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Der Abschiedstrunk

Der Abschiedstrunk.

Skizze von Walther Kabel.

(Nachdruck verboten.)

Es war wieder alles umsonst. So energielos Karlchen Geeding sonst auch war — in dieser Sache bezeigte er eine so hartnäckige Starrköpfigkeit, daß alle Überredungskünste, alle wohlgemeinten Vorstellungen und selbst die in düstersten Farben gemalten Zukunftsbilder nichts halfen. Schließlich gab ich das Spiel verloren.

„Gut, so renne denn offenen Auges in dein Unglück! Wir haben alles getan, um dich von diesem törichten Schritt zurückzuhalten. Uns trifft kein Vorwurf, wenn du dir dein ganzes Leben auf diese Weise verpfuschst. Jedenfalls erwarten wir demnächst die Einreichung deines Austrittsgesuchs.“

Er saß noch immer in sich zusammengesunken in der Sofaecke und starrte wie abwesend vor sich hin. Ich hatte bereits die Türklinke in der Hand, als er — zum soundsovielten Male! — leise vor sich hinsprach: „Ich liebe sie. Für solche Liebe hat eben keiner von euch das nötige Verständnis, keiner!“

Das war seine ständige Verteidigung — diese heiße Leidenschaft, die doch bei ihm, der bisher nur für die Wissenschaft gelebt hatte, nichts als ein ungesunder Augenblicksrausch sein konnte, zumal es sich dabei um eine Klara Seister handelte.

Vor der Haustür traf ich seine Wirtin, eine herzensgute, alte Dame, bei der er seit Jahren wohnte, und die an seinem Wohlergehen stets innigen Anteil nahm.

„Guten Morgen, Herr Harris“, begrüßte sie mich und blieb stehen.

„Morgen, Frau Winter. Haben Sie etwas auf dem Herzen?“

Sie schaute sich erst vorsichtig um.

„Ach, Herr Harris, was soll das bloß werden mit dem Herrn Kandidaten und dieser heuchlerischen Person? Mir geht die Sache fortwährend im Kopf herum. Und — denken Sie — heut morgen erzählt mir doch die Bäckersfrau von nebenan, daß sie schon zwei Wochen im Rathaus im Kasten hängen.“

„Wen meinen Sie denn, Frau Winter?“ fragte ich, böser Ahnung voll.

„Nun, die Klara Seister und den Herrn Kandidat. Ahnt ich's doch, daß Sie noch nichts davon wußten. So'n Elend! Nun hat er auch schon vor seinen Freunden Geheimnisse.“

Ich war wirklich wie vom Donner gerührt. Also so weit war die Unglücksgeschichte bereits gediehen! Und in aller Heimlichkeit — natürlich, weil's das Klärchen aus begreiflichen Gründen so haben wollte. Die fürchtete unsere Einmischung nur zu sehr.

„Ob das mit dem standesamtlichen Aufgebot denn auch stimmt?“ fragte ich nochmals.

„Ich komme ja eben vom Rathaus und hab's mit eigenen Augen gelesen, Herr Harris“, bestätigte sie eifrig.

„Ich danke Ihnen für diese Nachricht, liebe Frau Winter. Auf Wiedersehn! Ich hab's eilig. Und sagen Sie Karl nichts davon, daß wir uns gesprochen haben. Er soll in dem Glauben erhalten bleiben, daß wir von seinem bereits erfolgten Aufgebot nichts wissen.“

Ich stand damals ebenso wie Karl Geeding kurz vor dem Staatsexamen. Und heute vormittag hatte ich ihn im Auftrage des Konvents unserer Verbindung aufgesucht, um ihn, als sein bester Freund, nochmals ernstlich vor einer Fortsetzung seiner Beziehungen zu jenem Mädchen zu warnen, das in wenigen Wochen verstanden hatte, unseren Couleurbruder zu einem willenlosen Werkzeug egoistischer Zukunftspläne zu machen.

Klara Seister war die Tochter eines Schankwirts, der in der Vorstadt eine kleine, übel beleumundete Kneipe besaß. Durch einen Zufall war unser sonst so solider, leider aber ebenso weltunerfahrener Karl eines Tages allein in jenes Lokal geraten, in dem das kokette Klärchen mit ihrer frechen Stupsnase und den blitzenden Augen die Gäste bediente. Das Mädchen sehen und sich in sie bis über beide Ohren verlieben, fiel bei ihm wie Blitz und Donner zusammen. Bald war er ständiger Gast im „Schwarzen Adler“. Er vernachlässigte seine Bekannten, seine Arbeit, lebte nur noch für sein Klärchen und ging wie ein Träumender umher. Natürlich merkten wir alle sehr bald, daß in der Seele unseres Freundes, der bei uns gerade wegen seines offenen Charakters beliebt war, sich irgendein Wandel vollzogen haben mußte. Aber was eigentlich dahinter steckte, bekamen wir erst nach Wochen heraus.

Eines Nachmittags war er zu mir gekommen.

„Heinz, du stehst mir nebst meinen Eltern am nächsten“, begann er sehr feierlich. „Du sollst daher auch als erster gratulieren dürfen. Ich habe mich heimlich verlobt.“

Ich fiel förmlich aus den Wolken. Unser Karlchen, der jeder jungen Dame gegenüber von einer geradezu lächerlichen Schüchternheit war, Bräutigam? Unglaublich! Trotzdem freute ich mich über diese Nachricht von ganzem Herzen und drückte ihm warm die Hand.

„Und wer ist deine Herzenserkorene? Doch sicher eine gemeinsame Bekannte von uns?“ sagte ich dann wirklich gespannt.

Da schoß ihm die helle Röte in sein bleiches Gelehrtengesicht.

„Nein, lieber Heinz“, meinte er stockend. „Es ist kein Mädchen aus unseren Kreisen — es ist Klara Seister, die Tochter einfacher, aber braver Leute, die das Restaurant zum „Schwarzen Adler“ in der Vorstadt besitzen.“

Und nun kam eine begeisterte Lobrede auf sein Klärchen, dieses harmlose, unverdorbene Kind, das den Eltern so rührig im Geschäft an die Hand ging und ihn so unendlich liebte.

Erst war ich völlig sprachlos. Ueber den „Schwarzen Adler“ wußte ich recht gut Bescheid. Couleurbrüder, die fremd in die Stadt kamen, hatten in Unkenntnis der Dinge in den ersten Tagen ihres Aufenthalts Gelegenheit gehabt, den Schelmenliedern Klärchen Seisters zuzuhören, die das „unverdorbene Kind“ bereits damals so fein pointiert vorzutragen wußte. Und in Erinnerung daran begann ich Karlchen, als er endlich mit der Aufzählung von Klärchens Tugenden fertig war, vorsichtig, ohne ihm von meiner Bekanntschaft mit seiner Erwählten etwas zu sagen, nach den Einzelheiten dieser Verlobungsgeschichte auszufragen. Und da stellte ich sehr bald fest, daß man unseren arglosen Freund mit allerlei List einfach „geschlängt“ hatte, ein Kunststück, das eben nur bei einem so blinden und so vertrauensseligen Menschen, wie Karl es war, gelingen konnte.

An jenem Nachmittag, als Karlchen mir das große Geheimnis anvertraut hatte, bekam unsere Freundschaft den ersten Riß. Denn meine Versuche, ihm über die Familie Seister die Augen zu öffnen, verbat er sich schließlich mit erregten Worten. Er duldete es nicht, daß über seine Braut und deren Eltern in dieser Weise hergezogen würde.

In diesem Stadium unserer Unterredung hielt ich es für angebracht, meine letzten Reserven vorzuführen.

„Und was werden deine Eltern dazu sagen — dein Vater, ein höherer Beamter, und deine Mutter, eine geboren von Salten?!“ warf ich ironisch auflachend ein.

„Ich besitze einiges Vermögen von meinen Großeltern her, bin außerdem mündig“, erwiderte er. „Ueber sein Lebensglück entscheidet jeder am besten selbst. Ich werde die Meinen später einfach der vollzogenen Tatsache meiner Vermählung gegenüberstellen.“

Der Abschied zwischen uns war damals recht kühl. Karlchen hatte mir die Angriffe auf die „anständige“ Familie Seister offenbar recht übelgenommen. Trotzdem war ich es gewesen, auf dessen Betreiben in den folgenden acht Tagen sämtliche älteren Mitglieder unserer Frankonia, darunter auch mehrere Alte Herren, nacheinander Karlchen aufsuchen mußten, um ihn mit allen Überredungskünsten zu einer Auflösung dieser unmöglichen Verlobung zu bewegen. Überflüssige Bemühungen. Das „harmlose“ Klärchen hatte bereits einen zu starken Einfluß auf ihn gewonnen.

Dann, als es bereits in unserer Universitätsstadt hie und da über unseres Couleurbruders Beziehungen zu dem Mädchen Bemerkungen gefallen waren — er war bereits einige Male mit der auffällig herausgeputzten Person Arm in Arm auf der Promenade gesehen worden — hatte unser Erstchargierter die Angelegenheit auf die Tagesordnung des nächsten Konvents gesetzt, wo sogar der Antrag gestellt worden war, Karl Geedings in Berlin wohnenden Eltern den Sachverhalt im Interesse ihres Sohnes offiziell mitzuteilen. Dieser Vorschlag hatte jedoch als eine über unsere Befugnisse hinausgehende Maßregel nicht die nötige Unterstützung gefunden. Dafür war aber der Beschluß gefaßt, daß ich zum zweiten Male als Karlchens Intimus ihm nahelegen sollte, entweder Klärchen Seister endgültig aufzugeben oder im Weigerungsfalle sein Austrittsgesuch einzureichen, da durch eine fernere Mitgliedschaft das Ansehen der Frankonia allzu sehr leiden würde.

Diesem Auftrag war ich, leider mit so geringem Erfolg, damals gerecht geworden, als ich auf dem Rückwege Frau Winter begegnete und von ihr erfuhr, daß Karl Geeding in aller Stille bereits sein Aufgebot besorgt hatte.

Noch an demselben Vormittag suchte ich einige ältere Verbindungsbrüder auf und teilte ihnen mit, in welch gefährliches Stadium die unselige Geschichte bereits gelangt war. Alle waren mit mir einig, daß man zu Karls Bestem nunmehr jede Rücksicht fallen lassen und durch irgend einen Gewaltstreich der Sache ein Ende bereiten müsse. Daraufhin schrieb ich ihm sofort einen Brief, daß wir Frankonen noch einmal auf unserer gemütlichen Kneipe mit ihm zusammen sein wollten, bevor er durch die Umstände gezwungen würde, das schwarz-blau-weiße Band für immer niederzulegen. Eine Absage würden wir alle als eine persönliche Beleidigung hinnehmen.

Der Brief war in so herzlichen Worten abgefaßt, daß weder Karlchen noch die sicher sehr mißtrauischen Seisters irgendeinen Argwohn schöpfen konnten. Und er kam wirklich.

Etwas verlegen — er hatte sich seit fünf Wochen bei uns nicht sehen lassen — betrat er das langgestreckte, mit Schlägern, Wappentafeln, bunten Mützen, Bändern und zahllosen Photographien geschmückte Kneipzimmer. Die Frankonia war vollzählig versammelt. Aktive, Inaktive und auch einige Alte Herren. Er setzte sich neben mich, und nach den ersten Liedern und den ersten Schoppen taute er langsam auf. Ein großer Zecher war er nie gewesen, und es wurde ihm daher nicht leicht, all denen Bescheid zu tun, die ihm bald mit einem Halben, bald mit einem Ganzen ihre unveränderte Zuneigung ausdrücken wollten. Und als dann unser grauhaariger, so würdig aussehender Couleurdiener die Bierseidel wegräumte und eine mächtige Bowle mitten auf den Kneiptisch stellte, hatte Karlchen bereits einen ganz regulären Schwips.

Die Bowle war — alles Absicht — eine von denen, der, besonders nach vorausgegangenem Biergenuß, niemand lange standzuhalten vermochte. Karlchen in seiner immer fideler werdenden Stimmung, außerdem noch über das ihm zu Ehren gebraute, lieblich und harmlos duftende Getränk fast zu Tränen gerührt, leerte sein Glas stets mit einem Zug, wenn, was immer häufiger geschah, jemand das Wohl seiner Erwählten ausbrachte.

Gegen drei Uhr morgens war er ganz nach Wunsch so vollständig „erledigt“, daß wir ihn nur mit schwerer Mühe in einen Taxameter schleppen konnten. Auf der Fahrt zum Bahnhof wachte er ebensowenig auf wie bei seiner nicht gerade leichten Verladung in ein leeres Abteil erster Klasse des Berliner D-Zuges, der unsere Universitätsstadt um halb vier Uhr morgens passierte und vier Stunden später in der Reichshauptstadt eintraf.

Mein Couleurbruder Bergens und ich begleiteten unseren armen, ebenso ahnungs- wie willenlosen „glücklichen Bräutigam“. Bequem auf die weichen Polster gebettet, schnarchte er uns ununterbrochen die furchtbarsten Rasseltöne vor, bis wir auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin eintrafen, wo ich, noch bevor Bergens ihn aufweckte, schleunigst verschwand und mit einem Auto nach der Wohnung des Regierungsrats Geeding vorausfuhr, während mein Helfershelfer die Aufgabe hatte, dem seiner Sinne noch recht wenig mächtigen Karlchen klarzumachen, daß für ihn in der Nacht auf unserer Kneipe ein Telegramm eingetroffen sei, welches seine sofortige Abreise nach Hause verlangte.

Als Bergens seinen Schützling bei Geedings ablieferte, hatte ich den Regierungsrat bereits in alles eingeweiht. Unsere Mission war beendet, und Bergens und ich kehrten noch an demselben Vormittag nach X. zurück, ohne daß Karlchen mich noch zu Gesicht bekommen hatte.

Drei Wochen später erhielt ich dann von ihm die erste Nachricht. Er habe erst jetzt, wo er seine törichte Verirrung vollkommen eingesehen habe, von seinem Vater den wahren Sachverhalt erfahren und könne mir gar nicht genug für mein Eingreifen danken. Das harmlose Klärchen sei, als man ihr als Abfindung für das nicht eingehaltene Eheversprechen 5000 Mark geboten habe, merkwürdig schnell auf den Vorschlag eingegangen, woraus er ersah, daß es mit ihrer großen Liebe für ihn nicht weit hergewesen sein könne. Er werde jedoch, um ihr auszuweichen, sein Studium auf einer anderen Universität beenden.

Und doch — wie merkwürdig der Zufall spielt! — Karlchen hat zwei Jahre nachher wieder an ein Klärchen sein Herz verloren. Dieses Mal brauchten wir Frankonen aber kein Komplott zu schmieden. Im Gegenteil — zu seiner Hochzeit erschienen alle seine alten Freunde vollzählig und stimmten jubelnd in die Hochrufe auf das junge Paar ein.