von
M. Lemcke.
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Moderne Jugend
Weshalb Piesekes ihren erstgeborenen gerade Hektor, Gundobald, August getauft hatten, begriff von der ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft kein Mensch. August Pieseke, Kürschnermeister, Berlin N., Chausseestraße, begriff es nicht – wenigstens nicht, was die beiden ersten Vornamen Hektor und Gundobald anbetraf. Der dritte – der hatte seiner Ansicht nach ehrliche Berechtigung, denn er hieß ja eben August – weiter aber dann Emil, Max, und nicht Hektor, Gundobald.
Da aber Frau Anna Pieseke darauf bestanden hatte, daß so und nicht anders der stramme Sonntagsjunge getauft würde, da ferner junge Ehemänner meist sehr nachgiebig sind unter schließlich Frau Anna in dieser Ehe vom ersten Tage an die Hosen ganz gehörig anhatte, so war’s denn wirklich ein Hektor Pieseke geworden, aber – es war auch dabei geblieben. Der Storch mied fernerhin das Haus des Herrn August, obwohl dieser es nicht an Versuchen fehlen ließ, ihn herbeizulocken. – Es war wie gesagt in dieser Hinsicht nichts mehr zu wollen. August schmerzte das sehr. Er hätte gern noch ein Töchterchen gehabt. Frau Anna dagegen tat nur so, als sehne sie sich nach erneutem Mutterglück. Sie hatte ihre Gründe, und diese Gründe bargen so allerlei in sich, daß die Entwicklung des Knaben Hektor erklärlich machte. August ahnte nichts davon. Wie sollte er auch?! Was kannte er von der Schlechtigkeit der Welt, der in Krotoschin groß geworden und der dann, kaum nach Berlin gelangt, die fesche Verkäuferin Anna Matz kennen und lieben gelernt hatte?!
Hektor glich weder äußerlich noch innerlich einem seiner Eltern. Er überragte sie mit fünfzehn Jahren um Kopfeslänge. Er hatte blondes Haar und dunkle Augen, ein schmales, hübsches Gesicht, eine leicht gebogene, messerscharfe Nase und so zierliche Hände und Füße, daß es allgemein auffiel. Auf dem linken Handrücken besaß er ein ganz eigenartiges Muttermal; fast ein Herz war’s, aus dem Flammen aufzüngelten. Als die Hebamme, dies seltsame braune Fleckchen gesehen hatte, wollte sie rein vor Entsetzen aus der Haut fahren: „Jotte – Jotte – der Bengel wird’s mal ganz doll mit die Weiber treiben!“ rief sie. „Da passen Se man ordentlich auf, liebe Frau Pieseke, sonst kriegen Sie gleich sechs Schwiegertöchter auf einmal!“
Frau Anna hatte dazu ernst genickt. „Ich werde schon aufpassen!“ Und sie dachte an –
Doch nein – daran wollte sie nicht mehr denken, seit sie ein braves Eheweib geworden.
Und die Hebamme hatte noch hinzugefügt: „Jrade solche Siebenmonatskinder – die sind meist mit Jaben ausgestattet, daß man’s Staunen kriegt!“
Frau Anna paßte auf. Als Hektor nach Obertertia kam und die ersten langen Hosen tragen durfte, als sein Wesen dem seiner Eltern immer unähnlicher wurde, da packte seine Mutter zuweilen die helle Angst. Am liebsten hätte sie ihn irgendwohin in eine strenge Pension gegeben, denn – das Berliner Pflaster für einen Jungen mit dem – dem Muttermal, – das konnte nicht gut enden.
Aber – aus der Pension wurde nichts. Der Krieg brach aus. Und als er vorüber, hatten sich Piesekes ganze Verhältnisse sehr – sehr geändert. August war Lieferant für Pelze und manches andere gewesen, hatte gut verdient, ohne je zu sehr zu mogeln, und man wohnte jetzt im neuen Viertel in Charlottenburg am Lietzensee als Millionen-‚Renntieren‛, wie August stets schmunzelnd sagte. Man hatte fünf Zimmer, ein Stubenmädchen, und man lebte behaglich und zufrieden ohne höher hinauszuwollen, als die Bildungsstufe es gestattete.
Nein – Kriegsgewinnler-Ehrgeiz war Piesekes fremd. Sie wollten bleiben, was sie waren, verkehrten weiter mit den alten Bekannten und – hätten restlos glücklich sein können, wenn nicht – Hektor gewesen wäre.
Er saß jetzt auf Prima; war aber weder äußerlich noch innerlich Schüler. Für seine achtzehn Jahre außerordentlich kräftig entwickelt, trug er sich stets nach der neuesten Mode, arbeitete wenig, verbrauchte aber desto mehr Taschengeld.
Bisher hatte Frau Anna an ihm keinerlei Beobachtungen machen können, die darauf hingedeutet hätten, daß das Herz-Fleckchen sich irgendwie rächte. Dann kam der erste April heran und mit diesem Tag die ‚Neue‛, das heißt das neue Stubenmädchen. Sie hieß Kläre, und das ist bekanntlich eine Verzärtelung von Klara, und – Papa Pieseke dachte auch, als er Kläre-Klara zum ersten Mal sah: ‚Mir ist sehr unklar, wie diese Klara von meiner Anna abgemietet werden können, zumal doch Hektor eigentlich für fünfundzwanzig gelten kann und – na – jedenfalls werde auch ich jetzt aufpassen!‛
Hektor, der bei seinen Bekannten längst nur noch ‚Der schöne Hektor‛ genannt wurde, behandelte Kläre total als Luft – total! Überhaupt – Papa August fiel manchmal aus allen Wolken über den Hochmut, den sein Filius zuweilen bekundete, auch über dessen ganzes, selbstsicheres Auftreten und über eine gewisse vornehme Nachlässigkeit in Haltung und Sprache, die so gar nicht gemacht war, nein, sogar sehr natürlich wirkte.
Am 4. April waren Piesekes im Theater. Zur Vorsicht hatten sie auch Kläre für den Abend bis zwölf beurlaubt, damit nicht etwa – Hektor war ja freilich zu einem Schulfreund gegangen, der soeben die Prima verlassen hatte und bei einer Bank eingetreten war. Aber obwohl auch er bis zwölf wegbleiben durfte, – sicher ist sicher, dachte Frau Anna, und schickte auch Kläre fort.
Um dreiviertel elf war die Vorstellung zu Ende. August Pieseke aber hatte noch Durst auf ein Glas Wein. Und da er nebst Gattin sich überall sehen lassen konnte, gingen sie zum ersten Mal in ihrem Leben in eins jener Lokale, die am Kurfürstendamm liegen und zumeist von ‚Kavalieren‛ und Halbweltdamen besucht werden.
August war zunächst etwas verlegen – von wegen der ganzen Aufmachung in der ‚Hummern-Bar‛ und von wegen der – der Umgebung. Für seinen Geschmack hatte die holde Weiblichkeit hier doch ‚oben‛ zu wenig an. Frau Klara fand sich leichter in das Ungewohnte.
Eine Nische war frei. Piesekes saßen sehr gemütlich für sich. Auf der Speisekarte war von Kriegsnot nichts mehr zu merken. Freilich – die Preise waren gepfeffert, denn ‚gesalzen‛ war ein zu schwacher Ausdruck für diese Geldschneiderei.
Als der Kellner den Rotwein brachte und die Bestellung: zwei Kalbsschnitzel, zweimal Spargel, zweimal Pflaumen in Weintunke entgegennahm, wurde es in der Nische links von Piesekes sehr lebhaft.
Eine helle Stimme rief: „Hektor – Mensch, wo wart ihr so lange?“
Und eine noch hellere Stimme fügte hinzu: „Du, Hektor, – die Geschichte mit der Kläre hast du aber fein bewichst –“
Der Kellner verschwand, und – das Ehepaar Pieseke schaute sich fragend an. Eine gewisse ängstliche Unsicherheit lag in ihren Gesichtern.
Da antwortete nebenan ein tieferes, leicht näselndes Organ:
„Wir waren im Kientopp, haben uns den neuen Aufklärungsfilm angesehen. Netter Blödsinn! Die Aufklärung ist für Säuglinge gut!“
Piesekes erblaßten gleichzeitig, stierten sich nun geradezu entsetzt an.
Dann hauchte Frau Anna:
„Du, Gustel, – es ist unser Hektor!“
Gustel schoß das Blut in starker Welle ins Gesicht. Hastig trank er sein Glas leer.
„Was tun wir nur?“ flüsterte Frau Anna weinerlich.
„Nichts! Wir können hier doch nicht Krach schlagen, Frauchen. Du kennst ja auch Hektor. Nur in Guten ist bei dem was auszurichten –“
Frau Anna nickte und lauschte dann nur noch nach nebenan hin. Aber es mußte dort eine größere Gesellschaft tagen. Das Stimmengewirr war zu groß.
Der Kellner schleppte jetzt vier Sektkühler dorthin. Und – da ging wieder ein wahres Geheul los.
„Hoch Hektor, hoch der schöne Hektor!“
Nun das näselnde Organ: „Kinder, so laßt doch. Bei dem Dusel, den ich gestern wieder gehabt habe!“
Dann eine andere Stimme – und Piesekes erkannten die des Schulfreundes Hektors, des Werner Berg.
„Du – deine Alten sollten ahnen! Die sind nett schimmerlos!“
Da – sehr kurz, sehr scharf:
„Bitte – laß meine Eltern hier aus dem Spiel – verstanden?!“
Piesekes schmeckten die Schnitzel und alles andere gallenbitter.
Gegen dreiviertel zwölf nebenan abermals Hektors laute Stimme: „Wir müssen jetzt gehen. Komm’ Kläre. Es ist höchste Zeit. –
Ober – ich bezahle nachher. Ich bin in einer Stunde wieder da –“
August Pieseke fiel vor Grauen über solche Frechheit und Unternehmungslust die Zigarre aus dem Mund.
„Nach Hause!“ sagte er dann zu Frau Anna. „Ich werde ihn mir gleich vornehmen – gehörig –“
Als sie die Treppe zu ihrer hochparterre gelegenen Wohnung langsam emporkletterten, denn die Füße waren ihnen so schwer wie Blei, meinte Frau Anna: „Du, Gustel, – um eins bitte ich dich: Vermeide alles, was Hektor reizen kann. Wir sind bisher doch meist in Güte mit ihm ausgekommen, und – na du weißt ja, wie er ist –“
Sie legten im Flur Mäntel und so weiter ab. Dann klopfte Papa August an die Tür des Zimmers seines Sohnes, der gleich links neben der Flurtür wohnte.
Hektor rief „Herein!“ Er saß an seinem Schreibtisch und hatte eine Zigarre zwischen den Fingern. Über der tief ausgeschnittenen Weste seines Smoking hatte er eine hellgrau, verschnürte Hausjacke mit Atlasaufschlägen gezogen.
Jetzt erhob er sich schnell, kam den Eltern entgegen.
Und August und Anna Pieseke sahen eigentlich heute zum ersten Mal, daß ihr Hektor ein völlig erwachsener Mensch geworden, noch dazu ein Mensch – tadellos gebaut, groß, schlank, patent und das, was man so schneidig nennt.
„Ah – da seid ihr ja auch,“ begann Hektor und streckte Papa August die Hand hin.
„Ja – da sind wir auch!“ –
Hektor stutzte bei diesem Ton.
„Setz’ dich dorthin!“ fuhr Pieseke fort und deutete auf einen der Korbsessel neben dem Mitteltisch. Dann schaltete er die Deckenlampe ein. Frau Anna begann leise zu weinen, ließ sich in der Sofaecke nieder.
„So,“ begann Papa August und stützte sich mit den Händen auf einen Stuhl, „– so, nun sage uns doch mal, wo du heute abend gewesen bist. Aber – lüge nicht! Verstehst du – lüge nicht!“
Seine Stimme schwoll an. Er hatte den Rotwein allein ausgetrunken, und er war den Alkohol so gar nicht gewöhnt. Außerdem regte sich in ihm auch die Wut. Er wollte doch mal sehen, ob er diesen Bengel nicht unterkriegen würde! –
Alle guten Vorsätze waren also dahin.
Hektor hob den Arm, deutete nach oben: „Papa, – dort wohnen jetzt wieder Leute. Nimm Rücksicht! Feine Leute, – ein Oberregierungsrat Wilhelmi –“
„Wilhelmi!“ schrie Frau Anna auf, fügte aber sofort hinzu:
„Woher weißt du denn den Namen und Stand? – Die Herrschaften zogen doch gestern erst ein.“
„Vom Portier, Mama. –
Ihr wollten wissen, wo ich heute war? – Diese Frage und euer ganzes Verhalten zeigt, daß ihr es bereits wißt –
Also zunächst im ‚Tauentzien-Kino‛, dann in der ‚Hummern-Bar‛. Habt ihr mich heimlich beobachten lassen?“
Frau Anna weinte wieder.
Und da wetterte Pieseke los, zwar leise, aber – der Inhalt genügte: „Du – du Bengel, schämst du dich gar nicht?! Alles ist jetzt heraus, du – du Heuchler. –
Rumtreiben tust du dich die Nächte. Und das Frauenzimmer, die Kläre, die scheinst du sauberer Patron hier eingeschmuggelt zu haben. Morgen fliegt sie! Und dich – dich gebe ich in eine Erziehungsanstalt, wo sie dir den Patentfatzke schon austreiben werden, dir jungem Lumpen –“
Bis dahin war Hektor still geblieben. Jetzt schnellte er förmlich hoch:
„Genug, Papa! Deine Vorwürfe sind zum Teil berechtigt. Aber – beschimpfen lasse ich mich nicht – von niemandem! Noch eine einzige derartige Äußerung, und – ihr seid mich für immer los!“
Pieseke, der sich mit seiner kleinen, korpulenten Gestalt und dem feisten Gesicht neben seinen Jungen recht plebejisch vorkam, verlor einen Moment den Faden und auch die Sicherheit, polterte dann aber doppelt ergrimmt tuend, obwohl ihm bereits nicht mehr recht wohl zumute war:
„Was – du wagst mir zu drohen – du – du bist wohl verrückt geworden. Ich werde dir eine runterhauen, daß – daß dir –“
Hektor hatte sich plötzlich neben seine Mutter gesetzt, umfaßte sie, streichelte ihr die Hände.
Um Papa August kümmerte er sich nicht, und der verstummte von selbst.
„Mutter – Mama, weine nicht,“ sagte Hektor leise. „Weine nicht. Ich kann nichts dafür, daß ich über meine Jahre hinaus körperlich und geistig entwickelt bin. Ich gehöre nicht mehr in die Schule hinein. Nehmt mich heraus, laßt mich Kaufmann werden. Und – betrachtet mich fortan nicht mehr als Kind. Ich bin es nicht mehr – in nichts. –
Aber – ich bin auch nicht verdorben, bin – kein Lump! Ich habe seit drei Monaten nur meine Jugend genossen. Und – ich muß sie auskosten. Ich fühle einen unbezähmbaren Drang ihn mir, vergnügt, ausgelassen zu sein. Ich liebe eine heitere, anregende Umgebung –“
Er küßte Frau Anna auf die Wange.
Papa Pieseke kam sich hier plötzlich sehr überflüssig vor. Aber noch wollte er nicht eingestehen, daß sein Junge ihm eigentlich so etwas imponierte. Und daher rief er jetzt spöttisch:
„Würdest du mir vielleicht sagen, wo du das Geld hernimmst zu diesem Bummelleben – he? Etwa von den hundert Mark Taschengeld monatlich?“
Hektor erhob sich wieder, ging um den Tisch herum, trat dicht vor seinen Vater hin.
„Willst du etwa den Verdacht aussprechen, Papa, daß ich euch – dieses Geld stehle?“ sagte er, und seine Stimme klang ebenso hart und scharf wie vorhin in der ‚Hummern-Bar‛, dabei flimmerte in seinen dunklen Augen ein Licht, das Pieseke warnte.
„Stehlen, – wer spricht von stehlen!“ meinte er und schaute zu Boden.
„Woher ich das Geld nehmen, Papa, ist meine Sache, verstehst du – allein meine Sache! Und ich bitte dich sehr, fortan in mir nicht mehr den Schuljungen zu sehen. Ich werde mich selbst morgen abmelden gehen. Und dann werde ich bei ‚Hevelko & Co.‛ als Volontär eintreten.“
„Na – in Gottes Namen!“ stotterte Vater Pieseke.
„So. – Dann noch eins, Papa. – Die Sache mit der Kläre werde ich regeln. Sie war noch vor einem Monat Verkäuferin. Ich lernte sie kennen, und ich gebe jetzt zu, daß es ein ebenso unüberlegter wie häßlicher Streich von mir war, sie hier bei euch einzuschmuggeln. Kläre ist seit heute abend für mich erledigt. –
Also: Ich werde dafür sorgen, daß sie morgen früh das Haus verläßt. –
Papa, ich denke, wir wollen doch auch weiter friedlich zusammenleben. Sieh mal, wenn ich mit dem Priemanerzeugnis die Schule verlassen und etwa Ingenieurwissenschaften studiert hätte, dann wäre ich jetzt Student, und kein Mensch würde etwas dabei finden, wenn ich ein wenig bummele. –
Nicht wahr, Papa, – wir bleiben gute Freunde –“
Papa Pieseke merkte, daß sein Junge diese Herzlichkeit ehrlich meinte. Ihre Hände fanden sich . Und dann gab ihm Hektor noch einen Kuß.
Nachher im Schlafzimmer sagte August dann zu Frau Anna:
„Du, Frauchen, ich möchte’ bloß wissen, von wem der Bengel diese – diese Art des Auftretens hat? Von mir jedenfalls nicht! Aber – weiß Gott, man kann ihm nicht böse sein. Schließlich hat er ja auch recht. Er wird im September neunzehn. Und ich – ich war mit achtzehn auch kein Unschuldsengel mehr –“
2. Kapitel
Evi von oben
Hektor saß wieder im Schreibtischsessel, rauchte und überdachte diese Aussprache mit den Eltern. Er war froh, daß die Sachlage hier im Haus endlich geklärt war. Aber – er schämte sich auch Kläres wegen. Daß diese ihm selbst zu diesem Streich geraten, hatte er ja verschwiegen. Aber – nie hätte er darauf eingehen dürfen.
Dann öffnete sich lautlos seine Tür und Kläre – die leichtsinnige, genußhungrige Kläre – huschte herein, riegelte hinter sich ab und kam in ihrem langen, hellen Frisiermantel auf weichen Pantöffelchen auf Hektor lächelnd zu, wollte sich ihm auf den Schoß setzen.
Er hob die Hand abwehrend, sagte kalt:
„Dort in den Sessel! – Die Geschichte zwischen uns ist aus. Ich habe heute in der ‚Hummern-Bar‛ beobachtet, daß du dich von dem Leutnant Riedler wiederholt heimlich in den Schenkel kneifen ließest. Ich bin ein – reinlicher Mensch, liebe Kläre. Ich teile nicht gern, was ich für mich allein beanspruchen kann. Meine Eltern wissen, wer du bist. Hier sind fünfhundert Mark – bitte. –
Ich hoffe, daß wir im guten auseinanderkommen.“
Kläre versuchte es mit anderen Künsten, brachte es sogar bis zu einem Kniefall.
Hektor blieb eisig. Sogar der Trick mit dem vorn sich öffnenden Frisiermantel hatte keinerlei Wirkung.
Da lachte sie schmerzlich häßlich auf.
„Na wenn schon. So ein Schuljunge wie du!“
Dann ging sie. – Hektor aber zog den Smoking wieder über und verließ leise das Haus, fand auch ein Auto und fuhr nach der Wartenbergstraße in den ‚Berolina–Klub‛, spielte wie immer mit Glück, war um halb sechs wieder daheim, schlief bis acht und saß dann frisch und munter am Kaffeetisch. Kläre hatte bereits um halb acht in aller Stille ihre Stube geräumt.
Hektor plauderte ganz harmlos mit den Eltern, erwähnte dann so nebenbei, daß er noch im Klub gewesen und fügte hinzu: „Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich dort moralisch verkomme. Ich liebe das Spiel als angenehmen Nervenkitzel. Um leidenschaftliche Jeuratte zu werden, dazu habe ich meine Nerven viel zu gut in der Gewalt.
Die Gesellschaft im ‚Berolina–Klub‛ ist übrigens erstklassig: höhere Beamte, Staatsanwälte, Richter, Assessoren, Kaufleute und so weiter – kein einziger dunkler Ehrenmann. –
Heutzutage spielt ja jeder. – Also laßt mir das Vergnügen.“
Papa Pieseke war sprachlos. Herr im Himmel, wo hatte der Junge nur all diese Neigungen her?!
Und Frau Anna dachte an die Vergangenheit und schwieg auch. In ihren Ohren klang jetzt nur ein Name: Und dieser Name bedeutete für sie sehr viel. Aber – sie hatte in zwanzigjähriger Ehe durch Treue, Fleiß und völliges Aufgehn in ihres Augusts Interessen die Schuld von einst wieder abgewaschen.
Nach den Kaffee fuhr Pieseke zum Direktor des Gymnasiums und meldete Hektor ab. Dieser aber ging für die Mutter, die jetzt ohne Mädchen war, Einkäufe machen, half ihr auch bei der Zubereitung des Mittagessens, schälte ihr die Zwiebeln zu den Fleischröllchen und auch die Kartoffeln.
Frau Anna war wieder glücklich. Ihr Junge – dieser große, elegante Mensch, konnte ja so lieb sein. –
*
Vier Wochen später.
Bei Oberregierungsrat Wilhelmi gab es eine böse Szene zwischen den Eltern und dem einzigen Kind.
Eveline Wilhelmi, ein lustiger, siebzehneinhalbjähriger Kobold, weinte in ihres Papas Arbeitszimmer wahrhaft herzzerreißend.
Der Papa lehnte am Fenster und streichelte verlegen seinen Spitzbart. Er war ein sehr vornehm aussehender Herr. Leider besaß er so manche Liebhaberei, die keineswegs mit seinem Einkommen in Einklang stand. Und leider auch eine Frau, die die verkörperte Selbstsucht war und deren Ansprüche an Lebensführung etwa denen einer mehrfachen Millionärin entsprochen hätten.
Und Wilhelmis war alles andere nur nicht Millionäre. Im Gegenteil: Sie hatten überall Schulden.
Frau Vera Wilhelmi, eine kalte Schönheit noch jetzt trotz der erwachsenen Tochter, saß im Klubsessel vor den Kamin und sagte eisig:
„Liebe?! Lächerlich! Die findet sich schon! Eine solche Partie wird sich die nie wieder bieten, Eveline.“
„Aber – aber – ich fürchte mich doch vor ihm,“ schluchzte Evi jammervoll. „Er – er hat so häßliche Augen. Und er ist so alt – schon fünfunddreißig!“
Frau Vera lachte schneidend auf. „Du bist ein Gänschen. Du wirst Gallbaum heiraten – abgemacht! Bedenke – er ist vielfacher Millionär; er wird dir jeden Wunsch erfüllen, jeden –“
Und so redete sie weiter.
Evis Tränen versiegten als auch der Papa zögernd einwarf: „Kind – du kennst doch unsere Lage. Bei den teuren Zeiten! Wir essen schlechter als der einfachste Arbeiter, wir gönnen uns nichts –“
„Ja – weil du spielst,“ rief seine Frau erbittert dazwischen.
Er senkte den Kopf, schwieg.
Evi stand auf. Alles Kindlich-Harmlose war aus ihrem Gesicht wie weggewischt.
„Gebt mir mir noch acht Tage Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, Gallbaums Braut zu werden,“ sagte sie leise. „Ich werde freundlicher zu ihm sein als bisher. Du sollst nicht über mich zu klagen haben, Mama“
Das war nachmittags gegen fünf Uhr.
Und eine Stunde später traf sich Evi mit Hektor in den Anlagen am Lietzensee. Es hatte vorher etwas geregnet, und die frischgrünen Blätter der Bäume und Sträucher hingen voller Tropfen.
Hektor hatte bereits gewartet. Die Wege waren leer. Evi flog ihm an die Brust. Ihr junger Körper bebte unter dem Ansturm des großen Herzeleids.
Hektor küßte sie – immer wieder. Er ahnte, was vorgefallen, er hatte das Unwetter langsam heraufziehen sehen, das seine Liebe bedrohte.
Dann beruhigte sich Evi. Nun erzählte sie. Und wie erzählte sie! All ihre Leidenschaftlichkeit offenbarte sich in dem Bericht über diese Aussprache mit den Eltern.
„Oh – die Mama – sie soll mich kennen lernen. Verkuppeln will sie mich. Wer weiß, was dieses Scheusal, der Gallbaum, ihr versprochen hat. Vielleicht ein halbes Dutzend neue Kleider. Oder eine Perlenkette –“
Sie gingen auf und ab. Und Hektor hatte den Arm um sie gelegt. Seit er Evi vor acht Tagen zum ersten Mal geküßt hatte, besuchte er keine Bars mehr. Nein – er war reif genug, diese Liebe nicht zu entweihen, reif, sittlich gefestigt genug. Er wußte, wie Evi an ihm hing, wußte, daß er alle Mühe hatte, fest zu bleiben, wenn sie im nahen Grunewald spazieren gingen, inmitten des überall prangenden Frühlings. –
Bevor sie sich dann wieder trennten, flüsterte sie ihm zu, sich ganz dicht an ihn schmiegend:
„Du, ich bin heute abend zu Bruckners eingeladen. Ich gehe aber schon um neun wieder fort. Hol mich ab. Und dann – dann zeigst du mir endlich mal deine Bude. Du hast mich so neugierig gemacht. Dein Papa muß doch viel Geld haben, daß er dir eine ganz neue Einrichtung geschenkt hat –“
Hektor wurde etwas bänglich zumute. Er suchte Evi diesen Plan auszureden. Aber – da gab es sofort Tränen, die er schnell wegküssen mußte.
„Deine Eltern sind doch bis morgen verreist. Und die meinen zur Exzellenz Grabow eingeladen. –
Du – du liebst mich nicht, Hektor –“ –
So kam’s, daß Hektor dem neuen Stubenmädchen seiner Eltern fünf Mark ‚zum Kino‛ schenkte und daß Evi dann kurz vor halb zehn in das Zimmer ihres Hecko schlüpfte, – anders wie Hecko nannte sie ihn nur, wenn er einen ihrer Wünsche nicht erfüllte.
Sie war auch nicht die Spur verlegen. Sie tat ganz, als ob sie hier daheim wäre; nach dem recht lang ausgedehnten Begrüßungskuß legte sie Mantel und Hut ganz von selbst ab, trat vor den Spiegel, ordnete ein wenig ihr fast zu volles, dunkelblondes Haar, das sie aller Mode zum Trotz in dicken Zöpfen um den Hinterkopf gelegt trug, drehte sich dann übermütig wie ein Kreisel auf dem linken Absatz herum und begann nun zunächst den schweren, geschnitzten Tisch vor dem hochlehnigen Ledersofa zu bewundern – weniger den Tisch selbst als das, was ihres Heckos liebevolle Fürsorge an Leckereien für sie bereitgestellt hatte.
Da gab es gefüllte Bonbons, Schokolade, Keks, kandierte Früchte und anderes, sowie ein paar Sorten Zigaretten. Und ferner standen da in einer Vase fünf prachtvolle, dunkelrote Rosen.
„Die nimmst du nachher mit,“ sagte Hektor. Und in seiner Stimme war all die Zärtlichkeit enthalten, die er für dieses sonnige Geschöpf empfand.
Evi flog ihm an die Brust. „Du, – ich danke dir. So nett hast du den Tisch gedeckt. Ach, Hecko, wenn nur nicht immer im Hintergrund die beiden Gespenster lauerten – Mama und Gallbaum, und mir jede große und kleine Freude vergällen würden –“ sie lachte plötzlich leise auf, bog den Kopf zurück, schaute ihn sonderbar an und flüsterte:
„Heute denke ich aber an nichts – an nichts. Nur an dich.“
Und ihre Lippen suchten die seinen.
Sehr bald gab sie ihn jedoch wieder frei, trat zurück und meinte schmollend: „Du bist wieder so – sehr vernünftig, Hecko. Du kannst so anders küssen. Ich weiß das sehr gut. In den ersten drei Tagen warst du nicht so – so – na, jedenfalls solltest du jetzt recht, recht lieb zu mir sein –“
Dann bewunderte sie die neue Einrichtung und den mächtigen, dunkelroten Afghanteppich, der wie Seide glänzte, den Wandschmuck – türkische Vorhänge mit alten Waffen, der die Tür nach Piesekes Salon verdeckte, ferner die schwere, flämische Bibliothek, deren Bretter von oben bis unten mit Büchern gefüllt war.
An dem Bett, das neben dem Eingang an der Wand hinter einem riesigen, japanischen Wandschirm stand, glitten ihre Augen errötend vorüber.
Und dann saßen sie eng aneinander geschmiegt auf dem weichen Ledersofa und naschten. Evi steckte eine große Likörbohne in den Mund, und er mußte seine Hälfte selbst abbeißen. Aber – der Likör trat aus, tropfte herab auf ihre neue, mattlila Bluse, – ihr Prachtstück, hin–terließ große, lange Flecken.
Evi schrie leise auf, als sie’s sah.
„Himmel, – Zucker hinterläßt immer Ränder –“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Keine Sorge,“ meinte er. „Wir reiben’s jetzt oberflächlich aus, und morgen kaufe ich dir genau dieselbe Bluse. Wo stammt sie her?“
„Von Tauber, Tauentzienstraße. Aber, Hecko, – die hat einhundertzwanzig Mark gekostet, – mein Kleidergeld von sechs Wochen –“
Er streichelte ihr die Wangen. „Dummerle – einhundertzwanzig Mark! Was tut das –“
Dann holte er Wasser in der Seifenschale, und Evi begann die Flecken auszureiben. Zu diesem Zweck mußte sie vorn die zahllosen Knöpfe öffnen.
„Dreh’ dich um, Hecko,“ meinte sie mit einem Spitzbubenlächeln. „Und – du guckst erst wieder her, wenn ich’s erlaube –“
Er setzte sich gehorsam an seinen Schreibtisch, rauchte eine Zigarette.
Sehr bald Evis bekümmertes Stimmchen:
„Du Hecko – ich muß die Bluse ausziehen. Es geht nicht anders. Sie ist vorn ganz naß. Und das ist unangenehm auf der Haut. Wirf mir doch meinen Mantel zu –“
Er tat’s, aber – nicht mit dem Rücken nach ihr hin. Nein – er wagte einen Blick.
Evi hatte die Bluse bereits halb über die Arme gestreift, stand aufrecht und mühte sich mit den Ärmeln ab, deren Knöpfe sie zu öffnen vergessen hatte. Sie war ganz puterrot im Gesicht. Desto weißer, zarter leuchteten ihr Hals, ihre Schultern – und die jungfräuliche Brust.
„Hilf mir doch, Hecko!“ ganz ungeduldig und ärgerlich war sie schon. Und in diesem Augenblick dachte sie gar nicht daran, in welchem Aufzug sie vor ihm stand.
Er half. Aber – er war so entsetzlich ungeschickt. Und plötzlich mühte er sich nicht mehr mit den Knöpfen der Ärmeln ab, sondern umschlang Evi und begann sie wie toll zu küssen.
Erst war sie ganz entsetzt über diese stürmische Zärtlichkeit. –
„Du – du – ich ersticke ja –“
Aber wie ein seltsam verklärtes Lächeln lief’s dann über ihr Antlitz hin. Und als er nun kühner wurde, als seine Lippen sich förmlich auf ihrer Schulter, an ihrem Hals und dann tiefer festsogen, da trat wieder ein anderer Ausdruck in ihr Gesicht, etwas unkindlich Trotziges, – aber nur für einen Moment, in dem sie auch ganz Besonderes dachte. ‚Verkuppelt soll ich werden! – Vielleicht geschieht’s auch nicht!‛
Dann zog Hektor seine Evi auf den Schoß auf den Klubsessel. Und bald brannten ihre Wangen in einer Glut, als säße sie inmitten lodernder Feuer. Und es war auch Flammen, die in ihr hochschlugen; es war das heiße Begehren des liebenden, natürlich empfindenden Weibes nach engster Vereinigung mit dem Geliebten.
Ihre Stimme war nur noch ein halb unbewußtes stammeln; ihre Lippen waren heiß und trocken; Schauer gingen ihr über den Leib hin.
Und – das Licht erlosch. –
*
Evi saß neben ihrem Hecko auf dem Bettrand, stöhnte leise auf: „Mein Gott – was haben wir getan?!“
Aber sogleich fügte sie hinzu, sich an ihn schmiedend: „Fürchte nicht, daß ich bereuen werde. Nie – nie!“
Und wieder nach kurzer Pause: „Ich bin seit meinem sechzehnten Geburtstag kein törichtes Kind mehr. Damals war Papa noch im Feld. Und an jenem Tag habe ich gemerkt, daß die Mama – meinen Vater betrübt. –
Ach, Hecko, was habe ich damals gelitten. Noch monatelang. Und – fast jede Nacht lag ich wach und lauschte, ob nicht wieder gegen Morgen leise Schritte durch den Korridor tappten –“
Hektor drückte ihre Hände: „Mein armer Liebling, ich kann dich so gut verstehen. Ich verehre meine Mutter. Aber – wenn ich etwas derartiges von ihr wüßte –“
Kurz nach elf verließ Evi ihren Hecko, küßte ihn vorher nochmals und flüsterte: „Du – ich habe doch das Zimmer gerade über dem deinen. Könntest du nicht –“
Er verstand sie sofort. –
Jetzt – jetzt hatte es ja doch keinen Zweck mehr, zurückhaltend zu bleiben, sagte er sich, erwiderte daher: „Ich werde einen ausziehbaren Angelstock kaufen. Damit reiche ich dir einen Bindfaden empor. Und daran ziehst du eine Leine mit dicken Knoten hoch. Den Haken der Leine drückst du unters Fensterbrett –“
Da lächelte sie wieder wie ein Spitzbube: „Ach, Hecko, – bist du schlau!“
„Und die neue Bluse, die kannst du dir morgen früh um zehn vom Boden holen. Ich werde sie mit dem Karton durch die Stäbe eurer Bodenkammer schieben.“
Noch ein Kuß!
3. Kapitel
Hektor der Ältere
Und Hektor war allein. Nach einer Weile pochte jemand oben dreimal auf die Dielen. Das war Evis Gutenachtgruß.
Hektor saß in der Sofaecke und überlegte. –
Was sollte er nun tun? Ob es nicht am besten war, er vertraute sich ganz offen seiner Mutter an. Die war ihm jetzt wieder beste Freundin; sie hatte sich ganz daran gewöhnt, in ihrem Jungen den erwachsenen Menschen zu sehen.
Nein, Evi durfte nie und nimmer diesem Gallbaum in die Hände fallen – niemals! Er hatte ja jetzt Pflichten gegen sie. Weshalb sollte er sich mit Evi nicht verloben können?! Der Papa war ja so reich – und er das einzige Kind.
Und weiter eilten seine Gedanken, umspielten jetzt das, was Evi ihm über ihre Mutter anvertraut hatte. –
Plötzlich besann er sich: Er hatte doch in der vergangenen Woche Frau Wilhelmi in der sündhaft teuren neuen Weinstube ‚Prima Prima‛ mit einem Herrn nachmittags zusammen gesehen, auf den Evis Beschreibung von Gallbaum ganz gut paßte.
Und – er hatte auch bemerkt, wie die beiden gewisse Vertraulichkeiten sich gegenseitig gestatteten. –
Sollte etwa – sollte etwa gar Gallbaum der Liebhaber der schönen Frau Wilhelmi sein?! –
Am nächsten Vormittag gegen halb eins suchte Hektor ein bekanntes Detektivinstitut auf, zahlte fünfhundert Mark an und erhielt die Zusicherung, daß alles ebenso diskret wie gewissenhaft erledigt werden würde. Nach drei Tagen möchte er sich wieder erkundigen kommen.
An demselben Tag gegen vier Uhr hatte Hektor mit seinem Chef, dem Inhaber der Getreidefirma ‚Hevelke & Co.‛, eine so ernste Auseinandersetzungen, daß er Herrn Hevelke zum Schluß erklärte: „Auch Sie begehen den Fehler, Menschen nicht nach ihrer geistigen Reife, sondern nach dem Alter zu behandeln. Sie glauben, weil ich noch nicht einmal ganz neunzehn bin, müßte ich auch dieser Jugend entsprechend mich von Ihnen als Ihr Volontär oder Lehrling abkanzeln lassen. Hierzu lag im übrigen nicht der geringste Grund vor. Wie ich mich kleide, geht Sie gar nichts an. –
So, nun wissen Sie Bescheid. – Ich verlasse Ihr Geschäft für immer, Herr Hevelke. –
Habe die Ehre –“
Noch nie hatte ein Angestellter zu Julius Hevelke in so hochfahrendem Ton gesprochen. Aber – weiß der Teufel –, der Herr Chef wagte nichts zu erwidern. Dieser junge Riese mit dem sicheren Auftreten und der nachlässigen Vornehmheit in Ton und Haltung imponierte ihm sogar etwas.
Abends erklärte Hektor seinen Eltern, daß der Kaufmannsberuf nichts für ihn sei. Er würde sich überlegen, ob er die Landwirtschaft erlernen oder aber Elektrotechnik studieren wolle.
Papa Pieseke nickte ja und amen. Hektor mußte ja am besten wissen, was er tat.
Und nachts zwölf Uhr kletterte Hektor in einem schwarzseidenen Schlafanzug an dem Knotenstrick zu Evis Fenster empor. Dieses stand halb offen. Er verschloß es, tappte dann auf das links wie ein großer heller Fleck schimmernde Bett zu. Nackte Arme empfingen ihn. Heiße, sehnsüchtige Lippen suchten die seinen. –
Am dritten Tag saß Hektor dem Detektiv gegenüber, der Herrn Gallbaum hatte beobachten sollen. Der Detektiv war ein noch ganz junger Mensch mit sehr bleichem Gesicht.
Er hatte Erfolg gehabt – sogar einen Erfolg, auf den Hektor nie zu hoffen gewagt hätte. –
Ja – zu hoffen, – nur in Evis Interesse.
Die schöne Frau Wilhelmi und Otto Karl Arthur Gallbaum, Sohn des Holzgroßhändlers Andreas Gallbaum – geschätzt auf etwa vierzig Millionen – besaßen in der Münchener Straße 101, Hochparterre ein molliges Nestchen, in dem sie sich täglich trafen. –
Oh – sie waren sehr vorsichtig – sehr! Im demselben Haus Hoch–parterre links wohnte eine bekannte Modistin. Frau Vera konnte also stets diese aufgesucht haben. Gallbaums eigentliche Wohnung lag am Savignyplatz. Er war nur der Sohn seines Vaters. Zum Schein nannte er sich Kunstmaler.
Der blasse Detektiv war sogar heimlich in das ‚Nestchen‛ eingedrungen. –
„Wenn Sie wert darauf legen, mein Herr,“ meinte er, „so können wir das Paar auch überraschen. –
Übrigens – ich weiß zufällig, daß mein Chef denselben Auftrag vor kurzem auch von anderer Seite erhalten hat, – ganz im Vertrauen. Aber – dieser Auftraggeber ist nicht der Ehemann –“
„Wer denn sonst?“
Der Blasse zauderte. Da drückte Hektor ihm verstohlen einhundert Mark in die Hand.
„Es ist – ein Vetter des Ehegatten, ein Obers a.D. Hektor von Wilhelmi, – der berühmte Afrikaner und Kolonialkämpfer.“
Hektor Pieseke hatte etwas gestutzt, als er den Vornamen hörte. –
‚Hektor‛ war ja so wenig gebräuchlich, so selten. Übrigens hatte ihm Evi von diesem Onkel bereits so allerlei erzählt. Nur den Vornamen hatte sie nie genannt. –
‚Die Mama haßt den Onkel geradezu. Er kommt auch nie zu uns,‛ hatte Sie einmal gesagt. ‚Er und Papa treffen sich nur anderswo. Ich war aber schon verschiedentlich in Onkels Wohnung. Er lebt ganz wie ein Einsiedler und fast ärmlich. Ich liebe ihn; er hat so etwas Gütiges an sich!‛
Hektor verließ die Detektei und schritt dem Tiergarten zu. –
Also der Oberst hatte ebenfalls ein Interesse an Frau Vera. – Vielleicht war er eifersüchtig – vielleicht
‚Tolle Welt!‛ dachte Hektor. ‚Wie viel Lug und trug gibt es nicht ringsum?! Auch Evi und er – wer hätte wohl geahnt, daß sie so – so miteinander standen.‛
Da neben ihm eine Stimme:
„Gestatten Sie vielleicht, daß ich eine Frage an Sie richte?“
Er blieb stehen. Der Herr, der nun vor ihm höflich den Hut lüftete, hatte ein mageres, gelbbraunes Gesicht, einen grauen hochgebürsteten Schnurrbart und eine große, hagere, sehr aufrechte Gestalt. In seiner Art zu sprechen lag etwas Kurzes, fast Herrisches.
Hektor grüßte ebenfalls. –
„Bitte; – worum handelt es sich?“
Der Herr betrachtet ihn jetzt mit Blicken, die scharf wie Nadeln waren, sagte dann: „Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns dort auf jene Bank.“
„Bitte.“
Nun verging eine Weile, ehe der Herr begann:
„Es ist eine sehr peinliche Affäre – sehr. Eine – schmutzige Geschichte – pfui Deubel. Aber – ich muß klar sehen. –
Ich kenne Sie nicht. Gestatten Sie auch mir, meinen Namen zu verschweigen. Jedenfalls haben Sie es mit einem Ehrenmann zu tun.“
„Das glaube ich ohne weiteres,“ meinte Hektor höflich.
„Sind Sie ein so guter Menschenkenner?“
„Ich denke. Wer in Berlin groß geworden und nicht gerade mit verbundenen Augen oder mit einer Scheuklappe herumgelaufen ist, weiß Spreu vom Weizen zu trennen.“
„Hm – Sie sprechen, als wären Sie vierzig. Und ich schätze Sie auf fünfundzwanzig.“
Hektor lächelte. „Achtzehn Jahre, zehn Monate,“ gab er sein wahres Alter an.
„Unmöglich!“ entfuhr es dem Herrn.
„Und doch ist es so.“
„Dann – dann begreife ich Ihr Interesse für jene Dame, die Sie durch einen Detektiv beobachten lassen, erst recht nicht.“
Ah – nun war’s heraus. Nun wußte Hektor Bescheid. Der Herr neben ihm war natürlich der Oberst von Wilhelmi.
Hektor schaute ihn nun seinerseits fragend an.
„Woher haben Sie –“
Da winkte der Oberst ab. „Das wollen wir unerörtert lassen. Kurz – mir ist bekannt geworden, daß Sie eine Frau Oberregierungsrat Vera Wilhelmi unter heimliche Aufsicht auf ihre Kosten gestellt haben. –
Weshalb?“
Hektor senkte den Kopf. –
Was sollte er antworten? Er befand sich in einer sehr peinlichen Lage. –
Dann dachte er: ‚Verlangt der Oberst von dir Offenheit, so mag er es erst selbst sein.‛ –
Und deshalb entgegnete er nun:
„Bevor ich mich zu Ihrer Frage äußere, möchte ich Ihnen folgendes vorschlagen. Ich halte es für richtiger, daß wir beide die Masken fallen lassen.
Ich nehme an, Ihnen hat der Inhaber der Detektei berichtet, daß auch ich für Frau Wilhelmi ein gewisses Interesse habe. Ich nehme sogar an, Ihnen ist mein Name genannt worden.“
„Nein – tatsächlich nicht.“
„So, – nun, dann bin ich Ihnen gegenüber im Vorteil. –
Herr Oberst – Offenheit gegen Offenheit! –
Wenn ich auch erst achtzehn zähle, ich bin reif für dreißig.“
Oberst von Wilhelmi war leicht zusammengezuckt.
„Ah – das gibt der Sache freilich ein anderes Aussehen,“ sagte er, lebhafter werdend. „Also gut – ich bin Oberst von Wilhelmi, der Vetter und frühere intimste Freund eines jetzt schamlos betrogenen Ehemannes. Und Sie?“
„Ich heiße Hektor Pieseke, Herr –“
Hektor kam nicht weiter.
Der Oberst war aufgesprungen. Sein Gesicht sah fahl aus, und die Augen waren aufgerissen wie in jähem Schreck. Und er stotterte, während seine Blicke den jungen Menschen vor ihm von oben bis unten musterten:
„Hektor – Hektor Pieseke –“
Dem war dies seltsame Benehmen vollständig unbegreiflich. Dann – ein Gedanke: Sollte der Oberst etwa auch Evi haben beobachten lassen, sollte er etwa wissen, daß – daß der Knotenstrick die letzten drei Nächte benutzt worden war?!
Hektor wurde sehr schwül zumute. Er schaute zu Boden, bekam einen roten Kopf.
Da setzte sich der Oberst wieder. Man sah ihm an, daß er sich mit aller Gewalt zusammennahm, um weiter diesem jungen Mann gegenüber den Fremden zu spielen.
Den Fremden! –
Und wie sah’s dabei in des alternden Mannes Herzen aus!
Jetzt begann er wieder: „Ihr – Ihr Name rief in mir eine längst verklungene Erinnerung hervor. Doch – das dürfte nichts mit dem zu tun haben, was wir hier verhandeln. –
Sie sagten: Offenheit gegen Offenheit. –
Nun gut. Da sie trotz Ihrer Jugend in jeder Beziehung den Eindruck eines völlig ausgereiften Menschen machen, brauche ich keine Redensarten zu drechseln. –
Mein Vetter Egon Wilhelmi ist durch seine Frau unglücklich geworden. Ich hatte ihn vor dieser Ehe gewarnt. Aber er war in das Lärvchen verliebt und vermutete dort Gefühl, Temperament, Herz, wo nur kälteste Selbstsucht und Eitelkeit wohnten. Als ich vor einem Jahr hier nach Berlin zog – ich hatte gerade meinen Abschied genommen –, sah ich ihn nach zehn Jahren endlich wieder.
Er war seelisch ruiniert, war – ein Spieler, ein Schürzenjäger geworden, – alles nur, um über diese Enttäuschung hinwegzukommen. –
Ich habe mir nun in Afrika ein Vermögen erworben, bin Junggeselle und außerdem vernünftig genug, stets mit einem plötzlichen Tod zu rechnen. Das müssen wir ja alle. Aber – viele scheuen sich, ein Testament zu machen, weil sie fürchten, dadurch den Sensenmann herbeizulocken.
Ich wollte also, da andere Erbberechtigte fehlen, Egons Tochter und einzige Kind Eveline mein Geld vermachen. Aber – ich will auch sicher gehen. Evelines Mutter soll nie etwas von meinem Geld haben – nie! Ich weiß – sie haßt mich. Nun – ich sie auch! Schon als Mädchen haßte ich sie.
Weshalb – das sind Klänge aus der Vergangenheit. –
Ein Zufall ließ mich auf den Verdacht kommen, sie könnte jenen Gallbaum zum Geliebten haben. Nun habe ich Gewißheit, und nun werde ich Egon von dieser verkörperten Verlogenheit befreien. Dann wird mein Vetter wieder aufleben. –
So – das hätte ich Ihnen mitzuteilen. –
Und Sie?“
4. Kapitel
Abrechnung
Hektor blieb stumm. Seine Augen ruhten wie gebannt auf der linken Hand des Oberst, mit der dieser die silberne Krücke seines Spazierstocks umfaßt hatte.
Wie gebannt! Denn – auf diesem Handrücken hatte er soeben genau dasselbe braune, herzförmige Mal bemerkt, das er selbst an derselben Stelle trug.
Der Oberst wurde aufmerksam, erkannte, wohin die Blicke des jungen Mannes gerichtet waren, schaute nun selbst nach Hektors Linker, die halb geballt zwanglos auf dem Schenkel ruhte, – schaute, wurde verlegen, sogar etwas rot.
„Merkwürdig,“ sagte Hektor da kopfschüttelnd. „Sie besitzen genau dasselbe Muttermal wie ich, Herr Oberst –“
„Ein Zufall, mein junger Freund.“ Aber des alten Afrikaners Stimme zitterte leicht. Dann fügte er hinzu: „Wollen Sie mir nun nicht ebenfalls erklären, weshalb –“
„Gewiß, Herr Oberst. – Genau so, wie Sie auf meine Diskretion jedem gegenüber rechnen können, darf ich’s wohl auch. –
Ich – ich liebe Eveline Wilhelmi, Herr Oberst. Wir wohnen in demselben Haus. Seit etwa zwei Wochen sind wir heimlich verlobt. Niemand weiß etwas davon. –
Eveline sollen nun jenen Gallbaum auf dringendes Verlangen ihrer Mutter heiraten –“
Hier schnellte der alte Herr förmlich empor.
„Gallbaum – Eveline?! –
Sie – Sie müssen sich irren. Es – es wird sich um einen anderen Gallbaum handeln,“ sagte er, mühsam nach Worten ringend.
„Nein – es handelt sich um denselben! – Ich habe ja Frau Wilhelmi nur deshalb beobachten lassen, weil ich gegen sie Verdacht geschöpft hatte und weil ich eine Waffe gegen sie in Händen haben wollte.“
Der Oberst setzte sich wieder, murmelte:
„Bestie, Kupplerin.“
Dann ergriff er Hektors Rechte, drückte sie, behielt sie in seinen schlanken, nervigen Händen.
„Mein lieber junger Freund, – wie oft schon habe ich in meinem vielbewegten Leben die Erfahrung gemacht, daß das Schicksal es mit uns zuweilen fast zu gut meint, – so gut, daß man den Neid der Götter fürchtet. –
Diese meine Worte beziehen sich jetzt auf Sie, Hektor. Sie gestatten doch, daß ich Sie als Verlobten meines lustigen, harmlosen Evelinchens so nenne. –
Sie haben mich vor kaum einer Viertelstunde kennen gelernt, und schon erkläre ich Ihnen hiermit feierlichst, daß ich bei Egon für Sie als Freiwerber auftreten werde. Mehr noch: Eveline soll sofort einen Teil meines großen Vermögens erhalten, damit ihr bald heiraten könnt. Ich halte nichts von langen Verlobungen. Sobald Sie mündig sind, Hektor, feiern wir Hochzeit. –
Was sind Sie eigentlich?“
„Nichts. – Vorläufig nur der Sohn eines Millionärs – das einzige Kind.“
„Sie sind genau so geradezu wie ich, Hektor. –
Nur keine Phrasen – ganz recht! – Was wollen Sie werden?“
„Landwirt. Papa wird mir später ein Gut kaufen.“
„Donner – da braucht die Eveline mein Geld ja gar nicht! Trotzdem soll sie’s haben –“
Er versank darauf im Nachdenken. Dann sagte er etwas unsicher:
„Mein lieber Junge, ich möchte Evelinchens wegen mal mit Ihrer Frau Mutter sprechen. Würden Sie nicht vielleicht eine Gelegenheit herbeiführen können, daß ich Ihre Mutter zunächst allein sehen kann? Wie wär’s – wollen Sie beide mich nicht vielleicht morgen besuchen – so gegen zwölf?“
„Sehr gern, Herr Oberst. Es wird sich einrichten lassen.“
„Danke, lieber Hektor. –
Was jenes – Weib anbetrifft, so überlassen Sie alles nur mir. Ich pflege nie etwas zu überhasten. Also gedulden Sie sich. Eveline soll in kurzem öffentlich Ihre Braut sein.“
Er erhob sich. Sie gingen nun zusammen durch die einsamsten Wege des Tiergartens, und Hektor mußte dabei von seinen Eltern erzählen.
Dann trennten sie sich mit herzlichem Händedruck.
Der Oberst schaute dem schlanken, großen Menschen, der den Kopf so zurückgebogen trug, lange nach, murmelte leise:
„Mein Kind – mein Sohn, ganz – in allem mein Sohn! –
*
Hektor kam heim, traf die Mutter in der Küche, denn kochen tat Frau Anna noch immer selbst.
Er küßte sie, behielt sie im Arm:
„Mutter – Mutter, – freu dich. Dein Junge wird dir sehr bald eine Schwiegertochter zuführen.“
Sie erschrak. – Er merkte es, lächelte glücklich. „Eine Schwiegertochter mit Vermögen. Und – sie wohnt gerade über uns –“
Frau Anna zuckte zusammen.
„Eveline Wilhelmi ist’s. Von Ansehen kennst du sie ja –“
Und dann erzählte er alles, was mit Evi, Gallbaum, Frau Vera und dem Oberst zusammenhing – nur – von dem Knotenstrick sagte er nichts.
Als er den Namen Hektor von Wilhelmi aussprach, senkte Frau Anna den Kopf. Und als er das Muttermal erwähnte, bückte sie sich nach ihrem Taschentuch. Dann erzählte er auch von des Obersten Bitte um eine Unterredung.
Frau Anna trat an das Küchenfenster, blickte starr zum Himmel empor.
„Mutter – weshalb antwortest du nicht?“ fragte er nach einer Weile. Er begriff ihr Benehmen nicht.
Da erwiderte sie fest: „Gut – wir gehen hin.“
Als Papa Pieseke dann all die Neuigkeiten hörte, bewegte er wie ein Automat den Kopf hin und her:
„Junge – Junge, hast du einen Dusel!“ Und hierauf umarmte und küßte er ihn.
Hektor hätte seine Evi so gern noch am Tage gesprochen. Aber er lauerte ihr umsonst auf. So mußte er denn schon auf – den Knotenstrick seiner Hoffnung setzen. Und – bereits um dreiviertel zwölf pochte Evi oben dreimal auf die Dielen. –
Hektor hielt seine Evi im Arm, streichelte ihre Wangen, berichtete alles haarklein. Und Evi lachte und weinte vor Freude und Seligkeit.
Nur – eins gefiel ihr nicht. –
„Du, Hecko, – bis zu deiner Mündigkeit sollen wir warten?!“ meinte sie sehr gedehnt. „Das – das sind ja noch zwei – zwei endlose Jahre. Oh – du, – das – das ist doch Unsinn! Nicht wahr, Hecko, – eigentlich – eigentlich bin ich doch schon dein kleines Frauchen –“
„Allerdings!“ Und er küßte sie so, daß sie es ohne weiteres glauben mußte – ganz bestimmt glauben mußte. –
Am folgenden Tag fuhren Frau Anna und Hektor zu Oberst von Wilhelmi. Der wohnte wie ein richtiger Einsiedler im Alten Schmargendorf in einem kleinen Häuschen inmitten von Obstbäumen und Linden, Rosen und vielen Frühbeeten.
Er hatte seine Gäste erwartet. Er küßte Frau Anna die Hand, bat Hektor dann, im Nebenzimmer seine afrikanischen Trophäen sich anzusehen.
Dann waren sie allein, diese beiden Menschen, die sich heute seit zwanzig Jahren wiedersahen.
Frau Anna saß in einem einfachen Korbsessel. Der Oberst stand vor ihr, hielt ihre Hand. Seine Augen waren feucht; in seinem Gesicht zuckte es.
„Anna – Anna, – unser – Sohn –“ brachte er mühsam hervor. „Anna – hast du meiner in Groll gedacht?“
Sie schaute ihn fest an. „Nein – niemals! – Ich habe gesühnt, was ich getan. Ich habe in treuester Pflichterfüllung an meinem Mann die Lüge gutgemacht, mit der ich in die Ehe ging. Er ahnt noch heute nicht, daß ich dein Kind unter dem Herzen trug, als ich seine Werbung annahm und auf eine schleunige Hochzeit drang.“
„Und – warum tatest du es? – Doch – was frage ich?! Vera, jetzt Evelines Mutter, damals ein Weib, das um jeden Preis die meine werden wollte, ging zu dir, sagte dir, du würdest mir meine Karriere, mein ganzes Leben verpfuschen, wenn du nicht bald von mir abließest. –
Und da hast du wohl geglaubt, Anna, ich hätte sie zu dir geschickt?“
„Nein. Dazu kannte ich dich zu gut. Aber – du solltest frei sein. Das hatte ich längst beschlossen. Und da meine Eltern mich zu der Ehe mit meinem jetzigen Mann drängten, sagte ich schnell ja –“
„Und ich – ich habe dich – für treulos gehalten, für wetterwendisch, launenhaft. Deshalb blieb ich stumm und – ging nach Afrika. –
Anna – ich hätte dich geheiratet. Und nun – bin ich einsam geblieben. Nicht einmal meinen Sohn darf ich an mein Herz drücken –“
„Weshalb nicht? – Er – er schwärmt von dir. Biete ihm als Evelines Onkel daß du an. Er wird sich freuen.“
Dann erhob sie sich.
„So, Hektor, – nun haben wir Wiedersehen gefeiert. Nun – muß die Vergangenheit tot bleiben für immer. Nichts mehr davon. Schon diese Unterredung belastet mein Gewissen.
Er küßte ihr die Hand – wortlos. Dann holte er Hektor herein.
„Mein lieber Junge – wir sind also mit allem im reinen,“ sagte er herzlich. „Wie wär’s nun zwischen uns mit dem vertrauten du? – Mit deinen lieben Eltern werde ich auch bald Brüderschaft trinken.“
Hektor stammelte: „Lieber – Onkel Hektor, ich –“
Da schloß der Oberst ihn in seine Arme, küßte ihn. Und die Tränen rannen ihm über die Wangen. –
*
Am folgenden Nachmittag gegen vier Uhr – Wilhelmis hatten gerade abgegessen – ließ sich der Oberst melden.
Frau Vera schürzte die Lippen:
„Egon – ich muß bedauern. Für den Herrn bin ich nicht zu sprechen!“
Der Oberregierungsrat schaute verlegen drein.
„Was – was mag er nur wollen? – Aber – abweisen können wir ihn nicht.“
„Nein – das geht nicht mehr!“ erklang von der Tür her eine harte, energische Stimme. Es war der Oberst selbst, der dann das Mädchen hinausschickte, ebenso auch Eveline, die er herzlich auf die Stirn küßte.
Frau Vera maß ihn mit vernichtenden Blicken.
„Diese – diese Aufdringlichkeit ist denn doch unerhört,“ fuhr sie auf. „Egon – ich ziehe mich zurück.“
„Tun Sie das nicht,“ meinte der Oberst eisig. „Es handelt sich um Sie – nur um Sie!“
Sie stutzte. Dann zuckte sie die Achseln.
„Ich bitte es kurz zu machen,“ sagte sie und setzte sich in den Erker.
„Egon, sind wir hier unbelauscht?“ wandte der Oberst sich an seinen Vetter, der nicht wußte, was er von alledem zu erhalten hatte.
„Gewiß. – Wenn wir nicht gerade zu laut sprechen.“
„Gut. – Ich bin hierher gekommen, um zischen uns allen endlich reinen Tisch zu machen. –
Ganz abgesehen davon, Egon, daß deine Frau dich seelisch ruiniert hat, betrügt sie dich auch –“
Frau Vera war mit einem Sprung vor dem Oberst, zischte:
„Elender Verleumder du –“
„Münchener Straße 101!“ fiel er ihr scharf ins Wort.
Das wirkte. Sie taumelte zurück, leichenblaß, stützte sich schwankend auf die nächste Stuhllehne.
„Also, Egon, – sie betrügt dich mit Gallbaum, demselben Menschen, der deine Eveline heiraten soll! Etwas derartiges von sittlicher Verkommenheit ist mir noch nie begegnet. Dieses Weib will ihr Kind an ihren Geliebten verkuppeln, damit sie einmal weiterhin von ihm – Geld erhält und damit sie – das Ehebrechen bequemer hat. –
Halt, Egon, – keine Tätlichkeiten. Sie ist’s nicht wert. Sie wird sofort dein Haus verlassen. Dann leitest du die Scheidungsklage ein. Ein Grund wird sich finden. –
Wir müssen jeden Skandal vermeiden. Du würdest dabei eine zu klägliche Rolle spielen. –
Was Eveline angeht, so werde ich ihr die Hälfte meines Vermögens sofort zukommen lassen. Sie ist heimlich verlobt. Und diese ihre Wahl findet meine vollste Billigung.“
Frau Vera sah, daß es hier für sie nichts mehr zu hoffen gab – nichts! Aber – sie wollte sich wenigstens rächen an dem, den sie haßte – haßte mit der ganzen Macht des zurückgewiesenen Weibes.
Ein höhnisches Lachen kam über ihre Lippen:
„Sie machen sich in dieser Rolle des Moralpredigers einfach großartig, Herr Oberst – in der Tat! –
Nun – ich werde ja sehen, wie Herr Pieseke unter uns, der Ihre – schwangere Geliebte gutgläubig heiratete, sich zu dieser Neuigkeit stellen wird. Der Ihnen so genehme Bewerber für die Eveline dürfte wohl der junge Pieseke sein, dessen Beziehungen zu Eveline mir nicht ganz klar sind, da ich zufällig herausgebracht habe, daß er ihr – eine Bluse geschenkt hat. Ihr unehelicher Sohn wird also Evelines Gatte! Nun – meinetwegen!“
Der Oberst blieb ganz ruhig. „Ich nehme an, daß Ihnen bekannt ist, daß Ehebruch auf Antrag des beleidigten Ehegatten mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird. Egon wird diesen Antrag stellen, falls Herr Pieseke irgendwie über Hektors wahre Herkunft aufgeklärt werden sollte. Sie haben also wohl begründete Aussicht, zwei Jahre im Gefängnis zuzubringen, denn die Richter dürften einer Mutter, die ihr Kind an ihren Geliebten verschachern will, kaum weniger als die Höchststrafe zuerkennen. –
So – nun gehen Sie – sofort! Ihr persönliches Eigentum können Sie später abholen lassen.“
Frau Vera schlich hinaus. – Gefängnis! Daran hatte sie nicht gedacht. –
Der Oberst klopfte seinem Neffen auf die Schulter.
„Kopf hoch, Junge! Nun fang’ ein neues Leben an. Diesen Satan bist du ja los. Ein anderer Ausdruck paßt nicht für dieses Weib.“
„Hast recht, Hektor. Ein neues Leben! Gott sei Dank – endlich frei!“ –
Abends wurde bei Piesekes unten – dies auf des Obersten Wunsch – in aller Stille Verlobung gefeiert. Wirklich in aller Stille. Das Ehedrama warf seine Schatten auf diesem kleinen Kreis von Menschen, die sehr wohl verstanden, was es hieß, als der Brautvater zum Schluß seiner kurzen Rede sagte: Meine Kinder – werdet glücklich – glücklicher als ich es war –“
5. Kapitel
Die Likörbohne
Der geneigte Leser wird sich wundern, weshalb die Geschichte vom schönen Hektor noch ein 5. Kapitel hat.
Er wird denken: Nun ist doch alles in schönster Ordnung! Egon Wilhelmi ist den Satan los, Hektor hat seine Evi, Piesekes und der Oberst duzen sich seit der stillen Verlobungsfeier, – wozu also noch Nummer 5? –
Es hätte doch genügt, wird er weiter denken, in zwei oder drei Schlußsätzen zu erwähnen, daß Evi und Hektor wirklich glücklicher als Herr Egon Wilhelmi geworden sind.
Gewiß, verehrter Leser, – in einer jener Novellen oder Erzählungen, in der der Verfasser nur nach bekanntem Muster prämiierte Tugendbolde in Freiheit dressiert vorführt und in der es selbst für den übereifrigen Unsittlichkeitsschnüffler auch nicht einen einzigen unmoralischen Gedankenstrich – auch Striche können genau so wie absolut hagere Plättbrett-Damen unmoralisch sein – zu entdecken gibt, – also in einer jener, Wirklichkeit und Wahrheit total auf den Kopf stellenden Familienblattdichtungen wären derartige Schlußsätze selbstverständlich gewesen.
Hier, wo Menschen wandeln, lieben, hassen, – echte Menschen, wie das Leben sie zurechtknetet, gehört das 5. Kapitel ebenso notwendig mit zur Sache, wie die arglistige mattlila Bluse und die große Likörbohne, die ja beide letzten Endes an vielem schuld sind, was Evi und Hektor – ausgefressen hatten. –
So, und nun mag der Leser selbst urteilen, ob dieses Kapitel nicht durchaus dem natürlichen Lauf der Dinge entspricht. –
Evi und Hektor waren ein sehr verliebtes, sehr glückliches Braut–paar.
Vierzehn Tage lang aber nur.
Dann – dann merkte Hektor, daß seine Evi stiller und stiller, blasser und blasser wurde.
*
Am Verlobungstag hatte sie ihm feierlich erklärt:
„Du, Hecko, – jetzt wo ich deine Braut bin und deinen Ring trage, – jetzt – jetzt – will ich auch wirklich nur deine Braut sein. Mit – mit dem Knotenstrick ist’s also aus.“
Da war Hektor erst ganz verblüfft gewesen. Dann aber begriff er, was in ihr vorging: Sie wollte als reine Braut in die Ehe gehen.
Und da küßte er sie ganz gerührt auf die Stirn.
Seitdem hatte er sich trotz aller seiner Verliebtheit nie mehr die geringste Vertraulichkeit herausgenommen – nie mehr!
Schwer fiel es ihm – verflucht schwer. Aber – er war ein Hektor, und der afrikanische Hektor konnte sich auch beherrschen wie selten einer.
Nun wurde Evi so blaß, so still, so traurig.
Der Herr Oberregierungsrat hatte zu Hektors Eltern gesagt: „Selbstredend muß Hektor erst mündig sein, bevor geheiratet wird, obwohl er ja seinem Äußeren nach – und so weiter –“
Das Brautpaar hatte noch zwei Jahre vor sich. Und Evi hatte doch schon damals ihrem Hecko zugeflüstert, zwei Jahren wären eine Ewigkeit – oder was ähnliches.
Hektor wurde von Tag zu Tag besorgter.
Evis Aussehen gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmungen wechselten wie das berüchtigte Aprilwetter. Bald sang sie, dann perlten ihr wieder Tränen über die Wangen.
Eine weitere Woche ging hin.
Auch Onkel Hektor schüttelte nun den Kopf zu Evis Aussehen. Und eines Tages sagte er zu Papa Pieseke:
„Du, August, – merkst du was? Die Evi – der bekommt das Verlobtsein nicht! Das Mädchen hat zu viel Temperament. Und – wenn man dich nur jeden Tag zu ein achtel satt machen würde, dürftest du auch bald blaß und hohläugig werden. –
Du verstehst mich doch. Die Brautzeit ist ja so ne Art Hungerkur, bei der das Brautpaar nur immer von den Süßigkeiten nippten darf, die eigentlich für sie schon bereit liegen. –
Scheußliche Erfindung – wirklich, diese Verloberei!“
Papa Pieseke nickte. „Stimmt, – ganz recht! Auch der Junge ist schon ganz nervös.“
Am Abend dieses Tages saß Hektor an seinem Schreibtisch, rauchte und grübelte wieder mal darüber nach, was Evi nur fehlen möge.
Da – die Uhr hatte gerade halb zwölf geschlagen – da fuhr er hoch, horchte.
Poch – poch – poch – kam’s von oben her.
Nach einer Weile wieder: Poch, poch, poch.
Da öffnete er das Fenster, schaute empor. Und Evi beugte sich hinaus und – winkte. –
Himmel – wo hatte er doch nur den Knotenstrick gelassen?! Endlich fand er ihn – endlich!
Nun war er oben. Evi empfing ihn in einem reizenden Morgenkleid, zog die Vorhänge zu, drehte dann das Nachtlämpchen an und winkte Hektor neben sich auf das kleine Sofa.
Hier schmiegte sie sich an ihn, begann herzzerreißen zu schluchzen.
Plötzlich sprang sie auf, eilte hinter den Bettschirm, und Hektor hörte, daß ihr dasselbe passierte, was junge Studenten als Folge überreichlichen Biergenusses zu fürchten haben.
Dann hörte er weiter, wie sie den Mund ausspülte, wie sie Odol, Kremol, Mundol, Zahnol oder sonst was in das Glas spritzte und nochmals spülte.
Und nun kam sie sehr verlegen zu ihm zurück, schmiegte sich wieder an ihn, flüsterte:
„Entschuldige, Hecko. Aber – ich kann nichts dafür, daß – daß mir jetzt so oft schlecht wird.
Du – du kannst dafür –!“
Und wieder Weinen, Schluchzen, Stammeln: „Ich – geh’ ins – Wasser –“
Sie wollte also ins Wasser gehen, und – ihm ging ein Licht auf.
Er zog sie an sich, küßte sie, küßte die Tränen weg.
„Dummchen – ins Wasser! Nein – zu Onkel Hektor werde ich gehen. Der wird schon Rat wissen.“
„Ach Gott, ja – er ist ja so gut, – aber – aber – dies – dies –
Nein – allein lasse ich dich nicht hin. Ihr könntet aneinandergeraten. Nein – ich bin nicht feige. Wirklich nicht.“
Dann – sollte er wieder hinab in seine einsame Junggesellenbude. Aber – er bettelte, – und er brauchte gar nicht so lange zu betteln.
Er durfte bleiben.
„Nur dies eine Mal – du – du Unband!“ lachte sie glücklich, denn sie hatte sich ja so namenlos nach ihm gesehen. –
*
Die beiden Sünder saßen in Onkel Hektors schlichtem Arbeitszimmer. Evi hatte einen ganz dichten Schleier vorgebunden, so dicht, daß niemand sehen konnte, ob sie errötete oder erblaßte.
„Nun, Kinder, – was habt ihr denn? Ihr seid ja so – so feierlich,“ meinte der Oberst.
Hektor nahm einen Anlauf, nahm allen Mut zusammen.
„Onkel, wir – wir –“
Da stoppte er schon.
„Na – los doch, mein Junge! Du bist doch sonst immer so forsch,“ mahnte der Oberst etwas verwundert.
„Onkel, wir – wir sind gezwungen –“
Abermal Schluß.
„Himmel noch mal, – wozu seid ihr gezwungen?! –
Kinder, ich begreife euch nicht. Mir könnt ihr doch wahrhaftig euer Herz ausschütten!“
Da klang’s aus der dunklen Ecke hervor, in die Evi sich gesetzt hatte:
„Onkel – also – eines Abends, da – da habe ich mir Heckos Zimmer angesehen. Und da hab’ ich mir eine Likörbohne in den Mund gesteckt, und Hecko mußte abbeißen. Und da – wurde die neue Bluse be… bekleckert – und wir – wir haben sie ausgezogen und gewaschen.
Und – so – so ist alles gekommen –“
„Ja, Onkel,“ sagte Hektor schnell, „und ich allein bin an allem schuld – ich ganz allein. Evi hatte mir extra verboten, mich umzudrehen, als sie – die Bluse aufknöpfte. Und nun müssen wir – sehr schnell heiraten, Onkel –“
Da wurde dem Onkel alles klar – alles.
„Ihr seid ja eine nette Bande – ihr!“
Der strenge Ton gelang vorbei. Um eine Mundwinkel zuckte ein Lächeln.
Evi sah’s, – und plötzlich saß sie ihm auf dem Schoß, küßte ihn – weinte.
„Onkel Hektor, – wenn du uns nicht hilfst, dann – geh’ ich ins Wasser!“
„Ich hoffe, daß wirst du manches mal tun, du – du – Rackerchen, – nämlich in die Badewanne steigen. –
Im übrigen werde ich unter diesen Umständen natürlich dafür sorgen, daß ihr im Galopptempo heiratet – schleunigst! –
Wirklich – eine Bande seid ihr – eine Bande!“
„Ach – Onkel, – nur, nur die Likörbohne war daran schuld. – Ich esse nie wieder welche –“
„Na – ich würd’s ruhig! – Denn jetzt ist ja doch schon zu spät –“
Und er lächelte gütig und nachsichtig in Gedanken an seine eigene Jugend – an Frau Anna und – seinen Sohn, der nun auch bald Vater sein würde – und er Großvater.
Schluß