Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 371
Roman von
W. v. Neuhof.
Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.
Bei der großen Menge der angebotenen Bücher ist es für den Leser nicht leicht, eine Auswahl zu treffen. Wenn wir hier empfehlend auf unsere
Vergißmeinnicht-Romane
hinweisen, so glauben wir bestimmt damit den Lesern einen guten Dienst zu erweisen. Vom ersten Bande dieser Sammlung an waren wir bestrebt, nur wirklich gute und einwandfreie Arbeiten zu veröffentlichen. Unseren Lesern wird es nicht entgangen sein, daß viele Arbeiten der Autoren der Vergißmeinnicht-Romane in guten Familienzeitschriften, in den angesehendsten Tageszeitungen und in Buchausgaben erschienen sind, die einen Ladenpreis von 3 bis 5 Mark haben, ein Beweis für die Güte unserer Bücher.
Ein Unternehmen, welches sich wie die Vergißmeinnicht-Romane seit fast zehn Jahren in die weitesten Kreise unseres Volkes eingebürgert hat und welches während der langen und schweren Kriegsjahre so unendlich vielen Männern im Schützengraben und im Lazarett und so vielen Frauen und Mädchen in der Heimat ein gutter Freund in trüben Stunden gewesen ist, kann nur ein gutes sein.
Wir werden auch fernerhin nur gute und unterhaltende Romane veröffentlichen und bitten unsere Leser die Vergißmeinnicht-Romane in Bekanntenkreisen zu empfehlen.
Der Verlag.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Berlin.
Der alte Löbbecke merkte, daß es mit ihm zu Ende ging.
Er saß in seinem Rollstuhl in der Sonne und hielt die Tabakpfeife zwischen den noch immer tadellosen Zähnen. Er rauchte kalt. Seit gestern schmeckte ihm die Pfeife nicht mehr. Und in den gelähmten Beinen hatte er ein Gefühl, als wären ihm Eisblöcke anstelle seiner Gehwerkzeuge angesetzt worden, die ihn doch bis vor einem Jahr, ihn, den Achtzigjährigen, so sicher getragen haben, daß er sogar beim Schützenfest hin und wieder einen Walzer sich leistete. Dann war der Schlaganfall gekommen und die zurückbleibende Lähmung mit allen unangenehmen Nebenerscheinungen. Er war wieder zum Kinde geworden, nein, zum Säugling, brauchte eine Pflegerin und Windeln, ‒ ach, all das war ihm, dem einst so knorrigen Manne, ein Greul. Wenn er’s geduldig trotzdem trug, so lag’s daran, weil er auf ein Leben zurückschauen konnte, daß hart, aber erfolgreich gewesen, und weil’s überhaupt nicht seine Art, mit dem Schicksal zu hadern. Er saß in der warmen Maisonne; am Gartenzaun stand der Rollstuhl, dicht an dem schmalen Beet mit den blühenden Frühblumen: und durch den „Keil“ hindurch sah er ein breites Stück der Ostsee, sah er die Fischerboote mit ihren weißen Segeln dahinziehen, sah er Dampfer und Motorboote dem Hafen von Barsdorf zusteuern, der hinter der sich vorreckenden Halbinsel, dem sogenannten Hammer, lag.
Der Alte nickte jetzt gedankenverloren vor sich hin. Es war doch richtig von ihm gewesen, daß er gestern nachmittag seinem Enkel und einzigen Erben depeschiert hatte, er möchte kommen und zwar baldigst. Wichtiges gebe es zu besprechen. – Er hatte Sehnsucht nach Magnus: er liebte ihn, den Stammhalter der Löbbeckes, nicht nur als das Kind seines früh dahingegangenen Sohnes. Nein – Magnus war ihn so ans Herz gewachsen, daß er oft dachte, es sei sein eigenes Kind, und daß häufig die Bilder der beiden in seinem Innern verschmolzen zu einer einzigen Gestalt.
Magnus würde also kommen – aus Berlin, ‒ vielleicht noch heute; Magnus, den die Barsdorfer und die Leute aus der Umgegend stets nur den Paschasohn nannten. – Der Greis lächelte ein wenig stolz. – Paschasohn! Denn er, der alte Löbbeke, war ja für alle, Einheimische und Stammbadegäste, nur der Pascha von Barsdorf. – Pascha, weil er mal während seiner Wanderjahre als Tischlergeselle auch die Türkei besucht und in Konstantinopel bei einem Pascha mehrere Jahre gearbeitet hatte.
Er lächelte, der alte Löbbecke, nickte wieder mit dem schönen Greisenhaupt. – Pascha von Barsdorf! Das hieß so viel wie Gebieter des Badeortes. Und – nicht zu Unrecht hatte sich allgemach die Benennung herausgebildet. Wem verdankte Barsdorf seinen jetzigen jetzigen Weltruf als Ostseebad? Ihm – nur ihm, der vor vierzig Jahren sich in dem armseligen Fischerdörfchen niedergelassen und dann den spekulativen Sinn in den trägen Hirnen der Bevölkerung geweckt hatte, der volle zwanzig Jahre Gemeindevorsteher gewesen und dem man alles verdankte, was die Fremden jetzt nach Barsdorf locket: die hübschen Logierhäuser, das behagliche Kurhaus, die prächtigen Seebadeanstalten und Promenaden, den Ausbau des Hafens und – ja, eben alles – alles! Wenn Barsdorf jetzt mit seinen 20000 Badegästen mit an der Spitze der Ostseebäder stand – es war Karl Löbbeckes Verdienst ganz allein! Daß er selbst dabei zu Wohlstand gekommen, mehr noch, daß man ihn mit Recht einen schwerreichen Mann nannte, war bei seiner Umsicht und seinem sicheren Blick für zuverlässige Erwerbsmöglichkeiten weiter sein Wunder. –
Von dem alten, bescheidenen, aber blitzsauberen Häuschen her, das inmitten eines Obstgartens am Südende des „Keiles“ lag – so hieß die keilförmige Schlucht. die sich von der See in den Hochwald der bergigen Küste hineinzog ‒, ‒ von diesem anspruchlosen Heim des Paschas von Barsdorf eilte jetzt flüchtigen Schrittes ein junges Mädchen, fast noch ein Backfisch, den kiesbestreuten Gartenweg entlang auf den sonnigen Platz des Greises zu.
Löbbecke hörte die Schritte, wandte den Kopf. Sein Gesicht leuchtete auf.
„Hascherle – Hascherle –“, lallte er mit schwerer Zunge. „Wie ein Rosenknöspchen schaust Du wieder aus –“
Elvira Tondern beugte sich über ihn, streichelte ihm die Hände.
„Onkel Löbbecke,“ lachte sie munter, „hast Du schon mal hellblaue Rosen gesehen? Ich nicht!” Sie machte vor ihm einen altmodischen Knicks, zog dabei mit beiden Händen den Rock ihres blauen Musselinkleides breit.
Er schmunzelte. „Kleid hin, Kleid her. Das Gesichtel macht’s, Hascherle. Nur das Gesichtel. Und das ist bei dir rosig. taufrisch –“
Elvi Tondern streichelte ihm wieder die sehnigen, gebräunten Hände.
„Ich werde noch eitel werden, Onkel Löbbecke,“ meinte sie. „Und das will ich nicht. Du hast mir früher so oft gesagt, wenn die Berliner Mädels hier wie die Zierpüppchen umherstolzierten, was sie übrigens auch jetzt noch tun. „Hascherle,“ hast Du geknurrt, den auf diese Modedämchen warst Du immer giftig, „Hascherle, daß Du nie so eine von der Sorte wirst, die ihr Herz und Gemüt unter Seide von oben bis unten ersticken. – Na, Onkelchen, ‒ groß war die Gefahr ja nicht, daß ich’s ihnen nachmachte. Wo sollte Elvi Tondern wohl das Geld hernehmen, um ‒“
Auf dem Gartenwege erschien eine neue Gestalt, eine hagere grauhaarige Frau mit einem mageren Gesicht, auf dem ein gütiges Lächeln die Schärfe der Züge angenehm milderte, ‒ ein Lächeln, daß für den Menschenkenner zu gleichmäßig blieb, um es als echt anzusprechen zu können.
Elvi hatte die Hagere sofort bemerkt und schwieg, ohne den Satz zu beenden. In ganz anderem Tonfall fügte sie dann hinzu: „Frau Michael kommt, Onkel Löbbecke. Ich muss auch weiter zum Kaufmann. Auf Wiedersehen, Onkelchen –“
Sie streichelte ihm noch schnell die Hände und die bärtigen Wangen und eilte der Holztreppe zu, die von dem altanähnlich hochgelegenen Garten auf die Sohle der Schlucht hinabführte. Um Frau Michael hatte sie sich nicht weiter gekümmert und nicht wieder hingeschaut.
Diese verlor jetzt für einen Moment die Gewalt über ihre Gesichtszüge. Das, was in ihrem Innern vorging, spiegelte sich deutlich auf ihrem Antlitz wieder. Freundliche Gedanken konnten es nicht sein. Die dunklen Augen verrieten unversöhnliche Feindschaft: die vollen Lippen, die fast negerartig wulstig waren, schoben sich vor, als wollte ein breites Fischmaul zuschnappen. –
Frau Rosa Michael war mit einer gewissen Koketterie gekleidet. Das dunkelblaue Kleid zeigte reichen Spitzenschmuck. An den gut gepflegten Händen glänzten ein paar wertvolle Ringe. –
Der Pascha von Barsdorf hatte schwerfällig den Kopf nach ihr hingewandt. Seine grauen, bereit etwas matten Augen umfasten sie mit einem besonderen Blick, in dem eine gewisse Unruhe und zugleichauch waches Mißtrauen schimmerten.
Frau Rosa lächelte wieder. Sie legte ihre Rechte auf die des Gelähmten.
„Wie fühlen Sie sich, Lieber Löbbecke?“ fragte sie vertraulich und liebevoll.
Die Pfeife im Mundwinkel wippte. „Ich fühle, daß es bald alle mit mir sein wird,“ meinte er in seiner undeutlichen Sprache, die doch noch in einzelnen Worten die Energie verriet, von der dieser siche Leib einst beseelt war.
„Der Herr Assessor hat telegraphiert,“ erklärte sie darauf zögernd. „An mich. Er trifft nachmittags hier ein. – Aber regen Sie sich nur nicht darüber auf, bester Löbbecke. Immer ruhig bleiben. Jede Gemütsbewegung kann schaden, hat der Doktor gesagt. “
Er lachte kurz auf. Mir schadet nichts mehr, Rosa. Gar nichts. Einen Baumstamm, der bereits abgehauen ist und langsam seine Krone dem Boden zuneigt, macht ein Axthieb mehr oder weniger nichts aus –“
Sie holte aus der nahen Laube einen Gartenstuhl, setzte sich Neben den Greis, der nun die Pfeife aus dem Munde genommen hatte.
„Also der Magnus kommt,“ began er wieder. „Wie mich das freut. Ostern war er zum letzten Male hier. Und – Augen wird er machen, wenn er die Überraschung sieht, die ich da für Elvi und ihn so schnell hervorgezaubert habe. Ein molliges Nestchen für das junge Paar. Eine kleine Villa wie ein Schmuckkästchen. Hätte nie gedacht, daß die Wolgasten Holzhausbau-Gesellschaft wirklich in sechs Wochen damit fertig warden würde –“ Eine kleine Pause. Das Sprechen hatte den Alten angestrengt. Er holte keuchend Atem. Dann fuhr er fort:
„Wenn sich’s ermöglichen ließe, würde ich dafür sein, daß sie sofort heiraten. Vielleicht kann ich die Hochzeit dann noch mitmachen. Das Aufgebot ist ja besorgt, die gesetzliche Frist um. Nichts steht der Heirat im Wege –“
„Nur etwas –“, meinte Frau Michael zaghaft und drückte seine Hand.
Er zog die Stirn in Falten. „Da bin ich doch gepannt. – Was denn? Lieben die beiden sich vielleicht nicht mehr? Sind’s Ausflüchte, die Magnus ersann, als er die Hochzeit bis Ende Juni verschoben Wissen wollte? – He – herraus mit der Sprache, Rosa! Nur keine Rücksicht auf meine Gesundheit nehmen! Ich war stets für klaren, kräftigen Wein –“
Die haagere Frau, die noch immer recht ansehnlich war und mit allerlei Hilfsmitteln das beginnende Alter wegzutäuschen suchte. Blickte vor sich hin auf den gelben Gartenflies. Ihr Gesicht war ernst und Traurig zugleich. Frau Rosa Michael verstand jede Gefühlsregung – scheinbare Gefühlsregung in ihren Zügen treffend zum Ausdruck zu bringen.
„Ich darf darüber nicht Sprechen, Lieber Freund,“ meinte sie wiederwillig. Trotzdem hielt ich es für meine Pflicht, ihnen zu raten, den Herrn Assessor zu fragen, ob es ihm mit seinen Heiratsabsichten wirklich noch Ernst ist. Ich bin nun seit zwölf Jahren Ihre Hausdame. Wir sind stetz miteinander ausgekommen. Sie haben auf mich so manches Mal – und nicht zu Ihrem Schaden! – gehört. Nur – nur –“
Sie schwieg und nickte wie selbstvergessen mit dem Kopf.
Der siche Pascha von Barsdorf klopfte mit dem Pfeifenkopf erregt auf die Armlehne seines Krankenstuhls.
„Verfluchte Andeutungen!“ knurrte er. „Wie ich das hasse, dieses Halbe, ‒ dieses Herumreden, wie die Katz um den heißen Brei streicht. ‒ Ich weiß ja: Sie waren stets gegen diese Verlobung; meinten, die Elvi sei zu weich, zu madonnenhaft für den Magnus, der eine mit mehr Temperament gebraucht hätte. – Alles Quatsch! Der Magnus ist ein echter Löbbecke, einer, der auch als Mönch hinter den Weibern her gewesen wäre. Uns Löbbeckes ist das nun mal mitgegeben. Genau so wie der kluge, klare Kopf und die anständige Gesinnung. Meine Frau war auch so’n mildes Blondchen. Und nachher in der Ehe, ‒ na, glücklicher als wir beide war wohl selten ein Ehepaar. Seitensprünge brauchte ich nie zu machen, hätt’s auch nie getan. Wir Löbbeckes sind treu in allem. – Und mit dem Magnus und meinem Hascherle wird’s ebenso gehen – genau so! Sie liebt ihn. Das ist die Hauptsache, Ich hab’ die beiden oft beobachtet, wenn sie sich küssten. – Das – das waren keine frommen Zärtlichkeiten, wie sie sein sollen. Eben ein Vorgeschmack einer großen Leidenschaft –“
Wieder machte er erschöpft eine Pause. Dann …
„Also, Rosa, ‒ nun heraus mit dem heißen Brei an die kühle, reine Luft. Was für ein Dreckgemisch ist’s denn, daß Sie vermuten läßt, der Junge sei plötzlich anderen Sinnes geworden? Wohl irgend welche Gerüchte, Faseleien. Weibertratsch, ‒ he?!“
Rosa Michael schien mit sich zu kämpfen.
„Sein rechter, am besten noch beweglicher Arm hob sich und fiel schwer mit der braunen, sehnigen Hand auf Frau Rosas Schulter. Die Finger krallten sich dort fest. Und lallend vor Aufregung fragte er: „Der Magnus – nicht treu?! Das – das glaube ich nicht. Niemals!“
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Rosa Michael kehrte ins Haus zurück.
Der Pascha von Barsdorf behielt auf seinem Schoße die drei Zeitungen aus denen sie ihm die drei Artikel über den Eheskandal in Berlin W vorgelesen hatte.
Er behielt noch etwas anderes, der einst so knorrige Greis, ‒ behielt’s wie eine furchtbare Wunde im alten Herzen: die Überzeugung, daß sein Enkel ein Lump sei.
Ein Lump! – Denn für Karl Löbbecke war jeder Ehebrecher schlimmer als ein Mörder. Ein Mörder konnte noch immer sich irgendwie entschuldigen, konnte Motive für seine Tat gehabt haben, die sie milder erscheinen ließen. Einer, der eines anderen Weib verführt oder sich verführen lässt zum doppelten Treuebruch, hat nicht für sich in die Waagschale zu werfen – nichts! –
„Arme Elvi!“ dachte der greise Pascha. „Ein Lump und – ein Totschläger ist dein Bräutigam. – Duell – Duell! Er lachte ironisch. „Auch so ein Unfug, der die Gerechtigkeit auf den Kopf stellt. Erst verführt er des anderen Weib, dann knallt er den Betrogenen noch über den Haufen! Da sind ja die Türken vernünftiger, die ihre treulosen Weiber in Säcke tun und im Bospororus ersäufen –“ Seine Gedanken waren in ein lallendes Selbstgespräch übergegangen. „Und das ist nun mein Enkel! Das ist der Stammhalter der Löbbeckes! Den Jungen hab’ ich nun lieb gehabt, den hab ich verwöhnt und auf den bin ich stolz gewesen! Stolz! Hat sich was! Vier Jahre Festung haben sie ihm aufgeknackt! Viel zu wenig! – Überhaupt – Festung! Das ist doch den Deubel auch keine Strafe!“
Er redete sich immer mehr in eine böse Bitterkeit hinein. Seine Gedanken sprangen nun pötzlich auf etwas anderes über.
„Und – mein Erbe ist’s noch dazu. Der Erbe dessen, was ich ehrlich erworben habe – jeden Pfennig! Nicht an einem einzigen Groschen klebt Schmutz – nicht an einem! Und – der ‒ der Lump wird jetzt vielleicht schon schmunzelnd darauf warten, daß ich abkratze, daß er alles kriegt – alles. Dann kann er ja, wenn er seine Zeit abgesessen hat, drauf los vergeuden mit Berliner Weibern, die in Seide rauschen und ihn auspumpen wie’n goldenen Brunnen, den, den Schlappier, den Charakterlosen –“
Er verstummte mit einem Male. Dann überkam’s ihn wie ein jähers Erwachen der alten Energie. Er packet den Handgriff des Selbstfahrers, setzte den fahrbaren Stuhl in Bewegung. Und – was ihm seit Tagen nicht mehr gelungen, die Strecke bis zum Hause aus eigener Kraft zurückzulegen, ‒ heute ging’s wieder.
Dann schickte er Frau Rosa zu Johann Lechner, dem Maurermeister, seinen Intimus.
„Er soll sofort kommen, der Johann, ‒ sofort!“
Rosa Michael hätte zu gerne allerlei gefragt. Aber sie wagte es nicht. Sie wollte den Alten nicht durch Neugier mißtrauisch machen. Die Saat reifte, und sie musste vorsichtiger den je sein.
Der Pascha von Barsdorf saß nun in seinem Wägelchen vor der Haustür. Wenn er den Kopf nach rechts wandte, wo am Südende des Keiles sich der buchenbestandene Keilberg erhob, dann erblickte er in einer Lichtung auf halber Höhe des Berges daß, was er eigens für den Jungen und Elvi hatte bauen lassen.
Er schaute hin. Dort lag’s nun, sein Hochzeitsgeschenk für Elvi und Magnus, das Haus am Keilberg.
Ein richtiges Schweizerhäuschen war’s. Hohes Fundament aus Feldsteinen; darauf der Holzbau mit der umlaufendenVeranda, über die das weit vorspringende Dach sich reckte und die Buchenäste hie und da streifte; schwere Steine lagen auf dem Dach; bunt gemalt waren Fensterläden und Fensterkreuze; die Haustür geschmückt mit knallroten Rosen. Alles wie im Gebirge; alles aufs beste; an nichts war gespart worden. Der Zaun aus Eichenholz; die Ösen praktisch und gefällig; die Holzpaneele in den 4 Zimmern aus Birnbaumholz, die Decken amerikanische Fichte. Elektrisches Licht, Gas, Wasserleitung. Alles vorhanden. Und die Möbel ganz modern; Geschirr, Wäsche, ‒ natürlich das feinste und beste. Eben ein fertige Nestlein.
Und nun – nun hatte der – der Lump sich da in Berlin mit einem von jenen Weibern eingelassen, die er, der Pascha von Barsdorf, recht gut kannte von dem Badebetrieb her. Weiber, die nach süßlichem Zeug rochen und wie die Sünde zu lächeln wußten, die Sonnabends ihre Strohwitwer-Eheherren vom Bahnhof abholten und eine Stunde vorher noch im Walde mit einem Liebhaber sich herrumgedrückt hatten; Buhlerinnen aus langer Weile; übersättigte Nervenbündel. Die vielleicht die Morphiumspritze stets bei sich führten.
Und mit so einer hatte der Magnus sich eingelassen! Und deren Mann hatte er nachher erschossen.
Und – das war sein Enkel – sein Erbe!
Na – der sollte sich wundern! Der sollte merken, daß in Karl Löbbeckes verkalktem Hirn doch noch Gedanken aufsprangen, die genau so wenig alltäglich waren wie einst, als der arme Tischlergeselle hier in Barsdorf die faulen Fischerköpfe zu Geschäftsleuten umgeformt hatte.
„Na, Korl, wie jeihts’ di?“ begrüßte da der Maurermeister den Freund.
Johann Lechner war ein Riese mit verwittertem Gesicht und einem grauen Kinnbart und ebenso grauen, dicken Augenbrauen. Er war im Alltagsanzug; sah aus wie einer, der kaum das Sattessen hat; hatte die Füße mit den dicken, gestopften Strümpfen in abgetretenen Holzpantinen und auf dem buschigen Haarwald eine schmierige Leinenmütze.
Er drückte dem Freunde die Hand.
„Also – wie jeiht’s di?“ fragte er wieder. „Hesst noch wat tau erledigen, oll Friend? Deine Rosa kimmt do wie ’n Wiesel tau mi geloopen. Wat hesst denn upp’n Harten (Herzen)?“
„Fahr mich in meine Stub’, Lechner. Und dann schick’ die Rosa nach de Frau Sanitätsrat. Die soll mal so um Mittag rum mich besuchen, soll die Rosa ausrichten.“ ‒
Gleich darauf waren die beiden Alten allein im Hause, allein in des Paschas Arbeitszimmer, wo auch der kleine Panzerschrank an der Wand stand.
Lechner saß neben dem Freunde und hörte zu. –
„Ein Lump kriegt mein Geld nicht. Enterben kann ich ihn nicht ganz. Das Pflichteil würde ihm bleiben,“ fuhr Karl Löbbecke langsam und mit unbeholfener Zunge fort. „Daher will ich – komm’ näher mit dem Ohr. Lechner – daher will ich also –“
Er flüsterte, so gut er konnte. – Und draußen an der Stubentür horchte Frau Rosa ganz umsonst mit wutverzerrtem Gesicht; schlich schließlich davon, dem neuen Dorfe zu, wo die Frau Sanitätsrat Herta Tondern ein kleines Pensionat besaß. –
Lechner nickte jetzt.
„Korl, Du bist und bliewst ’n hellen Kopp! Ne – wat Du Dir so allens austüfteln kannst! Aber recht hast D’, sehr recht. Der Jung muß upp’n groden Weg taurickjebracht wer’n. Schon der Mariell wejen, wejen unser sötes Elvichen. – Ne – wie hätt’ hei (er) bloht (nur) so ’ne stinkichte Jeschichten mach’n können! Een Löbbecke! Der Enkel von uns’ Pascha!“
Er erhob sich und ging an das Schlüsselbrett, daß an der Wand neben dem Geldschrank hing. Über dem Schlüsselbrett war ein Zigarrenschränkchen angebracht. Und dort in einer Kiste mit Rauchtabak war der Schlüssel zum Panzerspind versteckt.
Johann Lechner schloß den Stahlschrank auf.
Und dann nahm er ein Schlüsselbund mit sich, an dem ein Elfenbeintäfelchen mit der Auffschrift hing:
„Haus am Keilberg“.
Auf seinen Holzpantinen stieg er die gewundene Treppe empor, die über den terrassenförmig angelegten Obstgarten des Paschas von Barsdorf bis zum Schweizerhäuschen hinlief.
Er öffnete die dunkelgrüne Haustür mit den roten Rosen; schloß hinter sich ab; ließ die Holzpantinen stehen und ging leise weiter.
Nach einer Viertelstunde tauchte er wieder vor der Tür auf; bedächtig schritt er den Weg zurück; er sah nicht, daß im nahen Walde hinter einer dicken Buche Frau Rosa Michael stand. Soeben erst war sie auf dem Besuch bei der Sanitätsrätin kommend hier auf dem schmalen Waldpfade angelangt; sie hatte sich nach Möglichkeit beeilt, wieder heimzukehren; lange hielt sie sich bei Tonderns nie auf, ‒ nein, gerade dort nicht, wo die alte Dame und deren jungblühende Tochter ihr stets deutlich zeigten, wie sie über sie dächten, wie sie mit klügerem Blick, als dem Pascha von Barsdorf in diesem Falle eigen, vielleicht vermuteten weshalb Frau Rosa diese Verlobung zu hintertreiben gedachtet hatte. –
Das hagere Weib mit dem jeder Maske willfährigen Gesicht schaute jetzt dem Riesen Lechner mit bösen Augen nach.
„Was trieb er in dem Hause am Keilberg?“ fragte sie sich. „Löbbecke hat ihm die Schlüssel gegeben. – Was tat er dort? Was hatten die beiden überhaut vorhin zu flüstern?“
Sie stand und sann. Ihr intrigantes Herz und ihr raffinierter Verstand arbeiteten. Sie hörte nichts von dem Vogelgesang ringsum, sah nichts von den im Liebespiel an einer Tanne wie rote Blitze stammauf, stammab sich jagenden Eichhörnchen; sie sah nur ein Ziel vor Augen. Und an diesem Ziel stand in goldenen Buchstaben ein Wort, daß schon unendlich viel Unheil gestiftet hat:
Erbschaft!
Zwölf Jahre arbeitete sie nun diesem Ziele sich langsam entgegen; nie hatte sie dabei etwas überhastet; nie etwas getan, was sie nicht mindestens dreimal genau überlegt hatte.
Nun war die Frucht reif; die letzten Schachzüge hatten begonnen. Gegen Elvi würde eine Eva kämpfen. Ihre Eva. Das einzige Kind einer späten, kurzen Ehe.
Frau Rosa lächelte stolz. Ihre Eva! Oh – das war ein anderer Schlag als das Hascherle. Das war Rosa Michael in einer Neuauflage.
Sie lächelte stolz und folgte Johann Lechner, der nun dem Freunde leise zuraunte:
„Korl, allens wor nun erledigt –“
„Ich dank’ Dir, Lechner. – So – nun heb’ die Hand und schwör’! Ich will in Ruhe im Grabe liegen und nicht denken müssen, Du könntest mal aus Mittleid Dich dazu verführen lassen, unser Geheimnis dem mitzuteilen, der Vorteil davon hätte.“
Frau Rosa drückte draußen das Ohr an die Türfüllung.
Und drinnen ertönte des Maurermeisters feierlicher Baß:
„Ich schwör’ bei Gott dem Allmächtigen, daß ich unter keinen Umständen verraten will, was soeben auf Wunsch meines Freundes Karl Löbbecke geschehen ist.“
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Um dieselbe Zeit verließ der D-Zug den Stettiner Bahnhof in Berlin.
Der Zug war leer. Der Bäder- und Reiseverkehr hatte noch nicht eingesetzt. – In einem Raucherabteil 1. Klasse saßen sich auf den Fensterplätzen eine Dame und ein Herr gegenüber. Sie war dunkelhaarig, gekleidet mit schlichter Vornehmheit, das Gesicht schmal und rassig mit etwas zu vollen Lippen und ein Paar dunklen großen Augen, die Figur schlank und voll. Alles an ihr verriet erlesenen Geschmack.
Um ihren Reisegefährten kümmerte sie sich nicht. Mit der ruhigen Sicherheit der Dame von Welt schnitt sie den neu gekauften Roman auf, legte ihr silbernes Zigarettenetui vor sich auf das Klapptischchen und rauchte dann eine süßlich duftende Zigarette mit der vollendeten Grazie einer Frau, die die Schönheit in allem liebt. –
Magnus Löbbecke beobachtete sie heimlich hinter seiner Zeitung hervor. Sie war erst nach ihm eingestiegen. Er war daher auch zunächst auf den Gedanken gekommen, sie könnte vielleicht einem kleinen Abenteuer nicht ganz abgeneigt sein. Und er hatte weiter gedacht:
„Bei mir wirst Du nicht viel Glück haben, mein Kind. Ich habe mir letztens die Finger gehörig verbrannt! Und ich hab’ daher genug von euch Evastöchtern – übergenug.“
Lange hielten diese guten Vorsätze bei ihm jedoch nicht vor. Das Weib war gradezu verteufeld hübsch! Da steckte Rasse drin. Das war kein alltäglicher Bissen. – Der Versucher regte sich.
Magnus Löbbecke putzte das Monokel mit dem Seidentüchlein, nachdem er die Zeitung neben sich gelegt hatte. Er klemmte es wieder vor das rechte Auge und sagte dann zu seinem schönen Gegenüber mit der zwanglosen Sicherheit des gesellschaftlich in allen Sätteln gleich Taktfesten:
„Verzeihung. Gnädigste. Würden Sie mir nicht vielleicht helfen, mein Gedächtnis ein wenig zu schärfen. Ich muss Sie unbedingt kennen. Ich weiß nur nicht, wann und wo ich die Ehre hatte, Ihnen vorgestellt zu werden. – Sie gestatten: Assessor Doktor Löbbecke –“ Er hatte sich halb erhoben, die schicke Reisemütze gezogen und sich verbeugt.
Die Dame ließ das Buch vollends in den Schoß sinken, schaute ihn kühl an.
„Sie dürften sich irren, Herr Assessor. Ich bin Münchnerin.“
„Ah – Münchnerin! Gnädigste, gerade deshalb ist es sehr wahrscheinlich, daß ich bereits die Ehre hatte. Ich habe vier Semester in München studiert, war bei den Isaren aktiv, habe sehr viel in der dortigen Gesellschaft verkehrt –“
„Auch in Künstlerkreisen?“
Er schaute sie überrascht an. „Hm – dort weniger. – Aber – sind Gnädigste denn Künstlerin? Dann wäre es nicht ausgeschlossen, daß –“
„Es ist ausgeschlossen, Herr Assessor,“ unterbrach sie ihn. „Aus dem einfachen Grunde, weil ich zu der Zeit, als Sie Student gewesen sein können, noch anderswo lebte und in Verhältnissen, die zu den Ihrigen kaum gepaßt hätten –“
„Verzeihung Gnädigste, ‒ da behaupten Sie in diesen letzten Sätzen etwas, daß nicht ganz zutrifft. Ich stamme nämlich aus einer Handwerkerfamilie. Ich bin stolz darauf. Die Löbbeckes sind seit langem Tischler gewesen. Wenn ich aus der Art schlug, so lag das lediglich an dem Gelde, daß mein Großvater, ein Genie in seiner Art, verdient hat –“
Die Dame lächelte ganz wenig. „So Tischler. – Das erinnert mich an einen kleinen Liebesroman, den mir eine in Pommern beheimatete Freundin letztens mitteilte. – Da wir nun doch ins Plaudern gekommen sind, will ich Ihnen gegenüber ebenfalls mein Inkognito lüften – zur Hälfte. Ich bin Malerin. – Mein Name? – Wozu Namen nennen? Es genügt, wenn wir uns die Reise durch eine harmlose Unterhaltung verkürzen. Nachher gehen wir ja doch auseinander und sehen uns nie wieder. – Vielleicht interessiert Sie nun dieser Liebesroman aus einem Fischerdorfe. Er ist nicht ganz alltäglich. Wenn Sie Schriftsteller wären, könnten Sie ihn vielleicht verwerten. – Also …
Da gibt es an der pommerschen Küste einen Badeort, den wir hier – Strandburg nennen wollen. – In Strandburg läßt sich vor vielen Jahren ein Arzt nieder, der ein ebenso gütiges Herz wie unpraktischen Sinn hat. Als er stirbt, bleiben Frau und Kind in den dürftigsten Verhältnissen zurück. Die Frau Sanitätsrat eröffnet, um nicht zu verhungern, in Strandburg ein Pensionat mit Hilfe des dortigen Gemeindevorstehers, der den Ort als Bad erst hochgebracht hat. Das Kind der Sanitätsrätin, ein blondes, hübsches Mädchen, wächst nun mit zwei älteren Knaben zusammen auf, ihren Spielgefährten. Der eine Junge hat wohlhabende Eltern und studiert, der andere, armer Leute Kind, kommt zu einem Tischler in die Lehre. Beide aber lieben das Mädchen, daß wir – Nixchen nennen wollen.‒ Langweilt Sie die Geschichte auch nicht, Herr Assessor?“
Magnus Löbbecke stottert ein zerstreutes: „Durchaus nicht, Gnädigste.“
„Der Liebesroman wird ja auch sofort interessanter, Herr Assessor. – Nixchen verlobt sich auf Zureden der Mutter natürlich mit dem reichen Freier, der inzwischen – ich glaube – Arzt geworden ist – irgendwo in Mitteldeutschland. Nixchen ist als Bräutchen eine Weile sehr glücklich, bildet es sich wenigstens ein. Der andere Freier hat Strandburg gleichfalls verlassen und in der sehr nahen Kreisstadt sich selbständig gemacht. Nixchen hat dort Musikstunden. Wöchentlich fährt sie dreimal hinüber. Es kann nicht ausbleiben, daß sie dem jungen Tischlermeister wiederholt begegnet, der seine Leidenschaft klug verbirgt und Nixchen gegenüber scheinbar nur den guten Freund spielt. In Wahrheit ist der einst so aufrichtige, gerade Charakter dieses Mannes durch die fehlgeschlagene Liebeshoffnung von Grund auf verwandelt worden – nicht nach der günstigen Seite hin. Er kennt nur noch ein Ziel: diese Verlobung wieder auseinander zu bringen! – Und siehe: Gott Amor ist ihm plötzlich günstiger als bisher gesinnt. Nixchen entdeckt, daß ihr Herz stets dem Anderen gehört hat: sie ist ein harmloses, offenes Gemüt: sie weiß nichts von weiblichen Verstellungskünsten: sie verrät unbewußt dem Tischlermeister, der ein stattlicher Mann geworden, ihre wahren Gefühle. Und dieser nun setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um der Geliebten den Beweis zu liefern, ihr Verlobter sei ein treuloser Don Juan und unterhalte Beziehungen zu anderen Frauen. Er opfert sein mühsam verdientes Geld und läßt den Bräutigam beobachten, der – Sie sind ja plötzlich so blaß geworden, Herr Assessor? Befinden Sie sich nicht gut?“
„Doch – doch. Nur etwas warm ist es hier, meine Gnädige. – Aber fahren Sie nur fort in Ihrer Erzählung. Ich kann mir übrigens schon denken, wie der Roman endet –“
„So?! Besitzen Sie denn so viel Phantasie? – Ich fürchte, diese wird doch nicht genügen, der Wirklichkeit Gerecht zu werden. Prüfen Sie selbst. – Der Verlobte ahnt nicht, daß er überwacht wird, ahnt nicht, daß seine Stelldicheins mit einer verheirateten Frau deren Gatten längst verraten sind, wird von diesen einmal bei einem solchen Beisammensein überrascht und – nun, bitte, Herr Assessor, lassen Sie Ihre Phantasie spielen!“
Das schöne, so überaus verführerische Weib schaut Magnus Löbbecke dabei sehr Ernst an. In ihrem feinlinigen Gesicht sieht er etwas wie melancholisch-schwere Lebensauffassung. – Und er selbst? – Er ist plötzlich sehr rot geworden, faßt sich aber schnell und erklärt in gemacht gleichgültigem Ton:
„Kann mir denken, was weiter geschah. Natürlich Zweikampf, bei dem –“ Er zögerte, blickte zum Fenster hinaus. Die Röte ist wieder einer fahlen Blässe gewichen.
Der Zug rast gerade durch einen Wald, durchquert eine Lichtung. Vor Magnus Löbbeckes innerem Auge ersteht ein Bild: Ein Aprilmorgen. Eine Waldblöße. Leichte Nebel zwischen den Bäumen. Und auf den noch toten Gräsern liegt ein Mann mit Herzschuß – sein Opfer!
Der Assessor hört kaum, daß die Dame weiterspricht.
„Ja – und bei diesem Duell fiel der beleidigte Ehemann – natürlich er! Was soll wohl sonst auch bei derartigem mittelalterlichen Wahnwitz herrauskommen?! – Die Zeitungen bringen den Eheskandal ohne Namennennung. Nur ein Berliner Winkelblättchen. das nie in die Provinz gelangt, nennt die Schuldigen, wahrscheinlich bestochen durch den liebestollen Tischlermeister. Dann wird der Verlobte auch noch zu vier Jahren Festung verurteilt. Nun hat der Eifersüchtige genug Material beisammen: nun könnte er den Nebenbuhler bloßstellen, verdrängen. Doch – und hier setzt das psychologisch Interessante ein! – er empfindet jetzt plötzlich ganz von selbst die Niedrigkeit seiner Handlungsweise; er verzichtet darauf, dem Mädchen, daß der Andere betrogen hat und das er selbst so ehrlich liebt, die Augen über den Bräutigam zu öffnen. Er schweigt. Da greift das Geschick selbst ein: Nixchen gerät durch einen seltenen und seltsamen Zufall das Berliner Skandalblättchen in die Hand: sie findet darin den Aufsatz über „die Eheirrung mit tödlichem Ausgang“; sie vergießt keine Träne drob; im Gegenteil: sie fühlt sich jetzt innerlich frei! Und als sie dem einfachen Manne, den sie liebt, dann wieder begenet, wirft sie sich ihm an die Brust, weiß des in strenger Auffassung kühl bleibenden Bedenken zu zerstreuen und führt nun den Plan aus, der in ihrem etwas phantastischen Mädchenhirn ausgereift ist. Sie will sich rächen, will Gleiches mit Gleichem vergelten, wird des Tischlermeisters Geliebte in aller Heimlichkeit und bleibt ihrem Verlobten gegenüber doch unverändert –“
Die Dame schweigt und spielt mit ihrem Zigarettenetui, läßt dem Assessor Zeit, daß Gehörte in seiner ganzen Tragweite seelisch zu verarbeiten.
Magnus Löbbecke hat jetzt seine Schweißperlen auf der Stirn. In seinem Hirn haften die Gedanken, wirbeln Fragen, Zweifel und Beweise in tollem Tanz durcheinander.
Fragen! – Elvi – Elvi soll dessen fähig sein?! Die blonde, zarte, reine Elvi?
Magnus Löbbecke fühlte wie sein Herz sich in wildem Weh zusammenkrampfte; fühlte wieder, wie sehr er an seiner blonden Elvi hing: wie sehr jenes unselige Abenteuer mit dem reifen begehrlichen Weibe dessen den er dann erschossen hatte, nichts als ein Augenblicksrausch gewesen.
Und in seinem Herzen ward eine Stimme laut, die ihm mit strafendem Ernst zurief „Du hast sie verloren für immer! Mehr noch! Du hast dieses reine Kind seelisch gemordet! Denn wenn sie erst aus dieser halben Betäubung unwürdiger Rachsucht erwacht, wenn sie sieht, wohin sie moralisch greaten als Geliebte des anderen, dann wird sie unter der Wucht der Selbstanklagen zusammenbrechen! Ein doppelter Mörder bist Du!“
Wie aus weiter Ferne drang da der Unbekannten Stimme an sein Ohr:
„Sind Sie denn gar nicht auf das Ende des Romans gespannt, Herr Assessor? – Und können Sie diesen Schluß nicht erraten? – Um ehrlich zu sein: der Roman soll erst noch vom Leben zu Ende geschrieben werden! Der Dichter, der ihn schuf, das Schicksal, ist noch an der Arbeit. Aber – ich meine, es kann hier nur einen Ausgang geben. Nämlich folgenden: Nixchen wird warten, bis der treulose seine vierjährige Strafzeit antreten muß. Dann muß er ihr ja beichten: „Ich weiß alles. Hier hast Du den Goldreif wieder! Während Du hinter Festungswällen Deine Tage öde dahinschleichen läßt, werde ich Flitterwochen feiern!“ – So etwa wird der Schluß sein. – Wir aber, die wir hier sozusagen als Richter die Geschehnisse vernommen haben, müssen uns wohl fragen: Wo liegt die größere Schuld?“ –
Magnus Löbbecke tupfte sich die feuchte Stirn mit dem Seidentuche trocken. Dann sagte er unsicher:
„Man müsste all diese Menschen persönlich kennen, wenn man sich ein Urteil über die und ihr Tun und Lassen anmaßen wollte. Ich jedenfalls erkläre mich außerstande, hier den Richter zu spielen ‒“
Die Dame nickte ihm zu. „Trotzdem: es müßte Nixchens Charakter schon sehr viele edle Züge aufweisen, um gegenüber ihrer Schuld nicht als die schwerer Belastete zu erscheinen.“
Mit nachlässiger Grazie zündete sie sich eine neue Zigarette an.
Magnus Löbbecke hatte längst die Überzeugung gewonnen, daß er es hier mit einer Frau zu tun hatte, die den Weibesdurchschnitt weit überragte. Sein Interesse für sie war sehr bald ein anderes geworden als jene erste Abenteuerlust, die ihn dazu bewogen hatte, ihre Bekanntschaft zu suchen.
„Sie sind ein seltsames Wesen.“ meinte er ehrlich. „Ihnen gegenüber hat man schnell das Gefühl, alles mit ihnen durchsprechen zu können –“
Sie schüttelte den Kopf. „Seltsames Wesen? – Oh nein, ‒ Sie täuschen sich! Ich bin ganz Weib – ganz! Nur keine von denen, die ihre Liebe leichtfertig, das heißt ohne sorgfältige Prüfung des anderen Teiles, verschenken würde. – Ich werde warten. Einmal wird mir doch der Mann begegnen, auf den ich hoffe –“
Sie sprach weiter. Sie legte ihre Seele bloß vor ihm, scheinbar eine reiche Seele.
Und Magnus Löbbecke merkte, wie allmählich ganz seine Fäden ihn und das seltsame Weib umspannen, wie die Fäden fester wurden, ihn sacht zu ihr hinzogen. Ein eigner Zauber ging von der Malerin aus, die in allem so vollständig große Dame war.
Als der Zug in den Bahnhof in Stettin einlief, als sie ihre Sachen zurechtlegte und ihm dann zum Abschied die Hand hinstreckte, da ließ er diese Hand nicht los, flehte:
„Gewähren Sie mir ein Wiedersehen! Seien Sie barmherzig. Vielleicht könnten Sie mir raten. Ich habe Schweres vor mir; weiß nicht, wie alles endet –“
„Nein!” Sie blickte ihn voll an. „Nein – ich greife dem Schicksal nicht vor. Ich bin Fatalistin. Ich glaube daran, daß unser Weg uns vorgezeichnet ist mit allen Einzelheiten. Warten wir ab, ob nicht die Bestimmung uns wieder zusammenführt –“
Sie stieg schnell aus, eilte der Sperre zu; wandte dort nochmals den Kopf und nickte dem ihr Nachschauenden mit einem Rätsellächeln zu.
Dann entschwand sie seinen Blicken.
Und Magnus Löbbecke saß nun in dem leeren Abteil und konnte ihr Bild nicht loswerden. Wer war diese Frau? Wer nur?! Er hatte ja nicht gelogen: ihr Gesicht war ihm wirklich bekannt vorgekommen.
Dann ruckte der Zug an, glitt davon.
Dann dachte Magnus an Elvi. Erst nur als an die, die nun für ihn verloren war. Und allmählich schlich in sein Herz sich dumpfes Weh ein. Er hatte sie ja geliebt, daß blonde Hascherle – so heiß geliebt – immer – immer. Selbst damals, als die kokette Frau Agna ihm die Stelldicheins gewährt hatte. Ach – daß war ja nie Liebe gewesen – nie! Das war Sinnenrausch. Da hatte jeder seelische Zusammenhang gefehlt. Und Elvi und er?! Hatte er sie nicht schon als Dreizehnjährige als sein Bräutchen betrachtet? Hatte er nicht stets nur sie sich als sein reizendes keusches Frauchen gedacht?
Er stöhnte leise auf.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Auf dem Bahnhof in Barsdorf stand Frau Rosa Michael und wartete auf den Berliner Zug. Der Stationsvorsteher hatte sie respektvoll begrüßt; die anderen Beamten desgleichen. Sie war eben eine Persönlichkeit, wenn sie auch nur des Paschas Hausdame war.
Der Zug lief ein. Frau Rosa hatte Magnus am Fenster seines Abteils erblickt, ging ihm nun entgegen.
Er begrüßte sie etwas Scheu. Er fühlte sich ja so bedrückt. Er ahnte, was nun kommen würde.
„Großvater geht es wohl sehr schlecht, liebe Rosa?” fragte er dann sofort.
„Ja, Herr Magnus. Wir befürchten das Schlimmste –“
Schweigend schritten sie durch den Wald dem Keilberge zu. Der Wald war so prächtig. Magnus sah es nicht.
Dann fragte er wieder: „Wie ist denn diese Verschlimmerung in Großvaters Zustand nur so plötzlich eingetreten?”
„Infolge einer Zeitung – einer Zeitungsnotiz, die jemand – wer, weiß ich nicht – ihm zu lessen gab. – Ach, Herr Magnus, ‒ wie – wie konnten Sie nur Ihrem Großvater und Elvi das – das antun?” – Sie sprach leise und mit einer Stimme, die vor Schmerz leicht zitterte.
Der Assessor ging wie ein Blinder durch den herrlichen Buchenwald. – Also der Großvater wußte bereits alles – alles! Und nun – nun sollte er ihm gegenübertreten und sollte die klugen, ernsten Augen vorwurfsvoll auf sich gerichtet sehen! – Er war kein Feigling, nein. Die Löbbeckes hatten Mut – zu allem. Die anderen Löbbeckes nur zu rechtlichen Taten; nur er – er hatte kaltblütig damals die Pistole an jenem Aprilmorgen gehoben und den Anderen nierdergeschossen, weil dessen Weib ihm weinend erzählt, daß jener sie so oft mit der Reitpeitsche geschlagen. –
Jetzt hatte Magnus keinen Mut. Den Großvater fürchtete er. Nur jetzt! Den Pascha von Barsdorf, den kernigen, geraden Mann, der überall so geachtet war – mit Recht! –
Frau Rosa sprach weiter, ‒ noch leiser.
„Heute hat er die Frau Sanitätsrat zu sich bestellt gehabt. Ich weiß nicht, was sie miteinander verhandelt haben. Lange blieb sie nicht bei ihm. Aber sie lief nachher förmlich davon. Und ganz bleich war sie. Ich fürchte, er wird auch ihr das – das – Häßliche anvertraut haben –”
Magnus zuckte bei dem Wort „Häßliche” zusammen.
„Seien Sie nicht allzu hart, Rosa,” meinte er dumpf. „Ich bin vielleicht nicht so schuldig, wie es –”
Sie waren stehen geblieben.
„Nicht – so schuldig?!” fiel sie ihm in die Rede und schaute ihn traurig an. „Ja – sehen Sie denn nicht ein, Herr Magnus, was Sie –” –
Sie schüttelte ganz fassungslos den Kopf, ging weiter, murmelte: „Nicht so schuldig! Und – und ein Menschenleben auf dem Gewissen!”
Er war wieder neben ihr. In jäh aufquellender Sucht, sich zu verteidigen, rief er halblaut:
„Oh – Ihr hier mit eurer kalten Dorfmoral! Was wißt ihr von Weibern, die den Teufel im Leibe haben, die uns Männer verführen, und hätten wir die Priesterstola um! – Heute noch hat mir eine Frau, die das Leben besser kannte als Ihr hier, gesagt, daß –” Er beendete den Satz nicht. Er hätte ja Elvis Treuebruch mit erwähnen müssen, wenn er von diesen Dingen hätte sprechen wollen.
„Noch eine Frau!” fragt Rosa Michael vorwurfsvoll.
„Ja – noch eine, ‒ eine, die ich jetzt auf der Reise kennen lernte. Eine Frau, die hoch über dem Alltäglichen stand, eine Frau von besonderen Reiz.”
Rosa Michaels Augen glommen auf. Ein Lächeln der Genugtuung huschte um ihren begehrlichen Mund. Und sie dachte triumphierend: „Es ist geglückt. Der Gimpel hat die Leimrute berührt!” –
Die letzten Buchen traten zurück. Magnus erblickte das Schweizerhäuschen. Stand still – Staunte.
Und das ränkevolle Weib neben ihm flüsterte:
„Das sollte Ihres Großvaters Hochzeitsgeschenk werden – für Sie und Elvi Tondern –”
Magnus wurden die Augen feucht. Er schob das Monokel in die Tasche. Er sagt nichts: schaute auf das Haus am Keilberg und fühlte in seinem Herzen wieder das namenlose Weh über das verlorene Glück. –
Der Pascha von Barsdorf saß in seinem Arbeitszimmer am Fenster in dem hochlehnigen Polsterstuhl. Ihm gegenüber hatte Elvi Tondern Platz genommen, ‒ die blonde, reizende Elvi, der Stolz der Barsdorfer, die Madonna, die gütige Fee, deren liebes Lächeln alle Herzen erwärmte.
Jetzt sah ihr zartes Gesichtchen verfallen aus: die Augen waren gerötet vom Weinen. Aber – Tränen fand sie nicht mehr. Wollte die auch nicht finden. – Er – er war es ja nicht wert, daß sie ihm nachtrauerte.
Elvi saß da und wußte kaum, wo sie war. In ihrem Herzen war’s wie eine ungeheure Leere; in ihrem Hirn war nichts mehr wie ein bohrender, ebenso ungeheurer Schmerz. Sie konnte nicht mehr denken. Sie wollte auch nicht. Sie war wie gelähmt. Nur deshalb auch hatte sie den Mut – oder die Gleichgültigkeit gefunden, hier auf Magnus’ Erscheinen zu warten, wie Onkel Löbbecke dies gewünscht. –
Draußen im Flur Schritte.
Elvi fuhr zusammen, schloß die Augen. Es war ihr, als stürze sie in einen Abgrund oder in die Tiefe des Meeres.
Es klopfte. Die Tür öffnete sich. Zögernd trat Magnus ein.
Des Greises Augen eilten ihm entgegen. Stahlhart waren sie: kalt; fremd.
„Bleib’ stehen, wo Du bist!” lallte der Alte mühsam. „Bleib’ stehen! Du bist hier nicht mehr daheim, falls all das wahr ist, was ich in der Zeitung gelesen. Antworte: Ist es wahr – ja oder nein?”
Magnus hatte nur Augen für Elvi. Sie hatte den Kopf tief gesenkt, blickte in den Schoß, auf die matt gefalteten Hände. – Er suchte nach dem Goldreif am Ringfinger der Linken. Er sah ihn nicht; sie trug ihn nicht mehr. – jetzt sah er ihn. Dort auf dem Fensterbrett. Neben dem Großvater lag er. – Elvi regte sich nicht. ‒Ach – wie sie sich verändert hat, dachte Magnus. Alles Kindliche ist aus ihren Zügen weggewischt. Vielleicht – vielleicht ist die Reue schon in ihr erwacht, dem Anderen sich ausgeliefert zu haben, ‒ Und dieser Gedanke an den Jugendfreund – denn das war Gustav Schramm ihm bisher gewesen! – machte ihn plötzlich hart, bitter, rief seinen Trotz hervor.
„Ja – es ist Warheit!” sagte er laut. „Aber – Du wirst mir doch wenigstens erlauben, Großvater, mich hier vor Dir und Elvi zu verteidigen. Ich –”
Der Alte hatte mit der geballten faust auf die Sessellehne geschlagen.
„Schweig’, Du – Du ehrloser Wicht!” sprudelte es plötzlich ganz geläufig über seine Lippen. „Verteidigen – verteidigen?! Was heißt das gegenüber dem, was Du gewissenloser Lump angerichtet hast.”
„Ich lasse mich nicht beschimpfen. Ich bin kein Schulbub, den man ‒”
Abermals schlug des Greises Faust dröhnend das Polster.
„Ah – beschimpfen läßt Du Dich nicht! Wer bist Du denn, daß ich’s nicht wagen soll, Dir die Warheit ins Gesicht zu schreien?! Bist Du nicht ein Löbbecke, nicht einer von denen, die man einst rühmte als Leute von Charakter! Und Du – Du willst –” Seine Stimme schnappte über. Was er noch in namenlosen Grimm hervorkreischte, blieb unverständlich.
Elvi Tondern hatte das Gesicht in die Hände vergraben; ihr Körper flog in tränenlosem Schluchzen.
Die Tür ging auf. Frau Rosa stand auf der Schwelle.
„Herr Löbbecke – was hatten Sie mir versprochen?!” sagte sie laut und mahnend. „Sie können den Tod von solcher Aufregung haben. Beruhigen Sie sich! Soll Herr Magnus nicht besser wieder abreisen? Wollen Sie ihm nicht lieber schreiben, was Sie –”
Der Alte hatte sich stets gut in der Gewalt gehabt. Auch jetzt zwang er den lodernden Grimm zu schneller Wandlung. Wenn auch sein Blut noch wild durch die Adern pulst, äußerlich erschien er kalt und gelassen.
„Ich will ein Ende machen,” stammelte die schwere Zunge wieder so mühsam, „Du bist hier nicht mehr mein Enkel. An deinen Händen klebt Blut. In Deinem Herzen wohnt die Falschheit neben der Feigheit. Wenn Du ein Löbbecke gewesen, einer, der zu uns gehört, dann hättest Du den Mut gefunden, sofort zu beichten. Und Du ‒ was tatest Du? – Du hast mir und Elvi Briefe geschrieben, als sei nichts geschehen, Briefe, die von heuchlerischen Redensarten wiederwärtig troffen. Du bist feige. Und treulos. Und deshalb kein Löbbecke. ‒ Höre nun, was der, der Dich zum Manne erzogen zu haben hoffte, beschlossen hat. – Ich bin nicht mehr reich. Ich war es bis vor kurzem. Das, was ich noch besitze, habe ich Frau Rosa hinterlassen. So auch dieses Häuschen hier. Das neue Haus am Keilberg aber ist von heute ab Elvi Tonderns Eigentum. Für Dich ist nichts mehr übrig – nichts! Und – mein Fluch trifft Dich noch aus dem Grabe herraus, wenn Du je Anspruch erhebst auf das, was ich Rosa und Elvi testamentarisch vermachte. – So – nun geh’! Wir sind fertig miteinander. Verzeihen kann ich Dir nur dann, wenn Dein Herz Dich die Wege weist, die zur Versöhnung mit der führen, die Du so gewissenlos betrogen hast. – Geh’ – und lerne die Welt und das Leben nun auch als Armer kennen. Bisher hast Du nie zu rechnen brauchen. Jetzt wird man Dich aus dem Staatsdienst jagen, Dich, den mit vier Jahren Festung Bestraften. Jetzt wird die Not Dich lehren, ein Löbbecke – vielleicht zu werden! – Geh’ – wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Auch meinem Begräbnis bleibe fern. Johann Lechner weiß Bescheid. Das ganze Dorf würde mit Fingern auf Dich weisen, wagtest Du es, Dich an meinem Grabe einzufinden –”
Magnus Löbbecke glaubte nicht anders, als daß er all das nur träume. Sein Verstand nahm diese Sätze wie etwas ganz Unfaßbares hin.
Da zerrte ihn jemand am Ärmel.
„Kommen Sie!” flüsterte Rosa Michael.
Ihm war’s als ob er erwache.
„Großvater!” schrie er. Und Elvi Tondern weinte hell und jammernd gleichzeitig auf. „Großvater – willst Du denn wirklich so unerbittlich sein und –”
Der Alte hatte sich plötzlich halb aufgerichtet. Mit dem gesunden Arm wies er auf Elvis zusammengekrümmte Gestalt.
„ Da – da – sieh’ Dein Werk, Bube!” rief er, und abermals gehorchte ihm die Zunge spielend. „Das hast Du aus dem Mädchen gemacht, Du – Du – Lump!”
Magnus wußte nicht, was in ihm vorging. Elvi sollte hier frei von Schuld und Fehle dahstehen. Und er allein sollte als Sünder sich verdammen lassen.
Er wußte nicht, was er sprach.
Höhnisch lachte er auf. Elvi – Elvi! Ja – was ich aus ihr gemacht habe. Ja – frage sie nur nach Gustav Schramm! Frage sie doch, ob sie sich nicht mit ihm in der Stadt getroffen hat? Ob sie nicht sehr genau weiß, daß Schramm mich haßt als seinen Nebenbuhler! Ob sie nicht jetzt sein –”
„Hinaus!” gellte des Alten Stimme. „Hinaus. Oder ich –”
Da hatte Frau Rosa den Enkel des Paschas von Barsdorf schon in den Flur gezogen, schloß die Tür, führte den Willenlosen in den Garten.
„Leben Sie wohl, Herr Magnus. Was in meinen Kräften steht, wird geschehen. Ihren Großvater umzustimmen,” sagte sie und drückte seine Hand. „Und – was Elvi Tondern angeht, Lieber Magnus: ich habe längst gewußt, daß sie nur noch zum Schein an Ihnen festhielt. – Leben Sie wohl. Und Gottes Segen mit Ihnen!”
Er Schritt davon. Schritt die Treppen hinan. Kam an dem neuen Hause am Keilberg vorrüber. Blieb stehen und fühlte seine Augen sich nässen.
Sein und Elvis Heim hatte das Haus werden sollen.
Und nun – war er ein Heimatloser, ein Ausgestoßener, ‒ nun war er arm – bettelarm. Alles hatte er verloren. – Frau Agnes wegen! –
Karl Löbbecke war schwer in den Polsterstuhl zurückgesunken.
Die weinende Elvi fühlte plötzlich seinen Kopf hart auf ihre Schulter aufschlagen.
Suchte ihn wieder aufzurichten, den vornüber gesunkenen, schweren Oberkörper. – Schrie nun gellend nach Frau Rosa. –
Der Pascha von Barsdorf war tot.
Und zwei Stunden später sank auch Johann Lechner vom Herzschlag getroffen vor einem großen Mörtelbottich entseelt zusammen. –
Am selben Tage begrub man sie auch. – So kam es, daß das Geheimniss des Hauses am Keilberg mit hinabstieg in die Gräber der beiden Freunde. – Nur eine wußte noch davon. Und die – schwieg.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Der D-Zug rollte gen Berlin. – In einem Abteil 3ter zwischen lärmenden, Karten spielenden Viehhändlern saß Markus Löbbecke scheu zusammengeduckt.
Er war ja so sehr verwöhnt, der Assessor Doktor Löbbecke. Er kannte die Annehmlichkeiten eines unbegrenzten Bankkontos sehr genau. Damit war es nun vorbei – für immer! Ihm wollte das nicht so recht in den Kopf – noch immer nicht! Zuweilen dachte er: Du hast das alles ja nur geträumt, träumst noch! Denn diese dicken schreienden, rülpsenden und spuckenden Männer um Dich herum können doch nicht in die 1. Wagenklasse gehören – unmöglich! Das ist eben das Wiedersinnige wie bei allen Träumen!” – Dann aber riß er die Augen auf und merkte das er tatsächlich in einem Raucherabteil 3ter auf der harten Holzbank saß, daß er nunmehr eben hierher gehörte als armen Schlucker ohne Einkommen und Vermögen.
Auch ohne Einkommen! Denn – aus dem Staatsdienst war er ja bereits freiwillig ausgeschieden, um der Verabschiedung zuvorzukommen. Und sonstwo als Assessor a.d. eine Anstellung zu finden, ‒ das würde schwer halten bei der Überzahl von jungen Juristen, die beständig auf Stellenjagd waren. –
Magnus Löbbecke schloß wieder die Augen.
Ob es nicht das einfachste war, wenn er überhaupt mit diesem kläglichen Dasein Schluß machte? – Was hatte es ihm noch zu bieten – was?! Vier endlose Jahre Festungshaft lagen vor ihm. Wenn er dann wieder frei war, dann konnte der Kampf um das tägliche Brot beginnen. Und diesen Kampf fürchtete er. „Auch in dieser Hinsicht bist Du kein echter Löbbecke,” sagte er sich. „Großvater hat nie verzagt – nie, obwohl ’s ihm auch zeitweise nicht allzu best ging, ‒ damals, als er aus Barsdorf ohne große Geldmittel ein Weltbad zu machen trachtete. – Nein – kein Löbbecke! Du bist aus weicherem Holze geschnitzt – leider. Oder – Du bist verweichlicht durch das Wohlleben, dadurch, das Du nie Sorgen kennen gelernt hast –”
Er klammerte sie fest an diese Hoffnung: Es ist nur Deine ganze Art der Daseinsführung gewesen, die Dich so – energielos gemacht hat! Versuch’ es nur! Das echte Löbbecketum wird schon von selbst in Dir rege werden!”
Und – seltsam genug! Diese Gedanken genügen, ihn die Dinge plötzlich mit anderen Augen ansehen zu lassen. Er spielte nicht mehr mit feigen Selbstmordgedanken; er wurde ruhiger, besonnener; überprüfte seine Lage nochmals und fand nun, daß sie doch nicht so verzweifelt sei, was seine Zukunftsaussichten betraf. Er besaß ja eine elegante Dreizimmereinrichtung, dazu Kunstgegenstände, Gemälde, Altertümer. Verkaufte er das alles, so mußte er mindestens 25000 Mark herrausschlagen.
Er fühlte sich jetzt erleichtert. Der furchtbare seeliche Druck war gewichen. Er konnte jetzt auch im einzelnen wieder vergegenwärtigen, was im Zimmer des Großvaters vor etwa sechs Stunden sich abgespielt hatte.
Er rief sich den Verlauf der Ausprache mit allen Einzelheiten ins Gedächnis zurück; konnte dem Großvater jetzt nicht mehr zürnen der Härte wegen, mit der dieser ihn ausgestoßen hatte. Der Pascha von Barsdorf konnte eben seiner ganzen Charakterveranlagung nach nicht anders handeln. – Nur eins blieb ihm unklar: der Großvater hatte gesagt, das Vermögen habe er vor kurzem verloren. – Nein – daran glaubte er nicht, Niemals! Das konnte vielleicht einem passieren, der spekulierte, aber nicht Karl Löbbecke, der so sicher ging, daß er nicht einmal einer Bank seine goldsicheren Wertpapiere anvertraute, sondern sie stets daheim im Stahlschrank bewahrte. – Nein – hier spielte etwas Besonderes mit. Hier hatte der Großvater unmöglich die Warheit gesagt. Wer weiß, was er mit den Wertpapieren in seiner ersten Erregung angefangen hatte; vielleicht verbrannt: zuzutrauen war ihm das schon.
Magnus zwang seine Gedanken hinweg von diesen Fragen. Mochte das Vermögen geblieben sein, wo es wollte! Ihn ging das nichts mehr an – nichts! Er hätte doch nichts von dem Gelde genommen – niemals! Er besaß auch seinen Eisenkopf. Er war froh darüber.
Er dachte weiter an das Greises anderen Ausspruch: an die Sätze: Verzeihen kann ich Dir nur dann, wenn Dein Herz Dich die Wege weist, die zur Versöhnung mit der führen, die Du so gewissenlos betrogen hast!
Also zur Versöhnung mit Elvi! – Hierauf hatte der alte Mann gehofft! Er liebte das Hascherle eben wie sein eigenes Kind! – Und ahnte doch nicht, daß Elvi diese Wege längst selbst versperrt hatte, die den Enkel wieder zu ihr hätten zurückführen können. – Elvi gehörte ja bereits einem anderen, gehörte Gustav Schramm. – Es mußte so sein! Mußte! Denn – hätte Elvi wohl zu den Vorwürfen geschwiegen, die ihm in maßloser Erregung über die Lippen geflossen waren?! – Nein – das hätte sie nicht getan. Sie hatte also durch ihr Schweigen zugegeben, daß sie sich heimlich in der Kreisstadt mit dem Anderen traf.
Eine gewisse kampfesfrohe Stimmung überkam ihn. Er nahm sich vor, an Elvi sofort zu schreiben, sie zu bitten ganz ehrlich zu sein. – Er wollte Gewißheit haben – und dies so schnell wie möglich. –
Jetzt erst merkte er plötzlich, nachdem er sich mehr und mehr zu sich selbst zurückgefunden, daß er Hunger verspüre, der sich bereits bis zu körperlichen Schmerz gesteigert hatte. Er stand auf und ging nach dem Speisewagen. Er durchquerte die Gänge der zwischenliegenden Wagen. Und – gewahrte plötzlich vor der Tür eines Abteils 1ter Klasse eine schlanke Frauengestalt; stutzte, schaute genauer hin.
Sie war’s: es war seine Reisegefährtin. Sie stand und schaute versonnen in das abendliche Land hinaus: dorthin wo am Himmel die Röte des Sonnenuntergangs über dunklen Waldstrichen flammte.
Und diese Röte färbte auch ihr Antlitz tiefer, gab ihm einen besonderen Reiz, wenn es dessen überhaupt noch bedurft hätte.
Magnus Löbbecke fielen ihre Worte ein: „Warten wir ab ob nicht die Bestimmung uns wieder zusammenführt –”
Und – es war so gekommen! Das Fatum hatte sie beide wieder vereint! –
Armer, ahnungsloser Magnus! Der Ränkesucht zweier Weiber seit langem ein Opfer, sollst Du nun noch weiter hineinverstrickt werden in diese Schlau ersonnenen Netze. –
Magnus freute sich über das Wiedersehen. Hastiger Schritt er auf sie zu.
„Guten Abend Gnädigste!” Das klang so froh.
Sie wandte schnell den Kopf.
„Sie – Sie?!” stammelte sie und wich etwas zurück.
„Ja – ich! – Weshalb denn so entsetzt, Gnädigste?”
Sie schaute zu Boden; ihr Blick hob sich, elite in das Rot des Abendhimmels zurück.
Und leise, etwas verträumt sagte sie:
„Weil – ich Fatalistin bin. Ich sehe jetzt mein Schicksal voraus –”
Er verstand sie nicht.
„Ihr Schicksal? – Ja – was hat das mit mir zu tun?” meinte er unsicher.
Sie blickte ihn offen an. In ihren Augen war versteckte Zärtlichkeit, strahlten Hingebung und Weichheit.
„Kommen Sie!” sagte sie nur. Und sie betrat das Frauenabteil, in dem sie bis dahin allein gewesen, schloß die Tür, zog die Vorhänge zu. Dann setzte sies ich, winkte ihm.
„Bitte – hier Neben mir. – Und nun erzählen Sie, mein Freund. Ich sehe es Ihnen an. Sie müssen seit unserer Trennung Schweres durchgemacht haben. Sehr Schweres. Ihr Gesicht hat den Ausdruck derer, die eine großen Leid verbergen –”
Das klang so ungekünstelt, so zwanglos-kameradschaftlich, daß Magnus in einer heißen Aufwallung leicht erklärlichen Mitteilungsbedürfnisses ihre Hand ergriff und stammelte:
„Ja – Sie haben recht. Ich habe furchtbare Stunden hinter mir. – Sie sollen alles Wissen – alles. Ich brauche nicht viel – Ihrem „Roman” hinzuzufügen. Ihrem „Roman”! Denn – ich selbst bin eine der handelnden Personen! Ich bin der Verlobte, der den Gatten Frau Agnas erschoß –”
Sie sprang auf, streckte die Arme abwehrend aus.
„Nein – nein!” stotterte sie. „Das – das ist ja nicht möglich! Einen solchen Zufall kann es nicht geben!”
Auch er erhob sich, griff nach ihren Händen: Sie überließ sie ihm willig.
„Ich werde ihnen berichte, was ich erlebt. – Und – dann sollen Sie mir raten, ob –”
Er schwieg. Denn sie hatte leise aufgeschluchzt.
„Sie tun mir so leid, Sie Ärmster,” flüsterte sie nun.
Halbe Dunkelheit umgab die beiden. Und Magnus Löbbecke saß nun wieder Neben ihr und hatte ihre Hände noch immer in den seinen und erzählte.
Und nun fragte er;
„Meinen Sie nicht auch, daß doch noch die Möglichkeit besteht, meines Großvaters Herzenswunsch könnte in Erfüllung gehen und zwischen Elvi und mir eine Aussöhnug stattfinden? – Sprechen Sie ganz ehrlich. Ich bitte Sie darum –”
„Nein – nein!” rief sie leise und machte ihre Hände frei, rückte von ihm ab. „Nein – bitten Sie nicht darum! Ich – ich müßte Ihnen ja neuen Schmerz zufügen –”
Magnus Löbbecke fühlte, daß sie mehr wüßte, als sie auf der Hinreise von dem „Roman” ihm berichtet.
Abermals tastete er nach ihren Händen. Und dann fragte er hart: „Sprechen Sie ohne Scheu! Besser, Sie heilen mich jetzt ganz, als daß Sie mich noch länger im Unklaren lassen –”
Sie sträubte sich; suchte ihr Hände den seinen wieder zu entwinden. Er wurde fast brutal in dem Streben, sie zu einer Antwort zu zwingen.
Und es kam, wie sie berechnet hatte. Dieses stumme Ringe, bei dem ihre Leiber sich berührten, weckte in ihm jäh ganz andere Gefühle.
Er wußte nicht, wo er plötzlich den Mut hernahm: er legte den Arm um sie, preßte sie an sich.
„Antworten Sie!” keuchte er schwer atmend.
Sie lehnte an seiner Brust: hatte den Kopf gesenkt: weinte leise.
Dann kam’s stockend über ihre Lippen:
„Meine Freundin – hat Elvi und den Anderen – selbst einmal – im Walde – überrascht –“
Magnus lachte heiser auf. – Überrascht! Er verstand! Und es war ihm, als ob Elvis Bild in seinem Herzen jetzt langsam erlosch wie ein ausgehendes Flämmchen.
Und er hielt die Andere in den Armen, die an seiner Brust weinte und deren Haar ihm entgegenduftete mit lockendem Reiz.
„Weshalb weinen Sie?” fragte er mit sanfter Zärtlichkeit.
„Weil Sie mein Schicksal sind,” klang’s leise zurück. „Ich bin Fatalistin. Unser Weg ist uns vorgezeichnet, ‒ genau wie die Punkte unseres Lebens, wo wir denen begegnen werden, die unseren Pfad kreuzen –”
Sie schwieg und schmiegte sich enger an ihn, regte sich dann nicht mehr. Lange saßen sie so. Es wurde dunkler und dunkler.
Sie weinte längst nicht mehr: sie wartete. – Und – das Weib siegte über den Mann, dessen zerissene Seele nach Trost und Ablenkung suchte.
– – – – – – – –
Die heißen Küsse ihrer Lippen glühten noch auf seinem Munde.
Der Zug war in Berlin angelangt. Sie stiegen aus. Nichts wußte Magnus von ihr – nichts. Nur das, was sie ihm auf der Hinreise gesagt: Malerin – München. – Er hatte keine Zeit gehabt, sie zu fragen.
„Jetzt, wo sie den Bahnhof verließen, meinte er:
„In welchem Hotel wirst Du absteigen, Liebes?”
„Dort, wo ich hingehöre.” Sie drückte seinen Arm. „Bei Dir! Du bist ja doch mein Schicksal –”
Sie fuhren im Auto nach der stillen Straße an dem friedlich fließenden Kanal, dessen Ufer mit alten Linden bestanden waren.
Er trug ihr geringes Gepäck hinein: eine Reisetasche, den leichten Koffer; holte dann sein eigenes, den größeren Rohrplattenkoffer, den er in Barsdorf auf den Bahnhof gelassen und nicht mit nach des Großvaters altem Häuschen genommen hatte.
Sie hatte bereits in seinem Arbeitszimmer Hut und Seidenmantel abgelegt; stand unter der Krone und lächelte ihm entgegen.
Er stellte den Koffer hin, riß sie an sich, küßte sie – ließ sie nicht los. Auf dem Diwan mit dem großen Eisbärenfell schlugen die Flammen wilder Leidenschaft über ihnen zusammen.
Er wähnte sich glücklich, namenlos glücklich. Was sie ihm an Seligkeiten freiwillig schenkte, konnte ihm kein anderes Weib spenden, glaubte er.
Jetzt saß sie auf seinem Schoße, flüsterte. – Dunkelheit ringsum: nur der Laternenschein von der Straße fiel durch die Vorhänge wie gelbliches Mondlicht.
„Du sollst nun wissen, wer ich bin. Wir gehören ja zusammen für den Rest des Lebens. Das Fatum hat uns aneinander geschmiedet –”
Ein Gefühl der Kälte kroch Magnus Löbbecke für einen Moment über den Rücken.
„Ich heiße Eva – Eva Michael –“
Er zuckte auf wie unter einem Nadelstich.
„Michael – Eva Michael?” wiederholte er unsicher.
„Ja. – Meinen Vater habe ich nie gekannt. Auch an meine Mutter erinnere ich mich kaum. Wir haben uns entzweit. Sie lebt noch. Wo weiß ich nicht. Sie hatte sich nach kurzer Ehe von meinem nunmehr verschollenen Vater getrennt. Ich wuchs unter Fremden auf, Mein Talent für die Malerei zeigte sich früh. Zuletzt lebte ich in München. – Für heute mag Dir dies genügen. Liebster –”
Sie küßte ihn innig in ihrer süßen Liebesmattigkeit.
„Nur eins sollst Du noch wissen, Magnus. Daß Du der erste bist, dem ich meine Lippen darbot. Man nennt mich in Künstlerkreisen die – Eiseva. Man hält mich für temperamentlos –”
Sie lachte leise und girrend, küßte ihn abermals.
„Temperamentlos!” flüsterte sie und preßte sich an ihn in neu erwachten Begehren. „Sag’, ‒ bin ich’s? – Nein – ich habe nur all meine Glut für den aufgespart, der da kommen mußte, auf den ich wartete –”
Magnus Löbbecke vergaß alles ringsum – alles.
Er wähnte die Reinste, Schönste in den Armen zu halten.
Dann gingen sie noch aus in ein nahes, lauschiges Weinrestaurant: aßen, sprachen ernst über die Zukunft.
Magnus wollte seine Strafe sofort antreten. – Alles, was sie beschlossen, regte Eva an. Sie leitete ganz unmerklich seinen Willen: sie verstand Männer zu behandeln. –
Noch fünf Tage genossen sie der Liebe Glück. Magnus blieb wie ein Berauschter. Dann ließ er seine Einrichtung versteigern: nahm von dem Gelde nur das Nötigste mit. Das andere behielt Eva in Verwahrung. Sie begleitete ihn nach der kleinen Festung, die dicht an einem Strome unweit der See lag.
Sie küßten sich vor dem mächtigen Tore aus Granitquadern, daß am Ende einer eisernen Zugbrücke durch den hohen, grünen Wall hindurchführte.
„Ich komme bald wieder,” tröstete sie ihn. „Mein kleiner Haushalt in München ist bald aufgelößt –”
Er schaute ihr nach und kam sich jetzt schon wie ein ganz Einsamer vor. –
Man wies ihm seine Gefangenenstube im Mittelturm an. Eisengitter vor den Fenstern waren das einzige, was an ein Gefängnis erinnerte. Sonst war das Stübchen fast wohnlich: etwa einer ganz bescheidenen Studentenbude entsprechend.
Am dritten Tage nach seinem Einzug erhielt Magnus zwei Briefe. Einen von Eva: acht Seiten voller Sehnsucht, Liebe und Trost. – Der zweite kam vom Amtsgericht der Kreisstadt, die dem Badeorte Barsdorf benachbart war. Er enthielt die Abschrift des Testaments des Gemeindevorstehers a.D. Karl Löbbecke mit dem Zusatz:
„Diese letztwillige Verfügung können Sie anfechten, da Ihr Pflichtteilsrecht dadurch verletzt ist.”
Jetzt erst erfuhr Magnus so den Tod seines Großvaters, der am gleichen Tage erfolgt war, an dem der Pascha von Barsdorf mit zittriger Schrift sein Testament aufgesetzt hatte.
Magnus war völlig gebrochen. Er ahnte, daß sein Besuch das Ende des Gelähmten herbeigeführt hatte.
Dann laß er das Testament nochmals. Es enthielt nur das, was Karl Löbbecke seinem Enkel damals schon mündlich mitgeteilt hatte, außerdem folgende rätselhafte Schlußbemerkung:
„Mein Enkel weiß, weswegen er leer ausgeht. Findet er den richtigen Weg, wird Störtebecker ihm helfen, glücklich zu leben.”
Magnus wußte nicht, was der berüchtigte Seeräuber Klaus Störtebecker, der um das Jahr 1400 die Nordsee und weite Küstenstriche der Ostsee unsicher gemacht hatte, den die Hamburger dann fingen und hinrichteten und der noch immer in allerhand Sagen im Munde der Strandbewohner fortlebte, mit dem richtigen Wege zu tun haben könnte, ‒ dem Wege zurück zu Elvi, die nun für ihn ganz verloren war. –
Elvi! Elvi! – Da tauchte ihr Bild wieder vor ihm auf. Da durchzuckte ihn wieder ein jäher Schmerz.
Elvi! Er glaubte überwunden zu haben.
Und ging nun doch oben auf den Wall und setzte sich in das Gras in den hellen Junisonnenschein.
Sah drüben zwischen den Baumwipfeln das Meer, die Ostsee, deren Wellen auch den Strand von Barsdorf bespülten.
Elvi! – Der Schmerz wurde immer tiefer, ernster. Magnus Löbbeckes Seele war jetzt frei von dem Sinnendunst Evas. Und die befreite Seele sehnte sich nach der Heimat, nach der blonden, keuschen Elvi, schwang sich über die trennende Weite hinweg und umkreiste die beiden Häuschen, daß in der Keilschlucht und das andere droben am Keilberg. –
Ein Boot überquerte den Strom, an dem die Festung lag. Eine Frau stand aufgerichtet in dem breiten Fährnachen, sandte nun einen Jauchzer hinauf zu dem einsamen Grübler.
Magnus sprang auf.
Elvi war vergessen. Eva war wieder da.
Er wikte ihr zu. Und da gerade heute der fünfte Tag war, wo er fünf Stunden Freizeit außerhalb der Wälle verbringen durfte, durfte er sie nachmittags in die Arme schließen.
Sie hatte in dem nahen Fischerdorfe zwei Zimmer gemietet. Das Haus lag so, daß Magnus es von der Wallkrone sehen konnte.
Eva verscheuchte Elvis Bild wieder vollständig. Die fünf Stunden flogen dahin. Aber diesmal war der Abschied leicht. Denn Magnus hatte ja die Erlaubnis, vormittags die Freizeit zum Baden in der See zu benutzen. So würde er sie nun jeden Tag wiedersehen. Und die Haft würde keine Strafe mehr sein.
– – – – – – – –
Eva hatte ihn bis zum Festungstor begleitet, kehrte heim in die neue Wohnung und ging dann hinab zum Strande, wo ein bescheidenes Kurhaus sich erhob. Sie fragte den Portier nach Frau Rosa Meier. Und auf Zimmer Nr. 6 trafen Mutter und Tochter zusammen.
Frau Rosa zog ihr Kind flüchtig an sich. Für überflüssige Zärtlichkeiten waren sie beide nicht.
Sie sahßen nebeneinander und flüsterten nur. Frau Rosa erzählte von dem Nachsatz im Testament des Paschas: der Name Störtebecker kam oft über ihre Lippen.
„Es ist ganz sicher: Der Alte hat seine Wertpapiere irgendwie im Schweizerhäuschen durch Johann Lechner verstecken lassen. Und dieses Versteck hängt mit Störtebecker irgendwie zusammen. – Ich sah ja, wie Lechner damals das Haus am Keilberg verließ. Aber – was mag’s nur mit Störtebecker zu schaffen haben? Du bist doch klug, Eva. Überlege Dir das alles. Der Alte besaß nahezu eine Million.”
Dann sprachen sie über Magnus. Und Eva erklärte:
„Ich habe es in der Hand, seine baldige Begnadigung durchzusetzen. Ich werde noch drei Monate hingehen lassen. Bis dahin muß er mich heiraten.”
Frau Rosa nickte. „Aber – sei vorsichtig, Kind? Er darf um keinen Preis erfahren, daß Du Agna kanntest. Die Löbbeckes sind nicht dumm. Ist er erst einmal mißtrauisch geworden, werden wir schweren Stand haben. Er wird Elvi Tondern so leicht nicht vergessen. Vielleicht vergißt er sie nie. Du hast ihn jetzt im Netz. Aber dem Netz fehlt etwas an der rechten Haltbarkeit: die wahre Liebe! Nur seine Sinne gehören Dir. Seine Seele der Anderen. Eine Jugendliebe ist schwerer auszujäten als Unkraut –”
Eva kniff die Lippen zusammen.
„Er soll – er muß ganz mein sein, Mutter, ‒ restlos mein! In unserem Spiel hatten wir eins nicht berechnet: daß ich ihn vielleicht wirklich lieben lernen könnte –”
Sie erhob sich, ging zum Fenster, starrte auf das im Abenddunkel graue, düstere Meer hinaus.
„Ich liebe Magnus,” fügte sie hinzu. „Er ist in Wahrheit mein Schicksal geworden –”
Frau Rosa lachte ironisch auf.
„Du – Du liebst ihn?! Aber Eva – bilde Dir doch das nicht ein! Wenn er noch der erste wäre, dem Du Dich –”
Das junge Weib fuhr herrum.
„Schweig! Schweig! Ich wünschte, er wäre der erste gewesen. Dann – dann wäre meine Schuld geringer, dann hätte ich ihn nicht so raffiniert mir zu Willen machen können. – Doch lassen wir das –”
– – – – – – – –
Ein erfrischender Lufthauch kam über die See und raschelte in den gelben Halmen des bedürfnislosen Strandhafers, rauschte in den niederen Krüppelkiefern und drückte Evas leichte Batistbluse prall an die volle Rundung ihrer Brust.
Eva und Magnus saßen auf ihrem altgewohnten, versteckten Plätzchen in den Dünen. Er hatte den Arm um sie geschlungen: sie lehnte halb an einem Baumstumpf, über den er seinen Lodenmantel gebreitet hatte.
Magnus war schmal und hohlwangig geworden. Er hatte die einsamen Nächte in seiner Zelle fürchten gelernt; er träumte stets von Elvi. Und am Tage küsste er Eva, berauschte sich an ihren ungestümen Zärtlichkeiten, die das einzige Band zwischen ihm und ihr bildeten.
Eva liebte ihn. Aber das Ziel behielt sie stets im Auge. Sie war an Luxus und Wohlleben gewöhnt, ‒ sie, die erst eines Prinzen Geliebte gewesen und dann auch in Berlin einem Börsenfürsten ein Liebesglück vorgetäuscht hatte. Geld floß ihr wie unruhiges Quecksilber durch die Finger. Ihre Liebhaber hatten stets reichlich gegeben. Aber Eva verstand das Erschmeichelte nicht festzuhalten. Außerdem galt ihre Sehnsucht einer Ehe – einer Heirat mit einem gebildeten Manne. Da war es ihre Mutter gewesen, die ihr vor einem halben Jahr erklärt hatte, ihr Wunsch könnte vielleicht in Erfüllung gehen; stets habe sie an Magnus Löbbecke gedacht. – Und so war denn das Intriegenspiel eingeleitet worden. –
Eva schmiegte sich enger an Magnus.
„Küsse mich, Du” wisperte sie. „Du bist heute so geistesabwesend. Woran dankest Du, Liebster?”
Er streichelte zerstreut ihr dunkles Haar.
„An – Störtebecker, Eva. Er erscheint in meinen Träumen stets als geheimnissvolle, oft grausige Figur. Ich sehe ihn, wie er auf dem alten Ölgemälde dargestellt ist. Daß oben in Großvaters Rumpelkammer stand, ‒ auf dem Schaffot, lächelnd, selbstbewußt, tapfer, mit wehendem blonden Vollbart. Es nickt mir dann regelmäßig zu, der berühmteste deutsche Pirat, und ruft auch irgend etwas –”
Eva war aufmerksam geworden.
„Das Bild hast Du noch nie erwähnt, Magnus. – Was ist denn daraus geworden?”
Er zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Es wird wohl noch auf dem Hausboden stehen –“
„Seltsam,” murmelte sie. „Und Dein Großvater hat doch gerade Störtebecker in der Nachschrift seines Testaments erwähnt –”
„Ja.”
Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen waren feucht.
„Magnus, ‒ liebst Du mich – nur mich?” flüßterte sie. Denn sie wußte ja von ihrer Mutter, daß es des Barsdorfer Paschas lebhafter und sozusagen letzter Wunsch gewesen, zwischen Elvi und Magnus möchte es zu einer Aussöhnung kommen; sie kannte also die Bedeutung des Testamentszusatzes, so weit er mit Elvi zusammenhing. Und gerade sein kurzes „Ja” hatte die Eifersucht auf des Geliebten erste Braut bei ihr in diesem Moment bis ins unerträgliche gesteigert. Sie hoffte, daß er endlich sich frei gemacht habe dem Bilde der Anderen.
„Ob ich nur Dich liebe?” wiederholte er langsam und mit schwerfälligem Silbenfall wie einer, der mit seinen Gedanken von weit her in die Gegenwart zurückkehrt. „Wen sollte ich außer Dir noch lieben, Eva? Ich habe keine Eltern, keine Geschwister. Ich habe nur Dich –”
Sie war nicht zufrieden mit dieser Antwort.
„Eltern – Geschwister?!” meinte sie hastig. „Ich denke an eine andere Art Liebe, Magnus, an die Liebe zwischen Weib und Mann –“
Er schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er müde:
„Quäle mich doch nicht mit so törichten Fragen, Liebling. Noch acht Tage, dann bin ich doch ganz Dein. Dann bin ich Dein Gatte auch vor den Menschen; dann trägst Du meinen Namen –”
An einem Donnerstag fand ihre standesamtliche Trauung in dem nahen Hafenorte statt. Magnus hatte zwei Tage Urlaub zu seiner Hochzeit erhalten. Das schmucke Fischerhäuschen beherbergte ihn da zum ersten Male auch über Nacht.
Am Morgen, nachdem sie auch gesetzlich sein Weib geworden, saßen sie in der Laube des Häuschens beim ersten Frühstück. Eva sah in dem duftigen Morgenkleide reizend aus. Magnus fühlte sich heute wieder fast restlos glücklich und heiter. Seine Stimmungen wechselten ja so oft.
Seine frohe Laune fand in ihrem Herzen lautesten Wiederhall. Hand in Hand saßen sie und sprachen von der Zukunft. Schon vorher hatte Eva in ihm durch allerlei Bemerkungen wiederholt seine Gedanken auf das angeblich verloren gegangene Vermögen seines Großvaters hingelenkt, so das er ganz ällmählich sich hiermit in Gestalt von allerlei Mutmaßungen zu beschäftigen pflegte.
Jetzt kam Eva abermals darauf zu sprechen.
„Er wird es verschenkt haben,” meinte sie leichthin. „Uns hätte es recht viel genützt, dieses Geld. Du hättest Dich an irgend einem geschäftlichen Unternehmen beteiligen können –”
Er seufzte. „Erst muß ich frei sein, Liebling. Noch endlose Jahre liegen vor mir, die ich dort in meiner Festungsstube zubringen muß. Wenn ich Dich nicht hätte, wüßte ich nicht, wie ich sie ertragen sollte.”
Sie lachte leise. Sie hatte ein perlendes, schönes Lachen an sich, daß so harmlos-heiter klang.
„Du – Du Lieber!” sagte sie innig. „Ich habe ja noch eine Überraschung für Dich bereit – mein Hochzeitsgeschenk! – Endlose Jahre fürchtest Du noch als Gefangener verleben zu müssen?! – Nein, Lieber, ‒ vielleicht nur noch wenige Monate, vielleicht nur noch zwei – drei –”
Sie umhalste ihn, küßte ihn.
„Ja – Da machst Du ein Gesicht!” rief sie froh. „Ein Gesicht, als dürftes Du meinen Worten nie Glauben schenken. Und doch ist es so! – Also höre, Liebster. Die Sache ist so einfach, so sehr einfach. Ich kenne in Berlin einen Herrn in sehr angesehender Stellung, der sich für Deine Begnadigung verwenden will. Der Herr will seine Namen jedoch verheimlicht wissen. Er hat mich verpflichtet, ihn selbst Dir zu verschweigen. Jedenfalls wirst Du noch heute ein Gnadengesuch einreichen. Was Du darin zu Deiner Entschuldigung anführen sollst, hat unser Gönner mir genau angegeben. Frau Agna war nämlich eine von jenen Frauen, die die Liebhaber wie die Handschuhe wechseln. Ihr Vater hat sie jetzt in einen Nervensanatorium untergebracht, und der leitende Arzt hat nach längerer Beobachtung ein schriftliches Gutachten dahin abgegeben, daß Frau Agna – sagen wir an – krankhafter Männertollheit leidet. Unter diesen Umständen wird man die ganze Sachlage nunmehr weit milder beurteilen. Man wird Dich für den Verführten, für das Opfer einer Geisteskranken halten. Der traurige Ausgang des Duells fällt ja auch mehr dem Zufall zur Last. Die Distanz von zwanzig Schritt und der nur vereinbart gewesene zweimalige Kugelwechsel zeigen ja, daß Du nie die Absicht gehabt hast, Deinen Gegner aus der Welt zu schaffen, zumal Du nachweisen kannst, daß Du nie Jäger und ein ganz ungeübter Pistolenschütze warst. – Kurz, Liebster, ‒ der betreffende Herr hat mir die größten Hoffnungen gemacht. Er schrieb mir, Deine baldige Begnadigung sei ziemlich sicher.”
Magnus Löbbecke zog Eva fester an sich.
„Du – Du – wie soll ich Dir nur danken?! Jetzt sehe ich, wie sehr Du mich lieben mußt –”
Er küßte sie. Er war ganz gerührt. – Dann schmiedeten sie wieder Zukunftspläne. Magnus war jetzt wie ausgewechselt.
„Unter diesen Umständen,” meinte er, „ist es geradezu meine Pflicht Dir als meiner Frau gegenüber, mich um die Vermögensangelegenheit meines Großvaters zu kümmern. Ich kann sterben. Du sollst dann nicht mittellos zurückbleiben. – Gewiß – ich habe mir die Sache schon wiederholt durch den Kopf gehen lassen. Bin ich erst frei, so untersuche ich diese etwas rätselhafte Geschichte ganz genau. Wozu bin ich denn wohl Jurist gewesen?! Der Fall gehört vielleicht so halb in das kriminalistische Gebiet. Gerade das liegt mir am besten –”
„Untersuchen,” wiederholte Eva bedächtig. Ja – und man tut’s wohl am richtigsten an Ort und Stelle –”
Magnus Kopf schnellte hoch.
„Wie?! An – Ort und Stelle? In Barsdorf?”
„Warum nicht, Liebster?” erklärte sie harmlos. „Ich will Dir nur anvertrauen, daß meine Mutter zweimal an mich geschrieben hat. Sie möchte sich mit mir aussöhnen. Sie nimmt uns fraglich sehr gern für einige Zeit bei sich auf –”
Sie beobachtete ihn wieder: sie sah die Veränderung in seinen Zügen; alle Heiterkeit, alle Frische war daraus verschwunden. – Eva glaubte jetzt die Zeit für gekommen, auch noch ihren besten Trumpf auszuspielen. Vorgestern hatte die Mutter ihr die große Neuigkeit brieflich mitgeteilt. – Ach – und wie hatte Eva da frohlockt, als sie das – gerade das las! Nun war die Gegnerin für immer erledigt. Nun würde Magnus nicht länger sich mit Zweifeln abquälen, ob Elvi wirklich mit Gustaf Schramm ihm gleichfalls die Treue gebrochen habe.
Sie sprach weiter – abermals ohne besondere Betonung, als messe sie dem, was sie sagte, keine große Bedeutung bei.
„Gewiß – Dir mag es nicht angenehm sein, Elvi Tondern wieder zu begegnen. Da sie sich aber letztens mit Schramm verlobt hat, wie meine Mutter mir schrieb, und auch sehr bald heiraten wird, siehst Du sie als Frau eines anderen wieder. Und das mindert für Euch beide die Peinlichkeit –”
Magnus schloß die Augen wie in jähem Schwindelanfall. Alles Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Doch nur Sekunden dauerte der schneidende Schmerz, den seine Seele bei dieser Nachricht empfunden hatte.
Er lachte ironisch auf.
„So – so! Also sie heiratet ihn nun wirklich! Na ‒ meinen Segen hat sie, die – keusche Blonde, Großvaters „reines” Hascherle –”
Eva schwieg dazu. Sein Erbleichen hatte ihr genug gesagt. Er hatte Elvi nicht vergessen gehabt.
Inzwischen hatte Magnus weitergesprochen.
„Vielleicht ist es wirklich am besten, wir ziehen zunächst nach Barsdorf. Großvater hat mit diesem „Störtebecker” in seinem Testament fraglos einen ganz besonderen Hinnweis geben wollen. – Damit auch das endlich offen gesagt sei: er wollte ohne Zweifel, daß Elvi Tondern und ich trotz allem noch ein Paar würden. Vielleicht hängt „Störtebecker” mit dem verschwundenen Vermögen zusammen. Das muß nachgeprüft werden. Jedenfalls werde ich nun Gegen jeden, sei es, wer es sei, ganz rücksichtslos vorgehen, der mein Erbrecht irgendwie geschmälert hat –”
Eva beugte den Kopf tiefer, küßte ihn.
„Ja – das bist Du mir als Deiner Frau schuldig.”
Küßte ihn nochmals. Und der weiche Körper in seinen Armen täuschte ihm von neuem ein wahres Glück vor.
Elvi war für ihn jetzt endgültig tot.
So glaubte er in diesem Augenblick.
– – – – – – – –
In Barsdorf und der nahen Kreisstadt bildeten die Vorgänge, die mit dem Tode des allverehrten Paschas in irgend welchen Beziehungen standen, wochenlang das Tagesgespräch.
So allerlei über die Enterbung des Enkels und die Auflösung der Verlobung der liebreizenden Elvi mit dem „feinen” Herrn Assessor, der nicht einmal zum Begräbnis erschienen war, hatte doch dank der Andeutungen Frau Rosas den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Bald wußte jedes Kind in Barsdorf, daß Magnus Löbbecke „einen kalt gemacht” hatte und nun „ins Zuchthaus” müsse: bald galt er in der Meinung der biederen Bevölkerung als ein Scheusal in Menschengestalt.
Schließlich – und niemand konnte sagen, wie dies heimliche Getuschel entstanden und woher es seinen Ursprung genommen – kam zu alledem abermals ein neues hinzu.
Freilich – hierüber sprach man nur mit größter Vorsicht und stets unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit. Keiner wollte sich die Zunge verbrennen – keiner! Man redete nur durch ganz schwache Andeutungen über dieses Skandälchen, nur durch ein vielsagendes feiges Lächeln und ebenso feiges Achselzucken.
Das Getuschel rann wie ein Bächlein üblen Schmutzwassers allgemach durch alle Straßen des Badeortes, rann weiter zur Kreisstadt, wo der junge Tischlermeister Gustav Schramm wohnte und in der Nähe gerade seine neue Fabrik eröffnet hatte.
Es war öffentliches Geheimniss, daß Schramms Geldgeber sein früherer Lehrherr in Stettin war. Der besaß jetzt Millionen und hatte stets große Stücke auf seinen ehemaligen Gesellen gehalten. Als Schramm ihn dann eines Tages besucht und ihm den Plan für die Neugründung mit allen Einzelheiten schriftlich vorgelegt hatte, da war der Millionär beim Lesen immer eifriger geworden.
So wurde Gustav Schramm Fabrikherr.
Die Schneidemühle mit allem Drum und Dran lag halbwegs zwischen Barsdorf und der Kreisstadt, aber noch auf der letzteren Gebiet. Schramm wohnte vorläufig noch in der Stadt. Morgens fuhr er regelmäßig mit dem Rade hinüber und blieb bis zum Abend in der Fabrik, griff überall mit zu, erledigte nebenbei noch einen Teil des Schriftwechsels und – war froh, daß er in Arbeit fast erstickte. Nur so konnte er die Gedanken bannen, die ihn stets wie schwarzeVögel umkreisen wollten.
Als Elvi sich mit seinem Jugendfreunde Magnus verlobte, da war er in einem Boot weit in die Barsdorfer Bucht hinausgerudert und hatte einen Strick und einen schweren Stein mitgenommen.
Aber – ein Selbstmord dünkte ihm dann doch Feigheit. Der Stein plumste über Bord, ohne ihn mit in die Tiefe zu ziehen.
Dann kam des Paschas Tot; dann hatten die Barsdorfer und die Kleinstädter den vielen Gesprächsstoff; dann ereignete es sich, daß Gustav Schramm eines Tages im August mit seinem Werkführer geschäftliche Dinge besprach und das dieser, eine offene, grundehrliche Natur, ziemlich unvermittelt fragte:
„Herr Schramm, an Ihrer Stelle würd’ ich mich mit dem Mädchen verloben. Es wär’ für das arme Ding das beste. Sie traut sich ja kaum mehr aus dem Hause heraus. Die Kinder in Barsdorf schreien ihr häßliche Worten nach. Und in der Stadt reden alle nur noch von dieser widerwärtigen Lügengeschichte.”
Schramm hatte die Farbe gewechselt. Er war so überrascht, so bestürzt, so ahnungslos, daß er den Werkführer sprachlos anstierte wie einen, der seiner Sinne nicht ganz mächtig.
Dann fand er Worte, hastete hervor: „Lügengeschichte? – Ja – um was handelt es sich denn? Ich – ich weiß ja von nichts – nichts –”
Der Werkführer spie den Kautabacksaft wütend aus.
„Glaub’ ich schon, daß Sie nichts wissen. Ihnen wird’s keiner ins Gesicht sagen,” knurrte er. „Man kennt ja so ‘n Gerede. Der, den ‘s angeht und vor dem die Lügen- und Verleumderbande Angst hat, ‒ der erfährt zuletzt davon, ‒ wenn’s eben schon zu spät ist, den Halunken. das Maul zu stopfen! – Herr Schramm, die Sach’ ist also die: hier in der ganzen Gegend erzählt man sich, daß Fräulen Elvira Tondern auch nicht ganz schuldlos an dem Auseinandergehen ihrer Verlobung ist, ‒ nämlich weil sie – ja – sie soll mit Ihnen so ganz in aller Heimlichkeit angebandelt haben und nun – Ihre –”
Schramm war kreideweiß geworden. Er packet den Werkführer mit beiden Händen bei den Schultern, keuchte hervor:
„Ihre – Ihre, ‒ was – Ihre?”
„Na – die Wahrheit muß heraus – also Ihre Geliebte sein. Und das sollen Sie beide so schlau verheimlichen, daß –”
Schramm hatte dumpf aufgebrüllt. Eine ungeheure Wut verzerrte sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.
„Wer – wer hat Ihnen – das – erzählt?” zischte er jetzt.
Der Werkführer zuckte mit die Achseln. „Wer – wer? – Da kann ich nur sagen: alle hier – und doch niemand. Das kommt einem so zu Ohren, wie anmarschierende Militärmusik. So ein Ton nach dem anderen, bis’s zur Melodie geworden. – Bei Gott, Herr Schramm, ‒ alle wissen davon, alle tuscheln. Und direkt sagt doch niemand was –”
Gustav Schramm suchte ruhiger zu werden. Er began den anderen auszufragen. –
Das geschah am Vormittag.
– – – – – – – –
Über den wahren Charakter der Frau Sanitätsrat Herta Tondern war man sich in den Kreisen der Barsdorfer tonangebenden Herrschaften nicht ganz einig. Jedenfalls stand fest, daß man ihren Vornamen gern etwas veränderte und sie vielfach die „harte” Tondern nannte, ‒ Sie stammte aus einer Kleinstadt und aus der Familie eines unteren Beamten. Als der praktische Arzt Doktor Felix Tondern sie dann zur Gattin erkor, war ihr fraglos die für ihre ganzen Verhältnisse glänzende Heirat derart zu Kopfe gestiegen, daß sich sehr bald bei ihr ein ebenso lächerlicher wie maßloser Hochmut entwickelte, nebenher aber noch das eifrige Bemühen, den „studierten” Kreisen, zu denen sie nun gehörte, selbst im Kleinsten alle Ehre zu machen. Diese nicht gerade für besonders hoch stehende geistige Veranlagung sprechenden Schwächen mußten zur Folge haben, daß sie nichts so sehr anbetete als den Götzen „Öffentliche Meinung”. Ihr Tun und Lassen kannte nur eine Richtschnur: „Was werden die Leute dazu sagen?” so befragte sie sich bei all und jedem, was sie vornahm.
Dann kam der furchtbare Tag, an dem der Pascha von Barsdorf sie mittags zu sich bitten ließ und ihr die Zeitungsartikel über die Eheirrung in Berlin W zu lesen gab.
Da hatte die harte Frau Sanitätsrat ganz fassungslos dagesessen. Vier Jahre Festung! Und – die Hochzeit hatte doch demnächst stattfinden sollen – demnächst! – Was nun – was nun?!
Daran, daß diese Ehe jetzt überhaupt unmöglich geworden, dachte sie nicht. Sie dachte nur: Ein Skandal muß um jeden Preis vermieden werden. Nichts hiervon darf an die Öffentlichkeit dringen.
Das erklärte sie auch dem mit finsterem Gesicht zuhörenden alten Löbbecke.
„Am besten ist, die beiden heiraten schleunigst. Dann erzählen wir, daß Magnus eine Stellung im Auslande angenommen hat. Elvi muß natürlich ebenfalls von hier fort.” Sie redete und kämpfte für diese Heirat mit der ihr eigenen Zungenfertigkeit, merkte nicht, daß der Gelähmte sie anstarrte wie ein ihm unverständliches abstoßendes Wesen.
Als sie fertig, fragte er nur: „Und Elvi? Wird sie denn auf all das eingehen?”
„Pah – Elvi! Natürlich verheimlichen wir ihr den wahren Sachverhalt – selbstverständlich. Das Duell ist eben die Folge einer Beleidigung gewesen.”
„So – so! – Und – so sprechen Sie als Mutter, Frau Sanitätsrat?!
Unter seinem strengen Blick war sie doch etwas außer Fassung geraten, stammelte : „Ja – was soll denn nun Ihrer Meinung nach werden?”
Er lachte grimmig auf. „Die Entscheidung darüber liegt wohl lediglich bei Elvi – lediglich! Ich glaube nicht, daß sie an dem ehebrecherischen Lumpen festhalten wird. Ich kenne sie. Ihre Reinheit wird sich empören gegen die Zumutung, diesen Menschen zu heiraten – mit Recht empören. Und nie werde ich dulden, daß ihr die Wahrheit verborgen bleibt. Wenn sie ihr nicht reinen Wein einschenken, dann tue ich’s. Nehmen Sie die Zeitungsartikel mit und geben Sie sie ihr zu lesen. Nachmittags soll Elvi dann zu mir kommen.”
Frau Herta Tondern machte Ausflüchte, suchte den Alten umzustimmen, bis er grob dazwischenfuhr:
„Sie sind mir ja eine schöne Mutter! Pfui Deubel. Und das nennen Sie noch Mutterliebe! Schamlose Selbstsucht ist’s von Ihnen! Aber beruhigen Sie sich. Elvi erbt von mir das Haus auf dem Keilberg und 15000 Mark. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Elvi kann, falls sie nicht heiratet, im Sommer das Haus vermieten und sich so eine gute Einnahme sichern –”
Frau Tondern beruhigte sich. Diese Ausicht auf den reizenden Besitz, der mit der Einrichtung mindestens 25000 Mark wert war, linderte die furchtbare Entäuschung. –
Daheim wieder angelangt, fand sie doch nicht den Mut, Elvi die Zeitungen auszuhändigen. Erst bei dem Barsdorfer Pascha las Elvi die Artikel, kurz bevor Magnus selbst erschien.
Zu nächst konnte sie nicht einmal weinen. Sie saß mit versteinertem Gesucht dem alten Manne gegenüber, der ihre Hand in der seinen hielt.
„Mein armes Hascherle,” sagte er traurig, „‒das – das will nun ein Löbbecke sein! Nur gut, daß Du noch nicht seine Frau bist! – Aber – ich werde ihn strafen!”
Da fing sie zu schluchzen an. Er redete ihr liebreich zu. Er erreichte, daß die Tränen langsam versiegten. Und dann sprach er mit ihr Ernst und väterlich-gütig über die Zukunft. Sie mußte ihm die Hand geloben, nur in einem ganz bestimmten Falle gebrauch von dem zu machen, was er ihr nun anvertraute. –
Gleich darauf erschien Magnus und verließ das Häuschen in der Keilschlucht als ein Heimatloser. –
Die Gerüchte mehrten sich. – Frau Tondern merkte, daß die Eingesessenen sie mieden. Sie spürte den Ursachen dieser neuen Demütigung umsonst nach. Dann kam Elvi eines Morgens von Einkäufen mit tränenfeuchten Augen und halb ohnmächtig heim. Sie war Kindern begenet, die zur Schule gingen. Und aus der lärmenden Schar, die hinter ihr her zog, hatte ihr immer wieder in die Ohren gegellt:
„Tischlers Liebchen – Schramms Verhältnis!”
Als Elvi der Mutter widerstrebend berichtet, was ihr widerfahren, hatte die Rätin sie wie eine Furie angeschrien:
„Bist Du mit Schramm zusammen gewesen? – Rede – rede! Was ist Wahres daran? Etwas muß daran sein! Ohne Grund kann man Dir dergleichen nicht nachrufen!”
Elvi vermochte kein Wort hervorzubringen.Sie wimmerte nur noch wie ein kleines Kind in ihrer Sofaecke, die ihre zusammengeduckte Gestalt aufgenommen hatte.
Frau Tondern rüttelte sie an der Schulter in einem Anfall sinnloser Wut.
„Rede – Du, rede! Was ist zwischen Dir und Schramm vorgefallen?”
„Nichts – nichts. Nur getroffen habe ich ihn ein paarmal in der Stadt. Wir sind ein Stück gegangen – in den Straßen. Nichts – sonst –” Elvi wußte kaum, was sie sprach. –
Die Wut der haltlosen Frau schlug in weinerliches Selbstbedauern um. – So endete diese Szene. –
Wochen vergingen wieder. Das Gift, das Frau Rosa Michael heimlich verspritzt hatte, fraß weiter. Tonderns standen bald ganz allein da. Die Rätin beachtete Elvi kaum mehr. Und Elvi lag ganze Nächte mit brennenden, tränenlosen Augen wach in ihren Kissen und fragte sich immer wieder: „Wodurch habe gerade ich dies alles verdient?”
Aber nichts und niemand gab ihr Antwort darauf. Und in ihrem einsamen Herzen stieg eine ungeheure Bitterkeit auf. Sie glaubte jetzt den, der sie so schändlich betrogen hatte, zu hassen. Magnus Löbbecke war für sie das Unglück ihres Lebens geworden. Das hielt sie sich dann stets vor, wenn in ihrem Herzen die Sehnsucht sich regte nach dem Jugendgespielen und nach dem einstigen Verlobten, der ihren Mädchenträumen die Erfüllung hatte geben sollen. Zwischen vermeintlichem Hass und weicheren Gedanken schwankte sie trostlos hin und her.
Dann trugen geschäftige Zungen ihr zu, daß Magnus sich verheiratet habe, und das seine Gattin eine Tochter der Frau Rosa Michael sei, mit der diese jahrelang entzweit gewesen. – Sie besaß noch zwei Photographien von Magnus. Sie verbrannte sie. Jetzt erst, meinte sie, habe sie sich ganz freigemacht von ihm.
Am Nachmittag dieses Tages erschien Gustav Schramm bei der Sanitätsrätin. Sie war erstaunt, wie vorteilhaft er sich verändert hatte. Er erklärt, daß ihm heute erst die Gerüchte zu Ohren gekommen seien, die über Elvi und ihn im Umlauf waren.
„Ich bekenne mich insofern mit schuldig an diesem häßlichen Geschwätz,” fuhr er fort, „als ich aus meiner Liebe zu Elvi nie ein Hehl gemacht habe und auch nach Auflösung der Verlobung die erste Gelegenheit wahrnahm, Ihre Tochter anzusprechen. – Ich bin machtlos gegen diese Gerüchte, Frau Sanitätsrat. Ich weiß, daß Elvi unter der Gehässigkeit der Barsdorfer unsäglich leidet. Ich kenne die Menschen. Gutes verschweigen sie. Üble Nachrede fangen sie gierig auf und werfen sie weiter wie einen schmierigen Ball, der überall Schmutzspuren zurückläßt.” –
Elvi stand zu derselben Zeit in der großen Wirtschaftsküche und bereitete Kartoffelsalat für den Abendtisch zu. Dann rief die Rätin sie in das Wohnzimmer, wo Schramm sehr rot und verlegen am Fenster lehnte. Er verbeugte sich stumm vor Elvi, die ihm Freundlich zunickte. Sie trug es ihm nicht nach, daß die böse Welt sie beide in so gemeiner Weise beklatschte.
Frau Tondern kam ohne Umschweife auf den Kernpunkt der Sache zu sprechen.
„Herr Schramm hat soeben um deine Hand angehalten, mein Kind. Ich hoffe, daß Du seinen Antrag nicht ablehnen wirst. So, wie die Dinge liegen, ist es höchst ehrenhaft von Herrn Schramm, daß er –”
Elvi hatte die Mutter unterbrochen. „Lass mich bitte mit Herrn Schramm allein,” hatte sie plötzlich sehr bestimmt gesagt. –
Sie waren allein.
Elvi trat auf den Jugendfreund zu. ‒ „Gustav, ich danke Dir. Du befreist mich von einem Leben, daß mir unerträglich geworden ist. Ich will die Deine werden. Aber – habe Geduld mit mir. Liebe kann ich Dir vorerst nicht entgegenbringen, nur Achtung und erhliche Freundschaft.” – Sie reichte ihm die Hand. „Die Menschen habe uns beide in den Schmutz getreten. Sie werden jetzt fragen: „es ist also wahr gewesen! Er heiratet sie ja!” Aber sie werden mich jedenfalls nicht weiter foltern. Auch dafür danke ich Dir, daß Du mich wieder anständig machst!” – Mit ihrer Fassung war es vorbei. Sie wäre umgesunken, wenn er sie nicht gestützt hätte. An seiner Brust weinte sie sich aus.
– – – – – – – –
Der Herbst meldete sich. Die Sommergäste wurden spärlicher. Der Wind jagte lose, matte Blättchen der Linden durch den Kurgarten. Gestern war das letzte Konzert gewesen. Barsdorf rüstete sich nun zum Winterschlaf.
In der Pension Tondern wohnten nur noch drei Fremde; ein junges Ehepaar und ein alter, vornehmer Herr aus Berlin, ein Geheimrat namens Martin Bruckner. Er war Witwer. Er hatte die wahre Herzensgüte in den ruhigen Augen wohnen, obwohl um seinen Mund die Falten schweren Seelenleides lagen. Acht Tage weilte er nun bei Tonderns. Elvi, die jetzt im Haushalt weniger zu tun hatte, leistete ihm oft auf seinen Spaziergängen Gesellschaft. Sie fühlte, daß der alte Herr Gefallen an ihr gefunden und das er es gut mit ihr meinte.
Der Geheimrat und Elvi saßen auf einer Bank auf der Spitze des Keilbergs. Vor ihnen lag das weite Meer; zu ihren Füßen das Schweizerhaus, in das Elvi nun übermorgen als Frau Schramm ihren Einzug halten sollte.
Herr Bruckner hatte den rechten Arm auf die Lehne der Bank gestützt und beobachtete das blonde Mädchen, das mit ganz besonderem Ausdruck in den Augen auf das zierliche Haus hinabblickte.
„Fräulein Elvi,” sagte er nun leise und mit jenem streichelnden Ton in der Stimme, der ihr so wohl tat. „Fräulein Elvi, ich bin nicht ohne Absicht gerade zu Ihrer Mutter als Gast gekommen.”
Sie hob den matten Blick. Etwas wie Unruhe war darin. ‒ „Das habe ich sehr bald herrausempfunden, Herr Geheimrat,” meinte die Ehrlich.
Er seufzte leicht. Dann – noch leiser: „Ich bin der Vater jener Frau, die Ihnen Ihr Liebesglück zertrümmert hat, ‒ der Vater Frau Agna Halperns.”
Elvi stieß einen schwachen Schrei aus.
„Ein bedauernswerter Vater, ‒ einer, der sich an seiner Tochter einst schwer versündigt hat. – Agna war ein frohes, lebenslustiges Wesen. Mit neunzehn Jahren bewarb sich der Staatsanwalt Halpern um sie. Er war reich, eine tadellose Erscheinung. Agna verhielt sich jedoch ablehnend. Schließlich beichtete sie mir, daß sie einen Künstler, einen jungen Maler, liebe. Ich war hart, so hart, daß ich sie – zwang den anderen zu heiraten. Ich glaubte damals recht zu handeln. Das entschuldigte mich ein wenig. – Agna war als Frau wie ausgewchselt. Sie spielte die Zufriedene. Sie täuschte mich um so leichter, als ich ihr völlig entfremdet worden war durch meine Härte, mit der ich sie zu dieser Ehe getrieben hatte. Sie klagte nie. Nur eines merkte ich bald: sie war kokett geworden: sie ließ sich von anderen Männern den Hof machen. Dann wurde mir durch ihre treue Köchin hinterbracht, ihr Mann schlüge sie – aus Eifersucht, mit der Reitpeitsche. Sie jedoch leugnete alles ab. – Gerüchte liefen kurz nachher um, sie unterhalte Beziehungen zu einem Offizier. Dann wieder sollte es ein Künstler sein: dann wieder ein reicher Lebemann – und so fort. – Vier Jahre verstrichen so. Ich lebte in ewiger Angst, daß eines Tages ein Unglück geschehen würde. Ich hatte Agna wiederholt zur Rede gestellt. Ihre Antwort war stets: „Du hast mir einen Gatten gegeben, den ich schnell verachten gelernt habe. Ich gehe allein meinen Weg.” – Zwei Wochen hatte ich sie dann nicht gesehen. Da kam sie eines Vormittags zu mir; ganz ruhig; nur etwas blaß; erklärte:
„Halpern ist heute früh im Duell gefallen. Ich habe mein Ziel erreicht. Ich überließ es dem Zufall, Welcher meiner Liebhaber sein Richter werden sollte.”
Ich konnte nur annehmen, sie rede irre. Ihre Ruhe war unnatürlich. Sie änderte sich nicht. Dem Begräbnis blieb sie fern. Da brachte ich sie in ein Sanatorium unter. Sie war mit allem einverstanden.
„Ich verlange nichts mehr von der Welt und vom Leben. Ich habe meine Rache. Er ist tot. Das genügt mir,” sagte sie. –
Vor sechs Wochen besuchte sie mich dann unerwartet in Berlin. Sie war aufgeregt und ganz verstört. ‒ „Man hat mir mein Tagebuch gestohlen”, rief sie händeringend. „Eine ältere Dame ist in meiner Abwesenheit in meinem Zimmer gewesen und hat mich angeblich erwarten wollen. Bei meiner Rückkehr von dem Spaziergang fand ich das Geheimfach meines Damenschreibtisches, den ich doch mit ins Sanatorium genommen habe, erbrochen und leer vor. Das Tagebuch wird alle die Männer bloßstellen, die ich wahllos als Liebhaber nahm.” –
Es kam anders. Die Person, die das Tagebuch stahl, hatte es dem Gericht eingeschickt, um des Mannes Begnadigung durchzusetzen, der Halperns Duellgegner gewesen. Der Untersuchungsrichter ließ mich rufen und erklärte mir: „Das dem Gericht anonym zugegangene Tagebuch Ihrer Tochter beweist, daß der jetzt zu vier Jahren Festung verurteilte Assessor Magnus Löbbecke von Ihrer Tochter lediglich zu dem Zweck als Liebhaber erwählt wurde, weil eine Freundin ihr erzählt hatte, Löbbecke sei ein vorzüglicher Pistolenschütze. Unter diesen Umständen ist das Gnadengesuch Löbbeckes, das dieser letztens einreichte, von uns befürwortet worden. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Tochter entmündigen ließen. Sie hat eine besondere Art Anstiftung zum Morde begangen. Jedenfalls belassen Sie sie in der Heilanstalt, in der sie sich jetzt befindet.”
Ich habe dann das Tagebuch lessen dürfen. Es waren geradezu furchtbare Enthüllungen; es war ein Blick in eine Frauenseele, der mich schaudern machte. Und – es war mein Kind, das sich dergestalt – für Peitschenhiebe gerächt hatte.
Mehr noch fand ich in dem Tagebuch. – den Namen jener Freundin, die Agna auf Löbbecke aufmerksam gemacht hatte. Der Name lautete: Eva Michael. – Es ist dieselbe – Person, die Löbbecke jetzt geheiratet hat.
Und als ich von dieser Eva Michael las, da tauchte in mir sofort der Verdacht auf, diese könnte hier als abscheuliche Intrigantin zu eigenem Vorteil eine Rolle gespielt haben. Denn Agna hatte an eine Stelle niedergeschrieben: Eva hat mir das heilige Versprechen abgenommen, daß ich L. gegenüber sie nie erwähnen werde. Ich glaube fast, sie selbst hat ein besonderes Interesse an L.” –
Ich will mich kürzer fassen, Fräulein Elvi. – Ich beauftragte einen Privatdetektiv mit Nachvorschungen. Dieser brachte heraus, daß Evas Mutter das Tagebuch gestohlen und dem Gericht eingeschickt hatte. Nur Eva hatte nämlich Kenntnis von diesem, Tagebuch und seinem Versteck gehabt. – Weiter stellte der sehr eifrige Detektiv fest, daß meine Vermutung voll zutraf: Eva Michael hatte es von vornherein darauf abgesehen gehabt, Löbbecke für sich zu gewinnen und ihre Verlobung mit ihm durch einem Eheskandal auseinanderzubringen –“
Der Geheimrat sah, daß Elvi die Tränen über die Wangen rannen. Er nahm ihre Hände in die seinen.
„Mein armes Kind, Sie sehen, wie furchtbar Ihnen von diesem Weibe, das jetzt Löbbeckes Namen trägt, mitgespielt worden ist. Löbbecke ist Ihnen untreu gewesen – gewiß! Aber – was wissen Sie davon, wie schwer es einem Manne wird, einer Frau wie meiner Agna zu widerstehen, die es – auf Verführung abgesehen hat. – Eine entsetzliche Tragik liegt in dem Geschick der beiden Menschen, die Eva Michal trennen wollte und trennte! Ich, Agnas Vater, bin nun von eigener Gewissenspein getrieben, hierher gekommen, um Ihnen, Sie Reine, Gute, wenigstens den einen Trost zu spenden, daß Magnus Löbbecke lediglich das Opfer eines gefährlichen, intriganten Weibes, ‒ nein, zweier Weiber, Mutter und Tochter, geworden ist. Ferner wollte ich hier an Ort und Stelle womöglich noch feststellen, weshalb diese beiden Weiber es dergestalt auf Ihren einstigen Verlobten abgesehen gehabt hatten. Mein armes Kind, welch namenlose Tragik liegt in Ihren Herzenskämpfen!” fuhr er fort, und seine Stimme zitterte dabei. „Übermorgen wollen Sie nun den – Anderen heiraten. Kind, haben Sie sich auch reiflich überlegt, was eine Ehe für eine zartbesaitete Frau bedeutet, eine Ehe, die man – ohne Liebe schließt?! – Elvi, ich kann Ihnen gegenüber wohl ohne Rückhalt sprechen. Ich möchte Sie warnen. Ich hab’s an meiner Agna erlebt, wie eine solche Ehe endet, Gewiß – Schramm mag ein anderer Schlag von Mensch sein als Halpern es war. Doch – ich fürchte, Sie – lieben Ihren jetzigen Bräutigam ebensowenig wie Agna ihren Mann liebte. Ich sehe scharf. Ich habe Sie und ihn ein paarmal beobachtet. – Elvi – Elvi, ‒ noch ist es Zeit, das Unheil zu verhüten. Wenn Sie wollen, finden Sie in meinem Hause die liebevollste Aufnahme. Ich möchte an Ihnen gutmachen, was meine Tochter mitverschuldet hat –”
Elvi schüttelte langsam den Kopf.
„Es ist zu spätt, Herr Geheimrat. Schramm liebt mich über alles. Diese Überzeugung hält mich aufrecht, macht mich stark. – Zu spät! Magnus Löbbecke gehört einer anderen. Und ich – ich –” – sie sprang auf, reckte die Hände zum Himmel und schrie’s hinaus in die Weite –
„‒und ich – will endlich ganz vergessen lernen!”
Dann lief sie davon, verschwand unter den Bäumen.
– – – – – – – –
Der Abendzug war mit Verspätung in Barsdorf eingetroffen. Es war neun Uhr und bereits ganz dunkel, als Frau Rosa auf dem Bahnsteig mit theatralischer Herzlichkeit erst ihre Tochter und dann auch Magnus in die Arme schloß. Zu dreien wanderte man nun nach dem Hause in der Keilschlucht. Magnus war still und bedrückt. Seine Begnadigung hatte ihn nur für Stunden erfreut. Dann waren wieder die Zweifel in ihm aufgestiegen, ob Eva ihm wirklich die Wahrheit gesagt habe, was diese Fürsprache ihres Berliner Gönners anbetraf. Er fühlte: irgend etwas bei dieser ganzen Angelegenheit stimmte nicht. –
Nun betrat er wieder das alte, bescheidene Haus, in dem der Pascha von Barsdorf residiert hatte und in dem er selbst großgeworden: nun saß er allein in dem Arbeitszimmer des Großvaters und hatte die Augen geschlossen, vergegenwärtigte sich die Szene, als der Greis ihm hier die Tür gewiesen und als Elvi dort am Fenster auf ihrem Stuhl gekauert hatte. –
Frau Rosa und Eva hatte noch schnell ins Dorf gehen wollen, um etwas zum Abendessen einzuholen. So hatten sie ihm wenigstens gesagt. Sie wollten wohl allein sein und sich aussprechen. –
„Heute ist ihre Hochzeit,” hatte Frau Rosa schon auf dem Bahnhof Eva zugeflüstert. „Aber – nichts davon zu ihm –”
Dann waren die beiden nachher angeblich zum Kaufmann gegangen. Aber sie hatten nur das Haus verlassen, um sich sofort dem Keilberge zuzuwenden.
„Eva,” flüsterte die hagere Frau, „Du hast mit Deiner Vermutung recht gehabt. – Das Bild des Störtebeker hängt jetzt im Speisezimmer des Schweizerhäuschens. Ich bin letztens spät abends, wie Du es mir schriftlich rietest, dort heimlich eingedrungen. Ich hatte noch einen Schlüssel zur Haustür von früher her. Ich habe mich entsetzlich gefürchtet. Es war so unheimlich, das Gemälde von der Wand zu nehmen nur beim Schein einer kleinen Laterne. Aber – ich habe dafür wenigstens auch einen vollen Erfolg gehabt. – Eva – Eva, wir sind am Ziel! Ich weiß, wo das Geld verborgen liegt. – Als ich die Papprückwand des Bildes durch Entfernen der Stifte gelockert hatte, bemerkte ich zwischen Pappe und Bild ein Blatt Papier. Darauf hatte Karl Löbbecke mit seiner zittrigen Hand geschrieben:
„Das, was Magnus als Erbschaft gehört, liegt in der eisernen Truhe unten in dem Verließ unter dem Vorderkeller, in das man hineingelangt, wenn man die Eisenplatte hebt, die in die Ziegel des Kellerbodens eingefügt ist und auf die ich Sand gestreut habe, um sie fremden Blicken zu entziehen. – Ich warne jeden, ohne Elvi Tondern dort hinabzusteigen! – Karl Löbbecke.”
„So lautete die Niederschrift, Eva. – Ich habe nun nicht gewagt, allein dort einzudringen. Wir werden’s jetzt gemeinsam tun. Aber – wie müssen uns beeilen. Elvi und ihr Mann können ja jeden Augenblick die Hochzeitsgesellschaft verlassen und sich in ihr Heim zurückziehen. – Wenn wir das Geld haben, teilen wir’s. Magnus wird nie erfahren, daß wir – wir sein Erbe angetreten haben. Den Zettel aus dem Gemälde habe ich verbrannt” –
Die beiden Frauengestalten verschwanden Gleich darauf im Hause am Keilberg, das dunkel und düster in dieser nächtlichen Stille unter den herbstlich verfärbten Buchen dalag. –
Kaum drei Minuten später tauchten zwei andere Gestalten vor der dunkelgrünen Haustür mit den gemalten Rosen auf: das junge Paar.
Sie kamen und gingen nebeneinander wie Fremde, ‒ nicht einmal Arm in Arm. Und doch waren’s Hochzeiter, die ihrem gemeinsamen Heim zustrebten und das neue gemeinsame Leben beginnen wollten.
Gustav Schramm schloß die Tür auf, schaltete im Flur das Licht ein, half Elvi aus dem langen Seidenmantel, der ihr weißes Brautkleid bedeckt hatte. – Er tat es schweigend. Er war sehr bleich und ernst.
Kurz vor dem Aufbruch aus dem Hause der Sanitätsrätin, wo die Feier stattfand, hatte ein Knabe ihm einen versiegelten Brief gebracht. „Sofort lessen” hatte auf dem Umschlag außer der Adresse gestanden.
Und der junge Ehemann hatte gelesen. Er war in das Nebenzimmer dazu gegangen. Als er an die Hochzeitstafel zurückkehrte, war er wie ein alter, gebeugter Mann. –
„Bitte – nimm Platz!” sagt Schramm nun mit müder Stimme. „Du brauchst mich nicht so anzuschaun, Elvi, als sei ich Dein Henker,” fuhr er bitter fort. „Du brauchst Dich nicht zu fürchten vor mir. Ich – werde Dich nicht anrühren. Ich habe Dich nur hierher geführt, um mit Dir in Ruhe das besprechen zu können, was notwendig gesagt werden muß.”
Er blickte auf die weiße Gestalt mit den Myrten im Haar und dem langen Schleier, die dort so kraftlos in dem Sessel lehnte und den Kopf so tief gesenkt hielt. Sie began ihm leid zu tun. – Konnte sie etwas dafür, daß sie ihn nicht liebte?! –
„Elvi, der Brief, den man mir vor einer halben Stunde zusandte, kam von – dem Geheimrat. Darin hat er mir alles mitgeteilt – alles – die große Tragik seines und Deines Lebens, hat hinzugefügt: „Ich liebe Elvi wie mein eigen Fleisch und Blut. Sie ist im Begriff, etwas zu tun, aus dem nie etwas Gutes für Sie beide entspringen kann. Sie liebt Sie nicht. Und doch will sie Ihr Weib werden. – Ich spreche als Mann hier zum – Ehrenmann. Dafür halte ich Sie! – Schonen Sie Elvi, Gustav Schramm! Ich – warne Sie zu Ihrem Besten; ich weiß, wie solche Ehen ausgehen, in denen das Weib nur gezwungen die Leidenschaft des Gatten duldet.” – So hat der Geheimrat an mich geschrieben. – Elvi er hat mich noch zu rechten Zeit gewarnt. – Elvi – ich gebe Dich frei! Vor der Welt wollen wir noch eine Weile die Eheleute spielen. Dann – werde ich Dir Veranlassung geben, die Scheidungsklage zu erheben. Ich liebe Dich eben so sehr, daß diese Liebe auch – eines Verzichts fähig ist. – Mehr noch: ich werde versuchen, Magnus Löbbecke aus den Krallen dieser –”
Er fuhr hoch.
Irgendwoher war ein gellender Schrei erklungen, ‒ ein Schrei, so entsetzlich, daß auch Elvi aufgesprungen war.
„Mein Gott, was – bedeutete das?” meinte Schramm ganz verstört. „Das waren menschliche Stimmen. Höchste Todesangst sprach aus ihnen –“
„Sie – kamen – scheinbar – aus dem Keller,” flüsterte Elvi zitternd, aber ganz ahnungslos, daß dieser doppelte Schrei irgendwie mit dem Geheimnis dieses Hauses zusammenhängen könnte.
Schramm hatte sich schon gefaßt. „Warte bitte – ich will nachsehen, ob Du recht hast.”
Er eilte in die Küche. Dort hing eine Laterne, wie er wußte. Er zündete sie an.
Er fand die Kellertür dann nur angelehnt; wurde stutzig; Einbrecher etwa?! Und suchte nun die Kellerräume ab.
Im Vorderkeller fiel der Laternenschein auf ein viereckiges Loch im Boden. Daneben lag eine starke Eisenplatte. – Schramm leuchtete in das Loch hinein. Eine Steintreppe führte in die Tiefe; er stieg vorsichtig hinab; befand sich nun in einem aus Feldsteinen gemauerten Gelaß, in dessen Mitte sich von dem mit Luftziegeln belegten Boden eine Falltür aus verwitterten Eichenbalken abhob. Ein starker Eisenring erleichterte das Lüften der Falltür. Drunter gähnte ein tiefer Schacht, in den eine Treppe aus Holz hinablief.
Gustav Schramm erinnerte sich an die Gerüchte, die in Barsdorf und Umgebung während des Baues des Schweizerhäuschens aufgetaucht waren, Man sollte da beim Ausschachten des Fundaments auf die Reste eines jener Türme gestoßen sein, die die Kriegsflotte der Hansastädte hier an der Ostseeküste hie und da zum Schutz ihrer Handelsniederlassungen errichtet hatte. –
Er beugte sich vor; er glaubte in der Tiefe ein Stöhnen zu hören.
Er hob den Fuß, betrat die erste Stufe. Die volle Last seines Körpers ruhte nun auf der Treppe. Noch vier Stufen tappte er weiter.
Da – schwang die Treppe wie ein Pendel rückwärts. Er glitt ab – stürzte. Unwillkührlich gellte nun auch über seine Lippen ein Schrei des höchsten Schreckens. –
Elvi hörte diesen Schrei. Sie bebte vor Angst; sie wartete mit jagendem Herzen – wartete.
Schramm kam nicht zurück.
So unheimlich still war’s im Hause. Elvis Angst wuchs zu wahnwitziger Furcht. Sie elite zur Kellertür, rief nach dem Gatten, rief …
„Gustav – Gustav!”
Und jagte nun, ihre Sinne kaum mehr mächtig, zum Hause hinaus. Die nächste Wohnung war die der Frau Michael. Elvi huschte wie ein Gespenst die Treppe zur Keilschlucht abwärts, riß dann die Tür des Häuschens auf, rief:
„Frau Michael – Frau Michael!” –
In des Paschas Arbeitszimmer neben dem Flur schnellte Magnus Löbbecke aus dem alten Sessel hoch.
Diese Stimme! Diese Stimme!
Mit einem Satz war er an der Stubentür – nun im Flur, sah nun Elvi dort an der Wand lehnen im Hochteitskleide, streckte die Arme hilflos zur Abwehr aus dieser – Vision – diesem Trugbild.
„Im – Schweizerhäuschen – ein Unglück –” Da erst merkte sie, wer vor ihr stand.
„Magnus!” Es war wie der ersterbende Laut einer Mollsaite.
Sie sank vornüber. Er fing sie auf, trug die Bewustlose ins Zimmer, bettete sie auf das alte Glanzledersofa, brachte sie langsam ins Leben wieder zurück; kniete neben dem Sofa, hielt ihre Hand und weinte.
Dann fühlte er, daß ihre Finger sanft über sein Haar hinstrichen. Dann hörte er die geliebte Stimme:
„Ich – verzeihe Dir, Magnus. – Nun geh’, hole Leute; durchsucht den Keller des Schweizerhäuschens;
Aber – betretet nicht die Holztreppe in dem alten Verließ. Ich – ich – fürchte, daß – daß diese Menschenfalle heute – Opfer gefordert hat. Nur so – erkläre ich mir jetzt – die entsetzlichen Angstschreie. – Geh’ – ich – habe Dir verziehen –”
Er erhob sich zögernd; behielt ihre Hand in der seinen. ‒ „Elvi,” flüstete er, „Elvi – gehörst Du bereits – dem anderen?”
„Nein – nein! – Jetzt aber – laß mich allein.”
Und er ging und – hoffte. –
Die drei, die man dann unten in dem Verließ fand, waren tot.
Und wieder zog der Frühling ins Land; wieder öffneten die Buchen rund um das Haus am Keilberg ihre Blattknospen, schmückten sich mit zartem Grün.
Und wieder schritt im Abenddunkel ein Paar dem zierlichen Hause zu, ein Paar, das soeben von Berlin eingetroffen war. Eng umschlungen gingen sie; er trug in der Linken einen Koffer und eine Handtasche.
Vor der Haustür blieben die beiden stehen.
„Elvi,” sagte der Mann leise, „nun ist’s doch unser Heim geworden, dieses Haus am Keilberg. – Was gewesen, soll nie mehr unser Glück stören. Das Verließ ist zugeschüttet. Und auch wir wollen in unseren Herzen alles zudecken, was uns noch an die trübe Vergangenheit gemahnen könnte. – Komm’, Elvi, ‒ die Tür steht auf. Jetzt beginnt unser Hochzeitsabend –”
Und Magnus Löbbecke nahm sein ihm heute vormittag angetrautes Weib in die Arme und trug sie über die Schwelle.‒
Die Buchen grünten, rauschten.
In das Haus am Keilberg war die Liebe eingezogen – endlich – endlich.
Ende!
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.