von
M. Lemcke.
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
Erna Heid war glücklich. Sie glaubte sogar: restlos glücklich.
Sie hatte einen lieben, netten Menschen gefunden, der für sie sorgte, der dir ein behagliches Zimmerchen bei einer älteren, anständigen Witwe gemietete und ihr das Sklavenjoch des Lebens einer armseligen Verkäuferin im Kaufhaus Meyerheim abgenommen hatte.
Fritz Unger, ihr Liebster und ihr Befreier, war Geschäftsreisender für eine große Seifenfabrik. Ein fideler, lebenslustiger, hübscher Mensch mit jenem sicheren Auftreten, das so einen kleinen Stich ins Freche, Unfeine für schärfere Beurteiler hat. Aber diese Urteilsfähigkeit war Erna Heid nicht gegeben. –
Als fünftes von sieben Kindern eines in Stettin ansässigen kleinen Beamten hatte sie frühzeitig den Kampf ums Dasein in seiner viele gute Instinkte erstickenden, kläglichsten Form kennen gelernt. Bei Heids wurde nur ein Götze angebetet: das Geld, nur etwas gehaßt, wenn auch heimlich, denn Herman Heid war ja Beamter: die Reichen, die es besser hatten.
Mit neunzehn Jahren war Erna, ein blondes, schlankes Mädel mit angenehmen gleichmäßigem Puppengesicht, nach Berlin zu einer Schwester ihrer Mutter übergesiedelt, die sich durch ‚möbliert vermieten’ angeblich ganz gut ernährte.
Dieses ältliche Fräulein Therese Nakel hatte drei Herren und zwei Damen bei sich wohnen, als Erna einzog und ‚vorläufig’ in der Küche schlafen mußte, wo auch die dicke Therese aus Platzmangel nächtigte.
Erna war bis dahin im Schutze des Elternhauses nicht schlechter und nicht besser aufgewachsen als andere Mädchen, die in gleichen Verhältnissen groß geworden. Sie wußte Bescheid – in allem. Aber sie selbst hatte sich rein erhalten. Nicht einmal Tanzböden hatte sie besuchen dürfen. In solchen Dingen verstand Vater Heid keinen Spaß. Hinzu kam, daß Erna selbst an derartigen Zerstreuungen wenig Gefallen fand und lieber daheim Romane verschlang, die sämtlich in höchsten Kreisen spielen mußten und in denen dann ein Kind aus dem Volke eine märchenhaft glückliche, reiche, vornehme Heirat schloß. Ernas leiser Hang zur Träumerei war dadurch nur allzu sehr gesteigert worden, ebenso wie ihr das richtige Augenmaß für die wirklichen und oft brutal nüchternen Lebensverhältnisse abhanden gekommen war.
Sie wußte mit allem Bescheid, aber sie sah das Leben durch eine rosa Brille, dachte bei allem: ganz so schlimm kann’s nicht sein!
Diese Erna hauste drei Wochen lang bei Tante Therese. Da – gingen ihr dann etwas die Augen auf.
Nachts war in der Wohnung ein ständiges Hin und Her. Die beiden ‚Damen’ schienen keinen festen Beruf zu haben, trugen trotzdem moderne, teure Garderobe und Wäsche von einer Art, die es in Stettin kaum in den Schaufenstern gegeben hatte.
Die drei männlichen Mieter wieder tauchten immer nur für Stunden auf, gehörten fraglos zu den sogenannten besseren Gesellschaftskreisen und brachten stets tief verschleierte Damen mit, hielten ihre Zimmer dann fest verschlossen, verschwanden wieder.
Erna hatte bald heraus, wie es um Tante Theresens auskömmliche Einnahmequellen bestellt war.
Die beiden Damen gehörten zu den Mädchen, die ihre Liebe für Geld verschenkten. Die drei Herren aber hatten hier nur ihr Absteigequartier, und ihre Begleiterinnen waren fraglos verheiratete Frauen. – Dann verdiente Tante Therese noch durch Kartenlegen und gewisse, strafrechtlich mit Gefängnis und Zuchthaus bedrohte Samariterdienste an Mädchen, die – Pech gehabt hatten, offenbar viel Geld.
Erna wurde es in dieser Umgebung bald unheimlich. Außerdem behagte es ihr auf die Dauer nicht, lediglich in der Küche auch abends zu hocken und kein Plätzchen für sich allein zu haben. Schließlich machte auch Tante Therese den Versuch, sie mit dem Hausbesitzer, einen dicken, unappetitlichen Herrn namens Rubinstein, näher anzufreunden. Zunächst war Leo Rubinstein noch vorsichtig diesem Blondchen gegenüber vorgegangen. Geschenke, Theaterbesuche, seidene Blusen sollten das Opfer erst vorbereiten. Aber – er hatte sich in Erna getäuscht. Als er zum erstenmal zudringlich wurde, und dies in so plumper, gemeiner Art, da – war der Krach gekommen.
Erna hatte Tante Therese die Blusen und die anderen Geschenke Rubinsteins da gelassen, zog aus, mietete sich bei der Mutter einer Kollegin ein und klärte ihre Eltern über die Gründe des Wohnungswechsels eingehend auf.
Und der Erfolg dieses ehrlichen, herzlichen Schreibens?
Tante Therese hatte mit einem solchen Brief natürlich gerechnet, daher schon vorher die Sache so ‚aufgeklärt’, wie es ihrem ehrbaren Ruf am dienlichsten war und Erna als ein recht leichtes Pflänzchen hingestellt, die den alten Herrn Rubinstein durchaus habe umgarnen wollen.
Vater Heid schickte, da er der ‚Erbtante’ mehr Glauben schenkte, an seine mißratene Tochter einen sehr groben Brief und drohte mit ‚Verstoßen’, falls sie nicht auf den Pfad der Ehrbarkeit und zu Tante Therese umgehend zurückkehre. –
Die Folge hiervon waren weitere Briefe und schließlich – was ja bei schriftlicher Erledigung derartiger Vorfälle leider zumeist geschieht – ein regelrechter ‚Krach’, das heißt: die Korrespondenz wurde von beiden Seiten eingestellt.
Während ihres achtwöchigen Aufenthalts bei Frau Brendel, so hieß die Mutter ihrer Kollegin, lernte Erna dann den kennen, der ihr Schicksal werden sollte: Fritz Unger.
Er sprach sie einmal auf dem Heimweg vom Geschäft an, und sehr bald war sie ihm völlig verfallen.
Frau Brendel hatte immer und immer wieder gewarnt; Erna ließ es sich nicht ausreden, daß sie seine Braut sei und daß er sie nur infolge besonderer Umstände seiner Familie noch nicht vorstellen könne. Dann begannen nächtliche Streifen mit Fritz Unger durch die Berliner Lokale, begann Erna, morgens stets müde und abgespannt, immer häufiger vom Geschäft wegzubleiben. Es gab scharfe Verweise von der Aufsichtsdame der Abteilung, in der Erna arbeitete, gab steten Ärger und Verdruß, bis – Fritz Unger sie soweit mürbe gemacht hatte durch lockende Schilderungen eines bequemeren Lebens, daß sie auch von Brendels wegzog und nun bei der Frau Szimanski, Ansbacherstr. 16, Gartenhaus, wohnte – als Ungers Geliebte.
Von Verlobung und dergleichen ward jetzt kaum mehr gesprochen. Erna lebte gedankenlos in den Tag hinein, dünkte sich ein beneidenswertes Geschöpf, hatte sehr viel freie Zeit, schloß sich enger an Frau Szimanski an, die für eine Witwe eines Steuerbeamten über das Leben recht verständige Ansichten und dazu ein goldenes Herz hatte.
Sechs Wochen dauerte diese Vorstufe eines schnellen Niederganges.
Dann – es war an einem warmen Apriltag – erhielt Erna von Fritz Unger einen sehr langen, sehr phrasenreichen Brief, in dem er ihr mitteilte, zwischen ihnen müsse alles aus sein. Er habe eine neue Stellung am Rhein angenommen und sei bereits unterwegs dorthin, wenn sie dieses Schreiben erhielte; er werde sie nie vergessen, und sende ihr gleichzeitig fünfhundert Mark, damit sie ihr Leben langsam wieder in das frühere Geleis ‚zurückbiegen’ könne.
Erna weinte drei Tage. Am vierten zeigte ihr Frau Szimanski eine Gruppenaufnahme aus einer Sportzeitung, und einer der dort mit Dargestellten war – Fritz Unger, hier aber als – Syndikus Dr. jur Unger bezeichnet; die Dame neben ihm, die er untergehakt hatte, war – seine Frau, Tochter eines bekannten Industriellen.
Dieses Bild in der Sportzeitung, das Erna ein Gewebe von Lug und Trug enthüllte, gesponnen von einem Manne, der dieses ‚kleine Intermezzo’ mit dem dummen Blondchen als ein gutes Herrenrecht betrachtete, bildete sozusagen den Wendepunkt in Ernas Leben.
Sie hatte die erste bittere Enttäuschung durchgemacht. Aber – keine Herzensenttäuschung. Das merkte sie erst jetzt. So geliebt, wie sie sich die Liebe stets ausgemalt, hatte sie Fritz Unger niemals. Und jetzt, wo sie ihn durchschaute, wo sie einsah, daß er den Geschäftsreisendenton nur sehr gut nachgeahmt, daß er immerfort gelogen, geheuchelt, geschauspielert habe, verwandelte sich das bißchen jungfrische Sinnlichkeit, daß sie ihm entgegengebracht und für Liebe gehalten, in Abscheu und Verachtung.
Schlimmer als dieser Wechsel in ihrer Herzensstimmung war für sie die nun folgende Abrechnung mit sich selbst
Ihre Reinheit hatte sie geopfert – einem Nichtswürdigen. Ein verborgener Makel haftete ihr nun an für alle Zeit. Und riesengroß wuchs in ihr die Reue hoch, die Verzweiflung darüber, daß sie nun, falls ein gütiges Geschick ihr die echte Liebe lockend zeigen würde, jene Liebe, die zum Standesamt führt, nie mehr zugreifen dürfe, wenn sie nicht mit einer Lüge – der ärgsten, der Vortäuschung der Keuschheit – in die Ehe gehen wollte.
Frau Szimanski tröstete, so gut sie konnte. Ihr Heilrezept hieß in der Hauptsache: Arbeit! – Also besorgte Erna sich wieder eine Anstellung als Verkäuferin; wieder in einem Warenhaus; in der Abteilung für Herrenartikel.
So weit das Vorspiel. –
Und nun beginnt der erste Akt des Dramas. –
Mai war’s. Draußen Wärme, Frühlingslüfte, frisches, zartes Grün.
Erna Heid eilte nach dem Geschäft. Die kurze Mittagspause war vorüber. – Wie ungern sie heute dort hinein in die nach Menschen, Bohnermasse des Fußbodens und anderem so häßlich riechenden Räume ging! Wie ungern! – Der Frühling saß ihr im Herzen. Wenn sie an Fritz Unger, an manche Nächte zurückdachte, überlief es sie siedend heiß.
Sie war jung, kräftig, gesund im Fühlen, so gesund, daß sie hätte aufschreien mögen vor wildem Sehnen.
Ihr Warten galt dem, der sie heimführen sollte als sein ehelich Weib. Denn anders sich einem Mann hingeben – nie wieder! – Das hatte sie sich zugeschworen.
Versonnen und doch erregt bis in die feinsten Nervenstränge schritt sie dahin.
Ach – nur heute einmal hinausdürfen ins Freie, in den Wald – nach Wannsee, das sie wie ein Eldorado liebte. Gerade heute am Alltag, wenn’s dort still und einsam war. Denn Sonntags – nein, diese Ausflüge inmitten einer zumeist krampfhaft lustigen Menge, – nein, das war für sie kein Genuß. –
Ein Herr kam ihr entgegen. Jung, kurzes Bärtchen, Monokel, – sehr elegante Aufmachung.
Sie erkannte ihn sofort. Seit einer Woche kam er täglich in die Herrenabteilung, kaufte Krawatten, Kragen, Oberhemden, warf mit dem Geld um sich und – unterhielt sich mit Erna, – stets durchaus höflich, unaufdringlich und ohne jede Zweideutigkeit.
Jetzt –: er grüßte, sprach sie an. Und schon nach wenigen Sätzen sagte er mit größter Ehrlichkeit:
„Sie sind viel zu schade dazu, dort in dem Sklavenkasten zu versauern. Schwänzen Sie wenigstens heute. Kommen Sie mit nach Wannsee. Ich habe dort mein Segelboot liegen. Ich verspreche Ihnen einen heiteren Nachmittag und – tadellosestes Benehmen. – Sie verstehen mich. – Ich bin nicht gern allein. Sie gefallen mir. Wir könnten gute Freunde werden. Nur Freunde – falls Sie es verlangen. Ich bin kein Mädchenjäger –“
Wannsee! Segelboot!
Ein Zufall war’s, daß er gerade Wannsee nannte. Unser Leben, unser Daseinweg hängt stets nur von kleinen Zufällen ab. Die Fortsetzung – verschulden wir meist selbst. –
Erna kämpfte mit sich. Sagte – nein!
Er verabschiedete sich dann. Er war so ganz anders als Fritz Unger, – von einer Gelassenheit und Ruhe, selbst in der Sprache, – von einer natürlichen Vornehmheit in jeder Bewegung, jeder Redewendung, daß Erna spürte: dies ist ein anderer Schlag als – der erste es war.
Trotzdem – aber sehr hastig: „Nein – es geht nicht!“
Sie lief fast davon. Aber – vor der Tür des Warenhauses wurde ihr Schritt zögernder. Und – plötzlich kehrte sie um, fand ihn noch vor einem der Schaufenster stehen, stellte sich neben ihn.
Er reichte ihr wortlos die Hand. Wortlos gingen sie davon. Ein Auto brachte sie durch den Grunewald nach Wannsee. –
Das Segelboot ‚Nixe’ trieb sacht dahin. Erna saß am Steuer, hielt die Ruderpinne. Sie war selig. Traumhaft schön war es hier auf dem Wasser.
Er hatte ihr seinen Namen nicht genannt.
„Nennen Sie mich Heinz – Das genügt. – Wozu Namen und Stand?!“ So hatte er lächelnd gesagt. Und sie gab sich zufrieden.
Abends nahmen sie auf der Weinterrasse des Schultheiß ein vorzügliches Mahl ein; tranken teuren Burgunder.
Heinz blieb zurückhaltend, behandelte sie ganz als Dame. Nur daß er sie stets kurz ‚Erna’ anredete, ohne sie deshalb um Erlaubnis gefragt zu haben.
Und wieder im Auto nach Berlin zurück; dort ins neue Operettentheater; Loge, Vorderplätze. – Nachher Kempinski. Er lehrte sie Austern, Hummer essen. Schließlich ins Cafee des Westens – als Abschluß.
Dann brachte er sie heim, zu Fuß. Sie waren müde und auch nicht müde. Sie war so seltsam unbefriedigt trotz all dem Schönen, das sie genossen.
Sie ärgerte sich ein wenig, daß er – so ganz Eisblock blieb. Sie neckte ihn; hing sich in seinen Arm.
Er schien gefeit. Er änderte sich nicht. Scherzte aber wie mit einem Schwesterlein.
„Wo – wo wohnen Sie eigentlich, Heinz?“ fragte sie plötzlich.
„Ganz in Ihrer Nähe, Erna –“
„Wohl sehr elegant?“
„Es geht –“
„Heinz – Sie – Sie sind gräßlich öde!“
„So?! Öde?! – Nein – nur – Menschenkenner.“ Ganz feine Ironie klang durch das letzte Wort hindurch.
Sie wurde etwas stutzig.
Nun standen sie vor ihrem Haus.
„Ich danke Ihnen, Erna.“ Er reichte ihr die Hand. Sein schmales, leicht geträumtes Gesicht war heiter. „Sie sind eine liebe Kameradin. Wann sehen wir uns wieder?“
Und Erna? – Sie stampfte plötzlich mit dem Fuß auf.
„Sie – Sie – wollen mich nur quälen, Sie – schlechter Mensch!“ rief sie. Und in einem Atem folgte: „Ich – ich will Ihre Wohnung besichtigen – nur fünf Minuten –“
Es war ein sehr vornehmer Mietspalast. Hochparterre wohnte Heinz; vier Zimmer; ein Diener in Livree, stumm, lautlos wie ein Geist, hatte geöffnet, servierte Tee, Gebäck in einem Herrenzimmer, wie Erna es nur aus Romanen kannte.
Erna war befangen, taute erst langsam auf; taute dann so sehr auf, daß sie aus Übermut versuchen wollte, ob er wirklich ganz unempfänglich für weiblich Reize wäre. Sie klagte, ihr drückten die Schuhe. – Er läutete nach dem Diener, ließ ein paar goldbestickte Pantöffelchen bringen, die kaum benutzt sein konnten, – Damenpantöffelchen.
Dann – durfte der Diener zu Bett gehen. Und Heinz zog Erna die Schuhe aus, streifte ihr die Pantöffelchen über, hob das ganze Mädel plötzlich hoch, trug sie durch zwei Zimmer bis in sein Schlafgemach, schaltete mit der linken die mattgelbe Deckenbeleuchtung ein, fragte Erna nun, sich tief über die in seinen Armen Liegende beugend:
„Nur gute Freunde, Kleines, – auch weiterhin?“
Und da – küßte sie ihn, biß ihn in die Lippen.
Und sie blieb bei ihm bis zum nächsten Mittag. – Frau Szimanski empfing Erna dann mit kalter Höflichkeit, bat sie, sie möchte ausziehen.
Erna merkte, bei der hatte sie verspielt! – Und – sie siedelte ganz zu Heinz über, zu dem Regierungsreferendar Heinz, Graf Stollhein-Großenburg.
Drei Wochen. Dann – erschoß er sich; Spielschulden, – Ehrenschulden, und auch böse Wechselgeschichten.
Erna mußte nun wieder ins Warenhaus; wohnte bei einem schmierigen Weib; ekelte sich vor dieser Umgebung; sehnte sich nach all dem Luxus zurück, den sie bei Heinz ausgekostet hatte.
Und – der dritte kam! Ein Kaufmann Markus Wikofzer; Lebemann; aber geizig und unfein in vielem. – Erna war nicht raffiniert genug, ihn auszunutzen. Und – bald widerte er sie so an, daß sie heimlich mit einem blutjungen Studenten anbandelte. Wikofzer kam dahinter, und – es war Schluß.
Der Student hatte nichts. Erna spielte also wieder Verkäuferin. Aber der goldene Grafentraum wirkte nach. Jetzt war sie bereits soweit, daß sie, noch die Geliebte des harmlosen Studenten, sich nach etwas Günstigerem umsah. So fand sie einen Freund des kleinen Helmut, ein älteres Semester; Waise; vermögend. –
In einem Jahr hatte sie geholfen, dessen Geld durchzubringen. Er hatte sie geliebt, dieser Benno Stadel. Und, als er die letzten tausend Mark bei der Bank abhob, als er ihr dies sagte und ihr allen Ernstes vorschlug, einen kleinen Zigarrenladen zu kaufen und zu heiraten, da – brannte sie ihm durch mit einem Hamburger Schiffsoffizier, der sie mit nach der Alsterstadt nahm und nach zwei Wochen mit seinem Dampfer nach Australien in See ging.
Erna kehrte nach Berlin zurück. Für die Arbeit war sie verloren. Und – da sie ohne Mittel war, begleitete sie gleich am zweiten Abend einen Junggesellen heim, der sie sehr nett behandelte und – ihr nachher hundert Mark schenkte.
Am folgenden Abend sprach sie ein Ausländer an, ein Franzose. Eine Woche lang wechselten die Liebhaber. Dann wurde sie von einem Sittenbeamten verhaftet, wurde – polizeilich gemeldete Dirne. Aber eine jener Halbweltdamen, die mit Grazie die käufliche Liebe vertreten, die über natürlichen Mutterwitz verfügen und sich durch den Umgang mit gebildeten Herren jene Scheinbildung selbst aneignen, die auch in ‚besseren’ Kreisen durchaus genügt, um vielleicht bei einigem Geschick sogar für geistreich zu gelten.
*
Erna war es wieder dank der Hilfe eines einflußreichen Freundes geglückt, der polizeilichen Kontrolle zu entgehen. Sie bewohnte jetzt in der Kurfürstenstraße in einem älteren Haus eine Dreizimmergelegenheit, hielt sich eine Aufwärterin, hatte die Möbel auf Abzahlung gekauft und nannte sich ‚Abschriftenbüro Erna Heid’. Das war unverfänglich; das gab eine Erklärung für allerlei Besuche ab, schützte vor der Polizei und verpflichtete zu keinerlei Arbeit.
Sie verkehrte nur in feinsten Bars und Dielen von Berlin W., hatte einen festen Freundeskreis, der sich aus Vertretern der vielfachsten Berufszweige zusammensetzte, aber natürlich nur Herren umfaßte, denen es auf ein paar blaue Lappen nicht ankam. Recht seltsame Leutchen befanden sich darunter, so ein Universitätsprofessor, der jede Woche einmal nachmittags zur gleichen Stunde mit einer dicken Aktenmappe bei ihr erschien, ihr nur die tadellos gepflegten Füßchen mit allem Eifer wusch, abtrocknete, küßte und nach diskreter Deponierung von hundert Mark hochbefriedigt wieder von dannen zog. Dann war da weiter ein Geheimer Kommerzienrat durch seine Wohltätigkeit und Fürsorge gerade für gefallenen Mädchen rühmlichst bekannt, der gleichfalls seinen ‚festen’ Nachmittag hatte, bei Erna Mokka trank, Keks knabberte und nur verlangte, daß sie ihm so gegen halb sechs eine furchtbare Szene machte und ihn mit Reitpeitschenhieben windelweich schlug. Auch er ging glücklich davon, hinterließ stets sogar zweihundert Mark.
Kurz, für Erna gab es jetzt nichts, selbst die allermerkwürdigste Verirrungen des Liebestriebes nicht, die sie nicht kannte.
Sie war nun dreiundzwanzig Jahre, voll erblüht, tadellos gewachsen, von eigenartiger Schönheit und einem weit über dem Durchschnitt stehenden Allgemeinwissen. Ihr Bildungsdrang war noch reger geworden. Sie hatte genügend Zeit, allerlei zu lesen, und beschäftigte sich selbst mit fremden Sprachen an der Hand von Unterrichtsbriefen. Sie lebte verständig, schonte ihre Gesundheit, trieb etwas Sport und sah noch immer wie eine Achtzehnjährige aus. In ihrer Kleidung vermied sie alles Auffallende. Die Einfachheit ihrer Garderobe war vielleicht das höchstentwickelte Raffinement an ihr. Jeder Mann konnte sich jederzeit mit ihr überall sehen lassen. Es kam vor, daß sie einen Freund fand, der sie für einige Wochen mit an den Rhein, in die Schweiz, an die Riviera nahm. Dann trat sie stets als des Betreffenden Frau auf und – fiel nie aus der Rolle.
Sie war eben unter den eleganten Halbweltdamen ein besonderer Typ. In Berlin gab es wenige ihresgleichen. Und von diesen wenigen hatte sie sich zwei zu ihren intimen Freundinnen erkoren, beides Mädchen, die aus den besten Kreisen stammten und von ihrer Familie verstoßen waren.
Die eine, Hella von Kreidel, war die älteste Tochter eines Oberstleutnants a.D., hatte erst an kleinen Bühnen noch kleinere Rollen gespielt und war dann aus Talentlosigkeit für den Schauspielerinnenberuf langsam hinabgeglitten – auf die Straße, hatte traurige Zeiten durchgemacht, sich dann aber wieder ‚empor’ gearbeitet und lebte jetzt ähnlich wie Erna – als Modistin – ohne Damenkundschaft.
Margot Weiler wieder war die wegen Ehebruchs geschiedene Frau eines Geheimen Regierungsrats, der als 55ziger sich noch jung genug gefühlt hatte, einer Neunzehnjährigen Flitterwochen vorzutäuschen. Da seine junge Frau die jüngste von fünf Schwestern eines armen, noch auf sein Gehalt angewiesenen Intendanturrats gewesen war, hatte sie blindlings sich in diese Ehe gestürzt, nur um der Misere des elterlichen Hauses zu entgehen. Und – es war gekommen, wie es kommen mußte. Angewidert von den krankhaften Lüsten ihres Lebegreises – denn dafür war ihr Gatte bekannt gewesen –, hatte sie sich dem Sohn des Hauswarts, einem jungen, frischen Elektrotechniker, an den Hals geworfen. Tapfer zog sie alle Konsequenzen. Ein Kind kam, und – es hatte genau an derselben Stelle der Stirn ein Fünfpfennig großes Muttermal, wo dies auch der Techniker besaß. Der Herr Gemahl schöpfte da erst Verdacht; Privatdetektiven beobachteten; bald waren alle Beweise da; Ehescheidung – schuldiger Teil natürlich, Zerwürfnis mit ihren Eltern und – nach anderthalb Jahren statt Dame von Welt – Halbweltdame.
Die beiden waren Ernas Herzensfreundinnen. –
Eines Nachmittags im Oktober.
Die blonde Hella und die braune Margot weilten bei Erna zur Tasse Tee. Man sprach über allerlei: Mode, Theater, Skandälchen aus Berlin W. und schließlich über sich selbst.
Man erörterte – zum ersten Mal – spätere Eheaussichten.
Es ist kennzeichnend für alle diese entgleisten Frauen, daß sie heimlich nichts sehnlicher wünschen als eine glückliche Ehe und Kinder.
Margot verhielt sich schweigsam, bis Erna meinte:
„Nun – und du? Hast du wirklich von deiner ersten Ehe übergenug, daß du allein zu bleiben wünscht?“
„Nein.“ Margot lächelte. „Nein – ganz und gar nicht. Ich hoffe sogar, einmal noch sehr, sehr glücklich zu werden. Fritz – das war der Elektrotechniker – ging damals nach Südamerika. Wir stehen andauernd im Briefwechsel. Und – ich spare ja nur für uns! – Kinder, fünfzigtausend Mark habe ich fast schon beisammen. Und – sobald Fritz zurückkehrt, heiraten wir und machen ein Geschäft in Westdeutschland auf: Installationsgeschäft. – Auch er hat gespart. Er glaubt, ich gebe lediglich Privatstunden. Und – nie wird er ahnen, was ich einst gewesen. Ich werde ihm eine treue, tüchtige Gattin sein. Und sobald wir in aller Stille getraut sind, dann – das hat er mir schon versprochen – dann – entführen wir meinen Jungen, unseren Jungen, dem Scheusale von Oberregierungsrat, der ja im Ehescheidungsprozeß nie vorgebracht hat, daß er nicht der Vater sei – aus Renommiersucht. Der – der und Vater!“
Die blonde Hella von Kreidel nickte gedankenvoll.
„Ja – ja, – eine treue, tüchtige Gattin – da hast du recht. Wir sehnen uns ja heraus aus diesen Verhältnissen – wir alle! Wir alle haben ein heimliches Ziel, dem wir entgegenträumen, wieder – brav zu werden. Die meisten sind leider zu schwach, den Rückweg ins ehrbare Leben zu finden. Wie ein Bleigewicht, daß sie im Sumpf festhält, schleppen sie das Bewußtsein mit sich herum, nie ohne Scheu mehr einem Mann, der sie zum Weibe begehrt, ins Gesicht sehen zu können. Wie töricht ist das! Wie kurzsichtig, wie wenig den Tatsachen entsprechend! – Sind wir denn wirklich unrein für alle Zeit? Sind wir es überhaupt? Was verschenken wir gegen Geld? Etwa Liebe?! – Niemals! Nur unsern Leib. Wir empfinden nichts in den Armen zahlender Männer – nichts! Wir besitzen nur – Geschäftsroutine, Sinnenrausch vorzutäuschen. Halbe Jungfrauen sind wir noch, die dessen harren, der in uns das echte Feuer jener Liebe entzündet, die Sinnentaumel und Geistesverwandtschaft, Seelenharmonie, ist. Diesem Mann opfern wir uns dann erst ganz, ihm nur geben wir alles – nur ihm!“
„Halbe Jungfrauen,“ wiederholte Erna leise. Und – sie ging in Gedanken die Reihe der Männer durch, die sie längere Zeit besessen hatten.
Nein – nicht einer war darunter, dessen Seele harmonisch mit der ihren mitgeklungen hätte. –
Als Hella und Margot gegangen waren, saß Erna noch lange ganz still in dem niedrigen Sesselchen, rauchte mechanisch Zigaretten und – marterte sich mit Gewissensbissen.
Das Gespräch mit den Freundinnen hatte ihr wieder gezeigt, zu welcher Kategorie von Geschöpfen sie gehörte, zu jenen, die von den ‚ehrbaren’ Frauen, wenn diese unter sich über sie reden, mit Ausdrücken tiefster Verachtung abgetan, die aber von denselben Frauen insgeheim der Toiletten wegen ebenso oft glühend beneidet und mit neugierigem Interesse auch anderer Dinge wegen umgeben werden.
Erna hatte oft solche Stimmungen, solche Stunden innerer Einkehr. Dann schluchzte sie lange in sich hinein. Und – um darüber hinwegzukommen, ging sie meist schnell in eine Bar und ließ sich eine halbe Flasche Sekt geben.
Heute kamen ihr noch andere Gedanken.
Margot besaß Ersparnisse! Fünfzigtausend Mark!
Diese Tatsachen – denn Margot log nie und hatte ja auch einst vier Monate mit einem Erbprinzen den Orient bereist – wollten ihr nicht aus dem Kopf.
Sparen! – Gewiß – auch sie hatte ein Sparbuch und etwa sechstausend Mark auf der Kasse. Hätte sie sich nur etwas mehr eingeschränkt, würde es das dreifache gewesen sein.
Und vom Sparen wieder eilten ihre Gedanken ins Elternhaus zurück.
Nichts – nichts hatte sie mehr von den Ihrigen gehört. Nur – von Tante Therese las sie vor einem Jahr in den Zeitungen, daß diese wegen Kuppelei, Verbrechen wider das keimende Leben und – Hehlerei ins – Zuchthaus gekommen war.
Wie – wie mochte es daheim aussehen?
Ach – nur ein einziges Mal wollte sie noch einen Blick tun in das altväterliche Wohnzimmer – abends wenn alles um den runden Tisch saß und Hänschen in seinem Bauer stets so leise zwitscherte.
Was war wohl aus den vier Schwestern, den beiden Brüdern geworden? – Ob die Eltern noch lebten? –
Erna stand plötzlich auf, setzte sich an den zierlichen Schreibtisch – diese Zimmereinrichtung hatte ihr ein Möbelfabrikant geschenkt – und beauftragte schriftlich eine bekannte Detektei, ganz eingehend die jetzigen Verhältnisse der Familie des Steueraufsehers Heid, Stettin, fest–zustellen.
Gleichzeitig füllte sie eine Postanweisung aus und schickte an die Detektei dreißig Mark Kostenvorschuß.
Kaum damit fertig, läutete es draußen.
Erna ging in den Flur und schaute durch das Guckloch. Sie war stets sehr vorsichtig. In letzter Zeit waren verschiedene Morde an alleinstehenden Frauen in Berlin vorgekommen.
Draußen stand ein eleganter Herr in Zylinder, Monokel, kurzem Paletot mit Seidenaufschlägen.
Sie erkannte ihn sofort wieder. Er hatte vorgestern in der ‚Diana-Diele’ verschiedene Male mit ihr getanzt und sich ihr gegenüber Freiherr von Inglingen genannt, sie ganz als Dame behandelt – Frechheiten duldete sie ja nie, ebensowenig zu grobe Anzüglichkeiten – und gestern um ihre Adresse gebeten, sich auch an beiden Abenden beim gemeinsamen Souper sehr angeregt unterhalten.
Er war im Berliner Westen, in Berlin überhaupt, eine Neuerscheinung. Da er reicht zu sein schien, hatten sich verschiedene von Ernas entfernten Bekannten an ihn heranmachen wollen. Doch – er hatte abgewinkt.
Erna öffnete. Er begrüßte sie wie eine Freundin, die ihm – nur Freundin war, legte ab und betrat den kleinen Salon, wo noch der gedeckte Teetisch stand.
„Ah – sehr behaglich hier, liebes Kind –“
Er schaute sich näher um. „Sie haben einen guten Geschmack. Die Bilder verraten’s. Überhaupt, Kind – Sie sollten – umsatteln.“ Er nahm Platz. Er gab sich zwanglos – vornehm. Sei von einem dunklen Spitzbart eingerahmtes leicht gebräuntes Gesicht, das straff gescheitelte Haar und eine gewisse Energie in Ton und Ausdrucksweise erinnerten an einen Marineoffizier.
Welchen Beruf er hatte, wußte Erna bisher nicht.
Sie trug noch ein leichtes, bequemes, helles Hauskleid mit tiefem Halsausschnitt. Er musterte sie mit Wohlgefallen.
Dann wiederholte er: „Tatsächlich – umsatteln sollten Sie, Kind. Sie sind zu schade für die Bars und Dielen.“
Erna hörte diese Phrasen oft. Denn – zumeist waren es Phrasen, die nur das Bestreben zur Entstehung brachte, für mitleidig und gemütstief gehalten zu werden.
Doch – aus diesem Munde hatte es so ganz anders geklungen. –
Dieser Baron interessierte sie. Schon vorgestern hatte sie gemerkt, daß sie sich freute, wenn er gerade mit ihr soupierte und so viel tanzte, ohne nachher – sie heim zu begleiten. –
Der Gast war jetzt plötzlich schweigsam geworden. Dann fragte er unvermittelt: „Kann ich etwas Genießbares bekommen, Kind? Ich habe seit morgens nichts genossen –“
„Seit – morgens?“
„Ja – Sie sind erstaunt, Erna. Mit Recht. Aber –“ er sprach leiser – „ich wagte mich in kein Restaurant, habe mich scheu in entlegenen Straßen herumgedrückt.“
Erna vermutete sofort das richtige. Sie war ja mit allem vertraut. Mädchen wie sie lernen auch das feinere Verbrechertum studieren.
„Man verfolgt Sie?“ fragte sie schnell.
Er nickte nur, zog eine Zeitung aus der Tasche seines seidegefütterten Smokings und reichte sie Erna, deutete auf einen bestimmten Artikel.
„Es ist ein Morgenblatt von heute,“ sagte er jetzt. „Als ich es in meinem Hotel las, flüchtete ich sofort.“
Erna überflog die gedruckten Zeilen:
Juwelendiebstahl, fünftausend Mark Belohnung für Wiederherbeischaffung der Beute.
In einem Mannheimer Hotel hat vor drei Tagen ein Gauner auf äußerst raffinierte Weise der dort abgestiegenen Gattin des Geheimen Kommerzienrats Kristaller aus Frankfurt am Main eine Perlenkette im Wert von 150000 Mark gestohlen –
Es folgte sehr ausführlich die Schilderung des Tricks, den der Dieb angewandt hatte.
Der Gauner logierte unter adeligem Namen in denselben Hotels, trägt dunkelblonden Spitzbart – und so weiter –
Erna legte die Zeitung auf das Teetischchen, schaute ihr Gegenüber unsicher an, fragte:
„Also Sie – sind – jener –“
„Ich bin’s.“ Das klang so ruhig, so gleichmütig. „Ich hatte gehofft, man würde nicht gerade in mir den Dieb vermuten. Nun – befinde ich mich in ärgster Gefahr. Die Kriminalpolizei hier bei uns in Deutschland ist ja leider für unsereinen viel zu gut organisiert. Ich wette, daß jetzt bereits alle Lokale in Berlin nach mir abgesucht, daß die Bahnhöfe bewacht werden. – Ich bin also zu Ihnen als ein Verfolgter gekommen. Ich habe mich in Ihre Hand gegeben. – Sie können mich verraten und fünftausend Mark verdienen –“
Er faßte in die Tasche, holte ein seidenes Schnupftuch hervor, in dem eine prachtvolle Perlenkette eingewickelt war.
Die Perlenschnur warf er mitten auf den Teller zwischen die Keks.
„Da – bitte! – Verraten Sie mich!“ – Er lächelte sie harmlos an. „Ich würde es Ihnen keinen Moment verargen – wirklich nicht. Jeder ist sich selbst der nächste –“
Erna erwiderte nichts, erhob sich, räumte den Tisch ab, sagte dann:
„Ist Ihnen mit Spiegeleiern gedient? – Schinken habe ich da. Auch noch eine Büchse Hummer.“
„Oh – ich würde trocken Brot essen, Kind –“
Sie ging in die Küche hinaus, nachdem sie ihm eine Anzahl Zeitschriften hingelegt hatte.
Nach einer Weile stand er auf. Er sah den Brief an die Detektei, der noch offenen dalag, las ihn, las auch die Anweisung.
Als sie das große Teebrett brachte und alles so appetitlich aufbaute, meinte er:
„Sie möchten wissen, wie es Ihren Eltern geht, Erna. Ich habe mir erlaubt, etwas indiskret zu sein. – Satteln Sie um, Kind –“
So weich und gütig sprach er wieder den letzten Satz.
„Wollen Sie mir die Stimmung verderben?!“ entgegnete sie kurz.
Und sie sah, daß die Perlenkette noch immer auf dem Keksteller lag, den sie auf das Klavier gestellt hatte.
*
Sie hatte zwei Gedecke aufgelegt. Sie plauderte bei der Mahlzeit nicht anders, als dies Mitglieder der besten Gesellschaft getan hätten.
So wurde es halb neun abends. – Er sah nach der Uhr.
„Es ist Ihre Ausgehzeit, Kind. Es könnte auffallen, wenn Sie heute nicht an den gewohnten Stätten sich sehen lassen. Wir haben gestern und vorgestern viel miteinander uns beschäftigt. Die Polizei könnte dies feststellen. Wenn Sie nun nicht ausgehen heute, argwöhnt man vielleicht das richtige, daß ich bei Ihnen Zuflucht gesucht habe.“
Bisher hatte er über seine Person nichts mehr geäußert. Er nahm es scheinbar als selbstverständlich an, daß Erna ihm Schutz gewährte.
Sie – freute sich hierüber.
„Oh – Sie haben also zu mir wirklich volles Vertrauen?“ meinte sie nun.
„Gewiß. Ich bin Menschenkenner. Frauen Ihres Schlages, Erna, sind keine Verräterinnen –“
Sie reichte ihm die Hand.
„Auf gute Kameradschaft!“
Er schlug ein: „Auf lange Freundschaft –“
Und – wie verwirrt wurde sie da! – und – er zog ihre Hand an seine Lippen und dies mit der tadellosen, leichten Verbeugung des Mannes, dem eine solche ehrerbietige Huldigung von Jugend an geläufig ist. –
Ernas Salon lag in der Mitte. Das Zimmer rechts war ihr Schlafzimmer; der einfenstrige Raum links das – Aushängeschild des ehrbaren Gewerbes, denn dort standen nur ein paar Büromöbel und zwei Schreibmaschinen, ferner ein Diwan und am Fenster eine große Blumenkrippe mit allerlei blühenden Gewächsen, Ernas Lieblingen.
Sie richtete ihm nun ein Lager auf dem Diwan her, sagte dann: „Sie dürfen nachher nur auf Strümpfen hier hin und her gehen und müssen jedes Geräusch vermeiden. Die Unter– und Überwohner könnten sonst Verdacht schöpfen, da es von neun abends an hier bei mir zumeist ganz still ist.“
„Keine Sorge, Kind. Ich werde mich sofort niederlegen. Nur – mir fehlt Nachwäsche.“
Erna lächelte wirklich verlegen.
„Oh – meine Nachthemden dürften –“
„Versuchen wir’s. In der Not frißt – und so weiter. – Ich werde dann von Ihnen träumen, Erna –“ Er sagte auch dies ohne Anzüglichkeit.
Dann kleidete Erna sich um. Und er – er, von dem sie nicht einmal den richtigen Namen kannte, er saß im Salon, rauchte und studierte die Abendzeitung.
Sie verabschiedete sich. Und – wieder küßte er ihr die Hand.
„Auf Wiedersehen –“ – Dann fuhr sie im Auto nach der ‚Diana-Diele’. Die blonde Hella kam ihr sofort entgegen.
„Du – zwei Geheime sind da. Der Kommissar Liebert und einer, der noch nie hier war. Sie fragten nach dem Baron – du weißt schon, dem ‚Mariner’, wie wir ihn nannten –“
„So? Fragten sie dich?“
„Auch mich. Der nette Baron scheint etwas auf dem Kerbholz zu haben –“
Erna setzte sich zu Hella und drei Herren an den Tisch. Es waren pommersche Großgrundbesitzer. Der eine war sofort für Erna Feuer und Flamme. Als er einen gepfefferten Witz erzählte, lehnte Erna sich zurück.
„Sie scheinen meine Freundin und mich denn doch zu – tief einzuschätzen,“ sagte sie ruhig. „Gegen Witze haben wir nichts. Aber – Schweinereien dieser Art sind eine Geschmacksverirrung für einen gebildeten Menschen, und – das wollen Sie doch wohl sein –“
„Bravo – bravo!“ riefen die beiden anderen Agrarier. Und – das ‚Schwein’ kriegte wirklich einen roten Kopf, murmelte etwas wie eine Entschuldigung und wurde noch mehr Feuer und Flamme, bestellte Austern, Sekt und – ging bei Erna, wenn auch vorsichtig, ‚aufs Ganze’. –
Erna war plötzlich so blaß geworden, daß es der ganzen Tischrunde auffiel.
Dort in der Ecke saß der auch ihr wohlbekannte Kommissar Liebert und neben ihm – ihr ältester Bruder, der schon in Stettin Volontär bei der Kriminalpolizei gewesen, als sie noch bei Tante Therese, die jetzt im Zuchthaus saß, gewohnt hatte.
Ihr Bruder – ihr Bruder Fritz!
Und – er hatte sie offenbar längst bemerkt. Ihre Augen waren soeben den Seinen begegnet. Und da hatte er blitzschnell den Mund zu einem verächtlich Lächeln verzogen.
Sie saß wie gelähmt.
Fritz! Und – wie männlich er aussah.
Dann tastete ihre Hand nach dem Sektglas.
Sie stürzte den Inhalt hinunter, trank – trank – bis ihr glühender Kavalier „Stopp, Ernachen!“ sagte.
„Stopp – denn in dem Galopptempo konnt’ ich nicht mal als Fünfundzwanzigjähriger Sekt saufen!“
Sie wechselte mit Hella denn Platz, damit sie Fritz nicht gerade vor sich hätte. –
Die Kapelle spielte einen Walzer. Einer der Agrarier forderte sie auf. Und Erna tanzte, bis er stöhnend bat: „Schluß, – sonst krieg’ ich einen Gehirnschlag –“
Dann – brachte ihr der Kellner ein Briefchen.
Sie riß den Umschlag auf. Darin eine Karte mit des Kommissars Namen und den Bleistiftzeilen: ‚Möchte Sie in der Garderobe kurz sprechen.’
Sie ging hinaus. Liebert stand mit dem Stammpublikum dieser Art Lokale auf bestem Fuß.
Er fragte nach dem – Freiherrn von Inglingen. –
Erna war darauf vorbereitet.
„Getanzt, soupiert hat er mit mir. Natürlich ein Schwindler, Herr Kommissar?“
„Und ob! – Mädels, sperrt die Augen auf! Fünftausend Mark sind zu verdienen –“
„Wirklich? – Ach, wenn er doch herkäme –“ –
Um Mitternacht ging die Tischrunde ins Cafee Tauentzien. Und um ein Uhr steckte das ‚Schwein’ Erna heimlich, nur daß sie es sah, zwei Blaue in die Handtasche.
Sie – gab sie ihm ebenso heimlich zurück in die Hand, flüsterte: „Heute geht’s nicht.“ – Er war sehr enttäuscht. Und nachher freute er sich in seinem Hotelbett, daß er seiner dicken Gattin wieder mal treu geblieben war – durch Zufall.
Erna war stark angeheitert. Um zwei Uhr fuhr sie heim. Ihre Gedanken waren immer nur bei ihrem Logierbesuch gewesen.
Sie begann sich im Schlafzimmer zu entkleiden. Sie putzte die Zähne, gebrauchte reichlich Mundwasser, steckte das Haar zur Nacht auf.
Der leichte Rausch schwand. Zurück blieb nur ein Prickeln in allen Nerven, eine Unruhe, die ihr bisher fremd.
Ihre Gedanken weilten wieder nur dort – im Bureau.
Welch seltsamer Mensch! Fraglos einer aus gutem Hause; auch ein Gestrauchelter – wie sie selbst?
Ein Blitz der Erinnerung, das Bild ihres Bruders, der jetzt hier vielleicht ebenfalls Kommissar war.
Das mußte sie doch feststellen. Nun, die Detektei würde es schon tun.
Und wieder glitt ihr Denken zu dem Fremden zurück.
Die Unruhe stieg; der Sekt wirkte heute so eigen.
Ernas Sinne regten sich – sie begehrte – wollte begehrt sein – ohne Bezahlung! – Er war ihr Gast. Und – sie durfte doch mit Recht nachschaun gehn, wie es ihm auf dem Diwan behagte.
Sie schlüpfte in den hellblauen Kimono. Und dann schlich sie durch den Salon, öffnete die andere Tür, trat ein. –
Er hatte sich den Mitteltisch an den Diwan gerückt; die Stehlampe brannte, war aber nach dem Fenster zu durch Zeitungen abgeblendet.
Er schlief fest; atmete ruhig. Sein Kopf lag auf dem gekrümmten rechten Arm.
Er trug das seidene, dünne Nachthemd Ernas, das so tief ausgeschnitten war und halblange, weite Ärmel mit Spitzen hatte. Sein leicht behaarter muskulöser Arm in dieser Umhüllung reizte Erna zum Lachen.
Er wachte sofort auf. So schnell wurde er munter, daß Erna fragte:
„Ach – Sie haben gar nicht geschlafen.“ –
Sie lehnte sich an den Tisch.
„Nein. Ich hörte Sie heimkehren. Ich schlafe nie ganz fest.“ Dann reichte er ihr die Hand:
„Gute Nacht, Kind.“
Sie wurde verwirrt, denn – dieses ‚Gute Nacht’ war nicht mißzuverstehen. Er wollte nicht, daß sie bei ihm blieb.
„Ich – ich bin noch gar nicht müde,“ meinte sie zögernd. „Lassen Sie uns noch ein paar Minuten plaudern –“
Er stützte sich auf den Arm, schaute sie fest an.
„Nein, Kind. – Ich bin Ihr Gast. Und ich möchte Ihr Retter werden. Deshalb: Gute Nacht!“
Ihr kamen plötzlich die Tränen. Sie schluchzte auf.
„Ich – ich fühle mich so verlassen, so einsam. Gerade heute –“
Und langsam glitt sie in die Knie, vergrub den Kopf in seiner Steppdecke und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Sie beruhigte bald.
„Setzen Sie sich in den Salon, Kind. Ich leiste Ihnen doch noch Gesellschaft.“
Und sie gehorchte, erhob sich und wartete auf ihn, hockte in einem der Sesselchen und lauschte auf die Stimmen ihres Inneren.
Retten wollte er sie – retten!
Er – gerade er – selbst ein Geächteter, ein Verbrecher. Wie – wie sollte das wohl geschehen?!
Erna erwartete. Es vergingen gut zehn Minuten. Längst war sie ungeduldig geworden, aufgestanden und lautlos auf dem farbenfrohen, glänzenden Perserteppich in hastigem Auf und Ab dahingewandert. Sie sah so, daß auf dem Keksteller noch immer die Perlenkette lag. Sie erschrak. Welcher Leichtsinn von ihm! Wenn jemand zu ihr gekommen und die Kette gesehen hätte! Denn die Herren, die sie besuchten, verstanden wohl etwas von Schmucksachen.
Endlich erschien er. Aber – sie hätte beinahe aufgeschrien bei seinem Anblick. Er hatte sich den Bart völlig rasiert, trug das Haar glatt zurückgestrichen wie ein Künstler.
Er war vollständig verändert in seinem Äußeren. Er ging auch vornübergebeugt, ohne jene kraftverratenden Bewegungen, die sich Erna so fest eingeprägt hatten. Aus dem – Marineoffizier war ein weichlicher Künstler, Schauspieler oder Pianist, geworden.
„Mein Gott,“ flüsterte sie. „Wie – wie ist so etwas möglich!“
Er setzte sich lächelnd. „Kind – nehmen Sie Platz. Diese Kunst gehört zu meinem Handwerk.“ – Seine Stimme war noch dieselbe, – weich, melodisch zumeist. Aber sie konnte ja auch so ernst, so scharf, so eindringlich sein.
Sie sah nun, daß seine Hautfarbe nicht mehr jenen gesunden, bräunlichen Schimmer hatte. Es war ein bleiches, schmales Antlitz mit etwas hervorstehenden Backenknochen geworden.
„Ich hätte gegen eine Tasse Kaffee und ein paar Brötchen nichts einzuwenden,“ meinte er offen. „Wenn es Ihnen keine Mühe macht, dann wäre ich Ihnen dafür dankbar.“
Nach einer Stunde war der Teetisch wieder gedeckt, dieses niedrige Tischchen mit der japanischen Mosaikplatte, – auch ein Geschenk eines Freundes an die bekannte Halbweltdame.
Sie setzten sich, und er begann unvermittelt über sich selbst zu sprechen.
„Ich bin armer Leute Kind. Die Fruchtbarkeit der Ehe meiner Eltern stand in keinem Verhältnis zu dem Verdienst des Maschinenschlossers. Ich heiße Otto Hulk. Meine Geburtsstadt ist Hamburg. Wir waren elf lebende Kinder in den drei Räumen der Hinterhauswohnung. Mutter wusch nebenbei für Fremde. Wir Kinder trugen unsere Kleider, bis sie uns vom Leibe fielen. Unsere wahre Heimat wurde die Straße und das Hafenviertel. Dort – sättigten wir den steten Hunger, erhielten für kleine Dienste ein paar Groschen, kauften Brot, Obst, auch mal ein Stück Wurst dafür. Etwas gestohlen – gemaust – haben wir nie. Vater war ein Mann, der uns totgeschlagen hätte, wenn wir auch nur eine Birne stibitzt hätten. Er war ein Idealist. Er träumte von besseren Zeiten, konnte in öffentlichen Versammlungen Reden halten, die die Massen mitfortrissen. Dann sprach er stets wie im Rausch der Begeisterung, des Hasses, des Sehnens nach Besserstellung des Proletariats. – Ich kam mit vierzehn Jahren in die Lehre zu einem Mechaniker. Mit achtzehn verdiente ich dank Überstunden auf einer Werft so viel, daß Mutter es leichter hatte. Mit neunzehn nahm ich von der Arbeitsstätte ein wertloses Stück Abfallmetall mit, Messing, um für einen Kochtopf daheim einen neuen Henkel daraus zu fertigen. Am Ausgang der Werft wurden wir zuweilen, um Diebstähle zu verhüten, untersucht. Ich hatte Pech. Man fand das Stück Messing. –
Kind – unser Leben hängt von Nichtigkeiten ab.– Unser Lebensweg. Gerade die kleinsten Steinchen auf dem Daseinspfad, die wir nicht mehr beachten, sind unsere schlimmsten Feinde. – So bei mir das Stück Messing.
Wie gesagt, neunzehn war ich damals. Aber – ich hatte schon eine Braut, ein Mädel von sechzehn Jahren, – gefallsüchtig, eitel, leichtfertig und bildhübsch. Ihre Schwächen erkannte ich erst später. Ich war so blind verliebt, daß ich sie am liebsten sofort geheiratet hätte. Von mir stattlichen, strammen Bursche forderten die Sinne ihr Recht. Doch – das Mädchen narrte mich, gewährte nur Halbes stets. Und dabei verkaufte sie außer ihren Rosen auch sich selbst – wahllos, zuweilen für ein paar Tortenstücke. Auch dies erfuhr ich zu spät.
Ihr zweiter glühender Verehrer war ein Kollege von mir, ein verwachsener, häßlicher Mensch, an dem nur die Augen und die Stimme schön waren. Er haßte mich. Gerade körperlich Verunstaltete sind eines Hasses fähig, den wir anderen kaum begreifen. Er steckte mir heimlich ein Stück Kupfer in den Mantel. Er muß es gewesen sein. Es wurde bei der Durchsuchung gefunden; ich wurde als Wiederholungstäter entlassen, und Vater – jagte mich zum Hause hinaus. Er glaubte nicht an den Racheakt. Er, der im Parteivorstand saß, wollte nichts gemein haben mit einem Dieb.
Nun ich fand neue Arbeit in einer optischen Anstalt. Das Mädel narrte mich weiter. Ich fühlte mich unglücklich in meiner Dachkammer. Ich vermißte mein Elternhaus.
Dann – wurde ich verhaftet. In meiner Stube fand man sechs Prismengläser. Ich sollte sie gestohlen haben, kam vor das Schöffengericht, wurde verurteilt. Ein Monat Haft.
Im Gefängnis wurde ich in einem großen Arbeitsraum beschäftigt. Mein Nachbar war ein Kellner. Wir schlossen Freundschaft. Als wir frei waren, nahm er mich mit nach der Schweiz, nach Luzern, stattete mich mit Sachen aus, lehrte mich das Notwendigste seines Berufs, brachte mir ein paar fremdsprachliche Brocken bei, aber auch seine Ansichten über Mein und Dein, die in dem Satz gipfelten: Diebstahl ist lediglich ein Ausgleich der so ungerecht verteilten Lebensgüter.
Er war eine besondere Art von Mensch, dieser höfliche, liebenswürdige und vielseitige Kellner, der nur ein Streben hatte, sich selbständig zu machen. Ein Jahr arbeiteten wir in Luzern zusammen, blieben ehrlich, und ich eignete mir in dem Riesenhotel nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch die Umgangsformen der guten Gesellschaft an. Dann bestahlen wir einen amerikanischen Multimillionär sehr geschickt um eine Viertelmillion Mark. Auf uns fiel keinen Verdacht. Wir blieben noch zwei Monate in Luzern, trennten uns dann, und – mein Freund ist heute einer der angesehensten Hotelbesitzer in Basel.
Den Raub hatten wir geteilt. Meinen Anteil verschlang die Spielbank in Monte Carlo. Seitdem bin ich Hochstapler, Hoteldieb, internationaler Gauner. Bisher hat man mich nicht gefaßt. Und – man wird mich auch nie fangen. Ich werde dieses Leben aufgeben, daß ich nun genau zehn Jahre lang mit all seinen prickelnden Aufregungen kennengelernt habe. Ich besitze so viel, um – mich irgendwo als solider Bürger niederzulassen. Die Perlenkette ist meine letzte Beute gewesen.“
Er brannte die Zigarette wieder an. „Kleines blondes Mädel,“ fuhr er heiter fort, „empfinden Sie nun nicht Abscheu vor mir? – Ach – Sie schütteln so energisch den Kopf. – Hm – noch eins! Nicht, um mich zu verteidigen. Ich nahm stets nur denen, die übergenug hatten, wie zum Beispiel die Frau Geheimrat aus Frankfurt a.M., deren Mann Vorstand von sechs Aufsichtsräten großer Gesellschaften ist und für eine Arbeit, die mit 20000 jährlich schon überbezahlt wäre, etwa 400000 erhält. Nie – nie vergriff ich mich an dem Gut derer, die nur gerade das Auskommen haben. Ich kann daher beim besten Willen auch keine Gewissensbisse empfinden. – So, Kind, – das wäre so meine Lebensgeschichte. – Nun – müssen Sie erzählen. – Aber – nichts verschweigen, Kleines. Schonen Sie sich nicht. Ich will wissen, ob –“ Er führte den Satz nicht zu Ende.
Und Erna erzählte, – erzählte und weinte viel. Noch nie war ihr das Klägliche ihres Daseins so deutlich zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wie diesem Mann gegenüber, der doch eigentlich – um nichts besser war als sie selbst.
Er hatte seinen Sessel mehr vom Tisch abgeschoben in den Schatten hinein. Sein Gesicht konnte sie dort dem Ausdruck nach nicht erkennen. Es leuchtete nur wie ein heller Fleck auf dem dunklen Blumenmuster der Tapete.
Als sie schwieg, als sie als letztes den verflossenen Abend in Gesellschaft der drei Großagrarier geschildert und auch das Wiedersehen mit ihrem Bruder erwähnt hatte, sagte er nach kurzer Pause:
„Erna, ich kenne droben an der pommerschen Grenze ein gemütliches Pfarrhaus. Ein älteres, kinderloses Ehepaar wohnt dort etwas abseits eines landschaftlich schön gelegenen Dorfes. Im letzten Sommer brachte ich dort zu meiner Erholung ein paar Wochen zu. Es war so eine Laune von mir. Die Leutchen ahnten nicht, was ich sonst trieb, hielten mich für einen Schriftsteller, gewannen mich lieb wie ihren eigenen Sohn. – Erna, wollen Sie dort für ein Jahr hin, um bei der Frau Pastor die Wirtschaft zu erlernen? Wenn ich das Ehepaar bitte, Ihnen Unterkunft zu gewähren, nehmen sie Sie sicher auf. – Kind – das ist der einzige Rettungsring, den ich weiß –“
Und Erna? – Erna konnte nicht anders, sie sprang auf, sank neben seinem Sessel in die Knie und umschlang diesen seltsamen Mann, der so plötzlich in ihr Leben getreten war, weinte an seiner Brust, schluchzte ein ehrliches, halb jubelndes „Ja – ich will!“, spürte seine Hand leise ihr Haar streicheln, beruhigte sich langsam wieder, ließ sich in ihren Sessel zurückführen und nachher, als sie noch vielerlei Einzelheiten vereinbart hatten, als Gutenachtgruß die Hand küssen.
Dann lag sie in ihrem weichen, warmen Bett und dachte nur immer an ihn, sehnte sich nach ihm, fühlte wieder die Sinne sich regen, das heiße Blut durch ihre Adern pulsen, das Prickeln in allen Nerven. – Am liebsten wäre sie zu ihm geeilt, so, wie sie war. Sie sehnte sich namenlos nach ihm – nach dem Mann, der ihr Retter werden wollte und der noch nicht einmal ihre Lippen berührt hatte.
Doch sie wagte es nicht, sich ihm aufzudrängen. Sie merkte, daß sein ganzes Benehmen ihr gegenüber die Vorbereitung für das neue Dasein war.
Endlich schlief sie ein. Das letzte, was sie dachte, war eine Frage, die ihr Herz mit linder Wärme erfüllte ‚Liebt er dich, tut er all das aus Liebe zu dir?’ –
Sie hatte den Wecker auf acht gestellt. Um halb neun kam stets die Aufwartefrau. Die wollte sie heute schnell wieder fortschicken. –
Der Wecker rasselte. Eilig kleidete sie sich notdürftig an. Im Flur hingen noch sein Hut, der kurze Paletot und der Stock mit der goldenen Krücke. Sie trug die Sachen in ihr Schlafzimmer. Wie sie so den leichten Mantel überm Arm hatte, fühlte sie darin etwas Hartes, Schweres. Sie faßte in die tiefe Innentasche. Es war eine kleine, moderne Repetierpistole.
Da – ein Erinnerungsblitz. – Was hatte er doch in der Nacht zu ihr gesagt? Richtig: ‚Man wird mich auch nie fangen.’ – Ihr schien’s nun, als läge in diesen Worten eine Hindeutung auf freiwilligen Tod, bevor man ihn vielleicht ins Gefängnis schickte.
Sie nahm die Pistole und ließ sie in die weite Tasche ihres Morgenkleides gleiten. Nein – er durfte nicht sterben – niemals! Sie liebte ihn – liebte ihn über alles! Ihr sollte er gehören, dieser wunderbare Mann, ihr ganz allein, wenn – das Jahr der Prüfung vorüber. –
Sie hängte seine Sachen in ihren Schrank. Dann kam auch schon die Aufwärterin. – Erna erfand ihr gegenüber eine Ausrede, ließ nur den Salon, Schlafzimmer und Flur flüchtig säubern und ging der Frau dabei nicht von der Seite.
Als diese dann wieder die Wohnung verlassen hatte – sie war Besorgerin in einem Privathaus in derselben Straße – klopfte sie bei Otto Hulk an.
Er rief ihr leise „Guten Morgen“ zu. „Ich bin noch bei der Toilette; aber in fünf Minuten frühstückbereit.“
Dann saßen sie wieder am Teetisch. So gemütlich war’s. Erna fühlte geradezu, daß hier jetzt eine reinere Luft wehte, der Hauch einer Wohlanständigkeit, der sie belebte und erquickte.
Gegen halb elf läutete es. Otto Hulk verschwand im Gastzimmer, und Erna ging und schaute durch das Guckloch.
Ganz schwach wurde ihr – ihr Bruder stand draußen. –
Kam er etwa als Beamter? Oder kam er nur als Mensch, der Sehnsucht verspürte nach seiner Schwester?
Sie öffnete, ließ aber die Kette vorgelegt. Sie hatte sich schon zu–recht gelegt, wie sie ihn loswerden wollte.
„Sie wünschen?“ fragte sie kalt.
Er brachte den Mund dicht an den Türspalte, flüsterte:
„Erna – ich bin’s – Fritz. Du hast mich ja auch erkannt. – Erna – ein Zufall hat mir gestern gezeigt, wie – tief du gesunken bist. Erna, laß mich ein. Ich muß mit dir sprechen –“
Sie lachte höhnisch auf. Das Lachen gelang, auch der Ton der folgenden Sätze – frech, ironisch, abgebrüht.
„Geh’ deiner Wege! Ich will mit euch nichts mehr zu tun haben. Ich lebe mein eigenes Leben und fühle mich glücklich dabei. Moralpauken brauche ich nicht. Davon wird man nicht satt – von solchen Herrenbesuchen wie du –“
Sie schlug die Türe zu. Sie hörte ihn langsam die Treppe hinabsteigen. Und sie stand da und hätte am liebsten die Tür wieder aufgerissen, gerufen: ‚Fritz – Fritz!’
Bevor sie sich noch leidlich gefaßt hatte, abermals die Klingel.
Erna fuhr zusammen. Aber es war ihrer Freundinnen bekanntes Signal: Lang lang, kurz kurz, lang lang.
Die blonde Hella war’s. Lebhaft, angeregt wie immer begrüßte sie Erna, die doch noch ein wenig zerstreut war. –
Sie setzten sich in den Salon, plauderten. Hella erzählte von ihrem gestrigen Verehrer.
„Denk’ dir – er ist Witwer mit vier Kindern,“ meinte sie. „Nein – wie uns doch die Männer zuerst immer beschwinden! Er tat so – unverheiratet. Nachher bei mir wurde er offener. Und – das allerbeste! – Er will mich – als Erzieherin für seinen Rangen mit nach Wustow nehmen. So heißt sein Gut. – Ach – er war so verliebt und so erstaunt, daß mein Heim so elegant und behaglich. Er gestand, noch nie mit einer feineren Halbweltdame zu tun gehabt zu haben. – Allen Ernstes machte er mir den Vorschlag, nach Wustow zu kommen, als ich ihm erzählte, woher ich stamme, und ihm auch meine Papiere zeigte. Er ist ein so guter, lieber Bär. Seine Frau war vom Lande. Und – die, die Augen hättest du sehen sollen, als er mein Schlafzimmer betrat. Du kennst es ja. Diese echt orientalische Aufmachungen, diese unter Teppichen verschwindenden Wände, dieser Gesamteindruck eines phantastischen Haremsgemaches verwirrten ihn. – Ach – ein so lieber Bär! Du, Erna, ich glaube, wenn ich nach Wustow ginge und schlau wäre, – ich könnte Frau Degenhardt werden. So heißt er – Friedrich Degenhardt. – Ich – ich bin auch schon so halb und halb entschlossen, es zu tun. Er will sich heute nachmittag Bescheid holen. Gib du mir einen Rat. Ich – möchte ja heraus aus diesem Sumpf –“
„Geh’ hin!“ sagte Erna ernst. „Denn – auch ich verlasse Berlin. – Ich werde irgendwo Stütze werden – auf einem Dorf, – irgendwo. Auch ich will hier – Schluß machen.“
Hella, die temperamentvolle, umarmte Erna, küßte sie.
„Du – wenn es uns glückte! Wenn wir wieder so werden könnten wie einst, wir – halben Jungfrauen, wenn – ach – das wäre ja so schön, gar nicht zum Ausdenken –“
Abermals läutete es.
Erna schrie leise auf. „Himmel – heut’ vormittag hat ja der – ‚Oberstkämmerer’ seinen festen Tag.“
Hella lachte. „Ach – die steifbeinige Exzellenz, Graf und so –, der dir nur immer das Haar kämmt.“
„Du, Hella, – öffnet du. Sag’ ihm, ich sei krank.“
Hella tat’s. Und der alte Herr zog schwer enttäuscht von dannen, nicht ohne ‚herzliche Grüße’ und einen Blauen für stärkenden Wein da zu lassen. –
„Erna – du bist heute so schrecklich nervös,“ meinte die Blonde nach einer Weile. „Was hast du nur?“
Und Erna schob – den Bruder Fritz als Grund vor, erzählte, daß sie ihn in so häßlicher Weise fortgeschickt hätte.
Hellas Gesicht umwölkte sich. Seufzend sagte sie leise:
„Ja – ja – die Familie! Wenn man darüber hinwegkäme!“
Sie verabschiedete sich bald. Im Flur küßten sie sich nochmals. Und Hella meinte: „Ob wir’s werden durchführen können, dieses Leben in Ehrbarkeit? Wird nicht das Sehen nach all den rauschenden Vergnügungen hier in uns erwachen? – Ich – habe solche Angst davor, Erna –“
*
Kriminalwachtmeister Heller betrat um dieselbe Zeit das Dienstzimmer des Kommissars Liebert.
„Ich glaube, Herr Kommissar, Sie haben richtig beobachtet gestern abend,“ begann er.
Liebert schaute ihn fragend an. Er besann sich nicht sofort. Dann meinte er:
„Ach – was die Erna Heid anbetrifft. Ja – ihre Antworten über jenen Inglingen kamen zu überhastet heraus. Es machte den Eindruck, daß sie sich schon vorher überlegt hatte, was sie sagen wollte. – Nun – sie scheinen Neues herausgebracht zu haben, Heller?“
„So ist’s. – Ich habe mir vor einer halben Stunde die Aufwärterin der Heid so ‘n bißchen vorgenommenen. Die Frau war recht gesprächig, erzählte, die Heid sei heute so anders als sonst gewesen, sei ihr nicht ‚von der Pelle gegangen –’ und fix hätte sie alles machen müssen – im Galopp rein! – Und ins ‚Bureau’ wäre sie nicht hineingelassen worden. Die Heid hätte gemeint, sie würde selbst Staub dort wischen –“
„Ah – sehr wichtig! – Sie vermuten, daß –“
„Ja – daß die Heid den Kerl bei sich verbirgt –“
Liebert überlegte.
„Ich habe jetzt keine Zeit. Muß um zwölf zum Vortrag beim Chef,“ sagte er grübelnd. „Nun – der junge Kollege könnte die Sache erledigen. Sehen Sie doch mal nach, Heller, ob Kommissar Heid in seinem Zimmer ist.“
Fritz Heid war soeben zurückgekehrt, saß am Schreibtisch, dachte an Erna.
Verloren! Ganz verloren war sie. Ach – wie gern hätte er ihr geholfen, den Rückweg zu finden ins Elternhaus – in andere Verhältnisse. –
Es klopfte. Heller war’s.
„Herr Liebert läßt bitten, Sie möchten doch mit mir zusammen den Mannheimer Perlendieb verhaften, der sich höchstwahrscheinlich bei einer unserer elegantesten Demimondainen1 auffällt. Sie heißt zufällig genau wie Sie, Herr Kommissar, – auch Heid –“
Fritz Heid drehte schnell den Kopf zur Seite.
„Gut – wann wollen wir aufbrechen, Heller?“ fragte er gepreßt.
„Sofort. – Solche Burschen wie dieser ‚Baron’ sind harmlos. Eleganter Hochstapler setzen sich nie zur Wehr. Wir werden kaum auf Schwierigkeiten stoßen.“
*
Erna hatte mit Otto Hulk eine Weile sich unterhalten, hatte ihm einen Walzer vorgespielt – sie spielte tadellos nur nach dem Gehör – und dann erklärt, sie würde jetzt ihr gewohntes Bad nehmen. Er sollte sich hier im Salon nur die Zeit vertreiben, Bücher seien ja genug dort im Schrank.
Ihre Wohnung hatte Warmwasserversorgung. Sie ließ im Badezimmer die Wanne vollaufen, begann sich zu entkleiden.
Sie trug noch das spitzenbesetzte, duftige, halsfreie Morgenkleid mit der halben Schleppe, dazu rote Saffianschuhchen mit Silberstickerei.
Stück für Stück legte sie auf den Stuhl neben die Wanne. Hülle um Hülle fiel. Ein bis zum Boden hinabreichender Spiegel in der einen Ecke zeigte Erna das Bild eines tadellos gewachsenen Frauenkörpers.
Sinnend schaute sie ihr Bild an. Und ihre Gedanken glitten zurück zum gestrigen Nachmittag, – als Hella von – halben Jungfrauen gesprochen hatte.
Und dann dachte sie an Otto Hulk.
Ach – wenn er sie doch lieben würde, wie sie ihn bereits jetzt! Sie fühlte ja, dies mußte die wahre, echte Liebe sein.
An seinem Herzen sich auszuweinen, an seiner Brust durch Tränen ehrlicher Reue alles Häßliche von ihrer Seele hinwegspülen, oh, – wenn’s doch erst so weit wäre! –
Sie nahm die Flasche mit dem Badesalz, schüttelte die Kristalle in das leicht dampfende Wasser.
Feiner Duft stieg auf. Nach Kiefernnadeln und einem zarten Wohlgeruch.
Dann saß Erna in der Wanne und frottierte mit der weichen Bürste ihre Haut. Keine Stelle ließ sie aus. Nun stand sie auf, stellte die Dusche ein. Der kühle Sprühregen erfrischte sie. Langsam kletterte sie aus der Wanne, setzte sich auf das Bänkchen, nahm den großen Zerstäuber und schickte den feinen Tropfenregen über ihren Körper hin.
Da – es läutete.
Läutete sofort nochmals.
Vielleicht ist’s Margot, dachte sie, schlüpfte, nachdem sie sich hastig abgetrocknet hatte, nur in das Morgenkleid und die roten Saffianschuhchen und eilte zur Tür.
Draußen stand ein Herr, den sie nicht kannte.
Sie öffnete ahnungslos; die Kette versperrte die Tür ja noch.
„Sie wünschen?“
„Dürfte ich ein paar Minuten stören, Fräulein?
„Wer sind Sie?“
„Ein Kontrolleur des Elektrizitätswerks. Ich möchte die letzten Monatsrechnungen nachprüfen und am Zähler ablesen, ob unsere letzten Zahlen stimmen.“
Erna mußte diesen dicken, stämmigen Herrn schon gesehen haben. Endlich – und zu ihrem Entsetzen – fiel ihr eine nächtliche Szene in der ‚Atlantic-Diele’ ein, die Verhaftung eines Taschendiebes.
Und dieser angebliche Kontrolleur da draußen, – der hatte jenen Dieb damals festgenommen.
Erna war leichenblaß geworden.
Nur jetzt nicht die Fassung verlieren! Nur jetzt schlau sein.
„Bitte, kommen Sie doch fünf Minuten später –“ Sie drückte das Gesicht dicht in den Türspalte, lächelte den Wachtmeister Heller schelmisch an. „Ich saß gerade in der Badewanne, als Sie läuteten, haben nichts an als dieses leichte Kleid, – nicht einmal abgetrocknet habe ich mich –“
Und mit einem girrenden Auflachen ließ sie vorn das Kleid auseinanderfallen.
Heller sah – sah so viel, daß ihm ganz schwül wurde. Aber – nur einen Moment.
Hinter ihm stand ja auch Kommissar Heid. Und außerdem, im Dienst war Heller nur ein geschlechtsloses Wesen. Da verführte ihn keine zu Dummheiten – keine, selbst diese nicht, – obwohl – verflucht noch mal – das war ein Prachtweib.
Heller grinste. „Fräulein – ich habe wenig Zeit. Öffnen Sie nur ruhig. Sie können sich getrost abtrocknen gehen. Ich stehle nicht –“
„Bedauere. Sie sind noch nie bei mir gewesen. Warten Sie. Ich bin in kurzem angezogen –“
Heller hatte schon den Fuß in den Türspalt gestellt.
„Sie bleiben hier – keinen Schritt! Ich bin Kriminalbeamter.“ Er zeigte ihr seine Marke.
In demselben Augenblick trat Fritz Heid vor, faßte an den Hut, sagte:
„Kommissar Heid. – Gehorchen Sie sofort – verstanden! Ich warne Sie! Machen Sie keine törichten Geschichten –“
Erna sah, daß alles verloren war.
Nein – nein, – vielleicht ist er doch noch zu retten, zuckte es ihr durch den Kopf.
Retten – ihn retten, an nichts anderes dachte sie.
Als sie aus dem Badezimmer über den Flur gehuscht war, hatte die Pistole so hart gegen ihren Schenkel geschlagen.
Die Pistole! Oh – sie verstand damit umzugehen. In Nizza hatte sie ja mal mit einem Freund den Taubenschießstand besucht, und da hatte sie Gefallen an Schußwaffen gefunden.
Blitzschnell flogen ihre Gedanken. – Wenn Sie die Flurtür zuschlagen konnte, dann – dann mußten die beiden zwei Türen sprengen, ehe sie in dem Zimmern waren. Bis dahin konnte Otto Hulk am Blitzableiter, der am Küchenfenster entlangführte, auf das Dach klettern.
Sie griff in die Tasche, rief Heller zu:
„Ziehen Sie den Fuß zurück, – oder –“
Er sah die Waffe in ihrer Hand, sah die Fingerbewegung, wie sie die Sicherung zurückschob.
„Ah – so ist’s gemeint,“ sagte er kaltblütig. „Stecken Sie die Knallbüchse wieder weg. Mir imponiert so was nicht –“
Fritz Heid hatte gleichfalls die kleine Pistole in ihrer Hand bemerkt, drängte nun Heller etwas beiseite, stemmte sich gegen den einen Spalt offenen Türflügel, rief dabei:
„Weg mit dem Ding! Seien Sie doch vernünftig.“
Das Holz der Tür knackte.
Erna zitterte – drückte blindlings ab.
Der Knall des Schusses mischte sich fast in Fritz Heids schwachen Aufschrei:
„Ich bin – getroffen –“
Er sank Heller in die Arme, der ihn sacht zu Boden gleiten ließ.
Des jungen Kommissars linke Faust fuhr nach dem durchschossenen Herzen; seine Augen umflorten sich. Schale Blässe überflog, von beiden Seiten der Nase ausgehend, das Gesicht.
Im Hause wurde es lebendig. Der Knall des Schusses scheuchte die Bewohner auf die Treppen. –
Erna hatte die Tür zugeschlagen, den Schlüssel umgedreht. Jetzt flog sie in den Salon. In der Tür prallte sie mit Otto Hulk zusammen.
Sie achtete nicht darauf, daß ihr Kleid weit offen stand.
Sie warf sich ihm an die Brust, preßte ihn an sich, küßte ihn.
„Flieh – flieh – Küchenfenster – Blitzableiter. Ich habe dir den Weg frei gemacht –“
„Du – hättest –“
„Ja – zwei waren’s. Einer sank zu Boden –“
Da nahm er sie in die Arme, trug sie in das einfenstrige Zimmer, legte sie auf den Diwan, hastete zurück, verschloß die Salontür, auch die Tür des Bureaus.
Erna lag da wie betäubt.
Als er nun aber vor ihr kniete, sie küßte, da kam sie zu sich. Und mit namenlosen Glücksempfinden hörte sie ihn flüstern:
„Du – es war Liebe auf den ersten Blick, du – kleines Mädel. Und – heiraten wollte ich dich, sobald das Jahr um. Nun – ist alles anders gekommen –“
Wieder küßte er sie. Und sie zog ihn zu sich empor.
Ihre Sinne lohten. Und Erna Heid lernte jetzt den Rausch einer großen Liebe kennen. –
Die Flurtür wich der Kraft der drei Beamten. Heller hatte schnell Beistand erhalten.
Holz splitterte. Man suchte.
„Nur dort können sie sein,“ raunte Heller und deutete auf das dritte Zimmer. –
Erna flehte:
„Nein – laß mich mit dir sterben. Töte mich zuerst. – Ich schließe die Augen ganz fest. Laß mich nicht allein zurück –“
Er küßte sie. Er hörte die Schritte nebenan näherkommen.
Er küßte sie wieder.
„Leb wohl, Kind. Wir sterben, wie hier gelegt haben – nicht wie die Ehrbaren, Anständigen. Drück’ die Augen zu.“
Sie tat’s; sie wartete auf den Tod.
Da – dicht neben ihr ein Knall. Sie fuhr zurück. Aber – sie lebte noch, riß die Augen auf.
Aus Otto Hulks Stirnwunde quollen ein paar Tropfen hervor. Er regte sich nicht mehr.
Erna schrie auf. Ihre Hand tastete nach der Waffe, die auf den Fußboden gefallen war. Jetzt umklammerten ihre Finger das kühle Metall.
Da – ein Krach – und die Tür sprang weit auf. Heller trat schnell ein.
Einen Satz tat er vorwärts – wie ein Tiger.
Zu spät.
Der dritte Schuß aus der Waffe zog einen roten Strich unter ein verpfuschtes Frauenleben. –
*
Zwei Monate später.
In der ‚Diana-Diele’ war großer Betrieb. Der Bund der Landwirte tagte in Berlin.
Dann bekamen die ‚kleinen Mädchen’ viel zu tun.
Die Kapelle spielte den neuesten Walzer. –
Plötzlich kreischte eine der Tänzerinnen auf, ließ ihren Galan stehen, rannte auf ein elegantes blondes Weib zu, das soeben das Lokal betreten hatte.
„Hella – die blonde Hella is wieder da!“
Allgemeiner Tumult. –
Der Oberkellner brüllte:
„Einen Tusch für Hella!“
Man umdrängte sie. Ihre alten Freunde drückten ihr die Hände.
„Du – famos siehst du aus! Ordentlich sonngebräunt!“ meinte der Isi Gockelheimer.
Hella lächelte.
„Kunststück – gebräunt! –
Kinder – ich hab’ ja acht Wochen mich auf dem Lande gestumpfsinnt, bis ‚er’ nicht gestern rausschmiß, weil ich mit seinem schneidigen, jungen Inspektor sehr stark angebandelt hatte. –
Sekt her, Kinder, Sekt.
Denn nur der Sekt al…lein
soll der Liebe Ansporn sein,
nur der Sekt macht – heiß.
Wer ihn zu schätzen – weiß –
Man sang mit. Man feierte die Zurückgekehrte, eine, die dem Sumpf bequemen Wohllebens nicht mehr entrinnen konnte. –
*
Frau Margot einst die dunkle Margot, wiegte ihren Erstgeborenen in den Armen.
„Vorsicht!“ warnte ihr Mann, der Elektrotechniker Fritz Schmidt, jetziger Inhaber eines gutgehenden Installationsgeschäftes. „Vorsicht, Frauchen. Man soll Kinder nicht so schnell schaukeln –“
„Kinder? – Wir haben doch erst eins, – nein, doch zwei, – aber nur ein so winziges Püppchen –“
Sie faßte sich mit der Rechten auf den Leib und streichelte dessen kleine Wölbung.
„Vielleicht werden’s mit der Zeit noch mehr,“ lachte er und küßte sie.
Dann setzten sie sich an den Mittagstisch in das behagliche Speisezimmer. Das Mädchen trug die Suppe auf.
Und Frau Margot sprach leise das Tischgebet:
Arbeit und Glück
spend’ das Geschick
uns immerdar,
Jahr für Jahr. –
Von dreien war die dunkle Margot die einzige, deren stilles Sehnen sich erfüllt hatte.
Ende!
Fußnote:
1 Halbweltdamen