von
M. Lemcke.
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
Ganz Bernburg war in heller Aufregung. Von Mund zu Mund flog die unglaubliche Kunde: Zwirns gingen ins Bad, nach Aaldorf – für die großen Ferien!
Zwirns! Man bedenke! Zwirns! Die doch im Städtchen als die sparsamsten, anspruchslosesten Menschen – verschrien waren! Denn – die Sparsamkeit des Prof. August Zwirn war lediglich schlecht bemäntelter Geiz, und die Anspruchslosigkeit hatte genau dieselbe Ursache. –
Aber – auch in Bernburg gab’s helle Köpfe. Und einer davon war der Ingenieur Neubert, der dort bei der kleinen Maschinenfabrik von Samuelsohn &. Deigelstamm angestellt war. Er löste das Rätsel dieser alten Zwirnschen Prinzipien zuwiderlaufenden Verschwendungssucht, indem er am Stammtisch mit seiner bekannten schnodderigen Schn … abelöffnung erklärte:
„Natürlich nur der beiden Mädchen wejen! Nur! Die sind doch nun im Alter der sogenannten Heiratsfähigkeit und sollen unter die Haube gebracht werden.
Dieweil nun hier in Bernburg jegliches Gebein, das den Namen Mann verdient, vor so ‛nen Schwiegereltern ein riesiges Grauen verspürt, sollen eben in Aaldorf zwei Opfer gesucht werden, die die Reize von Klärchen und Bärbchen nach erfolgter Trauung näher bewundern und genießen dürfen.“
Neubert war geborener Berliner. Daß sein Vater nur Schumacher und gleichzeitig Hauswart in Berlin W gewesen, daraus machte er keinen Hehl, ebensowenig, daß er es nur der pekuniären Unterstützung eines in demselben vornehmen Mietspalastes wohnenden Kommerzienrats zu verdanken gehabt, daß er hatte studieren können.
Trotz seiner scharfen Zunge war er recht beliebt. Nur nicht in dem Bernburger Kreis, in dem die Frau Gymnasialprofessor Amanda Zwirn die erste Geige spielte. Denn dieser Kreis bestand aus sechs Familien, die sich nicht gesucht und doch in Bernburg zusammengefunden hatten, alles Leute, an denen die moderne Zeit vorübergerauscht war wie eine Dusche, der sie ihre durch Vorurteile und heimliche Schwächen angeschmutzten werten Kadaver nicht ausgesetzt hatten. –
Prof. August Zwirn hatte einen sehr genauen Kostenvoranschlag gemacht für diese fünfwöchige Badereise und ausgerechnet, daß man bei richtiger Sparsamkeit mit achthundert Mark auskommen könnte, die neuen Kleider und so weiter für Klärchen und Bärbchen mit einbegriffen.
Unsere Geschichte spielt nämlich 1910, als man sich bei Aschinger in Berlin noch für – sage und schreibe und erbleiche vor Staunen – für sechzig Pfennig sattessen konnte.
Die Badeanzüge für die ‚Kinder‛ hatte Frau Amanda selbst geschneidert und wirklich etwas zustande gebracht, das auf heiratslustige Männer Einfluß ausüben mußte, denn – aus Zweckmäßigkeitsgründen würde man in Aaldorf natürlich das Familienbad benutzen, zumal die Mädels sich ja sehen lassen konnten.
Die allgütige Mutter Natur hatte bei Klärchen und Bärbchen eben wieder mal insofern ein Wunder geschaffen, als diese jungen neunzehn– und zwanzigjährigen Damen trotz der mageren Kost daheim an gewissen Körperstellen eine ins Auge fallende Fülle zeigten – bei sonst schlankem Wuchs, – wie man eine solche Doppelwölbung nur bei Frauen findet, die gewerbsmäßig die Nährmütter fremder Liebeserzeugnisse spielen.
Klärchen war ein richtiges blondes Klärchen und hätte eigentlich Gretchen heißen müssen, Gretchen aus dem Faust, aber nur aus den ersten Akten, wo sie noch nicht die sündige Liebe kennen gelernt hat. Klärchen ging stets mit süchtig gesenktem Blick und einem lieblichen Lächeln durch die Straßen. Frau Amanda schwor im Damenkaffee heilige Eide, daß ihr Klärchen noch immer an den Storch glaube.
Und Bärbchen, die ältere? –
Nun – zunächst war sie dunkel, hatte fast schwarze Augen und so etwas Zigeunerinnentyp. Da Papa Zwirn sie einmal als sechzehnjährige mit dem Studenten Ulrich Bölke auf dem Hausboden in recht verfänglicher Situation abgefaßt und ihr durch kräftige Ohrfeigen hatte klarmachen müssen, daß das Fremdenbett in der Bodenkammer nicht dazu da sei, darauf mit einem grünen Jungen Liebeschwüre auszutauschen, so wagte Mama Amanda jenen Storch-Eid nicht auch für Bärbchen abzulegen. –
Und der Tag kam, an dem Zwirns abreisten. Dritter Klasse. Selbstverständlich. Obwohl der Professor in der Provinzialhauptstadt bei der Filiale der Deutschen Bank ein Schrankfach gemietet hatte und darin all das aufbewahrte, was er dem gierigen Steuerfiskus verheimlichte.
Und – das war nicht wenig. Im Gegenteil! Aber August Zwirn war auf seine Art kaltblütig und schlau wie ein Verbrecher von Profession. Kaltblütig reichte er stets seine Steuererklärung ein, die doch in ihrer ‚Bescheidenheit‛ zum wahren Sachverhalt wie eins zu zwanzig sich verhielt.
Acht Stunden hatte man mit dem D-Zug zu fahren. Das Abteil war voll besetzt. Vater und Mutter Zwirn rührten sich nicht heraus, bewachten das Gepäck. Selbst die unbedingt notwendigen Gänge nach den verschwiegenen Kämmerlein erledigten sie im Galopptempo, soweit sich das machen ließ.
Bärbchen und Klärchen dagegen waren bald auf Entdeckungsreisen ausgegangen. Sie fuhren erst zum zweiten Mal in ihrem Leben D–Zug, und bisher hatten sie sich in den Wagen noch nie so recht umsehen dürfen.
So gelangten sie auch in den Speisewagen. Alles interessierte sie. Zu gern hätten sie sich an eines der Tischchen ans Fenster gesetzt und die Aussicht bei einer Tasse Schokolade genossen. Aber – Papa August hielt sie mit dem Taschengeld so sehr knapp. Außerdem ‚schickte‛ es sich wohl auch nicht für Professorentöchter, allein sich hier niederzulassen.
Während sie so noch im Abteil für Raucher dastanden und die Gegend bewunderten, an der’s nichts zu bewundern gab, erhob sich von einem Tisch ein jüngerer Herr, dessen linke Wange mal in eine Wurstmaschine hineingeraten zu sein schien.
„Meine Damen – welcher Dusel!“ sprach er die Schwestern sehr zwanglos an. „Seit Jahren haben wir uns nicht gesehen. Sie besinnen sich wohl noch auf mich: Ulrich Bölke, – seit drei Tagen Gerichtsassessor nach glücklich bestandenem Examen.“
Bärbchen wurde flammend rot. –
Man tauschte Händedrücke aus, und dann bat Ulli Bölke, die Schwestern möchten doch ein wenig Platz nehmen.
An seinem Tisch saß noch ein jüngerer Herr, den er nun als seinen Freund Herbert Schmidt, Bankbeamter, vorstellte.
Schmidt sah genau so patent wie der lange Ulli aus, war nur kleiner, wohlbeleibter und dunkel, während der Assessor die Bezeichnung semmelblond verdiente.
Bärbchen und Klärchen überwanden schnell die erste Verlegenheit. Das war lediglich das Verdienst ihrer Tischnachbarn, die beide als Großstädter über die nötige gesellschaftliche Gewandtheit und Unverfrorenheit verfügten, im Handumdrehen eine Unterhaltung in Gang zu bringen, die die Parteien einander schnell näherführte, so eine Unterhaltung, bei der das meiste durch die Blume gesagt wird und den weiblichen Teil bald in eine angenehme Erregung versetzt.
Ulli wollte zur Nachfeier seines Examens Sekt bestellen. Die Schwestern wehrten ab. Aber – es wurde doch Sekt. Und als sie dann nach einer Stunde wieder mal nach den braven Eltern sehen gingen, hatten sie hochrote Köpfe und klagten über die schreckliche Hitze im Abteil. Im Gang sei es viel kühler – und so weiter.
Nach zehn Minuten drückten sie sich wieder, jede mit einer einge–wickelten Stulle in der Hand. Diese dünn belegten Brötchen schmeckten dann einem Schaffner leidlich. Bärbchen und Klärchen aber saßen im Speisewagen und – aßen mit Ulli und Bert warm zu Mittag, amüsierten sich köstlich und freuten sich diebisch, daß ‚ihre Herren‛ gleichfalls nach Aaldorf reisten und dort gleichfalls im ‚Pensionat Scheffler‛ sich einmieten wollten. –
Sie bezahlten ihr Essen selbst; freihalten ließen sie sich nicht – oh nein! Mit dem Sekt – das war was anderes gewesen. –
Man traf dann noch verschiedene Verabredungen, bei denen die Eigenart von Papa und Mama Zwirn berücksichtigt wurde, und trennte sich schließlich in der Überzeugung, daß man recht fidelen Wochen entgegengehe. –
Die ‚Pension Scheffler‛ lag rechts vom Kurhaus dicht an der Strandpromenade. August Zwirn hatte schon vorher zwei Zimmer bestellt. Diese lagen nicht nebeneinander, sondern waren durch ein größeres, eleganteres Gemach voneinander getrennt.
Das Ehepaar wohnte auf Nr. 11, die Schwestern auf Nr. 13. – Das Pensionat war bereits gut besetzt, und bei der Abendtafel – Zwirns waren um sieben in Aaldorf angekommen – machte Fräulein Scheffler, die Inhaberin, die neuen vier Gäste mit den anderen so ‚im Ramsch‛ bekannt.
Neben Frau Amanda saß ein sehr vornehm ausschauender Herr mit Monokel, hochgedrehtem Schnurrbart und sehr stark gelichtetem Scheitel. Er sprach das Deutsche etwas gebrochen und machte auch einige Schnitzer während der Tischunterhaltung. Doch – er war ja ungarischer Baron und so überaus liebenswürdig zu der Frau Professor, auch zu den jungen Damen, denen er allerhand faustdicke Schmeicheleien sagte. –
August Zwirn wieder hatte als Nachbar einen jüngeren Gelehrten, einen Privatdozenten von der Universität Rostock namens Großstelz, mit dem er sich rasch anbiederte. Hatten sie doch beide dieselbe Leidenschaft: die altrömischen Klassiker, besonders Horaz, der ja – leider – auch so manche zweideutigen Verslein verbrochen hat.
Kurz: Der Anfang des Badelebens hätte eitel Sonnenschein sein können, wenn nicht Fräulein Scheffler auch noch zwei jüngere Herren an diesem Abend vorgestellt hätte: Ulli und Bert, die glücklich noch ein Zimmer erwischt hatten und – gerade das der Nr. 13 gegenüberliegende.
August Zwirn hatte mit scharfem Pädagogenblick sofort in dem einen der beiden jenen Ullrich Bölke wiedererkannt, der damals als Gast seines Onkels in Bernburg es verstanden hatte, das arme, harmlose Bärbchen zu einem Stelldichein in der Bodenkammer zu verführen.
Gleich nach Tisch nahm er daher die ‚Kinder‛ beiseite und erklärte ihnen, daß er nicht wünsche, mit jenem – Herrn – wieder in Berührung zu kommen. –
Bärbchen und Klärchen meinten kühl, ihnen sei Ullrich Bölke herzlich gleichgültig; sie würden ihn ebenfalls ‚glatt schneiden‛.
Zwirns zogen sich sehr bald auf ihre Zimmer zurück. Bärbchen und Klärchen waren zwar noch gar nicht müde, aber die Mama meinte, allein ohne Eltern dürften junge Damen nicht im Pensionsgarten den Abend genießen.
So setzten die Schwestern sich denn ans offene Fenster und hörten vom Kurhaus her lockende Walzerklänge herüberschallen, hörten das leise Branden der See und – waren wütend, daß Papa August und Mama Amanda so rückständige Ansichten über alles hatten.
„Überhaupt,“ meinte Bärbchen, und heute zum ersten Mal redete sie sich das temperamentvolle Herz frei, „überhaupt – unser ganzes Leben! Wir führen ein Dasein, als müßte Papa nur mit dem Gehalt auskommen. Wir tragen unsere Fähnchen jahrelang, tragen dazu Leibwäsche, die alles andere als schick ist, kriegen nur immer das Wort ‚Sparen!‛ zu hören und dabei – damit du’s endlich weißt, Kläre! – dabei besitzt der Papa rund dreihundertzwanzigtausend Mark Vermögen.“
Klärchen blieb der Mund offen stehen.
„Unmöglich,“ stotterte sie dann. „Das wäre ja –“
„Ja – das wäre ein himmelschreiendes Unrecht, uns so knapp zu halten! Aber – es ist so! Ich habe mal die Eltern belauscht, zufällig, und da sprachen sie über Tante Amalie, Papas verstorbene Schwester, nann–ten sie eine sehr kluge Person, weil sie stets nur dreißigtausend Mark versteuert und das zehnfache besessen hätte. Auch über uns redeten sie, – von dem Zeitpunkt unserer Großjährigkeit, von Tantes Testament und anderem. Alles verstand ich nicht –“
„Unglaublich!“ rief Kläre leise. „Empörend ist’s, daß wir auf diese Art von unserer Jugend bisher nichts – nichts gehabt haben!“
Bärbchen lächelte. „Du – wir holen alles nach. Hier in Aaldorf! Paß nur auf: Der Bölke und sein Freund helfen uns! –
Du – ich sag’ dir, – einen Lebens– und Genußhunger verspür’ ich! –
Mir prickelt’s in allen Nerven!“
„Aber Bärbel!“
„Hab’ dich nicht, Kläre! Gewöhn’ dir hier auch die züchtigen, verschämten Augen ab, die Mama dir ja nur eingedrillt hat! Du bist gar nicht so – du hast genau so viel Temperament wie ich! Meinst du, ich merk’ das nicht?! Du sprichst manchmal im Schlaf ganz laut. Und letztens, als wir heimlich den Pariser Sittenroman gelesen hatten, da hast du im Traum –“
„Du – schweig’, – sei still!“ Kläre sprang auf, dehnte und reckte sich, lächelte dann so eigen und meinte: „Es ist für heranwachsende Mädchen nicht gut, wenn sie so wenig Ablenkung haben wie wir. Man – denkt dann zu viel nach; Wünsche regen sich; die Phantasie malt einem Dinge aus, die –“
Sie schwieg plötzlich, fuhr hastig flüsternd fort:
„Horch – was war das?! Mein Gott – da nebenan muß ein Kranker wohnen. Dieses Geräusch! Es dringt so deutlich durch die nur mit dem Waschtisch verstellte Verbindungstür von Nr. 12 herüber. Horch – wie unruhig der Kranke ist! Ah – ein leiser Aufschrei sogar –“
Ihr Blick traf der Älteren Gesicht. Und – Bärbel feixte so seltsam. Denn Lächeln konnte man das nicht nennen.
„Du – du grinst ja so?“ entfuhr es Kläre.
Bärbel prustete in ihr Taschentuch, schlich dann auf Fußspitzen nach der Verbindungstür, drückte den Vorhang hinter dem Waschtisch beiseite, winkte Klärchen herbei!
Und – Kläre lauschte. Sie hörte drüben Flüstern, das Geräusch von Küssen.
Da raunte Bärbel ihr zu:
„Schäfchen –: Hochzeitsreisende!“
Und Kläre stand starr wie eine Bildsäule.
„Wo – woher – weiß du so gut Bescheid?“ fragte sie unsicher.
Bärbel zuckte die Achseln.
„Man liest doch Romane, du Schäfchen –“ Und – sie dachte dabei an Ulli Bölke, an Ohrfeigen, an den Vater, der damals Gott sei Dank – zu spät – aufgetaucht war.
Fünf Minuten früher, dann – Himmel, – das wäre gar nicht auszudenken gewesen!
Bärbel saß wieder am Fenster. Aber Kläre war von der Verbindungstür nicht wegzubekommen.
Als sie dann leise ans Fenster zurückschlich, sagte sie, sich zu der Schwester hinabbeugend:
„Du – ich halt’s hier nicht aus. Ich muß ins Freie. Mir ist so – so –heiß! –
Gehen wir noch in den Kurgarten. Es ist erst zehn Uhr, und das Konzert dauert bis elf –“
Bärbchen war sprachlos. „Schäfchen – wo, wo nimmst du nur plötzlich den Mut zu solchen Extravaganzen her?!“
*
Ulli und Bert saßen auf der Bank der Uferpromenade und genossen das Konzert von weitem. Sie hatten soeben über die Schwestern gesprochen, wobei der junge Bankbeamte dem Freund im Vertrauen mitgeteilt hatte, daß er ganz bestimmt wüßte, Prof. Dr. Zwirn sei sehr vermögend.
„Blech!“ hatte der Assessor erklärt. „Ich kenne die Leutchen doch von Bernburg her. Sie leben wie die Spartaner, und diese ollen Griechen sollen sich doch einer Lebensweise ähnlich der des Naturmenschen Franz Nagel befleißigt haben.“
„Kein Blech!“
Und Bert brachte Beweise vor.
Ulli wurde nachdenklich. Wenn die Sache so stand, dann – dann entging er ja vielleicht dieser Ehe mit seiner um sechs Jahre älteren, reichen Kusine. Er hatte ja Bärbel nie vergessen. Jene vier Wochen in Bernburg, das waren Erinnerungen, von denen er heute noch zehrte. Und – eigentlich war er ja auch verpflichtet, Bärbel seine Hand anzutragen!
Zwei Damen kamen die Promenade entlang. Bert erkannte sie sofort. Gab Ulli einen Stoß in die Rippen.
„Du – da sind sie –“
Man begrüßte sich freudig.
„Wir sind heimlich ausgekniffen,“ meinte Bärbel ehrlich. „Daher dürfen wir uns auch im Kurgarten zusammen nicht sehen lassen, überhaupt nicht, denn – Papa hat –“
„Kann mir denken, was,“ erklärte Ulli das weitere. „Strenges Verbot – und so weiter! Na – damit haben wir ja gerechnet. –
Also: Entwerfen wir einen Schlachtplan! –
Halt, ein Gedanke! Oben am Markt gibt’s eine Bar mit reizenden Nischen! Wie wär’s damit? Eine Zigeunerkapelle spielte dort im vorigen Sommer –“
Während Papa August mit offenem Mund sehr unmelodisch schnarchte und Mama Amanda darüber nachdachte, ob der ungarische Baron Janos Szerentsi nicht für eins von den Mädels ‚zu angeln‛ sei, saßen die vier Verbrecher in der ‚Amor-Bar‛ und probierten Likörmischungen in Menge, sangen leise die Walzer der Zigeunerkapelle mit und waren durchaus harmlos vergnügt.
So wurde es eins. Da mahnte Kläre sehr energisch zum Aufbruch. Die Zeche beglich Bert Schmidt. Er hatte es dazu. Sein Vater war Viehgroßhändler – einer von den ganz ‚großen‛, die wie amerikanische Stahlkönige Geld scheffeln.
Man ging heim. Zu zweien, in weitem Abstand. Auf der Strandpromenade und der See lag silbern in wunderbarer Schönheit das Mondlicht.
Ulli und Bärbel waren jetzt, wo sie allein nebeneinander gingen, plötzlich still – fast verlegen.
Die beiden anderen hatten noch einen kleinen Abstecher bis dicht ans Wasser gemacht, beobachteten ein Fischerboot, das vom Fang heimkehrte.
Bärbel starrte auf die breite, gleißende Bahn, die das Nachtgestirn über die Wasserfläche hinzauberte. Da tastete Ulli schon nach ihrer Hand.
Sie zuckte zusammen, zog aber ihre Finger nicht zurück.
„Bärbel – haben Sie noch zuweilen an mich gedacht,“ sagte er ganz leise.
Sie senkte den Kopf ganz tief. Ein paar Tränen rollten über ihre Wangen.
Er sah’s. Und er legte den Arm sacht um sie, zog sie an sich, daß sie nun eng aneinander gelehnt dastanden.
„Bärbel – sind Sie mir gram, weil – weil –“
„Ja – ja!“ stieß sie plötzlich hervor. „Sie – gingen fort damals – hinein in ein Leben, das Sie ablenkte. Ich – ich blieb zurück – wie in einem Gefängnis, wie ein Vogel, dem man einmal die Freiheit gegönnt und den man dann wieder eingesperrt hat. –
Oh – es gab Augenblicke, wo – ich – sie gehaßt – verwünscht habe. Nicht, weil – weil Sie mich hätten schonen sollen. Wir waren ja beide so jung. Ich habe Halbes Jugend gelesen. Und – da habe ich gemerkt, wie war er seine Menschen und Menschenschwächen geschildert hat. –
Nein – ich – haßte Sie als den, der – mich wach gerüttelt hat, der –“
Sie weinte wieder. Und Ulli Bölke kam sich vor wie – ein Mörder, wußte nicht, was er sprechen sollte, – er, der doch wahrlich jeder Lage gewachsen war.
Nur eins tat er. Er drückte Bärbel in auffallender Zärtlichkeit fester an sich. Und plötzlich barg sie den Kopf an seiner Brust, flüsterte schluchzend:
„Nie – nie hab’ ich dich vergessen. Wie sollte ich auch! Nie hätte ich einen anderen geheiratet – mit der – der Erinnerung im Herzen!“
Und Ulli Bölke erschien das alles wie ein Traum.
Vier Jahre versanken. Empor stieg vor seinen Blicken der schlanke, übermütige Backfisch, den er damals schon am dritten Tag nach dem ersten Erblicken geküßt hatte.
Wärme, stille Seligkeit zog in sein Herz ein. Das hier war ein Mädel – unverfälscht im Empfinden, ehrlich, offen. Keine jener raffinierten Großstadtgewächse wie Kusine Margot, die sicher schon ein Dutzend Lieben hinter sich hatte.
„Bärbel, Bärbel, – daß wir uns so wiederfinden mußten, – Bärbel, – ist das nicht wie – wie ein Märchen so schön,“ flüsterte er nun.
Und da hob sie den Kopf, lächelte glücklich.
„Hast du mich wirklich nicht vergessen, Ulli,“ fragte sie zaghaft.
Er küßte sie. Und sie schlang ihm die Arme um den Hals. Ihre Lippen wurden heiß, gaben die seinen nicht frei. –
Kläre und Bert kamen vom Strand zurück, stutzten.
„Herr Gott!“ entfuhr es Klärchen.
„Mondnachtzauber,“ sagte Bert und hustete laut.
Die beiden dort prallten auseinander, taten nachher ganz harmlos.
Man war bald vor dem Pensionat angelangt. Die Haustür blieb nachts offen. Und Bert und Kläre schlüpften als erste vorsichtig wie Diebe hinein, trennten sich mit schnellem Händedruck.
Kläre hatte die Tür nur angelehnt. Bärbel mußte ja gleich nachkommen. Aber – sie kam mich.
Nein, es hatte Ulli nur ein Wort gekostet, die beiden hatten kehrt gemacht, überschritten die Promenade und setzten sich dann hinter ein paar Strandkiefern in die Dünen, in den weichen Sand.
Mondnachtzauber. Wellenrauschen.
Bärbel war glücklich. Eng angeschmiegt an ihren Ulli saß sie da. Sie sprachen nicht viel. Ihre Herzen waren übervoll. Wie eine köstliche Weihe lag’s über diesem Wiederfinden.
Die Minuten verrannen. Und die Wärme der beiden jungfrischen Körper wirkte langsam wie ein berauschender, erregendere Trank.
Bärbel küßte ihn. Ihre Augen lagen wie hinter feuchten Schleiern. Ihr Atem ging schnell.
Vier Jahre versanken. Ein Nachmittag stieg in der Erinnerung empor, eine halbdunkle Bodenkammer, in die die Sonne nur einen schmalen Strahl hineinschickte.
Klaire hatte schließlich die Tür doch zugedrückt, hatte sich ans Fenster gesetzt, wartete – wartete.
Endlich erschien Bärbel – zerzaust, erhitzt.
„Du – du – ich finde das denn doch –“ stieß Kläre hervor.
„Schäfchen!“ lachte Bärbel leise, „ich bin ja mit Ulli seit vier Jahren heimlich ver‥lobt –“ beinahe hätte sie verheiratet gesagt. „Und jetzt – jetzt wird bald Hochzeit gemacht – recht bald. Gewiß, Ulli hat nichts, das heißt, er verdient noch nichts. Aber – da muß eben unser reicher Papa einspringen – sehr einfach!“
Kläre war baff. „Papa – einspringen! Na – ich denke, den kennen wir! Und überhaupt, Bärbel, – so wie er gerade über Ulrich Bölke denkt. Du, ich fürchte, es wird –“
„Ich fürchte gar nichts! Papa ‚wird‛, das heißt: Ja und Amen sagen! Wetten? Auf eine Tafel Schokolade? –
Aha, du kneifst, Schäfchen . –
Gratulieren könntest du mir getrost auch! Oder – hast du dich in Ulli etwa so ‛n bißchen verguckt?“
Kläre begann leise zu weinen. „Wir – wir standen doch immer so gut miteinander, Bärbel. Und nun wirst du nur noch Gedanken für –“
Da küßte die Ältere sie. „Schäfchen, du bleibst mir, was du mir immer warst. – Und nun – ins Bett! Sonst sehen wir morgen oder besser heute früh so übernächtigt aus, daß – man uns alles mögliche zutraut –“
*
August Zwirn hatte seine mageren, grausig beharrten Glieder nur ein einziges Mal im Familienbad den staunenden Augen des Publikums gezeigt und bei dieser Gelegenheit auch zum ersten Mal seine nicht minder dürre Amanda bei Tageslicht im nassen Badeanzug in all ihrer Reizlosigkeit richtiggehend anstaunen können, denn das Ehepaar Zwirn lebte noch jetzt in vieler Beziehung wie ein Brautpaar und hielt es für schamlos, etwa im ehelichen Schlafgemach sich vor einander allzu sehr zu entblößen.
Also: August Zwirn mied das Familienbad fernerhin wie eine Stätte peinvoller Offenbarung und schamloser Verführung.
Die Offenbarung war seine Amanda gewesen; und die Verführung waren die anderen Weiber, die sich dort im Sand mit klatschnassen Badekostümen präsentiert und Dinge gezeigt hatten, – Dinge, die in des Professors siebenundfünfzigjährigem Herzen den Eindruck einer stark hügeligen Landschaft von besonderer Üppigkeit zurückgelassen und eine arge Verwirrung angerichtet hatten. Bei Amanda gab’s keine Hügel. Da war alles eben. Und das war immer so gewesen – schon als Braut.
Und Amanda Zwirn selbst? –
Nun – auch sie verzichtete auf weitere Besuche des Familienbads. Nicht, weil sie sich bewußt geworden, allzu sehr von den anderen abzustechen – ob nein: Sie hatte Blicke ihres Augusts beobachtet – Blicke! Und da hatte sich bei ihr die Eifersucht geregt. –
Mithin waren Bärbchen und Klärchen sich dort jetzt vormittags allein überlassen – scheinbar allein. In Wahrheit hatten sie stets Gesellschaft – Ulli und Bert! –
Ein Glück, daß weder der ungarische Baron Janos Szerentsi noch der Privatdozent Ignaz Großstelz Wasserfanatiker waren: Sonst hätten die beiden leicht ausplaudern können, wie wenig die ‚Kinder‛ ihr Versprechen hielten, Ulli Bölke nebst Freund ‚glatt zu schneiden‛.
Nein – der Baron nahm angeblich nur warme Seebäder, und Ignaz Großstelz hatte in seiner Unschuld Zwirns ganz ehrlich erklärt, er brauche nur alle acht Wochen sich mit dem Schwamm abzureiben; er trage grauwollene Sachen, auch im Sommer. Und die gäben keine schmutzigen Füße, färbten nicht ab wie etwa schwarze. Übrigens sah er auch sonst, was seine Aufmachung betraf, ganz nach wollenen Socken aus, trug, obwohl er vermögend war, fertig gekaufte Anzüge mit abstehendem Rockkragen und entweder zu kurzen oder zu langen Ärmeln. Nur die Hosen waren immer zu lang und fielen auf die Schaftstiefel in ‚tausend Fältchen‛ herab. Aber gerade diese souveräne Verachtung modischen Geckentums machte ihn dem Professor sehr lieb, der ja selbst in Bernburg durch sein ‚Kostüm‛ stets auffiel. –
August Zwirn beobachtete daher auch mit inniger Genugtuung die schüchternen Versuche des Gelehrten Ignaz, Bärbel für sich zu erobern. Dieser Privatdozent wäre gerade ein Schwiegersohn nach seinem Geschmack gewesen.
Nein – Bärbel mit dem Zigeunertyp erleichterte Ignaz nach Kräften die Sache, – wenigstens schien es so.
Mama Amanda aber schwamm wieder Janos Szerentis wegen in einem Ozean von Wonne. Der monokelbewaffnete, hochelegante Baron machte Kläre den Hof, und wenn man abends zu sechsen im Kurgarten an einem Tisch beisammensaß, wenn Ignaz durch seine Brille Bärbel ‚kurzsichtig‛ anhimmelte – kurzsichtig in doppelter Beziehung, denn ihr zärtliches, verträumtes Lächeln galt ja stets einem anderen Tisch! –, wenn der Baron Kläre von seinen Gütern und Gestüten erzählte, von seinem Schloß und seinen acht Dienern – und dabei einflocht, er suche seit langem eine gemütvolle deutsche Hausfrau, dann war das Ehepaar Zwirn restlos glücklich und ahnte auch nicht im entferntesten etwas von den Gewitterwolken, die sich über ihren Häuptern drohend in Gestalt zweier anderer Bewerber zusammenballten, auch nicht von der Schlechtigkeit der großen Welt, von geriebenen Hochstaplern und scheinheiligen Wollsockenträgern.
Um elf Uhr nach Schluß des Konzerts wanderte man dann wie– der zu sechsen nach dem Pensionat, sagte sich gute Nacht und ging zu Bett, – das heißt: Mit Ausnahmen.
‚Die Nacht ist keines Menschen Freund,‛ heißt es in Gellerts Fabeln, der sich damit in scharfen Widerspruch zu dem Schwerenöter Goethe setzt, der in ‚Hermann und Dorothea‛ sagt: ‚Damit die Nacht dir werde die schönere Hälfte des Tages‛, womit er einen Vers geschaffen hat, der in der Schule stets sehr harmlos erklärt wird, aber durchaus nicht harmlos gemeint ist, vielmehr auf Gott Armor und seine Neigung für die Dunkelheit abzielt.
Nun – in Aaldorf war die Nacht der Freund der beiden Pärchen Bärbel-Ulli und Kläre-Bert und auch ihre schönere Hälfte des Tages, – denn regelmäßig um halb zwölf schlüpften die Schwestern wieder aus dem Zimmer Nr. 13 und trafen auf der Promenade mit ihren Verehrern zusammen, eilten dann entweder nach der ‚Armor-Bar‛ oder lustwandelten bald hierhin, bald dorthin, oft in den Wald, oft nach dem nahen Nachbarbad Scharneck, wo im ‚Austern-Pavillon‛ stets zwangloser Tanz war.
Eine Woche war dahingegangen.
Da – kam der erste Kladderadatsch.
August Zwirn verwahrte den ledernen Brustbeutel mit dem Geld nachts stets unter dem Kopfkissen, ebenso seine goldene Uhr nebst Kette und den Schmuck seiner Frau, der aus Erbstücken des reichen, früh dahingegangenen Fräuleins Amalie Zwirn bestand, – alles unmodern, aber wertvolle Brilliantringe und so weiter.
Zwirn war bis auf den Rock fertig angezogen, hob nun das Kissen auf und – sah sich dem Nichts gegenüber.
Alles war verschwunden – alles! Ratzekahl war das Versteck.
August bekam Glotzaugen vor Entsetzen und das Zittern in den Beinen, gurgelte ein kraftloses „Amanda!“ hervor und sank vernichtet auf den Bettrand.
Frau Amanda hatte gerade den falschen Zopf feststecken wollen, ließ ihn vor Schreck in den Spüleimer fallen, der keinen Deckel, aber bereits den Inhalt der beiden diskreten Näpfe unter den Betten aufgenommen hatte, kreischte nun selbst auf, kriegte ihres Mannes Spazierstock zu packen und angelte damit in der trüben Brühe nach dem Haaraal, bis ein wütendes: „So laß doch das verdammte Ding! Uns sind das Geld, meine Uhr, dein Schmuck gestohlen!“ ihr Interesse dem Bett zuwandte.
Leichenblaß wühlte sie die Kissen um, suchte – suchte an den unmöglichsten Orten, bis August abermals dazwischenfuhr: „Laß das sinnlose Gehabe! – Die Sachen sind eben weg – gestohlen!“
Er schlüpfte in den Rock, raste zum Gemeindevorsteher, tobte dort förmlich, nannte Aaldorf ein Gaunernest und die Pension ‚Schäffler‛ eine Diebesbude, – kurz benahm sich so, daß der Gemeindevorsteher, ein Major a.D., auch kräftig wurde und ihn beinahe rausschmiß.
Derweil hatte Amanda glücklich den Haaraal herausgeangelt, hatte ihn gebadet, gewaschen und draußen am Fensterkreuz zum Trocknen aufgehängt. Dann nahm sie einen Schal um das spärlich behaarte Haupt, wo jetzt nur ein dünnes Rattenschwänzchen in der Mitte sich nach dem falschen, dickeren Bruder sehnte, eilte nach Nr. 13 hinüber, fand die ‚Kinder‛ noch im Bett und meldete verzweifelt beide Unglücksbotschaften: Diebstahl und Spüleimerkatastrophe.
„Natürlich wird der Papa nun sofort nach Bernburg zurückkehren, wenn er nicht alles zurückerhält,“ meinte sie weiter. „Aber, das darf nicht sein! Nein – wir bleiben hier, Kinder, denn – ich kann es doch nicht dulden, daß ihr um eure sicheren Verlobungshoffnungen kommt. Nein – niemals!“
Bärbchen und Klärchen machten sehr lange Gesichter. So – so ein Pech! Womöglich fuhr der Papa doch sofort heim, und dann – dann – die schönen Abende – alles futsch – total! –
Bärbchen begann denn auch sofort die Mama energisch zu bearbeiten, erwähnte immer wieder den Baron, – wie die Bernburger vor Neid platzen würden über die – die Partie! Und so weiter.
Dies hatte zur Folge, daß Frau Amanda nachher ihrem August gegenüber so energisch auftrat wie noch nie in ihrem Leben. Er wollte ja selbstredend heim, raus aus dieser Spitzbubenhöhle, nach Bernburg, wo die Menschen höchstens mal Hühner, Gänse und Enten stahlen.
Er hatte den Ortspolizisten mitgebracht, einen älteren sehr ruhigen Mann, der seine Ruhe leider aber einem täglichen, aus einem Wasserglas Kognak bestehenden Morgenkaffee verdankte und der fraglos obenan auf die Säuferliste gekommen wäre, wenn er eben nicht so unheimlich viel vertragen hätte, so daß man ihn niemals bekneipt sah. Nur von einer unerschütterlichen Ruhe und Gleichgültigkeit gegen alles war er eben beseelt. Und mit derselben Gleichgültigkeit begann er auf Grund seiner Erfahrungen, die lediglich in der Kenntnis aller Likörsorten bestand, den Diebstahl zu untersuchen, fragte das Ehepaar nach dem unglaublichsten Dingen aus und verabschiedete sich mit der Versicherung, ‚wir werden die Sache schon befummeln‛, einer Redensart, die der Situation wenig angemessen war.
August Zwirn raste, tobte und fluchte, als Wachtmeister Himmel gegangen. –
„Himmel heißt der Mensch. – Kümmel müßte er heißen, Kümmel. Er stank ja nach Fusel, daß einem ganz übel wurde,“ schrie er. „Los – packen, Amanda, – einpacken – wir reisen ab! –
Kein Wort der Widerrede, Frau, kein Wort mehr!“
Sie lächelte ironisch: „Du benimmst dich wirklich sehr – sehr gebildet!“ meinte sie. „Ich habe schon erklärt: Ich bleibe hier! Fahr du in Gottes Namen!“
Es kam zu einer Szene – einer Szene! Aber – Amanda siegte. Als ihr August durchaus nicht Vernunft annehmen wollte, trat sie ganz dicht heran an ihn und flüsterte eisig:
„Wenn du nicht sofort still bist, so sage ich noch heute den Kindern, wie’s um die Testamentklausel deiner Schwester steht!“
Das half wie ein eisiger Wasserguß. Zwirn schnappte noch eine Weile nach Luft, bewegte die Lippen und – ging hinüber in die Veranda zum Frühstück, wo er – geteiltes Leid ist halbes Leid – ebenfalls alles in wilder Aufregung fand, denn – noch drei anderen Gästen waren in dieser Nacht ihre Wertsachen und ihr Geld gestohlen worden. –
Um elf Uhr erschienen Bärbchen und Kläre, in ihre Bademäntel gehüllt, bei ihren im heißen Sand des Familienbads bereits wartenden Verehrern. Sofort wurde das große Ereignis nach allen Seiten hin durchgesprochen. Bert meinte, es käme nur ein Hausdieb in Frage. Ulli schwieg, zuckte die Achseln und sagte nur ganz beiläufig: „Man müßte einen Detektiv aus Berlin kommen lassen.“
Dann widmete er sich wieder seinem dunkelhaarigen Bärbchen, die im Badeanzug geradezu zum Anbeißen aussah.
Sie flüsterten und lachten viel miteinander. Und Bärbchen, die lang auf dem Bauch im Sand lag, schien gar nicht zu ahnen, daß ihr Ulli infolge des vorn auseinandergeklappten Bademantels und des tiefen Ausschnitts des Badeanzugs einen reizenden Aus- und Einblick hatte, der ihn unruhig machte – sehr unruhig – und ihn immer dringender bitten ließ, ihm doch ein – ein einziges Mal zu erlauben, daß –
„Frechdachs!“ lächelte sie spitzbübisch. „Wie – wie denkst du dir das?! Was soll wohl Bert von mir halten, wenn – nein, das geht nicht, du Unband! Ja, – wenn Kläre erst mit Bert einig wäre und wenn die beiden –“
„Stopp, Rackerchen! Kein Wort mehr! Wird gemacht! Bert wird noch heute Klärchen in aller Form seine infolge des väterlichen Viehbestandes nicht zu verachtende Hand antragen! Und dann –“
„Los – ins Wasser!“ rief Bert da gerade den beiden zu. Und plätschernd, quiekend und lachend verschwanden die vier im Wasser, schwammen bis zur vordersten Leine hinaus und trieben hier weitere Allotria.
Ulli gelang es, Bert zuzuflüstern: „Du – alter Feigling, – wenn du nicht sofort Kläre einen Antrag machst, kommt dir der Baron zuvor. Also –: Mut zeigt auch der lahme Muck! Fix – erledige die Geschichte gleich hier im Wasser. Das Bad ist noch leer. Und eine Verlobung im Badeanzug ist doch mal was anderes –“
Kläre und Bert maßen Hand in Hand langsam vorwärtsschreitend die nach dem gestrigen Sturm veränderte Wassertiefe. Als ihnen das Wasser bereits die Schultern bespülte und sie zu heben begann, als ein dreifacher Eckpfeiler der Badeumgrenzung nach See zu sie den Blicken vom Strand entzog, da drängte Bert das blonde Klärchen plötzlich gegen die drei mächtigen Holzpfähle, hielt ihre Hände ganz fest und fragte, sie recht lieb ansehend:
„Wie wär’s, wenn auch wir uns verlobten, süße, kleine Kläre?“
„Oh – pfui, – das ist schlecht von Ihnen, nicht gerade hier – hier –“
Aber ein schelmisches Lächeln besagte ganz etwas anderes als dieser begonnene Satz. Und daher – gab Bert ihr schnell einen Kuß, noch einen, ließ ihre Hände los und zog sie fest an sich.
Und Klärchen? –
Klärchen war selig. Etwas scheu noch legte sie ihm die Arme um den Hals, so daß sie sich nun gegenseitig umfaßt hielten.
Sie gaben sich nicht frei. Ihre Lippen kosteten immer wieder die Süße erster Zärtlichkeiten, – denn für Klärchen waren’s wirklich die ersten Küsse von einem Männermund, wenn man Papa Zwirn nicht mitrechnet, dessen Schnurrbart aber auch nie so zart nach einem feinen Bartcreme geduftet hatte.
Klärchen hatte die Augen geschlossen. Und das kalte Wasser der Ostsee schien sich plötzlich sehr schnell zu erwärmen – nahm eine Siedetemperatur an. Das blonde Mädel glaubte, Fieber rase in ihren Adern. Und als sie nun halb erstickt flüsterte:
„Du – du, – ach, du!“ da tauchte in ihr die Erinnerung an die verstellte Tür, an das Nachbarzimmer Nr. 12 auf, in dem das nachts so laut stöhnende junge Paar noch immer wohnte.
Ulli hatte Bärbel längst auf die beiden innigst Umschlungenen aufmerksam gemacht.
„Da, schau’, Rackerchen, – die Vorbedingungen für die Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches ist gegeben, und jetzt wirst du –“
Sie spritzte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Und er schoß zur Strafe auf sie zu, tauchte unter und spielte unter Wasser ‚Hummer‛, wie er’s nannte, wobei’s nicht nur beim Kneifen blieb.
Sie stand ganz still, war nur blutrot geworden. Und als sein Kopf wieder über Wasser erschien, gab sie ihm schnell einen sehr langen Kuß.
Dann gratulierten sie den beiden anderen, dann saßen sie wieder zu vieren in ihren Bademänteln im Sand in der Sonne und schmiedeten Zukunftspläne, wobei das Testament Tante Amalie Zwirns eine große Rolle für Ulli und Bärbel spielte, eine weit geringere für Bert und Kläre, Berts Vater hatte es ja dazu, sich auch eine Schwiegertochter ohne Mitgift leisten zu können.
Sie lagen, kicherten, sprachen, futterten ihre Frühstücksstullen, rauchten Zigaretten und kümmerten sich um keinen Menschen ringsum, diese vier jungen, glücklichen Menschenkinder.
Und einmal sagte Kläre so hin, ohne damit gerade eine große Lebensweisheit produzieren zu wollen:
„Weshalb wohl nur so viele hübsche Mädels unverlobt bleiben? Wir, Bärbel und ich, sind doch nur so gangbarer Durchschnitt und haben doch so liebe, nette, süße Kerle erwischt! Ob’s etwa daran liegt, daß die Hälfte aller Mädels vor lauter Männerjagdgedanken ihr wahres Wesen umzumodeln suchen, dadurch unnatürlich geziert und oft albern wirken und einen harmlosen Verkehrston gar nicht aufkommen lassen?“
Ulli nickte eifrig dazu. „Keine Schlägerin, – du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. So ist’s! Der Mann merkt bei dieser ‚Hälfte‛ schnell die Absicht, wird verstimmt, das heißt vorsichtig. Nichts ist gräßlicher als diese Sorte von ‚jungen Damen‛, die entweder von der Mutter auf den Mann dressiertes oder sich selbst diese Dressur beigebracht hat. Es gibt darunter eine ganze Menge von Schattierungen: Erstens die kecke, burschikose Sorte; dann die, die ahnen lassen will, daß ein glühendes Temperament vorhanden ist; weiter die vornehm Müden-Blasierten mit langsamem, vieldeutigen Augenaufschlag; schließlich die keuschen, harmlosen Gretlein, die völlig ungetrübte Wässerlein markieren.“
Bärbel lachte plötzlich hell auf. Kläre war sehr rot geworden. Aber tapfer meinte sie nun:
„Oh – ich war auf dem besten Weg, mich zur letzten Nummer deines Programms zu entwickeln, Ulli. Aber – hier in Aaldorf bin ich schnell – vernünftig geworden –“
Ulli gab ihr einen Schlag auf die Hand. „Hoffentlich auch vernünftig genug, einzuwilligen, daß wir diese Nacht mal ne andere Festfolge entwerfen. Wie wär’s, wenn wir, da man doch schließlich so allerlei zu besprechen hat, uns ab ½ 12 in getrennten Gemächern vereiniten, das heißt, wir, Bärbel und ich, bei euch auf Nr. 13, wir aber gegenüber bei uns ‚Herrens‛ auf Nr. 17. –
Na, Kläre, einverstanden?“
„Ach ja, – wenn’s nur nicht rauskommt,“ meinte Klärchen und schaute ihren Bert verliebt an.
„Rauskommt?! – Noch besser!“ beruhigte Ulli sie. Viel zu beruhigen gab’s bei Klärchen freilich nicht.
*
Aloisius Himmel, der Wachtmeister, erstattete dem Gemeindevorsteher Bericht. Dieser ließ den Alten ausreden. Dann sagte er mit unheimlicher Ruhe:
„Himmel, Sie sind wieder voll bis obenan. Ihre scheinbar so gelassene Sprache ist nichts als Zungenschwere infolge überreichlichen Alkoholgenusses. So geht das nicht weiter. Sie blamieren uns, die Obrigkeit, blamieren ganz Aaldorf. Keine Ahnung haben Sie, wie man einen solchen Diebstahl untersucht. –
Ich werde Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie diese scheußliche Geschichte nicht aufklären, werde ich Ihre Pensionierung veranlassen. –
Dabei bleibt’s! – So – ich danke.“
Himmel schlich hinaus, geknickt wie eine Lilie.
Pensionierung! Und er war doch erst achtundfünfzig Jahre alt, war noch so rüstig, befand sich sogar auf Freiersfüßen! Und – die – die Blamage für ihn.
Er seufzte, fluchte leise, ging in seine Stammkneipe und trank zunächst mal zur Beruhigung vier Konjäcker.
Nach dem vierten klärte sich sein Verstandskasten so weit, daß er einsah, er würde bei der Untersuchung des Diebstahls nie und nimmer Erfolg haben.
Also – Pensionierung – Blamage – und die nette, kinderlose Witwe würde ihn dann auch nicht mehr wollen.
So stand er am Schanktisch und sann und sann. Aber – so im Handumdrehen wurde man kein Detektiv. Nee – weiß Gott nicht! Dazu jehört mehr Jrips! –
Und seufzend und fluchend trollte er sich heim nach seiner kleinen Wohnung, die ihm ein uraltes Weiblein in Ordnung hielt – gleichzeitig als Köchin diente.
Er trat ein. Da – aus dem Korbsessel am Fenster erhob sich ein Herr.
„Nee – die Überraschung,“ rief er. „Mensch, Junge, Karl, – also wieder mal in Aaldorf. Nadierlich Urlaub! Na – die Freude!“
Der Herr war noch jung, gut angezogen und hatte ein recht sympathisches Gesicht.
Es war kein anderer als der Ingenieur Karl Neubert aus Bernburg von der Firma Samuelsohn & Deigelstamm.
„Ganz recht, Onkel,“ meinte er und drückte dem Alten herzlich die Hand. „Urlaub – ganze vier Wochen! Du weißt, ich liebe Aaldorf und Umgegend und – die Angelei! Wir beide können nun wieder in deiner Freizeit den Hechten, Barsen und Plötzen im Goethe-See nachstellen. Ich habe auch wieder mein altes Zimmer im Haus nebenan bei der Wuttrich bekommen.“
Sie setzten sich. Aloisiu Himmels bekümmertes Gesicht konnte Neubert nicht entgehen. „Du, Onkel, – du schaust so drein, als ob dir nicht gerade was Angenehmes passiert ist,“ sagte er forschend.
„Hm – Angenehmes! Ich sage dir, Karl, – bisher hast du dich meiner nie geschämt, obwohl du’s doch weit gebracht hast. Jetzt aberscht – jetzt verkehr’ man lieber nich mit mir –“
Er begann zu erzählen. Natürlich fiel auch der Name Prof. Zwirn.
„Du, Onkel, den kenn’ ich,“ warf Neubert ein.
„Ich auch! Der Herr ist in der Aufregung wie ‛n Wüterich –“ und er berichtete nun auch von der drohenden Pensionierung.
Neubert aß dann bei Onkel Himmel zu Mittag. Und um die Kaffeezeit ging er ins Pensionat ‚Schäffler‛ und begrüßte Zwirns, obwohl er wußte, daß der Professor ihn ‚total daneben‛ schätzte.
August Zwirn tat die Teilnahme sehr wohl, die Neubert des bösen Verlustes wegen bezeigte. Der Ingenieur gab sich auch alle Mühe, seine berüchtigte scharfe Zunge im Zaum zu halten. Er war überhaupt von gewinnendster Liebenswürdigkeit, sagte der Professorin allerlei nette Schmeicheleien und kaufte den drei Damen beim Spaziergang auf der Strandpromenade wundervolle Rosen.
Bärbchen und Klärchen war Neubert sehr gleichgültig. In Bernburg ging das Gerücht, er trage eine unglückliche Liebe im Herzen. Tatsächlich waren die jungen Bernburgerinnen für ihn auch gänzlich Luft.
Nachher im Kurgarten lernte er auch den Baron und den Dr. Ignaz Großstelz kennen. Man unterhielt sich sehr angeregt, bis Neubert plötzlich auffallend still und zerstreut wurde, aufstand, sich vorläufig verabschiedete und an einem Nebentisch zwei Damen, eine jüngere und eine ältere, und einen sehr dicken Herrn begrüßte und bei ihnen Platz nahm.
Ignaz Großstelz meinte jetzt: „Sieh da, was der Herr Ingenieur Neubert für reiche Bekannte hat. Das ist ja der Kommerzienrat Stifter nebst Frau und Tochter, denen die Villa neben unserem Pensionat gehört.“
„Stifter?“ Frau Amanda besann sich. „Richtig – von dem hat Neubert in Bernburg viel erzählt. Das ist ja des Ingenieurs Wohltäter, der ihn hat studieren lassen –“
So kam man auf Neuberts Herkunft zu sprechen. Prof. Zwirn erklärte würdevoll, der Ingenieur verdiene die größte Hochachtung, weil er sich seiner Familie nicht schäme. Und der Baron pflichtete ihm bei. „Das ist ein Beweis von Charakter!“ sagte er. –
Neubert war von Stifters sehr herzlich begrüßt worden. Maria Stifter, die sich stets Mara nennen ließ, war scheinbar einer jener übersättigten, gelangweilten Millionärstöchter aus Berlin W, die, mit siebzehn Jahren in den seichten Gesellschaftstrubel eingeführt, mit zwanzig bereits eine glänzende Verstandsheirat geschlossen haben oder aber aus Überspanntheit auf eine besonders romantische Ehe wartete.
Mara Stifter war von pikantem Reiz. Unter einem Scheitel von kastanienbraunem Haar und einer hohen, klugen Stirn lagen zwei unergründliche, große graue Augen. Der Mund zeigte einen späten Zug feiner Ironie und Blasiertheit.
Als sie Neubert vorhin erblickt hatte, war sie erst sehr bleich geworden. Ihre Hände hatten etwas gebet. Aber sie wußte sich zu beherrschen. Als sie ihn dann begrüßte, geschah es freundlich, aber ohne besondere Wärme, obwohl sie doch Jugendgespielen waren.
Stifters luden den Ingenieur zum Abendbrot ein. Er entschuldigte sich; er könne heute leider nicht annehmen, da er beabsichtige, seinem Onkel Himmel zu helfen. –
Und er erzählte was vorlag. –
Stifters wußten, daß der hiesige Polizeiwachtmeister ein Bruder von Neuberts Mutter war.
Der Kommerzienrat lächelte ein wenig. „Helfen?! Aber lieber Neubert, Sie sind doch nicht Detektiv!“
„Nein, das wohl nicht. Aber ein Mensch von scharfem Blick und einiger Vorliebe für alles, was mit den Kriminalwissenschaften zusammenhängt.“
„Hm – richtig. Ich besinne mich. –
Na – wie denken Sie sich denn diese Hilfe, lieber Neubert? Ich bin gespannt.“
„Ich werde dem Dieb eine Falle stellen. Besser – ich habe sie schon gestellt. Falls ich Erfolg habe, berichte ich morgen Genaueres.“
Er begleitete Stifters dann noch bis zu ihrer inmitten eines parkähnlichen Gartens liegenden Villa. Der Kommerzienrat und seine Frau blieben ein Stück zurück. So war Neubert und Mara allein.
„Ein ganzes Jahr haben wir uns nicht gesehen,“ begann er plötzlich sehr unsicher in Ton und Benehmen. „Haben Sie viel erlebt inzwischen, Fräulein Mara?“
„Erlebt?!“ Sie deutete ein Achselzucken an. „Ich will nichts erleben – jetzt nicht mehr –“
Er schaute sie fragend an, wiederholte: „Jetzt nicht mehr?“
Sie schwieg.
Er hatte dieses Mädchen, seit es erwachsen war, nie mehr verstanden. Er hielt sie für oberflächlich, genußsüchtig, eitel und auch stolz auf den Reichtum ihres Vaters.
Und schweigend gingen sie weiter, sagten sich nachher kurz Lebewohl und auf Wiedersehen.
Karl Neubert betrat sofort das Pensionat ‚Schäffler‛, hatte dann mit Fräulein Schäffler eine lange Unterredung.
Und eine halbe Stunde drauf zog er dort ein. Nr. 19 war gerade frei geworden. Zwirns wußten schon, daß er zur ‚Schäffler‛ übersiedeln wollte, deren Essen sie so sehr gelobt hatten, wobei August Zwirn gemeint hatte:
„Wenigstens ein gutes an dieser Räuberhöhle!“ Er hatte ja den bösen Verlust noch lange nicht verschmerzt, nahm sich aber zusammen und machte nur zuweilen bissige Bemerkungen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen im Speisesaal der Pension begab der Ingenieur sich zu seinem Onkel Himmel.
Der Wachtmeister rauchte eine der Zigarren aus der neuen Geschenkkiste seines Neffen und war mit dem Herrichten von Hechtangeln beschäftigt.
„Onkel – alles tadellos im Lot!“ begrüßte Neubert, recht zuversichtlich und heiter tuend, obwohl in seinem Herzen nach dem Wiedersehen mit Mara all das abermals wachgerufen, was er so gewaltsam zum Schweigen gebracht hatte. „Wir können also schon diese Nacht unsere Posten beziehen, bester Onkel. –
Paß auf – wir werden Erfolg haben. Es gibt da im Pensionat einen Herrn, gegen den ich bereits Verdacht geschöpft habe –“
„J ne! Wer is’s denn?“
„Ein angeblicher ungarischer Baron, der sich um die jüngere Zwirn bewirbt – anscheinend! Und den Frau Amanda natürlich als zukünftigen adligen Schwiegersohn anhimmelt.“ –
Zehn Uhr abends war’s. Im Pensionat ‚Schäffler‛ war alles totenstill. Selbst die Hausmädchen waren nach dem Kurgarten zum Konzert gegangen. Lediglich Fräulein Schäffler wartete daheim auf die, die den Dieben oder dem Dieb hier auf die Spur kommen wollten.
Aloisius Himmel und Neubert erschienen. Ersterer wurde im Flur des ersten Stockwerks postiert und zwar in einem der drei Kämmerlein, vor denen an einem Ende des Korridors ein Vorhang hing. Für einen stundenlangen Aufenthalt waren diese Kämmerlein allerdings nicht eingerichtet. Aber Fräulein Schäffler spendete für den Klappdeckel des mittelsten ein Sitzkissen und auch noch eine Fußbank. Außerdem hatte Aloisius sich reichlich mit Zigarren und auch mit einem – Fläschchen – nein es war eine recht stattliche Feldflasche! – Kognak versehen.
Den Flur der zweiten Etage wieder wollte Neubert von seinem Zimmer aus überwachen. Im Erdgeschoß lagen nur die Gesellschaftsräume, die Schlafstuben der Hausmädchen, die Küche und so weiter.
Neubert hatte nämlich festgestellt, daß die vier Opfer des Diebes bei geschlossenen Fenstern geschlafen hatten. Also konnte der Dieb nur vom Flur aus irgendwie die Schlösser der Tür geöffnet und nachher wieder mit derselben unheimlichen Gewandtheit verschlossen haben. Der Einbrecher war fraglos ein ganz gefährlicher Bursche, ein Spezialist in seinem Fach, eben einer jener Hoteldiebe, die unter einer vornehmen Maske die ganze Welt bereisen.
Der ungarische Baron nun kam Neubert durchaus nicht echt vor. Im Gegenteil: So manches an diesem geschniegelten Herrn war seinen mißtrauischen Blicken aufgefallen. –
Um halb elf zog ein Gewitter auf. Gleich die ersten fernen Donnerschläge fegten den Kurgarten leer. Was von den Badegästen nicht ins Kurhaus oder die nahen Cafees und Bars strömte, eilte schleunigst nach Hause. So wurde es denn auch in der Pension ‚Schäffler‛ vorzeitig recht lebendig, und der arme Aloisius Himmel mußte mehr als einmal mit dumpfer Stimme ‚besetzt!‛ rufen, wenn jemand allzu arg an der Tür des mittelsten Kämmerleins riß. Er hörte nebenan auch oft Frauenröcke rauschen, hörte vielerlei und rauchte eifrig seine Geschenkzigarren, sehr eifrig.
Das Gewitter zog nach kurzem Regenguß vorüber. Um elf war der Himmel wieder klar, und auch im Pensionat war Ruhe eingetreten, so daß Aloisius nun mit Behagen seine Feldflasche hervorholen und einen Trostschluck nach all den hier überstandenen Ohren- und Nasenspenden sich leisten konnte.
Auch Neubert begann jetzt sein Wächteramt, indem er hinter seiner ein wenig geöffneten Tür sich auf einen Stuhl setzte.
Sein Zimmer lag an einem Ende des langen, matt erleuchteten Flurs. Links von ihm lagen die Nummern 18, 17, und so weiter; gegenüber 11, 12, 13 und so weiter.
Im Haus herrschte nun tiefe Stille. Unten schlug eine Uhr hell einen Schlag: ¼ 12.
Der Ingenieur war gespannt, ob seine ‚Falle‛ richtig zuklappen würde. Er hatte Zwirns ja im Beisein des ‚Barons‛ und des vorsintflutlichen Privatdozenten anvertraut, daß er einen sehr festen Schlaf habe und es daher nicht wage, sein Geld unter das Kopfkissen zu legen. Vielmehr verwahre er seine Brieftasche stets vor dem Zubettgehen in den Falten der Handtücher, wo er sie mit einer Sicherheitsnadel feststecke.
Dies war seine für den ‚Baron‛ berechnete Falle. –
Neubert saß mit gespannten Sinnen auf seinem Posten. Der Ungar wohnte Nr. 14 hier auf diesem Flur. Und diese etwas weit entfernte Tür war es, die der Ingenieur hauptsächlich im Auge behielt.
Minute um Minute verrann.
Da – ein leises Geräusch, kaum vernehmbar, nur dann, wenn man eben mit allen Sinnen horchte.
Und nun – nun glitt eine Gestalt lautlos aus einer Tür daraus, – aber nicht aus der des Barons, nein, aus einer näheren, aus Nr. 17.
Neubert hatte leider verabsäumt, sich darüber zu unterrichten, wer in den einzelnen Zimmern untergebracht war. Jedenfalls – es war eine männliche Gestalt auf weichen Schuhen und mit hochgeschlagenem Rockkragen, die jetzt vor der Tür gegenüber stand und sacht die Türklinke herabdrückte.
Neubert erhob sich leise, sah noch, wie die Gestalt in dem Fremdenzimmer verschwand, holte schnell seinen Revolver vom Nachttisch, trat wieder auf den Flur hinaus und faßte nun vor Nr. 13 Posto, denn dort war ja der Dieb eingedrungen. –
Ulli und Bert hatten rauchend und leise sich unterhalten bis kurz vor halb 12 gewartet.
Dann rüstete Ulli sich zu der – wichtigen Aussprache mit Bärbel. Bert war etwas ängstlich. Ihm schlug schon jetzt das Gewissen.
„Du, wenn die Geschichte nur gut abläuft!“ meinte er. „Wir stellen die Mädels in scheußlichster Weise bloß, falls dieses ‚Kämmerchenvermieten‛ irgendwie ruchbar wird.“
„Blech, alter Feigling! Freu’ dich doch, daß du dein Klärchen hier in aller Ruhe so viel küssen – und genießen kannst, wie du willst.“ –
Drüben bei den Schwestern hatte man die Fenstervorhänge ebenfalls sehr sorgfältig zugezogen und auch die elektrische Deckenzuglampe durch Zeitungspapier so abgeblendet, daß im Zimmer ein trauliches Dreivierteldunkel herrschte.
Bärbel war zu Kläres Entsetzen in ihren Frisiermantel geschlüpft, nachdem sie es sich sehr bequem gemacht hatte.
„Wie – willst du deinen Ulli etwa so – so – in diesem Anzug empfangen?“ hatte Klärchen geflüstert, denn das Flitterwochenpaar nebenan war noch sehr munter.
„Schäfchen – warum denn nicht?!“ lächelte Bärbel harmlos. „Wir heiraten ja doch bald. Und – im Familienbad präsentiert man sich doch sogar fremden Herrn in noch weit weniger und sogar in nassem Stoff.“
Kläre schwieg. Die Ältere hatte ja eigentlich recht.
Da – da ging auch schon die nur eingeklinkt gewesene Tür lautlos auf, Ulli schlüpfte herein, nahm sofort Klärchen bei der Hand und – gab ihr einen sanften Stoß, daß sie drüben dem harrenden Bert fast in die Arme flog.
Diese kleine Szene hatte Neubert leider nicht beobachtet, da er gerade nach seinem Revolver geeilt war. –
Bärbel zog ihren Ulli auf das Sofa.
„Du, wir müssen ganz leise sein. Hier ist alles so hellhörig!“ raunte sie ihm zu.
Er nickte nur, rückte den Tisch etwas ab, nahm sein süßes Mädel auf den Schoß und küßte sie erst einmal recht tüchtig ab. Bärbel küßte wieder, schmiegte sich eng an ihn, schnurrte wie ein Kätzchen und kicherte nur, als er feststellte, daß sie ja nicht einmal ein Mieder anhatte.
Dann horchte er plötzlich auf.
„Du – da nebenan –“
Sie hielt ihm schnell die Hand auf den Mund.
Und draußen – draußen vor der Tür lauerte Neubert auf den Einbrecher, der ja nun fraglos sehr bald seinen Raubzug beendet haben und im Flur wieder auftauchen würde.
Aber – es dauerte ja eine Ewigkeit, ehe der Kerl fertig wurde! –
Neubert ward ungeduldig. Allerlei Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
Vielleicht hatte der Dieb sein Opfer mit Chloroform betäubt und war durchs das Fenster hinausgeklettert.
Vielleicht auch durchwühlte er des Betäubten Koffer in aller Ruhe.
Neubert wollte Gewißheit haben!
Er drückte vorsichtig auf die Klinke – ganz vorsichtig!
Ah – die Tür war wirklich offen.
Er lugte ins Zimmer hinein.
Alles dunkel. Nur die beiden Fenster gegenüber zeichneten sich als hellere Vierecke ab.
Neubert hatte jetzt eine elektrische Taschenlampe in der Linken, in der Rechten den gespannten Revolver.
Er schaltete die Lampe ein, ließ den Lichtkegel durch das Zimmer gleiten.
Ein wilder Schrei.
„Oh mein Gott!“ hatte Bärbel gekreischt.
Neubert stand starr – nur einen Moment. Da hatte er ja was Nettes angerichtet.
Schnell schaltete er die Lampe aus, wollte sich zurückziehen.
Wollte!
Von hinten packte ihn eine nervige Haus am Kragen, riß ihn in den Flur. Und dieser überaus kräftige Mann rief jetzt:
„Schau’ an, – Sie sind’s! Also auch Sie ein Spitzbube im Nebenberuf! –
Keinen Widerstand, Freundchen! Ich bin der Berliner Kriminaloberwachtmeister Krüger, hier freilich ne feineren Marke: ungarischer Baron und so – als Maske!“
In den Fremdenzimmern wurde es lebendig.
Bärbels Schrei tiefster Scham und höchsten Entsetzens war gehört worden.
Türen öffneten sich etwas, neugierige Gesichter lugten hinaus. –
Bert hatte mit Klärchen gleichfalls auf dem Sofa Platz genommen gehabt.
Und als es draußen im Flur ganz plötzlich so unheimlich laut wurde, da – da hätte der Strahlenkegel einer Taschenlampe hier genau dasselbe Bild wie drüben in Nr. 13 enthüllt.
Bert stand nun aufgeregt wie Ulli an der Tür und lauschte, während Klärchen und Bärbel vor Angst schluchzten, dabei tausend Eide schworen, nie wieder ‚so was‛ zu riskieren, nie wieder, – wenn’s nur diesmal gut ablief.
*
„Mann Gottes, nehmen Sie doch Vernunft an!“ flüsterte Neubert dem Beamten zu. Ich wollte ja selbst den Dieb abfassen –“
Fliegenden Atems berichtete er die Zusammenhänge dieser scheußlichen Ereignisse, durch die ein junges Mädchen so böse bloßgestellt werden könnte.
„So begreifen Sie doch!“ flehte er. „Der Herr ist ja noch dort drin bei ihr. Helfen Sie! Nur Sie können’s. Auf keinen Fall darf doch –“
Der Kriminalbeamte hatte endlich begriffen! Daß dies eine Weile gedauert hatte, konnte ihm keiner verübeln. Denn – die Geschichte hier war ja so toll wie ‛ne Szene aus einem französischen Schwank.
„Gut – gut,“ raunte er nun Neubert zu und ließ ihn los. „Ich renke die Sache ein. Keine Sorge!“
In diesem Augenblick erschien Herr Prof. August Zwirn, angetan mit Pantoffeln und Mantel, unter dem die nackten, dürren, schwarzbeharrten Beine hervorlugten, das dünne Haupthaar wirr im Gesicht, wie ein Geist der Finsternis im Flur und näherte sich Neubert und dem Beamten.
„Der Vater des Fräuleins – alles verloren!“ hauchte Neubert völlig gebrochen, denn er war allein daran Schuld, daß Bärbel einen so furchtbaren Schreck gekriegt und aufgeschrien hatte.
Der Kriminalbeamte war jetzt jedoch ganz Herr der Situation.
„Bitte, Herr Professor, – auf Ihr Zimmer zurück. Hier ist meine Legitimation. Ich bin nicht Baron, bin Kriminaloberwachtmeister Krüger. –
Also bitte! –
Und die andern Herrschaften ebenfalls: Alle Türen schließen – sofort! Ich befehle dies als Beamter!“
August Zwirn zögerte. Doch Krüger wurde so deutlich, daß auch der Geist der Finsternis verschwand.
Dann – drehte Neubert die Flurbeleuchtung aus.
Und nun erst pochte Krüger an die Tür von Nr. 13, rief leise:
„Herr Assessor – jetzt ist alles sicher –“
Ulli Bölke hatte Krügers scharfe Worte an die Neugierigen, insbesondere an August Zwirn, sehr deutlich verstanden, trat nun hinaus in den dunklen Flur und hatte sehr bald von den beiden hier Posten stehenden Herren eine ehrenwörtliche Schweigezusicherung erhalten.
Gleich darauf führte dann Ulli auch die bebende Bärbel schnell über den Flur, so daß die Gefahr beseitigt war.
Von ½ 12 ab, als der Andrang nach dem Kämmerlein gänzlich nachgelassen hatte, das heißt, als auch auf diesem Flur die heilige Stille der Nacht eingetreten, war der gute Wachtmeister hinter dem die Kämmerlein verhüllenden Friesvorhang, auf seinem Kissen auf der Fußbank sitzend, als Wächter, Raucher und gelegentlicher ‚schluckweiser Feldflaschenleerer‛ tätig gewesen.
Auch er hatte, wenn auch undeutlich, oben die Stimmen gehört, jedoch nicht recht begriffen, was dort vorging, und deshalb beschlossen, hier noch auszuharren.
Plötzlich bemerkte er dann, wie sogleich nach dem kurzen Lärm im oberen Korridor eine Gestalt, ein Mann, eins der Zimmer barhäuptig verließ, bis zur Treppe huschte, dort ein paar Sekunden lauschend verharrte, in sein Zimmer zurückglitt und sofort wieder mit dem Hut auf dem Kopf, Mantel übern Arm und Koffer in der Hand erschien und nach unten zu die Treppe hinablief, – all dies so geräuschlos, daß Aloisius sich sofort sagte: ‚Hier will einer auskneifen!‛
Er also hinterdrein.
Da er lederne Morgenschuhe anhatte, machte auch er nicht viel Geräusch und kriegte den Ausreißer gerade vor der inneren Windfangtür zu packen, brüllte jetzt:
„Zu Hilfe – zu Hilfe! Hier will einer verduften!“
Und dieser Ruf war’s, den Krüger und Neubert oben hörten. –
Und nun können wir auch das ‚da –’ ergänzen.
– da vernahm man von unten her Wachtmeistern Himmels Stimme.
Krüger und Neubert rasten hinab, fanden – Tableau! – in des Wachtmeisters Fäusten den vorsintflutlichen Privatdozenten Ignaz Großstelz!
„Na nu?!“ kopfschüttelte der Kriminalbeamte. „Weshalb halten Sie den dies harmlose Wurm fest?“
Aloisius aber war seiner Sache sicher, denn soeben hatte der gelehrte Doktor ihm zugeflüstert:
„Tausend Mark, wenn Sie mich freigeben –“
Als Himmel dies dem Berliner Oberkollegen mitteilte, schlug der sich knallend gegen die Stirn:
„Ich – ich – Ochse! Ich habe mich täuschen lassen! Wie gut hat dieser Lump hier den taperigen Dozenten gespielt!“
Er riß Ignatz Großstelz Brille, Perücke und falschen Bart ab, rief dann:
„Natürlich – das ist der verbummelte Student Albert Hölzer, der gefährlichste aller internationalen Hoteldiebe! – Kollege Himmel, Sie haben eine Glanzleistung vollbracht. Auf die Ergreifung dieses vielgestaltigen Menschen sind fünftausend Mark Belohnung ausgesetzt. Ich gratuliere!“
Man öffnete des Gauners Handkoffer, fand darin nicht nur die ganze, hier im Pensionat Scheffler gemachte Beute, sondern auch noch vieles andere, was von früheren Diebesfahrten herrührte. –
Aloisius Himmel betrank sich in dieser Nacht vor Freude nicht etwa! Oh nein! Dazu – vertrug er doch zu viel. Aber er trank – trank, bis seine Zunge ihm den Dienst versagte und er nicht mal mehr sich selbst zurufen konnte: ‚Prosi Aloisius, du Zierde Aaldorfs!‛
Von Pensionierung war keine Rede mehr. Im Gegenteil: Er erhielt eine Gehaltsaufbesserung, heiratete bald die ‚nette‛ Witwe, die ihm dann das S… – das Trinken gründlich abgewöhnte, und wurde noch Vater von fünf strammen Kindern, ohne in die Geburtsanzeigen den Satz einflechten zu müssen wie jener fromme Pfarrer:
‚Danke dem Herrn, der über uns wohnet –‛ –
*
Karl Neubert hatte, als Himmel und Krüger den Gauner ins Kittchen abführten, noch Lust verspürt, die prachtvolle Mondscheinnacht auf der Strandpromenade zu genießen, hatte seinen Hut und Stock geholt und war dann an der Parkmauer des Stifterschen Grundstücks entlanggepilgert.
Vor dem breiten Einfahrtgitter blieb er stehen, schaute nach der Villa hinüber, die jenseits eines zweiten Rasenplatzes lag, eingerahmt von Tannenkulissen, vor denen einzelne weiße Birken in Abständen wuchsen.
Neubert stand da und dachte an mancherlei, – auch an seine große, aussichtslose Liebe.
Ein volles Jahr hatte er Marga jetzt nicht gesehen, hatte gehofft, dieser Leidenschaft sei stiller in seiner Brust geworden.
Und jetzt: Nur die Sehnsucht hatte ihn hierher getrieben, die Liebe, die noch genau so groß, so unüberwindlich war wie damals vor vier Jahren.
Damals!
Er war gerade Ingenieur geworden nach einem glänzend bestandenem Examen. Und Marga hatte Geburtstag gefeiert – den siebzehnten.
An diesem Tag hatte er der Jugendgespielin sein Herz geöffnet, hatte von seiner Liebe gesprochen.
Und – sie hatte hell ausgelacht.
„Wir – wir beide – ein Paar – wir uns verloben, wir?! –
Aber Herr Neubert!“
Und sofort hatte sie von anderen Dingen gesprochen.
Vier – nein, viereinhalb Jahre lag dieser Tag nun zurück.
Marga würde wohl viel erlebt, viel – gelernt haben in dieser Zeit, – denn die jungen Damen aus Berlin W pflegen ihre Vergangenheit zu haben, wenn sie heiraten. Und letztens hatte ihm ein Freund aus Berlin geschrieben, daß sich um Marga ein hochgestellter Diplomat bewürbe.
Marga – Marga – dann eines anderen Weib!
Er seufzte, packte das Gitter mit den Fäusten, legte den Kopf auf den Arm, – er, der Spötter, dem niemand Gefühl zutraute.
Im rechten Winkel der Parkmauer stand ein Pavillon, mehr schon ein bewohnbares Sommerhäuschen, mit Ziergittern vor Fenstern und Türen, mit einem Türmchen in der Mitte. Von dessen Plattform hatte man den Strand und die See dicht vor sich.
Zwei Zimmer hatte der große Pavillon. Und jetzt hauste Marga darin; auch so eine Laune von ihr; hauste dort mit ihrem Liebling Treff, einer riesigen Dogge gesetzten Alters, die einst Karl Neubert ihr geschenkt hatte.
Marga hatte bis gegen ¾ 12 hier gesessen und geschrieben. Sie schriftstellerte. Nur für sich. Und was sie schrieb, waren nichts als Sehnsuchtschreie eines gequälten Herzens.
Dann war sie mit Treff noch an den Strand gegangen, hatte sich in die Dünen gekauert und das Mondlicht auf See beobachtet, daß da flimmerte und gleiste wie ein breiter Zug leuchtender, dahinschießender Fische.
Nun war doch die Müdigkeit gekommen. – Sie erhob sich, ging heim, ihrem Pavillon zu.
Plötzlich stutzte sie.
Ein Mann lehnte dort am Parkgitter. Und Treff wedelte jetzt so freudig mit der langen Rute.
Ein Mann! –
Margas Herzschlag raste. Dann – ganz nahe heran schlich sie, ganz dicht.
Hörte nun ein qualvolles Stöhnen aus des Mannes Brust hervor–dringen, – halblaut – ein Wort:
„Marga – Marga!“
Da – wußte sie, wie es um ihm stand, daß er sie nicht vergessen hatte.
Da strahlten ihre Augen auf. ‚Endlich – endlich,‛ jubelte es in ihr.
Und dann rief sie leise den Namen, den sie ihm gegeben, als sie noch Kinder waren.
‚Charlie!‛ – Das klang weicher als Karl, wie sie schon als Zwölfjährige empfunden.
„Charlie!“
Und Neubert fuhr herum. Treff sprang freudig winselnd an ihm hoch. Der Mann beachtete ihn nicht.
Denn das da, das war Marga; Marga mit sehnsüchtig ausgebreiteten Armen.
Drei Schritt, und – sie lag an seiner Brust, weinte, weinte.
„Du, wie – wie habe ich mich gesehen nach dir! Als du damals fortging’s, als ich allein war, da – kam die Erkenntnis. Und – in der Zerrissenheit meiner Seele habe ich mich betäuben wollen. Es gelang mir nicht –“
Er küßte sie.
Und sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, sie preßte sich an ihn in schrankenloser Hingabe, daß ihm schier die Sinne sich verwirrten.
Plötzlich zog sie ihn mit sich fort, hinein in den Park, in den Pavillon.
In ihrem kleinen Salon unter der mattlila Deckenlampe nahm sie ihm Hut und Rock ab, drückte ihn in einen der Sessel.
„Ich bin gleich wieder da,“ lächelte sie.
Er wartete.
Dann ihre Stimme aus dem Nebengemach:
„Komm’, Charlie, – komm’ –“
Dort brannte nur auf einem Frisiertisch ein rotes elektrisches Nachtlämpchen.
Karl Neubert trank Seligkeit von Margas Lippen.
Das Glück war doch zu ihm gekommen. Und vielleicht war es jetzt schöner, als es damals geworden wäre. –
Am nächsten Morgen erhielt August Zwirn alles zurück, was der verruchte Ignaz Großstelz, in Wahrheit Albert Pelzer, ihm gestohlen hatte.
Frau Amanda war’s, die jetzt heimreisen wollte, die jetzt Aaldorf ein ‚Betrügernest, eine Hochstaplerkolonie‛ nannte. Denn das Bärbchen und Klärchen sich von einem Spitzbuben und einem Spitzbubengreifer den Hof hatten machen lassen, daß es mit diesen Schwiegersöhnen nun ‚total Essig‛ war, konnte sie nicht verwinden.
Sie wollte nach Bernburg zurück – um jeden Preis!
Doch – nun sprach August Zwirn ein Machtwort! Er denke nicht im entferntesten daran, da er nun ja alles zurückbekommen habe: Geld, Uhr, Schmuck. Es sei kein Grund mehr vorhanden – und so weiter.
Die ‚Kinder‛ halfen bitten. Und plötzlich sagte dann das schlaue Bärbchen:
„Mama, – übrigens sind wir bereits verlobt.“
Auf August Zwirns Denkerstirn erschienen Gewitterwolken.
„Verlobt? Ohne mich zu fragen!“ stieß er hervor.
„Fragen?! – Sieh mal, Papa, – das hätten wir tun müssen, wenn wir von dir pekuniär abhängig wären. Da Tante Amalie aber in ihrem Testament bestimmt hat, daß wir, sobald wir uns vom neunzehnten Lebensjahr an nach freier Herzenswahl verloben, jedem hunderttausend Mark ausgezahlt erhalten sollen, so – mußten wir doch zunächst mal – frei wählen. Das haben wir getan.“
August Zwirn war käseweiß geworden.
„Wo – woher weißt du von dieser Klausel?“ stotterte er.
„Woher? – Nun – Klärchens Bräutigam ist Bankbeamter. Und zwar bei der Filiale der Deutschen Bank in Ixstadt. Als du mal in der Stahlkammer der Bank in einer der kleinen Zellen Coupons geschnitten hattest, vergaßest du in den Blechkasten die beglaubigte Abschrift des Testaments zurückzulegen. Er fand sie, der Bert Schmidt nämlich, mußte sie natürlich lesen, um den Besitzer der Urkunde festzustellen, schickte sie dir dann nach Bernburg nach. –
Alles sehr einfach!“
August saß völlig vernichtet da. Nun mußte er mit dem schnöden Mammon herausrücken – mußte! Es half nichts.
Hm – ob es da nicht am schlausten war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen? – zu retten war ja hier doch nichts mehr.
So sagte er denn, und er zwang sich zu einer gewissen Herzlichkeit:
„Liebes Kind, – also Klärchens Verlobter heißt Bert Schmidt. Das wissen wir nun. Und der deine?“
„Assessor Ulli Bölke –“
Zwirn schnellte hoch.
„Bölke – Bölke – also doch der – der aus der Bodenkammer?“
„Ganz recht – der aus der Bodenkammer! Die Liebe hat eben vorgehalten, Papa.“
August Zwirn wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Da – betraten gerade Ulli und Bert die Veranda.
Bärbel winkte. Sie kamen auch sofort an den Zwirn-Tisch, und – August begrüßte sie nun mit einem Lächeln, das sehr nach ‚Essig‛ – sehr säuerlich – aussah. –
Mittags wurde in der Pension die Doppelverlobung bekannt gegeben.
Und sechs Wochen später bei der Doppelhochzeit sprach er sehr schön und schwungvoll von ‚keuschen, reinen Jungfrauen‛ und anderem.
Und die jungen Paare saßen würdig da und schauten züchtig in den Schoß. –
Hiermit sind Zwirns Badeabenteuer zu Ende. –