienst! Verstehen Sie! Schon zweimal habe ich Zentrum 5335 verlangt! Das ist ja eine unerhörte Bummelei!“
Eine Weile nichts. Nun eine Stimme – eine Stimme, – ja – war’s möglich:
„Entschuldigen Sie bitte. Ich gebe zu, mich versehen zu haben. Also Zentrum 53…“
„Halt – halt!“ rief Bodo da. „Halt! Fräulein – bitte nennen Sie mir Ihren Vornamen? Heißen sie Mela? – Mela – bist du’s?“
„Ja. – Ich – ich habe deine Stimme gleich erkannt. Und deshalb war ich auch so konfus geworden.“
„Mela – Gott sei Dank! In meinem ganzen Leben schimpfe ich nie mehr auf die Telephoniererei – nie mehr. Mela – ich flehe dich an. Sag mir deine Adresse, deinen vollen Namen. Ich muß – ich will dir schreiben. Sofort, – sehr wichtiges. Du – du wirst dich darüber freuen, Mela –“
„Freuen? – Wer weiß?! – Ich werde wohl nie mehr froh sein können. – Nein – ich sage dir –“
„Halt, – Mela – du mußt! Mädel – sei doch vernünftig! Wie – wie soll ich wohl bei dir und deine Eltern anhalten, wenn ich –“
„Bodo – anhalten? – Mela Schütz – Mela Schütz, und die Eltern wohnen in Buckow, Märkische Schweiz, – Amtsgerichtsrat Schütz.“ –
Der Baron kam an den Tisch zurück, setzte sich, rief:
„Ober – stellen Sie noch eine dritte Sekt kalt.“ – Und zu Harrig und dem Doktor sagte er dann lächelnd:
„Liebe Schwippschwäger in spe, – ich saufe nun doch mit! Mela ist gefunden – auch ohne Detektiv. Und – Sonntag fahre ich auch mit nach Buckow. Stellt euch vor, Mela ist die älteste Schwester der drei Schütz-Mädels – denn drei sind’s, drei, – die Schwester von Betsy und Fritzchen!“
*
Und abermals saßen die drei Jungfernstiftlerinnen wieder einmal um den Tisch herum, und die Mäulchen gingen wie die Windmühlenflügel im Sturm.
Auf den Tisch aber lagen drei Briefe. Sie hatten so ziemlich denselben Inhalt. Nur der Erwin Harrigs zeichnete sich durch etwas eigenartige Fassung aus. Er schrieb:
Mein süßer, angebeteter Fratz!
Nachdem mir sechs Tage lang so gottesjämmerlich zumute war wie etwa einem Sultan, dem plötzlich der ganze Harem ausgekniffen ist, gestatte ich mir, bei Ihnen, sehr verehrtes, gnädiges Fräulein, ergebenst anzufragen, ob sie vielleicht gewillt wären, ihren Bruder Studio zu bitten, er möchte uns beiden doch zu unserer Hochzeit den bewußten Anzug schenken, damit ich als ihr standesamtlich beglaubigter Gatte nochmals den Vorzug genießen darf, sie in der Rolle des Fritz, in der sie einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht haben, noch des öfteren zu sehen. – Süßes – entschuldige die Einleitung! Ich habe aber bereits sechs Flaschen Sekt dir und der bevorstehenden Verlobung zu Ehren zusammen mit deinen zukünftigen Schwägern Tessin und Kriebel getrunken. Übermorgen, Sonntag, hoffe ich dich in Buckow bei deinen Eltern wiederzusehen. Bis dahin – innigste Küsse–
dein treuer Erwin.
5. Kapitel
Und der Mond grinste
Bereits am Sonntag nachmittag fuhren die drei Schütz-Mädels gen Buchow.
Mela war es gewesen, die am Abend vorher erklärt hatte:
„Nein – keinem der Verwandten hier ein Wort davon, daß übermorgen bei den Eltern etwas Besonderes los ist – kein Wort! Sonst kommt die ganze Bande schon aus Neugier ‚zufällig’ hin, und dann haben wir rein nichts von dem Tage! Also – Mund halten, versteht ihr, – in eurem eigenen Interesse! Wir drei Paare werden auch erst Montag früh wieder abfahren, nicht etwa schon Sonntag abend, wo die Bahnen alle überfüllt sind und wo’s daheim ja gerade gemütlich wird. Der Abend ist ja immer der schönste.“ –
Amtsgerichtsrat Schütz bewohnte ein größeres, einfaches Landhaus mit sehr großem Obstgarten etwas außerhalb der Stadt. Er hatte es einmal billig gekauft, und nun mochte er sich nicht mehr davon trennen, obwohl ja die fünf Kinder jetzt sämtlich außerhalb ihr eigenes Leben lebten und er nur mehr allein mit seiner Frau und einer bejahrten Köchin das Erdgeschoß benutzte, während der Oberstock und die vier Giebelstuben lediglich noch als Fremdenzimmer Verwendung fanden, was allerdings häufiger vorkam, da das von echtem Wein und Kletterrosen völlig umrankte rätliche Heim sehr gastfrei war. –
Als die drei Jungfernstiftlerinnen gegen halb sieben abends am Sonnabend zu Hause in Buckow angelangt waren – ganz überraschend, als dann in dem mollig geheizten, von des Rats Pfeifenqualm erfüllten Wohnzimmer Mela für alle drei die Sprecherin machte und die große Neuigkeit mitteilte, daß morgen gleich ein kleines Rudel Bewerber angerückt kommen würde, da fiel Mama Schütz beinahe in Ohnmacht, erholte sich aber sehr schnell, und dann ging ein Fragen und Antworten, ein Lachen und Jubeln los, daß der alte, noch recht stattliche Herr schließlich mit Donnerstimme rief:
„Ruhe! Bei dem Gewäsch wird ja kein Mensch über das Wichtigste klug. – Ruhe, zum allerletzten Mal! – Mela – zuerst du! Also – wie heißt er – was ist er?“
Er notierte sich alles, meinte: „Bei drei neuen Schwiegersöhnen wirft man sonst alles durcheinander.“
Dann kam Else heran und zuletzt Fritzchen – genau dem Alter nach.
„So,“ lächelte der Rat, „nun hab’ ich alles schwarz auf weiß. Nun könnt ihr meinetwegen mit Muttern wieder durcheinanderschrein und fragen, so viel ihr wollt. Ich gehe jetzt noch schnell in die Stadt und kaufe bessere Zigarren, Kognak und ein paar Zigaretten.“
„Papa – ich begleite dich,“ meinte Mela. „Wir sind doch morgen zu acht zu Tisch, und ich will sehen, ob ich nicht beim Fleischer noch einen Kalbsbraten bekomme. Auch sonst wird allerlei einzuholen sein.“ Sie war wieder ganz die tüchtige, umsichtige Mela, die nie Telephonfräulein geworden wäre, wenn sie sich nicht eben für alle Fälle hätte eine Altersversorgung schaffen wollen. –
Und dann war der Sonntag da. Viel geschlafen hatte man im Schütz-Hause in dieser Nacht gerade nicht. Dazu war alles doch zu aufgeregt, zu erwartungsvoll. Nur der Rat war wie immer um neun Uhr ins Bett geklettert, hatte bis halb sechs fest durchgeschlafen, war aufgestanden und hatte nach dem Wetter gesehen. Oh – es würde ein schöner, klarer Spätherbsttag werden. Das freute ihn – seiner Mädels wegen. Jungverlobte Paare wollen doch schließlich nicht immer in der Stube hocken, wollen allein ein wenig spazieren gehen. Die Wälder ringsum im Schmuck des verfärbten Laubes waren ja so wunderschön. Und – man war doch auch mal jung gewesen, man wußte, wie süß die ersten erlaubten Küsse schmecken, – so dachte der ahnungslose Herr Rat, der, wenn ihm einer gesagt hätte, daß seine Mädels ja in Berlin ohne Begleitung älterer Verwandter Lokale besucht hätten, nur gelächelt und gesagt haben würde: ‚Meine drei?! Oh – mein Lieber, die kenne ich besser, die habe ich erzogen, mein Lieber!’
Auch Betsy und Fritzchen, die oben in einer Giebelstube hausten, während Mela gegenüber eine Stube für sich allein mit Beschlag belegt hatte, erhoben sich bald und begannen, sich gemächlich anzuziehen. Fritzchen hatte in Berlin noch schnell ein paar ‚ganz’ durchbrochene Florstrümpfchen gekauft, saß nun auf dem Bettrand und meinte nachdenklich, ihrer tadellos geformten Gehwerkzeuge musternd: „Eigentlich schämte ich mich damals so etwas, als ich bei Erwin war. Ich hatte ein paar von Mutters selbstgestrickten Baumwollenen an. Löcher waren ja zum Glück nicht drin, aber – Erwin sagte nachher, er liebe so recht zartes, duftiges Unterzeug. Heute wird er zufrieden sein.“
Sie kramte aus ihrer Handtasche noch ein Päckchen hervor – ein Paar hauchdünne, seidene Schlüpfer, orangefarben.
„Nein – bist du aber auch raffiniert!“ rief Else.
„Oh – noch lange nicht so wie Mela,“ erklärte Fritzchen leise. „Weißt du – sonst haben wir drei doch immer in der großen Giebelstube zusammengeschlafen. Und ausgerechnet diesmal hat Mela bestimmt: Ich schlafe allein! – Mama sagt ja zu allem ja und amen, was Mela für richtig hält, so auch dazu, daß Tessin ausgerechnet unter Mela im Erkerstock dich an der Treppe logieren soll. Betsy – ich wette, das hat einen Haken, sogar einen sehr fragwürdigen! Diese Mela! Und wir Schäfchen sollen nun hier hübsch zu zweien schlafen. Ne – das gibt’s nicht! Jedermann gleiches Recht! Weißt du – ich ziehe heimlich um nachher, in die vordere Giebelstube, heize auch etwas ein. Nachts ist’s jetzt schon immer so kalt. Ich schlafe besser, wenn ich nicht immer zu fürchten brauche, daß du wieder zu schnarchen anfängst.“
Und dann – dann erschienen um halb zwölf die drei Freier, jeder mit Schirm, einer großen Seidenpapiertüte und einem umfangreichen Päckchen ausgestattet. Sie gingen in einer Reihe, und vor ihnen trottete den Landweg entlang ein Junge, den sie sich als Führer gedungen.
„Kinder,“ sagte Erwin Harrig, als sie dicht vor dem Schütz-Hause angelangt waren, – „die Bude sieht urgemütlich aus! Aha – da steht ja auch mein Fritzchen oben am Fenster. Wahrhaftig – der Racker macht mir eine lange Nase! Na warte!“
Bodo Tessin mahnte: „So kommt doch! Ihr schleicht wie die Schnecken!“
„Schwippschwager – Geduld, Geduld,“ lachte der Viehdoktor. „Der Hochzeitstag ist noch lange nicht da – noch lange nicht!“
Der Herr Rat empfing die drei Bewerber allein im Salon, nachdem ihnen die Köchin auf der Diele aus den Mänteln geholfen hatte.
Bodo machte für sich und die beiden anderen Opfer die Sache sehr kurz und sehr herzlich:
„Also, Herr Amtsgerichtsrat – wir sechs sind einig, das heißt – immer paarweise, und wir brauchen nur noch Ihren Segen, um –“
„Den haben Sie, meine Herren Schwiegersöhne.“ Der alte Herr war so gerührt, daß ihm die Sprache versagte, und deshalb öffnete er schnell die Tür zum Nebenzimmer und rief: „Frauchen!“
Die Rätin im Braunseidenen von des ältesten Sohnes Hochzeit her war noch immer eine hübsche, stattliche Schwiegermutter, dazu gewandt, sicher im Auftreten und mit einem Lächeln, das schon manchen bezaubert hatte.
Sie machte die Sache noch kürzer, schloß die neuen Söhne nacheinander herzlich in die Arme und – dann stürmten schon von selbst die drei Schütz-Mädels herein, – nein, eigentlich ‚stürmte’ nur Fritzchen. Mela war mehr Dame und Betsy sogar etwas verlegen. –
Nachher flüsterte Bodo dem Erwin bei guter Gelegenheit zu:
„Du – mir ist ein Stein vom Herzen gefallen! Die Eltern sind prächtige Menschen – man kann sich überall mit ihnen sehen lassen.“ –
Um halb zwei setzte man sich an den blumengeschmückten Mittagstisch. Der Herr Rat hatte seine Spätrosen gehörig geplündert. Die Tafel sah aber auch wunderhübsch aus. Ebenso hübsch war seine Rede. Darin kam zum Beispiel auch der Satz vor:
‚Jedenfalls sieht man hier wieder einmal, daß alles Gute seinen Lohn findet, daß Tugend, Sittsamkeit, Fleiß und – das Herz auf dem rechten Fleck selbst von der heutigen Manneswelt, die weit weniger ideal denkt als einst wir Alten, richtig bewertet wird –’
Bei dieser Stelle kniff Fritzchen ihrem Erwin in den Arm, schmiegte sich aber auch enger an ihn.
Und Bodo Tessin dachte: ‚Das war eben noch ein Satz aus dem alten Moralkodex, den wir in den Ofen geschmissen haben. Lieber alter Herr – nach deinem Rezept hätte ich deinen Mela sicherlich nicht gefreit, – dazu gehörten modernere Mittel.“
Es gab einen sehr guten, alten Rheinwein bei Tisch, auch Sekt, und der Herr Rat trank sich einen allerliebsten Schwips an, mußte nachher ein Schläfchen machen, um abends wieder mobil zu sein.
Und abends? – Oh – da saß man erst im Salon; Fritzchen spielte Klavier; dann tat’s die Mutter. Walzer aus der Jugendzeit; man tanzte, war sehr vergnügt, bis der Rat um elf mit einem Waldhorn erschien und das Signal blies, zu dem die Soldaten gewöhnlich singen: ‚Zu Bett – zu Bett – wer eines hat, wer keines hat, muß auch zu Bett – zu Bett – zu Bett – zu Bett.“
Allgemeines Gutenachtsagen – viele Küsse. – Die drei neuen Söhne stiegen zuerst in ihre Zimmer im Obergeschoß hinauf; nach einer ganzen Weile die Mädels zu den Giebelstuben empor.
Es wurde still im Schütz-Hause.
Der Herr Rat saß auf dem Bettrand und legte das Nachthemd an, sagte: „Sehr nette Menschen sind’s, alle drei!“
Und die Rätin, die das Braunseidene in den Schrank hing:
„Ach Alter – haben wir nur Glück mit den Mädels gehabt!“
„Ja – die Erziehung macht’s – das Natürliche, Unverfälschte, Frische, der Reiz der Jugend und Tugend.“
Und als er dies sagte, da huschte gerade Mela ganz leise die Treppe auf bloßen Füßen hinab, im Mantel, – aber unter dem Mantel flatterte dünn und weiß noch ein breiter Streifen des Nachthemdleins.
Bodo hatte gewartet, verschloß hinter ihr die Tür, schloß seinen Mela in seine Arme, küßte sie. –
Und bald darauf huschte ein zweites Gespenstlein abwärts: Fritzchen!
Nur der arme Doktor harrte vergeblich. Aber – er wußte ja, wo Betsy hauste – allein hauste. Sie hatte es ihm am Tage gezeigt, das kleine, warme Stübchen, hatte gesagt: „Ach – nur das Schloß schließt nicht. Ich muß also offen lassen.“ –
Und wie ein Einbrecher schlich er als einziger nach oben.
Und der Vollmond stand über dem Schütz-Hause und grinste vergnügt. Er hatte ja schon so manchen Verlobungstag miterlebt. Aber – dies da unten – da unter dem flachen Dach des wein- und rosenumrankten Gebäudes, – das – das freute sein weltkluges Herz, und er dachte: ‚Nächte des Glücks! Wie töricht, wer nur eine einzige versäumt. Die Jugend geht ja so schnell vorüber!“ –
Im Jungfernstift wohnen jetzt zwei ältere Damen, Schwestern, unverheiratet.
Es ist also Jungfernstift geblieben. Nur – glückliche Bräute und junge Frauen wird es nicht mehr in die Welt hinausschicken, wenigstens nicht so glückliche, wie die Schützmädels es waren.
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Schluß
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Fußnote:
1 Der Titel auf dem Umschlag lautet: Im Jungfernstift.