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Der eiserne Weg

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 309

Der eiserne Weg.

Roman von

Hans Dominik.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b H. Berlin S. 14, Dresdener Straße 88-89.

 

Vergißmeinnicht–Bibliothek.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlag mod. Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

 

1. Kapitel.

Die Sonne eines schönen Apriltages strahlte vom tiefblauen wolkenlosen Himmel auf die Häuser und Straßen Genuas. Ihr Licht spielte um die Kuppeln und Türme der Kirchen, vergoldete hier ein Kreuz und ließ dort eine Fensterscheibe wie Feuer erglänzen und ein breiter leuchtender Strahl fiel auch durch eines der hohen Fenster in den Speisesaal des „Savoy-Hotels.“

Jetzt traf der Strahl den mit rotem Wein gefüllten Fiasko und warf rubinartige Lichter auf das weisse Tuch. Jetzt glitt er weiter und spielte mit dem schwergoldenen Berloque, welches einer der beiden älteren Herren, die in Gesellschaft einer etwa zwanzigjährigen Dame an dem Tische saßen, auf der dunklen Weste trug. Und dann huschte der Strahl wiederum ein wenig vor, so daß der Besitzer dieses Schmuckstückes, der Eisenbahndirektor und Regierungsrat Schneider vorübergehend einen Heiligenschein trug, der doch sonst nicht eben zur Amtstracht der Eisenbahndirektoren gehört.

Nun setzte der lockere Strahl sein Spiel fort. Er traf die schweren goldblonden Flechten der jungen Dame. Er spielte über schöne, regelmäßige, die Farben voller Gesundheit tragende Züge. Und endlich ließ er Gold und Diamant in Dunklen, um ihr direkt in die großen tiefblauen Augen zu scheinen.

Das wurde der Dame zu viel. Ohne erst einen der beiden Herren zu bitten, erhob sie sich elastisch von ihrem Platze, schritt auf das Fenster zu und zog den Vorhang zusammen.

„Seit wann bist Du so empfindlich gegen das Sonnenlicht, Milly“, sagte der Geheimrat Hagen. „Ich denken wir haben in den letzten Wochen in Ägypten eine Sonne zu kosten bekommen, der gegenüber dieser italienische Himmel matt und glanzlos ist.“

„Gewiß Pa!“ rief die junge Dame munter. „Aber es macht doch einen gewaltigen Unterschied, ob man vom vollen Lichte des Tages umstrahlt die ehrwürdigen Pyramiden ersteigt oder hier nur einen einzigen naseweisen Strahl in das Gesicht bekommt. Das stört! Und im übrigen kennst Du doch meinen alten Wahlspruch: entweder ganz oder gar nicht.“

Der Geheimrat blickte seine Tochter an und schüttelte ein wenig das Haupt. Der Eisenbahndirektor erhob sein Glas.

„Mein gnädiges Fräulein auf Ihr Wohl! Ich beneide Sie um diese radikale Weltanschauung. Und wenn ich zurückdenke, dann kommt es mir so vor, als hätte ich vor vierzig Jahren einmal ähnliche Gesinnungen gepflegt. Das ist das schöne Vorrecht der Jugend.“

Auch Fräulein Hagen ergriff ihr Glas und neigte sich gegen den Eisenbahndirektor.

„Ich komme pflichtschuldigst nach, Herr Direktor! So sagt man ja wohl in der Studentensprache. Aber auf meinen Wahlspruch lasse ich nichts kommen. Er gilt für jedes Alter!“

In diesem Augenblick trat der Kellner an den Tisch und brachte auf einem Tablett eine Visitenkarte. Geheimrat Hagen warf einen kurzen Blick darauf und wandte sich an Regierungsrat Schneider.

„Unser Oberingenieur Herr von Schöning ist angekommen“, sagte er. „Ich habe ihn zu einer wichtigen Besprechung hierher gebeten und deswegen unsere ägyptische Reise vorzeitig abgebrochen … Ich lasse den Herrn hierher bitten.“

„So verfolgen Sie Ihre Geschäfte auch bis in dieses schöne Italien“, rief der Eisenbahndirektor. „Ich glaubte, Sie befänden sich hier auf der Erholungsreise.“

„Die Fahrt war als Erholungsreise gedacht“, erwiderte der Geheimrat. „Doch mitten auf der Reise erreichten mich wichtige Depeschen vom Bau der Lötschbergbahn und da war es mit der Muße vorbei. In fliegender Fahrt ging es nilabwärts und heute früh sind wir in Genua gelandet. Für den Nachmittag hatte ich schon von Ägypten aus Herrn von Schöning hierher bestellt.“

Während der Geheime Kommerzienrat Hagen derart einen kurzen Bericht seiner ägyptischen Reise gab, war ein blonder schlanker hochgewachsener Mann in den Speisesaal getreten.

Es war Herr Georg Heinrich von Schöning, Oberingenieur der Lötschbergbahn, der jetzt den großen Saal durchschritt und auf einen Tisch hinsteuerte, den ihm der Oberkellner als denjenigen Hagens bezeichnet hatte.

Richtig, da saßen ja die Herrschaften, die junge schlanke Blondine war also die einzige Tochter Hagens, die „Sportslady“, von der er schon gehört hatte als von einer fabelhaft verzogenen, recht eigenwilligen Erbin.

Beobachtend stand der Ingenieur einen Augenblick still:

Das war also Milly Hagen – riesig schick, sehr selbstbewußt – dieses Kind eines deutschen Vaters und einer englischen Dame aus der hohen Finanz, –ihr junges Gesicht zeigte starke, feste Züge, die Augen blickten unter dunklen Brauen ihr Gegenüber lebhaft an. Eine eigenartige Erscheinung.

Während er langsam näher schritt und seine Augen wohlgefällig auf der schweren blonden Flechtenkrone der jungen Dame ruhten, überraschte ihn die große Ähnlichkeit zwischen diesem jungen Mädchengesicht und den ausdrucksvollen Zügen ihres Vaters.

Jetzt hatte Hagen ihn erkannt und ging ihm entgegen.

„Ich habe Sie hierher gebeten, mein lieber Herr von Schöning,“ begrüßte er den Oberingenieur, „um mit Ihnen wegen unseres Tunnelbaues zu konferieren. Aber erst wollen wir gemeinschaftlich dinieren und bei der empfehlenswerten Küche dieses Hotels Kraft und Stärke für unsere Geschäfte sammeln. Sie treffen Gesellschaft an der Tafel. Außer meiner Tochter noch einen lieben alten Freund von mir, den Eisenbahndirektor Regierungsrat Schneider aus Berlin, den ich zufällig hier traf.“

Während dieser Worte waren die beiden Herren bis zum Tische gekommen und nach einer kurzen Vorstellung nahm Herr von Schöning den vierten freien Platz ein.

„Hatten Sie eine gute Überfahrt, mein gnädiges Fräulein“, wandte sich der Oberingenieur an die junge Dame, während er in seiner Suppe rührte, die nach alter italienischer Unsitte beinahe kochend aufgetragen wurde.

„Ich danke, Herr Oberingenieur, es ging an. Wir hatten nicht gerade schlechtes Wetter, aber doch bewegte See. Mir persönlich ist das übrigens ziemlich egal, da ich niemals seekrank werde.“

Interessiert blickte Herr von Schöning zu Fräulein Hagen hinüber und er erinnerte sich des Bildes in einer illustrierten Sportzeitung, welches eben dieselbe junge Dame, die jetzt hier in vollkommener Gesellschaftstoilette neben ihm saß, beim aufregenden Finish eines Tennis-Kampfes darstellte. Wieder blickte er auf die Hände, welche hier der Artischocke zierlich und graziös ein Blatt nach dem anderen auszogen und gedachte jenes Bildes, auf welchem sie den Tennisschläger in der festgeballten Faust hielt und im Hochsprung einen Ball abfing, während der kurze weiße Tennisrock im Winde flatterte. Und dann dachte er an ein anderes zartes Gericht, welches nicht blonde, sondern tiefschwarze Locken umgaben, ein Gesicht, das er das letztemal vor Monaten zu Interlaken gesehen und seither nicht wieder vergessen hatte.

In solche Gedanken versunken, ließ er den Blick ein zweitesmal prüfend über die Züge seines jugendlichen Gegenübers gleiten. Milly Hagen zupfte geschäftig die letzten Blätter aus dem Artischockenboden.

Ein kurzes Lächeln ging über ihre Züge, als sie sich nun an Herrn von Schöning wandte.

„Hier sitze ich also inmitten von Helden der Arbeit. Das ganze Eisenbahnwesen ist ja an diesem Tische vertreten und verkörpert. Dort mein Vater, der aus irgend welchen geheimnisvollen Schränken und Truhen immer neue Millionen hervorholt und dem Bahnbau zuführt.

Und meine neueste Bekanntschaft, Herr von Schöning“ – – – und wieder traf bei diesen Worten ein kurzer Blick den Oberingenieur – – – „das ist derjenige, der die besagten Millionen unterbringt, der Tunnels bohrt und Schienen legt, kurz und gut, die Eisenbahn fertig macht. Und dann kommen Sie, Herr Eisenbahndirektor, und lassen auf der fertigen Bahn die Züge spazieren fahren.“

„Sie haben den Kern der Sache getroffen,“ mein gnädiges Fräulein“, erwiderte der Oberingenieur. „Aber“, setzte er leicht lachend dazu, „auch der letzte Faktor befindet sich unter uns. Sind wir die Verdiener der Millionen, muß auch die zarte Hand dabei sein, die bestimmt ist, das Geld anmutig wieder zu verteilen –“ er machte ihr eine leichte Verbeugung.

Sie sah ihn übermütig an.

„Wie hübsch Sie das sagen, Herr von Schöning, unterbreiten Sie das gefälligst Papa, er findet zuweilen, daß ich weniger vertun könnte. Aber lassen wir mich aus der Debatte – wo wir von den Helden der Arbeit sprechen, muß ich mich bescheiden, und nur immer wieder bedauern, daß mir als Dame nur Sport und Spiel bleibt, um mich zu betätigen“.

Schöning sah sie ernst an, aber ehe die gewollte Entgegnung über seine Lippen kam, rief sie ihm lachend zu:

„Gnade – Herr von Schöning, halten Sie mir nur nicht die übliche Rede vom Reiche der Frau von Haussonne usw., ich eigne mich absolut nicht dazu, – ich möchte die Welt durchreisen, – alles Schöne, Interessante sehen, Neues lernen –, aber um alles nicht hinterm Ofen sitzen – darum geht mein steter Kampf mit Papa. – – –“

Der Geheimrat warf einen lachenden Blick auf seine erregte Tochter, der den anderen deutlich zeigte, wie stolz er auf sein einziges Kind war:

„Ja Milly, Du hast einen schlimmen Tyrannen an mir – nicht wahr – aber Herr von Schöning wird Dir gern etwas Neues zeigen, wenn wir seinen Bauplatz besuchen.“

„Ja, Du nimmst mich mit“, rief sie mit leuchtenden Augen – „wirklich Du tust es –?“

„Damit Du Dich über die unterbrochene Nilreise tröstest“, entgegnete er, „und vielleicht söhnst Du Dich auch mit Deinem weiblichen Dasein aus, wenn Du mal den Ernst und die Last großer Arbeit gesehen hast.“

„Lieber Papa, was Besseres wünsche ich mir ja gar nicht, als Deine Helden der Arbeit zu sehen, die mit Hammer und Brecheisen dem Felsen zu Leibe gehen und jeden Augenblick ihr Leben aufs Spiel setzen, um ein großes Werk zu fördern – „und das ist doch wohl Ihre ureigenste Domäne, Herr von Schöning“, wandte sie sich an diesen, – „so schildern uns wenigstens die Zeitungen die Dinge, wenn sie von den „Helden der Arbeit berichten“.

„Gnädiges Fräulein“, warf Schöning in etwas humoristischem Tone ein, „Sie machen sich entschieden einen nicht ganz zutreffenden Begriff von uns. Ich zum Beispiel sehe doch fast gar nicht so rußig aus, wie die Zeitungen uns „Helden der Arbeit“ meist schildern.“

Das werden Sie mir aber doch zugeben müssen, daß die Arbeit, so nützlich und heldenhaft sie sonst auch sein mag, von Ruß und Staub, sagen wir es ganz scharf, von Schmutz nun einmal nicht zu trennen ist. Ich erinnere mich noch der letzten Fahrt von Berlin aus im Nord-Süd-Expreß. Als ich nach vierundzwanzig Stunden den Wagen verließ, war ich eingestaubt, wie ein Mekkapilger.“

Während dieser Worte brachte der Kellner als Schluß des Diners die Obstschale.

„Gestatten Sie, mein gnädiges Fräulein, daß ich mir einen Widerspruch erlaube“, mischte sich jetzt der alte Eisenbahndirektor Schneider in das Gespräch. „Ich beabsichtige in wenigen Stunden von hier nach Berlin abzufahren. Und ich sage Ihnen, ich werde mit einem Luxus reisen, den sie kaum in den vornehmsten Hotels der Welt, kaum in den Schlössern und Landsitzen der reichsten Edelleute finden.

Milly blickte ihn verwundert an.

„Sie schwärmen, Herr Eisenbahndirektor“, begann sie dann. „Die Liebe zu ihrem Berufe verführt Sie zu Übertreibungen.“

„Ich hoffe dennoch, mein gnädiges Fräulein, Sie zu bekehren“, rief nun lebhaft werdend der alte Eisenbahndirektor. Herr Geheimrat, Ihr Weg führt Sie doch jedenfalls auch über die Alpen.“

Der Finanzmann strich sich einige Augenblicke zweifelnd über den immer noch dunklen Vollbart.

„Wir wollen zunächst nach Interlaken“ erwiderte er dann. „Oder richtiger gesagt nach Kandersteg zur nördlichen Baustelle unseres Tunnels.“

„Sehr gut“, rief der Eisenbahndirektor. „Dann liegt es Ihnen jedenfalls nicht aus dem Wege, wenn Sie mit mir zunächst bis Mailand reisen. Ich selbst gehe von dort über den Gotthard weiter und nehme auch Sie weiter mit, wie Sie wollen. Aber bis Mailand sind Sie unter allen Umstanden meine Gäste. Ich erwarte Sie alle in drei Stunden auf der Stazione Centrale“.

Der Geheimrat tauschte einen Blick mit seinem Oberingenieur.

„Ich denke, wir können diese Verabredung wohl annehmen“, sagte er dann. „Mehr als zwei Stunden brauchen wir keinesfalls für unsere Besprechung und Du, Milly, bereitest wohl inzwischen alles für die Weiterreise vor.“

– – – – – – – – – – – – –

Eine Viertelstunde später durchmaß der Geheime Kommerzienrat Hagen mit nervösen Schritten seinen eleganten Salon im Savoy-Hotel. Die heitere Ruhe, die er im Speisesaal zur Schau getragen hatte, war hier völlig von ihm abgefallen, war einer Aufregung und Anspannung aller Nerven gewichen.

Der Oberingenieur von Schöning schien ganz in seine Lektüre vertieft zu sein. Ruhig saß er in einem bequemen Klubsessel und studierte Seite um Seite eines auf der Schreibmaschine hergestellten Manuskriptes. Bisweilen huschte eine Bewegung über seine Züge.

Endlich hatte der Oberingenieur seine Lektüre beendigt und blickte nun auf, während er mit der Linken die Blätter achtlos auf den Tisch warf.

„Was sagen Sie dazu“, fragte Geheimrat Hagen.

„Nonsens“, erwiderte der andere. „Der Unglücksrabe krächzt uns nicht neues vor.“

Hagen blieb mitten im Salon stehen.

„Herr von Schöning“, begann er mit eindringlicher Stimme, „ich habe meinen Erholungsurlaub in Kairo vorzeitig abgebrochen und ich habe Sie hierher nach Genua gebeten, um mit Ihnen über diesen Geheimbericht des Doktors Marteau Rücksprache zu nehmen. Sie haben den Bericht ja nun in aller Ruhe studieren können und wissen, was der Mann sagt.“

Jetzt erhob sich auch Herr von Schöning aus dem Sessel und richtete sich hoch empor.

„Der Mann“, erwiderte er, „prophezeit uns, daß wir bei einem der nächsten Dynamitschüsse den Kanderbach, das heißt, unendliche Menge von Wasser, Sand und Schlamm in unseren Tunnel bekommen können.

Sie wissen, Herr Geheimrat, daß diese Prophezeiung nicht neu ist und daß ich Ihnen sofort beim Beginn meiner Tätigkeit in Ihrer Gesellschaft vorgeschlagen habe, die Tunnelroute so zu wählen, daß sie dem Kandergletscher fern bleibt. Sie werden sich des weiteren erinnern, daß Ihre Firma auf der gewählten Route bestand. Wir haben darauf hin den Anfang des Tunnels, so lange er noch durch Schutt und brüchiges Gestein ging, mit allergrößter Vorsicht hergestellt, haben das Tunnelrohr beinahe unmittelbar hinter der Sprengstelle sofort solide ausgemauert.

Heute sind wir fast drei Kilometer in den Berg eingedrungen. Wir haben hundertachtzig Meter Gebirge über der Tunneldecke und ich halte die Gefahr gegenwärtig für überwunden.

Wenn uns daher Herr Doktor Marteau nichts anderes zu sagen hat, als das, was hier in diesem Geheimbericht steht, so schlage ich kurzer Hand vor, seine Unglücksprophezeiung mit der laufenden Nummer zu versehen und in die Akten zu stecken.“

Diese lange Auseinandersetzung wirkte sichtlich beruhigend auf den Geheimrat.

„Was Sie sagen“, hub er an, „scheint mir freilich die Befürchtungen Marteaus sehr zu entkräften. Wenn wir jetzt bereits hundertachtzig Meter Berg über dem Tunnel haben, so ist es nicht mehr sehr wahrscheinlich, daß wir aus dem soliden massiven Gestein wieder in Schlamm und Schutt stoßen. Aber ich bitte Sie, auch meine Stellung als verantwortlicher Finanzmann des Unternehmens zu berücksichtigen. Das muß die Bauleitung bedenken und danach muß ich als Vertrauensmann unserer Baseler und Pariser Bankiers handeln. Deshalb bitte ich Sie, Ihre schriftliche Entgegnung darauf auszuarbeiten, die ich den Mitgliedern des Verwaltungsrates in Paris zusammen mit dem Dossier vorlegen werde.“

„Das soll geschehen“, erwiderte der Oberingenieur. „Wenn Sie von Doktor Marteau nicht weitere und detailliertere Angaben herausholen, dann lautet meine Antwort kurz und bündig: Nonsens und wir treiben den Tunnel wie bisher in beschleunigter Arbeit vorwärts.“

„Ich weiß!“ unterbrach ihn Geheimrat Hagen, der jetzt ganz unter dem Banne der zuversichtlichen und sachlichen Worte Schönings stand. „Ich weiß und konstatiere es gern, daß Sie sogar gehörig vorwärts kommen. Sie schaffen an jedem Tage fünf Meter an der Nordseite und fünf Meter an der Südseite. Das sind zehn Meter pro Tag. Eine schöne und ansehnliche Leistung.“

„Es geht an“, rief der Oberingenieur. „Aber ich möchte noch mehr schaffen und deshalb kam ich gern zu dieser Konferenz. Ich habe auf Grund meiner Erfahrungen, die nicht nur vom Simplon und vom Lötschberg datieren, eine neue Bohrmaschinentype entworfen und zwei Exemplare bauen lassen. Die Proben, die ich noch in der Werkstatt vornehmen ließ, haben mich selbst erfreut und überrascht.

Herr Geheimrat, meine neuen Maschinen leisten genau das Doppelte der alten. Wir kommen jetzt an jeder Baustelle in vierundzwanzig Stunden fünf Meter vorwärts und wir werden mit den neuen Maschinen in derselben Zeit zehn Meter schaffen. Ich gedenke Ihnen mit dieser Erfindung einige der Millionen, die als Bausumme ausgeworfen sind, zu sparen.“

Erfreut blieb der Finanzmann vor dem Ingenieur stehen.

„Wenn Sie das zu Wege bringen, Herr von Schöning, so ist es uns natürlich hochwillkommen, und wir werden Ihnen gern eine gute Lizenz für Ihre Erfindung zahlen. Nochmals, mein Lieber, steigern Sie den täglichen Fortschritt, so soll das Ihr Schade nicht sein. Und nun wollen wir uns fertig machen und der Einladung meines Freundes Schneider folgen. Ich bin in der Tat neugierig, was für eine Überraschung der alte Herr für uns in petto hat.“

 

 

2. Kapitel.

Die Uhr am Westportal der Stazione Centrale, jenes großen und imposanten Bahnhofgebäudes dicht am Hafen, zeigte drei Minuten vor sechs, als Geheimrat Hagen in Begleitung seiner Tochter und des Herrn von Schöning durch das Portal des Bahnhofes trat.

„Warum ist der Bahnhof beflaggt?“ fragte Milly beim Betreten des großen Empfangsgebäudes.

„Man merkt, mein liebes Kind, daß wir von Ägypten kommen und ein wenig lange allen Zeitungen fern waren“, lachte ihr Vater. „Wir sind ja erst heute früh gelandet und haben etwas versäumt. Gestern nachmittag ist doch der deutsche Kaiser in Genua angekommen und sofort an Bord der „Hohenzollern“ in See gegangen.“

Während diese Worte gewechselt wurden, trat der Eisenbahndirektor Schneider auf seine Gäste zu.

„Ich begrüße Sie, mein gnädiges Fräulein und heiße Sie willkommen“, rief er heiter. „Darf ich Sie zunächst bitten, einige Minuten im Wartesaal Platz zu nehmen …“

Und ehe die Herren noch viel erwidern konnten, hatte er beide untergefaßt und mit leichtem Zwange in den Wartesaal erster Klasse geschoben, wohin Fräulein Hagen wohl oder übel folgen mußte. Mit sanfter aber zwingender Überredung, der schließlich niemand widerstehen konnte, nötigte er seinen Gästen eine kleine Erfrischung auf, trat selber auf den Bahnsteig hinaus und kehrte nach wenigen Minuten zurück.

„Darf ich nun bitten einzusteigen, meine Herrschaften“, wandte er sich an seine Gäste, der Zug steht in der Halle.“

Vergnüglich plaudernd traten Hagen und Schöning mit Milly aus dem Wartesaal auf den Bahnsteig hinaus. Der Anblick, der sich ihren Blicken hier bot, ließ sie jedoch verstummen.

Da stand massig, gigantisch und bei aller Wucht der Formen doch schön und elegant der große Hofzug des deutschen Kaisers. Die langen Drehgestellwagen, die im unteren Teil eine tiefblaue Färbung zeigen, während die Wagen von Fensterhöhe an bis zur Dachkante in einem matten Elfenbeingelb getönt sind.

„Das wäre also der Zug“, meinte der Eisenbahndirektor, nachdem er sich eine kurze Weile an dem Staunen seiner Gäste geweidet hatte.

„Nun und jetzt“, fragte Milly, die mit vollem Entzücken das wunderschöne Bild des blau-elfenbeinfarbenen Kaiserzuges in sich aufgenommen hatte.

„Jetzt, mein gnädiges Fräulein, bringe ich den Zug, für den ich voll verantwortlich bin, wieder nach Berlin und Sie sind, so weit Sie wollen, meine Gäste.

Ich sehe, daß Sie noch Zweifel hegen. Sie denken bei sich: was wird der Kaiser dazu sagen, wenn er hört, daß Fremde Leute in seinem Zuge gefahren sind. Sie können vollkommen beruhigt sein. Der Hofzug steht jetzt unter meinem Befehl, wie ein Schiff unter dem seines Kapitäns. Ich trage die Verantwortung für ihn und bin auch befugt, nach eigenem Ermessen Personen in ihn aufzunehmen.“

Während dieser Worte hatte der Eisenbahndirektor die drei Personen bis zu einem Wagen geleitet, vor dessen geöffneter Tür der italienische Stationsbeamte stand. Galant half er Fräulein Hagen die Stufen hinauf.

Hagen und Schöning folgten der jungen Dame und als letzter schwang sich der Eisenbahndirektor die Stufen hinauf. Eine Handbewegung des italienischen Beamten, ein schriller Doppelpfiff von den Lokomotiven her, und langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

Während er zur Halle hinausrollte war der Eisenhahndirektor zu seinen drei Gästen getreten, die immer noch in einem fast dunklen kleinen Vorraum des Wagens standen, den sie zuerst betreten hatten.

„Wir wollen in den Salon gehen“, sagte der Eisenbahndirektor und öffnete die Tür.

Den Blicken der Eintretenden zeigte sich ein eleganter Raum von etwa acht Metern in der Länge und beinahe vier Metern in der Breite. Ein schwellender Smyrna-Teppich bedeckte den Boden. Im übrigen erinnerte der Salon ein wenig an eine Wohnung, deren Herrschaft verreist ist. Die schweren Sessel und kleinen runden Tische, die in dem Raume standen, waren mit Staubezügen bedeckt, um den richtigen Bezug zu schonen. Sämtliche Jalousien waren heruntergelassen, so daß ein mattes Halbdunkel im Raume herrschte.

„Aber wir fahren ja furchtbar langsam“ rief Milly. „Wir müßten doch jetzt schon volle Fahrt haben. Und ich finde, daß wir uns kaum vom Flecke bewegen.“

Statt zu antworten, trat der Eisenbahndirektor an eines der großen Fenster und drückte auf einen Hebel. Die Jalousie, welche bisher das Fenster verdeckt hatte, schnellte in die Höhe und das Sonnenlicht flutete in den Raum.

Mit Staunen bemerkte Milly, daß der Zug schon in voller Fahrt dahinstürmte, daß die Telegraphenstangen blitzschnell an den Fenstern vorbeihuschten.

„Wahrhaftig! Wir sind ja in voller Fahrt“, rief sie, „und doch spürt man kaum etwas von einer Erschütterung.“

„Ihr Irrtum ist begreiflich, mein gnädiges Fräulein. In der Tat ist für den Hofzug die denkbar beste Art der Federung gewählt worden. Auf diese Weise kommt von den Stößen und Unebenheiten des Gleises praktisch so gut wie gar nichts in den Wagenkasten hinein.“

Auch Geheimrat Hagen und der Oberingenieur konstatierten mit sichtlichem Fachinteresse die auffallend ruhige Fahrt des Hofzuges.

„Besser als der beste Pullmanwagen“, faßte Schöning kurz und bündig sein Urteil zusammen. Der Eisenbahndirektor aber sagte:

„Wie finden Sie diese Wandtäfelung, mein gnädiges Fräulein“.

Eifrig trat Milly näher und betrachtete die Wandmusterung, die in einem matten Safrangelb und einem tiefen fast schwarzen Braun gehalten war.

„Was ist denn das für eigentümliches Holz.“

„Das muß erzählt werden, denn so leicht kommt niemand darauf“ erklärte der Eisenbahndirektor weiter. „Dies gelbe hier ist Zedernholz vom Berge Libanon. Das Holz ist ein Geschenk des früheren Sultans Abdul Hamid. Um diese Täfelungen hier herzustellen, hat eine der uralten Zedern daran glauben müssen, die der hochselige König Salomon bei seinem Tempelbau noch stehen ließ.

Und dies schwarze Holz hier ist beinahe noch merkwürdiger. Sie haben ja sicher gelesen, mein gnädiges Fräulein, daß der alte Römer Cajus Julius Cäsar im Jahre 55 v. Chr. die Germanen bekriegte und bei dieser Gelegenheit eine mächtige Holzbrücke über den Rheinstrom schlug. Die Brücke ist im Sturm der Jahrtausende längst zu Bruche gegangen. Aber so weit die mächtigen Eichenpfähle im Flußgrunde steckten, haben sie sich wohl erhalten. Nur ein wenig nachgedunkelt sind sie, wie dies Holzmuster hier zeigt.“

Interessiert war auch Herr Hagen diesen Ausführungen des Eisenbahndirektors gefolgt und hatte die Täfelung naher betrachtet.

„Und nun, gnädiges Fräulein, betrachten Sie einmal diese sechs großen Silberplaketten an der Salondecke“, fuhr der Eisenbahndirektor in der Erklärung fort. „Es sind künstlerische Darstellungen der sechs großen deutschen Ströme, vom Künstler selbst mit der Hand in schwerem Silber getrieben. Die einzelne Plakette wird auf tausend Taler geschätzt. Wenn ein amerikanischer Milliardär die Dinger aus des Kaisers Salonwagen für seinen Palast erwerben könnte, würde er natürlich erheblich mehr zahlen.“

„Das würde für die Schatulle des Kaisers ein gutes Geschäft bedeuten“, warf Schöning ein, „es wundert mich eigentlich, daß bei den gerade in letzter Zeit hervortretenden kaufmännischen Fähigkeiten Seiner Majestät diese Idee noch nicht erwogen wurde.“

Schöning machte ein äußerlich völlig starres englisch businessmäßiges Gesicht. Und amüsierte sich im Stillen, daß seine Worte in dem schönen Gesicht seiner Begleiterin eine zornige Empörung hervorrief.

Ihre Augen blitzten ihn kampflustig an und ein verächtliches geringschätzendes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, als sie erwiderte:

„Ich hätte nicht geglaubt Herr von Schöning, daß Sie den künstlerischen Genuß dieser Stunde durch solche Äußerungen eines brutalen Geschäftssinnes beeinträchtigen würden.“

Eine kurze steife Verbeugung – – ein volles in die Augen fassen der schönen Gegnerin und er entgegnete:

„Meine Gnädigste, Ihr Herr Vater wird mit mir übereinstimmen. Ohne den brutalen Geschäftssinn – wie Sie sich auszudrücken belieben – vermögen wir Männer unseren Frauen und Kindern nicht das Vermögen zu schaffen, das sie auf eine sozial hohe Gesellschaftsstufe stellt und ihnen künstlerische Genüsse ermöglicht. Dann allerdings, meine Gnädigste, spricht es sich für die Angehörigen einer solchen Familie sehr leicht aus, über brutalen Geschäftssinn abfällig zu urteilen.“

Milly holte schwer Atem.

Da sagte ihr dieser Oberingenieur klar und deutlich, daß sie nur dem brutalen Geschäftssinn ihres Vaters die sozial unabhängige Stellung verdanke.

Sie suchte nach Worten, um dem Gegner eine Abfuhr zuteil werden zu lassen.

Aber sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln, der feste Glanz aus Schönings Augen legte sich zwingend auf all ihr Denken.

Sie war dem Eisenbahndirektor im Stillen dankbar, der sich jetzt wieder zu ihr wandte und sagte:

„Wenn es Ihnen recht ist, so führe ich Sie setzt weiter durch den Zug. Wir können es uns nachher in meinem Dienstwagen bequem machen.“

Bevor Milly weiter ging, maß sie Herrn von Schöning mit einem langen Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Sie fühlte sich tief gedemütigt, das war der erste Mann, welcher sich nicht von ihr widerspruchslos führen ließ. Ein eigenes Gefühl, wie der Funke einer künftighin hell lodernden Feuersbrunst zündete in ihrem Herzen. Scheue bewundernde Achtung – – hier war Sie nicht mehr die Herrschende, sondern er – – der Mann. – Sie hatte endlich den gefunden, nach dem sie schon so lange vergeblich Ausschau gehalten.

Und bei allem Unmut empfand sie doch Freude, daß sie endlich diesen Mann, den sie sich in ihren Mädchenjahren stets geträumt, gefunden hatte. Mit halbem Interesse folgte sie den Ausführungen des Eisenbahndirektors weiter.

„Jetzt wollen wir es uns bei mir bequem machen“, rief der Eisenbahndirektor. „Wir haben beinahe zwei Stunden auf die Besichtigung des Zuges verwandt. In anderthalb Stunden werden wir in Mailand sein, wo ich Lokomotivwechsel habe.“

Und er lud seine Gäste in sein Abteil, rollte bequeme Sessel herbei und griff nach dem Telephon.

„Sind denn noch mehrere Personen im Zuge“, fragte Milly erstaunt.

„Aber gewiß, mein gnädiges Fräulein. Ich habe Ihnen den Gepäckwagen gar nicht gezeigt, in welchem drei von meinen Beamten stationiert sind. Wir dürfen freilich die kaiserliche Kücheneinrichtung für unsere Zwecke nicht benutzen, aber ich verspreche Ihnen trotzdem einen guten Imbiß.“

Und ehe eine Viertelstunde vergangen war, tischte ein Eisenbahnbeamter ein Mahl auf, bestehend aus Kakao, Ham and eggs und frischen Brötchen nebst Butter und Fruchtgelee.

Und nun saßen die vier Personen gemütlich beim afternoon-lunch und taten der Gastfreundschaft des Eisenbahndirektor alle Ehre an.

Hin und her flog Rede und Gegenrede und hin und her gingen die Gedanken der Teilnehmer dieses Mahles. Milly betrachtete wieder und immer wieder den Oberingenieur und verglich ihn mit jenen Gestalten, die ihre Partner beim Tennisspiel und auf Bällen zu sein pflegten. Sie versuchte es vergeblich, sich diesen hochgewachsenen ernsten und entschlossenen Mann im Tennisdreß beim Spiele vorzustellen.

„Spielen Sie auch Tennis, Herr von Schöning“, begann sie plötzlich.

„Ich bedaure unendlich, mein gnädiges Fräulein, ich hatte noch niemals Gelegenheit, es zu versuchen.“

„Was treiben Sie dann aber für Sport?“

Herr von Schöning überlegte einen Augenblick.

„Direkt Sport kann man es kaum nennen“, erwiderte er dann. „Ein wenig Revolverschießen. Ein wenig Boxen. Das war in Nevada unerläßlich, wenn man auch nur einiges Ansehen bei den Arbeitern haben wollte.“

„Wir werden Sie ein wenig in die Schule nehmen“, rief Milly. „Ich hoffe, Sie in Interlaken zu sehen und dort werden wir Gelegenheit zum Sporte finden. Sie müssen mir versprechen, wenn Sie dort hinkommen, wenigstens auf vierundzwanzig Stunden bei uns zu bleiben.“

„Gern, mein gnädiges Fräulein“ erwiderte der Oberingenieur.

Und dann lief der kaiserliche Zug in Mailand ein. Hier trennten sich die Wege des Eisenbahndirektors und seiner Gäste. Während wenige Minuten später der Kaiserzug dem Gotthard entgegenrollte, verließen die drei den Bahnhof. Herr von Schöning suchte den besten Anschluß nach der westlichen Schweiz, während der Geheintrat mit seiner Tochter in Mailand blieb.

* * *

Nach dem Besuche der Mailänder Scala saßen sich Milly und der Geheimrat im Speisesaal ihres Mailänder Hotels gegenüber. Das Gespräch drehte sich zunächst um die Aufführung in der Scala. Doch unvermittelt gab ihm Milly plötzlich eine andere Wendung.

„Wer und was ist denn eigentlich dieser Herr von Schöning“, fragte sie ihren Vater. „Dem Namen nach gehört er doch zum Adel und in diesem Stande pflegen Ingenieure nicht allzuhäufig vorzukommen. Seine Manieren endlich sind erstaunlich amerikanisch.“

Der Geheimrat schaute seine Tochter etwas verblüfft an.

„Wir haben uns selbstverständlich über Herrn von Schöning sehr eingehend erkundigt, bevor wir ihn auf den verantwortungsvollen Posten eines Oberingenieurs beriefen. Ich kann Dir seinen ganzen Lebenslauf erzählen.“

„Also bitte ich darum“, rief Milly.

Der Geheimrat nahm einen Schluck des perlenden Asti-Weines.

„Herr von Schöning“, begann er sodann, „entstammt einem alten niederösterreichischen Adelsgeschlecht. Seine Familie hat dem apostolischen Erzhause Jahrhunderte hindurch Krieger und Diplomaten gestellt. Dieser Dienst war höchst ehrenvoll aber wenig lohnend. So lernte Georg Heinrich von Schöning in den Jahren seiner Kindheit wohl eine glänzende und ruhmreiche Familiengeschichte kennen, doch neben der strahlenden Vergangenheit auch bitteren Mangel in der Gegenwart. Seinen Vater zwangen die Wunden, die er bei der Okkupation von Bosnien empfing, schon frühzeitig, den Dienst zu quittieren. Er hat sich nie wieder davon erholt und starb, als sein Sohn noch ein Kind war.

Mit achtzehn Jahren trat dieser, der Familientradition folgend, in die Armee. Vier Jahre hindurch ertrug er das Leben als Soldat und schlug sich mit einer lächerlich kleinen Zulage durch.

Doch als dann auch seine Mutter die Augen schloß, reichte er kurz entschlossen seinen Abschied ein, raffte die geringen Vermögensreste zusammen und widmete sich vier weitere Jahre mit zähem Eifer dem Studium der Ingenieurwissenschaften. Zum Schlusse dieser Zeit war das kleine Vermögen verbraucht und das Studium vollendet.“

Interessiert war Milly den Ausführungen ihres Vaters gefolgt.

„Er nahm also sein Schicksal selbst in die Hand und baute sich eine neue Zukunft, nachdem die Gegenwart ihm zerbrochen war“, murmelte sie träumerisch vor sich hin.

„Er tat es in vollem Sinne des Wortes“, fuhr der alte Herr fort. „Auf die Lehrzeit folgen nun seine Wanderjahre. Die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, benutzte er, um nach England zu gehen. Bald gelang ihm von dort der Sprung nach den Vereinigten Staaten. Und von diesem Augenblick an bedeutet seine Laufbahn ein beständiges Aufwärtssteigen. Er hat jahrelang im wilden Westen an den großen Ingenieurarbeiten der Pacificbahn mitgearbeitet. Erst als Assistent und später als Chefingenieur. Er ist an den schwierigsten Teilen der großen sibirischen Eisenbahn beteiligt gewesen und seine Laufbahn hat ihn schließlich zu den Alpentunnels geführt, das heißt, zu uns. Erst zum Simplon und nun zum Lötschberg.

Heute ist Herr von Schöning fünfunddreißig Jahre alt und auf dem Gebiete der Ingenieurkunst besitzt er längst den Generalsrang und die zehnfachen Einnahmen eines Generals.“

Mit wachsendem Staunen war Milly diesen Ausführungen gefolgt.

„Ist er denn reich“, fragte sie jetzt.

„So weit wir informiert sind verfügt Herr von Schöning zurzeit über ein Vermögen von etwa einer halben Million Franken. Dies Vermögen hat er in neun Jahren erworben.“

„Ich denke, Ingenieure werden nicht so hoch bezahl“, rief Milly dazwischen. „Ich hörte, daß zehntausend Mark schon ein sehr hohes Einkommen für einen Ingenieur sind.“

„Für einen, der im Fixum, daß heißt im Ochsentrott arbeitet, gewiß. Aber schon seit Jahren schließt Herr von Schöning keine Verträge mehr auf Fixum. Er legt seinen Abmachungen den Kostenanschlag zu Grunde. Er übernimmt die Arbeiten gratis, bedingt sich aber von jeder Ersparnis, die durch seine Leitung gemacht wird, einen tüchtigen Prozentsatz aus.“

„Also ein besserer Provisionsreisender“, sagte Milly und rümpfte verächtlich die Nase.

„Ich verstehe Dich nicht“, erwiderte der Geheimrat ernstlich ungehalten. „Wenn Herr von Schöning uns bei diesem Bau zehn Millionen Baukosten durch seine überlegene Leitung und durch seine Erfindungen erspart und dafür eine Honorierung von einer Million erhält, so ist das für alle Teile erfreulich und für ihn höchst ehrenvoll.“

„Um solche Summen handelt es sich dabei“, rief Milly jetzt aufs höchste überrascht.

Ihr Vater machte eine kurze Pause und trank wieder einen Schluck Wein.

„Bildest Du Dir etwa ein, daß sich der Mann mit Kleinigkeiten abgibt“, rief er dann mit wachsender Lebhaftigkeit. „Er hat mir eben in Genua die Pläne zu einer neuen Bohrmaschine vorgelegt. Hält diese Maschine, was er sich davon verspricht, so sparen wir annähernd dreißig Millionen Franken. Dann mag sein Anteil gut und gerne drei Millionen betragen. Ich denke, das ist eine Summe, bei welcher das Wort Provision jede Anrüchigkeit verliert. Der Oberingenieur von Schöning, der jetzt unseren Tunnel baut, ist nach landläufigen Begriffen ein recht wohlhabender Mann. Und wenn die Dinge so weiter gehen, wie wir hoffen, so wird er nach der Vollendung dieses Tunnels ein Millionär sein. Und er wird es im vollen Einverständnis mit uns, mit der Firma Hagen, Harman u. Co., denn er hat es verstanden, seinen und unseren Vorteil unlöslich miteinander zu verknüpfen."

Mit glänzenden Augen war Milly den Auseinandersetzungen ihres Vaters gefolgt.

„Ich danke Dir für Deine Mitteilungen“, sagte sie jetzt. Doch wir wollen uns nicht den ganzen Abend mit Deinem Oberingenieur beschäftigen.“

Und dann wandte sich das Gespräch wieder heiteren Dingen zu. Das Leben und Treiben der Gesellschaft von Basel und Interlaken wurde besprochen und brachte die gewünschte Abwechslung.

– – – – – – – – – – – – –

Während der Geheimrat mit seiner Tochter in Mailand blieb, hatte der Oberingenieur den Zug genommen, der ihn auf der Simplonstrecke nach Interlaken und weiter nach Kandersteg an das Feld seiner Tätigkeit bringen mußte.

Hagen hatte seiner Tochter an diesem Abend im Hotel eine sehr eingehende Schilderung Schönings gegeben. Was aber Herr Geheimrat Hagen schließlich doch nicht wußte und nicht wissen konnte, das waren die innerlichen Motive und Stimmungen, die Herrn von Schöning zu seiner jetzigen Laufbahn getrieben hatten.

Woher sollte er auch davon erfahren haben, daß der junge und unbemittelte Leutnant von Schöning vor nunmehr fünfzehn Jahren einmal eine tiefe und heiße Liebe gespürt hatte, und daß die Auserwählte damals dem Leutnant einen Korb gab und wenige Wochen darauf ihre Hand einem bemittelten aber schon recht grauen Stabsoffizier reichte.

Damals hatte den jungen Offizier ein unsäglicher Ekel vor dem glänzenden Elend erfaßt, in dem er zu leben gezwungen war. Schon damals faßte er den Entschluß, den er dann sofort ausführte, als seine Mutter die Augen für immer geschlossen hatte.

Es hatte vieler Jahre bedurft, bis die Wunde vernarbt war, die seine erste unglückliche Liebe ihm geschlagen hatte. Jahre hindurch hatte er überhaupt nur Sinn für seine Arbeit.

Gegenüber der wilden Tätigkeit früherer Jahre konnte er seine jetzige Tätigkeit beinahe als eine Ruhepause und Erholung betrachten. Er brauchte nicht mehr, wie früher, bei waghalsigen genickbrecherischen Montagen selbst in der Front zu stehen. Die Arbeiten gingen auch ohne sein Zutun weiter. Die Mannschaften waren unter alten Werkmeistern, die schon die Campagne am Simplontunnel mitgemacht hatten, gut eingearbeitet. Und überdies besaß er in dem Ingenieur Volkmar einen tüchtigen und gewissenhaften Assistenten.

Schöning hätte jetzt Tage hindurch spazieren gehen können. Aber schwerer denn je spürte er jetzt die Last der Verantwortung. Wie ein Felsblock lag sie vom Beginn der Arbeiten an auf seinen Schultern. Er kannte die mannigfachen Gefahren des Berges. Er wußte, was dem Unternehmen drohen konnte. Morsches Gestein zum Beginn der Arbeiten, heiße Wassereinbrüche und alles zermalmender Gebirgsdruck während des Fortschreitens der Arbeiten durch den Urstock der Alpen. Aber er wußte auch weiter, daß niemand voraussagen konnte, wann, wo oder wie etwas derartiges eintreten würde. Und so war er zu dem Entschluß gekommen, das Problem auf seine Weise zu lösen.

Das Ergebnis seiner Monate hindurch betriebenen rastlosen Arbeiten war eben jene Gesteinbohrmaschine gewesen, über die er seinem Verwaltungsrat in Genua Vortrag gehalten hatte. Ihre Anwendung mußte die Tunnelarbeiten mit Riesenschritten von jener Stelle fortbringen, an welcher noch Gefahren vom Kandergletscher drohen konnten. Diese Maschinen mußten die gesamte Bauperiode auf beinahe die Hälfte verkürzen und der Unternehmerfirma Hagen, Harman u. Co., die diesen Riesenbau auf eigenes Risiko und zum festen Preise ausführten, viele Millionen ersparen. Herr von Schöning konnte wohl damit rechnen, einen angemessenen Teil dieser Ersparnis in Form von Lizenzen zu erhalten und er gedachte schon jetzt ernstlich daran, sich nach der Vollendung dieses großen Werkes ein wenig Ruhe und Erholung zu gönnen.

So war die Stimmung des Herrn von Schöning während der ersten Monate des Tunnelbaues gewesen. Dann hatte ein Tag den Umschwung gebracht.

Gelegentlich eines Besuches in der Betriebsleitung der Berner Oberlandbahn hatte er die Tochter des Regierungsrates Fabry kennen gelernt.

Und nach diesem Besuche hatte der Oberingenieur Herr Georg Heinrich von Schöning sich veranlaßt gefühlt, seine Anschauung vom Weibe, die er neun Jahre hindurch als etwas unveränderliches und unerschütterliches mit sich herumgetragen hatte, einer gründlichen Revision zu unterziehen.

In Celestine Fabry hatte er eine warmherzige liebenswerte Persönlichkeit gefunden. Vom ersten Moment an fühlte der Oberingenieur sich zu ihr hingezogen. Zum erstenmal kam ihm hier der Gedanke, daß man wohl in dieser Familie nicht daran dachte, auf seine Person als einen Rettungsanker zu spekulieren.

Im Laufe der nächsten Monate hatte sich ein engerer Verkehr zwischen Schöning und dem Hause des Herrn Fabry angesponnen. Er war nicht eben leicht für den Oberingenieur durchzufuhren. Denn der alte Regierungsrat Fabry, welchem der Eisenbahnbetrieb auf der Zugangsbahn zum Tunnel von Interlaken bis Kandersteg unterstand, betrachtete die ganze Bauleitung als seinen persönlichen Feind. Er polterte und lamentierte über jede Störung des regulären Fahrplanes, den die Bauleitung durch die unvermeidlichen Zufuhren von Materialien und Sprengmitteln verursachte. Und gerade der Kollege Schönings, der zweite Ingenieur Volkmar, nahm auf diese Empfindlichkeit des alten Herrn wenig Rücksicht.

Herr von Schöning mußte allen Takt und alle Diplomatie aufbieten, um trotzdem Zutritt zur Familie Fabry zu gewinnen. Schließlich hatte er manche Rücksichtslosigkeit Volkmars benutzt, um dem Regierungsrat persönliche Entschuldigungsbesuche zu machen und im Laufe der Monate war ein Verkehr entstanden, der sich dem Hausherrn gegenüber immer ein wenig auf vulkanischem Boden bewegte, der aber zwischen dem Oberingenieur und der Frau und der Tochter des Hauses von Woche zu Woche an Herzlichkeit gewann.

So hatte Celestine Fabry dem Leben Schönings einen neuen Inhalt gegeben. Aber das war natürlich auch ein Punkt, der sich nicht in den Personalakten befand, und über den Herr Geheimrat Hagen seiner Tochter daher auch nicht Bericht erstatten konnte. Und am allerwenigsten konnte der Geheimrat wissen, welche Gefühle jetzt nach dem kurzen Beisammensein mit seiner Tochter im Herzen Schönings lebten. –

 

 

3. Kapitel.

„Nun habe ich die Ehre, Sie hier zu empfangen und in mein Reich einzuführen.“ Mit einer Verbeugung wandte sich Schöning ab, den andern Gästen zu, die der Frühzug von Interlaken nach Kandersteg gebracht hatte.

Einen kurzen Händedruck tauschte er mit dem Geheimrat Hagen.

„Ich begrüße die Konkurrenz!“ rief er fröhlich dem älteren Herrn zu, der jetzt dem Zuge entstieg. „Der Eisenbahnbau freut sich, den Eisenbahnbetrieb bei sich zu sehen. Willkommen Herr Fabry! Sie sollten uns öfter aufsuchen. Wenn Sie häufiger sehen, wie wir hier arbeiten, um der Berner Oberlandbahn den Weg nach Italien zu öffnen, so würden Sie weniger ungehalten über die Leistungen sein, die wir von der Strecke Interlaken-Kandersteg verlangen.

Der so Angeredete lächelte ein wenig gezwungen.

„Ich weiß, mein lieber Herr von Schöning. Was sein muß, muß sein. Aber der normale Fahrplan wird uns bisweilen böse gestört. Besonders Ihr Kollege Volkmar setzt uns weidlich zu. Der hat frei und offen den Grundsatz proklamiert, daß die Bahn Interlaken-Kandersteg überhaupt nur ein Anhängsel des Tunnel sei und ohne diesen keine Existenzberechtigung habe.“

„Mein verehrter Herr Rat“, beschwichtigte Schöning den alten Herrn, „Sie müssen nicht jedes Wort auf die Goldwage legen, das Kollege Volkmar produziert. Er ist bisweilen ein wenig grotesk in seinen Aussprüchen.“

Der Oberingenieur machte sich von dem alten Herrn frei, der offenbar Lust zu haben schien, noch weiteres über die Schändlichkeiten des Herrn Volkmar vorzubringen, und wandte sich einer Dame zu, die bereits mit Hilfe eines anderen Herren das Kupee verlassen hatte. Das war Celestine Fabry, die einzige zwanzigjährige Tochter Fabrys.

Schnell trat er aus sie zu und ergriff ihre Hand, die er an die Lippen führte und ein wenig länger festhielte als es sonst wohl üblich zu sein pflegt.

„Ich freue mich aufrichtig, Sie hier zu sehen, mein gnädiges Fräulein“, begann er alsdann.

Mit einer leichten Neigung des Hauptes hatte Celestine den Gruß Schönings erwidert. Einen Augenblick hatte auch sie ihre Hand fest in diejenige Schönings gelegt. Nun schritt sie an seiner Seite auf die größere Gruppe zu.

Für jeden Beobachter mußten die beiden Frauentypen, die hier neben einander durch Celestine Fabry und Milly Hagen repräsentiert wurden, interessant sein.

Milly konnte als die vollkommene Vertreterin der germanischen Rasse gelten. Sie zeigte das blonde Haar, die blauen Augen und den zarten rosigen Teint, die für germanisches Blut charakteristisch sind. Ihr kräftiger und wohlproportionierter Körper hatte durch eifrig betriebenen Sport eine Stärkung und Kräftigung erfahren, die in jeder einzelnen ihrer Bewegungen zum Ausdruck kam und ihrem ganzen Auftreten etwas selbstbewußtes verlieh.

Im Gegensatz dazu zeigte Celestine das romanische Element. Ihr reiches Haar war von einer Schwärze, die im Spiele der Sonnenstrahlen bisweilen bläuliche Reflexe warf. Ihre Figur blieb ein wenig unter Mittelgröße und zeigte weiche durchaus weibliche Bewegungen. Und in ihrem Gesicht strahlten zwei Augen, deren unergründliche Schwärze mit derjenigen ihres Haares wetteiferte. Und diese Augen zeigten einen milden feuchten Glanz, der dem ganzen Antlitz einen entzückenden Liebreiz verlieh.

Herr von Schöning vermittelte die Bekanntschaft der einzelnen Herrschaften, soweit sie einander noch nicht vorgestellt waren.

Launig führte er seinen Kollegen Volkmar ein.

„Gestatten Sie mir, Ihnen hier Herrn Ingenieur Volkmar vorzustellen. Er ist Stab und Stecken, Stütze und Trost in unserem oft recht trostlosen Gewerbe und der berufenste Führer im Tunnelbau.“

Interessiert ließ Milly Hagen während dieser Worte ihre Blicke zwischen Schöning und Volkmar hin und her wandern. Hans Volkmar war unter allen Umständen eine auffallende Erscheinung.

Er pflegte selbst im Scherz zu sagen, daß sein Sarg einmal nach Spezialzeichnungen erbaut und dementsprechend zu Extrapreisen kalkuliert werden müsse. Seine Gestalt ragte wohl sieben Fuß in die Höhe und die Breite entsprach dieser Größe. Unter den kleinen italienischen Arbeitern wirkte er wie ein Riese, wie der Angehörige irgend eines vorzeitlichen, sagenhaften Geschlechtes. Und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch einen langwallenden brandroten Bart, der ihm bis über die Brust reichte und die ganze Erscheinung ein wenig an Thor, den kriegerischen Gott der Germanen, erinnern ließ.

Milly Hagen verglich die beiden Ingenieure mit den Persönlichkeiten, die ihr im gesellschaftlichen Leben sonst wohl zu begegnen pflegten und ein eigenartiges Gefühl überkam sie. Sie dachte einen Augenblick, ob sich wohl auch diese beiden so willig an ihren Triumpfwagen spannen lassen würden. Dann flog ihr Blick zu Celestine hinüber.

Was wollte denn diese Dame hier, schoß es ihr durch den Kopf. Die hätte doch lieber zu Haus bleiben und ihrer Mutter in der Küche helfen sollen. Was wollte sie hier, wo doch die beiden Ingenieure entschieden die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hatten, sich ganz und gar der Tochter des Vorsitzenden ihres Verwaltungsrates zu widmen. Nun mochte sie sehen, wo sie blieb.

Und dann ordnete sich die Gesellschaft zum kurzen Gange nach dem Tunnel. Ganz natürlich ergab es, sich, daß die beiden älteren Herren, Hagen und Fabry, zusammengingen. Aber ganz und gar nicht paßte es Milly, daß Schöning, als ob das selbstverständlich wäre, an Celestines Seite trat, und sie selbst dadurch zwang, in Volkmars Gesellschaft zu gehen.

Hans Volkmar bemühte sich redlich, seiner Begleiterin auf dem Wege ein anschauliches Bild von den Tunnelarbeiten zu geben. Aber Milly hörte nicht eben sehr aufmerksam zu und so oft es sich unauffällig machen ließ, warf sie einen Blick rückwärts auf das Paar hinter ihnen.

Celestine und Schöning sprachen wohl auch über den Tunnel. Sie schienen durchaus bei der Sache zu sein und waren so in den Inhalt von Rede und Gegenrede versunken, daß sie keinen Blick für ihre Umgebung hatten.

„Hoffentlich habe ich bald diese letzte große Arbeit hinter mir“, sagte Schöning. „Dann will ich ein wenig ruhen. Länger als zehn Jahre bin ich dann durch das Meer harter und schwerer Arbeit geschritten, ohne nach rechts oder links zu schauen, ohne einen Blick für die Schönheiten dieses Lebens zu opfern. Aber nach Vollendung dieses Tunnels soll für mich eine Zeit der Erholung und Rast kommen.“

Unwillkürlich war der Ton von Schönings Rede bei den letzten Worten immer wärmer geworden.

„Und ich hoffe“, rief er jetzt, während er die herabhängende Hand Celestines ergriff, daß diese Zeit bald kommen und mich dann für immer frei machen wird.“

Eine leichte Röte war bei diesen Worten über Celestines Antlitz gehuscht. Aber sie ließ ihm ihre Hand, bis endlich der Tunneleingang erreicht war.

Milly bemerkte es gelegentlich und glaubte einen Augenblick, einen körperlichen Schmerz zu spüren. Doch schnell entschlossen raffte sie sich zusammen.

„Der Weg ist hier außerordentlich steinig, Herr Volkmar“, meinte sie, „darf ich um Ihren Arm bitten.“ Und ohne die Antwort erst abzuwarten, hängte sie sich fest in den Arm des Riesen ein, der neben ihr dem Tunnel zuschritt.

Noch einige Minuten und man kam auf eine größere flache Halde, den eigentlichen Bauplatz, direkt vor der Tunnelmündung.

„Jetzt kommt die Maskerade“, brummte Volkmar vor sich hin und Schöning lächelte ihm verständnisvoll zu.

Kurze Zeit später stand die Gesellschaft gründlich verwandelt wieder auf dem Platze. Alle ohne Ausnahme trugen mächtige Gummistiefel, die bis über die Knie reichten. Die Damen hatten über die eigenen Stiefel einfach dies Schuhzeug übergezogen.

Weiter hatten sich die Herren mit Lederanzügen versehen, welche die eigene Kleidung vollkommen schützten. Die Damen hatten weite Gummimäntel genommen, die mit Kapuzen versehen waren.

„Das ist unser Sportkostüm hier“, meinte Herr von Schöning. „Über die Kleidsamkeit kann man wohl geteilter Meinung sein, aber über die Zweckmäßigkeit herrscht nur eine Stimme. Und wenn Sie diese Expedition hinter sich haben, so werden auch Sie, meine Damen, anerkennen, daß es gegen die Geister der Tiefe keinen besseren Schutz gibt, als solch einen Gummimantel.“

Unter solchen Worten schritten sie dem Tunnelmunde zu. Einen Augenblick blieb die Gesellschaft stehen. Vor ihnen erhob sich in schwindelnder Höhe das ragende Massiv des Lötschenberges. Im Sonnenlichte schimmerten zu ihrer Linken die blauweißen Firnen des Kandergletschers, während sich zur Rechten die Silhouette des Bahnhornes gegen den Horizont abzeichnete. Dicht zusammen betrat die Gesellschaft den Tunnel. Im Augenblick waren Maienpracht und Sonnenschein verschwunden. Ein dunkler Felsgang nahm die Gesellschaft auf und nur die elektrischen Glühlampen, die in fünfzig Meter Abstand an der Decke hingen, gaben ein unsicheres Licht. Schrittweise und nur ganz allmählich gewöhnten sich die Augen an diese Finsternis. Und dann sah Milly, wie dieser Tunnel sich roh und riesig in das Urgestein erstreckte, welches in grotesken Zacken und Würfeln die Wände bildete.

Dabei durchstrich ein merklicher Windhauch den langen Tunnel. Der Luftschwaden kam den Besuchern entgegen. Er schien von ihrem einstweilen noch fern liegenden Ziele herzuwehen und von ebendort her drangen nun auch sausende und brausende Geräusche an das Ohr, die bei jedem Schritt an Starke zunahmen.

Und dann hörte auch das elektrische Licht auf und das Getöse wurde so stark, daß man sich nur noch durch Zeichen verständigen konnte. In diesem Augenblick nahm Schöning eine Acetylenlaterne aus seiner Tasche und entzündete sie. Und dann nahm er einen Notizblock vor, um seinen Begleiterinnen aufzuschreiben, was er ihnen mitteilen wollte. Denn das Wort wäre von dem rasenden, ohrenbetäubenden Lärm bereits auf den Lippen erschlagen worden.

Und nun hatten sie das Ende des Tunnelganges erreicht.

Hier standen vier eigenartige Maschinen.

„Bohrmaschinen, System Schöning, Druckluftbetrieb“, schrieb der Oberingenieur auf ein Blatt und hielt es den Damen hin.

Und nun erkannten diese bei genauerer Betrachtung, wie lange Gestänge aus jeder der vier Maschinen in tiefe Löcher der Felswand hineinragten und mit sinnverwirrender Geschwindigkeit hin und her geschleudert wurden.

Minutenlang standen die Besucher und sahen dem Schauspiel zu. Plötzlich gab einer der Arbeiter ein Zeichen mit der Hand. Wie auf ein Kommando blieben sämtliche Bohrmaschinen stehen. Die Arbeiter begannen an allerlei Kurbeln zu hantieren und man sah, wie die mächtigen Bohrstangen in einer Länge von zwei Metern aus dem Felsen zurückgezogen wurden. Und dann kamen andere Arbeiter und schafften die ganzen Bohrmaschinen weg.

„Wir haben es gut getroffen, wir können eine Dynamitsprengung mit ansehen,“ begann Volkmar jetzt zu den Damen gewandt seine Erklärung. „Sie sehen, wie die Leute die Bohrlöcher jetzt mit Druckwasser auswaschen, jeden Rest von Gesteinsmehl, der etwa noch darin sein könnte, hinausspülen.“

Die Gäste verfolgten diese Arbeit, und dann trat ein Mann vor, von dem Volkmar sagte, daß es der Schießmeister wäre. Vier Arbeiter gingen hinter ihm mit einem mächtigen Holzkasten. Und nun begannen die Arbeiter die eben gebohrten Köcher mit eigentümlichen grauen Zylindern auszustopfen. Die Damen sahen, wie wenigstens die halbe Tiefe der Köcher damit ausgefüllt wurde, wie Drähte aus den Löchern, die wohl zwanzig an der Zahl das Ort durchspickten, hinaushingen, und wie das übrige Loch dann mit feuchtem Lehm fest zugestampft wurde.

„Was wird nun?“ wandte sich Celestine fragend an Schöning.

„Jetzt wollen wir uns alle zweihundert Meter zurückziehen“, erwiderte Schöning.

Eine allgemeine Rückwanderung begann. Hinter ihnen ging der Schießmeister und wickelte einen Draht, der mit den Drähten der Bohrlöcher verbunden war von einer Haspel ab.

Endlich machte er Halt. Der Draht war völlig abgespult. Die Ingenieure blieben stehen und die Besucher machten ebenfalls Halt.

„Hallo, Martino!“ wandte sich Volkmar an den Schießmeister. „Machen Sie die Batterie hier zurecht. Sprengen werden wir selber.“

Auf einen Wink des Schießmeisters brachten seine Leute einen anderen Kasten aus dunklem Eichenholz mit glänzend polierten Messingklemmen auf dem Deckel herbei. Und dann sah Milly, die neben Volkmar stand, wie das isolierte Drahtseil, welches der Schießmeister bis zu dieser Stelle abgehaspelt hatte, in Wirklichkeit aus zwei Drahten bestand die hier blank endeten. Der Schießmeister fädelte jedes der beiden Enden in eine der Messingklemmen aus dem Kasten und trat dann mit einer linkischen Verbeugung zurück.

Ein knisterndes Dröhnen ging durch den Raum.

„Was war das?“ wandte sich Milly an Herrn von Schöning.

„Das sind die Gewalten der Tiefe, mein gnädiges Fräulein“, erwiderte der Oberingenieur. Man bohrt nicht ungestraft Kilometer weit in die Felsen hinein. Da drückt und schiebt das stehengebliebene Gestein mit Gewalt nach und Risse und Sprünge entstehen. Die Geister der Finsternis murren gegen das Menschenwerk und ein Dröhnen und Stöhnen geht bisweilen durch das Urgebirge.

Und jetzt wollen wir als Herren des Dynamits dem Felsen wieder einmal zeigen, daß wir die Stärkeren sind.

Hier steht die elektrische Batterie, aus welcher der zündende Funke zum Sprengstoff geleitet wird, Sie sehen hier auf dem Deckel des Kastens eine blanke Taste. Ein leichter Fingerdruck nur auf die Taste und der Strom nimmt seinen Weg in die Tiefen der Felswand und entfesselt den Sprengstoff. Ich bitte die Herrschaften, auf das Kommando zu achten. Es muß vor dem Sprengen bis drei gezählt werden und schon bei eins müssen wir den Mund aufmachen. Sonst zerreißt uns der Donner das Trommelfell.“

„Ich will die Sprengung vornehmen“, rief Milly in diesem Moment und ihre Stimme klang ein wenig trocken und abgehackt.

„Dann bitte ich also laut zu zählen, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Volkmar, „und vergessen Sie ja nicht selber nach dem Worte „drei“ den Mund aufzuhalten, während sie auf den Hebel drücken.“

„Ist das denn wirklich so schlimm?“ fragte Milly.

„Es ist jedenfalls ein gutgemeinter Rat“, erwiderte Schöning freundlich. „Und im übrigen wissen wir ja, gnädiges Fräulein, daß Sie den nötigen Mut besitzen, um – – –.“

Ein plötzliches Zucken ging durch die Gestalt Millys, als Schöning von ihrem Mute sprach. Er hatte dessen Vorhandensein ja mit keinem Worte in Zweifel gezogen. Aber die Erwähnung allein regte sie auf und trieb sie zu schnellem Entschlusse.

„Eins, zwei, drei!“ und dann ein kurzer Druck.

In derselben Sekunde, da die Taste niederfuhr, ging ein kurzes polterndes Krachen durch den Tunnelstollen. Der Laut war gar nicht so furchtbar lärmend. Er war entschieden leiser als das Toben der Bohrmaschinen. Aber man spürte dabei die fürchterlichen Kräfte, welche dies Geräusch hervorriefen. Man witterte die Millionen von Zentnern, die in diesem Augenblick frei wurden und die Eingeweide der Erde zerrissen.

Und dann kam der Nachhall der Explosion. Eine Viertelminute hindurch wogte rollender Donner die Tunnelröhre entlang. Er setzte mit einer Stärke ein, die ohrenbetäubend war und ebbte allmählich ab.

Und umtost von dem Wüten des entfesselten Elementes, hatten sich zwei Menschen zu einander gefunden, welche das noch vor einer Stunde für eine Unmöglichkeit gehalten.

Schöning, welcher dicht neben Milly Hagen stand und die Augen scharf auf die Explosionsstelle richtete, verspürte plötzlich, wie sich seine schöne Begleiterin fest an ihn klammerte, nach seinen Händen griff, als wünsche sie von diesen Händen gegen das Furchtbare, das sie vielleicht treffen könnte, beschützt zu sein.

All ihr Mut war wie Staub vor dem Winde verflogen, nur das schwache Weib stand noch da, schutzsuchend sich an den starken Mann wendend.

Und Schöning ergriff, da jedes Wort unmöglich, ihre Hände und drückte sie beruhigend.

Als der Nachhall der Explosion eintrat, der ununterbrochen rollende Donner, da war es mit dem letzten Funken Spannkraft, der Milly Hagen noch aufrecht hielt, vorbei.

Ihre Augen, welche bis dahin unnatürlich groß in starrem Schrecken auf die Explosionsstelle gerichtet waren, schlossen sich, ihr Kopf sank schwer auf Schönings Schulter, ganz dicht berührten ihre Haarwellen, aus der sie schützenden Kapuze gelöst, seine Wange und das feine Parfüm ihres Haares legte sich schmeichelnd um seine Sinne.

Das geheimnisvolle Etwas, daß die Seele der Menschen oft im Fluge gewinnt, der goldene Pfeil, den der kleine Liebesgott mit neckischem Lachen so blitzschnell mit seinem Rosenholzbogen in die Herzen der Menschen schleudert, hatte Schöning getroffen.

– Er hätte diese süße Last am liebsten niemals aus den Armen gelassen, zum erstenmal erkannte er, daß es noch etwas Höheres gäbe als Pflicht und Arbeit.

Dicht hinter ihnen, an die Tunnelwand gelehnt, stand Geheimrat Hagen und beobachtete mit von Sekunde zu Sekunde wachsendem staunendem Interesse die unerwartete Szene.

„Donnerwetter“, dachte er, „da hat es anscheinend auch gezündet.“

Ein verhohlenes Schmunzeln umzog für einige Sekunden seinen Mund, er war mit Millys Wahl durchaus einverstanden.

Und dann verklang das letzte Donnergrollen.

Ein tiefes Aufatmen hob Millys Brust, ihre Augen öffneten sich wieder und schauten tief in die fragenden auf sie gerichteten Augen Schönings. Mehrere Sekunden blieb sie noch unbeweglich.

Zum erstenmal offenbarten ihr Schönings Augen all die zwingende Schönheit seiner Seele. Deutlich erkannte sie, daß diese Augen eine süße, geheimnisvolle Sprache redeten. Ein jähes Erschrecken durchzuckte sie. – Heiß drang ihr das Blut zum Herzen, eine fliegende Röte legte sich wie ein zarter Schleier über ihr Gesicht. Dann schloß sie die Augen wie aus Scham – über das, was sie getan – ein leises Zittern durchbebte sie, und nun – Schöning verspürte einen letzten dankbaren Druck ihrer Hände ein leises:

„Verzeihen Sie mir –“ sie löste sich von seiner Schulter und stand wieder für sich allein.

Mit einer kurzen Verbeugung trat Schöning zurück und drückte auf einen Hebel an der Wand, der das Ventil eines Rohres öffnete, durch welches die Preßluft an der Explosionsstelle austrat, um durch den Tunnel zurück zum Tunnelmund und ins Freie zu fluten.

Schöning brach zuerst das Schweigen.

„Ein wenig giftiger Dampf! Das ist alles, was von den hundert Pfund Dynamit noch übrig ist. In kurzer Zeit werden die Explosionsgase zum Tunnel hinausgeblasen sein.“

Arbeiter mit Acetylenlampen kamen heran und bei ihrem Licht sah Schöning, daß Milly Hagen ihn noch immer mit einem eigentümlichen Ausdruck ihrer schönen Augen anblickte und daß sie blaß aussah.

Er trat zu ihr und sagte:

„Mein gnädiges Fräulein, eine Freundin aller sportlichen Übungen wie Sie, sollte sich eigentlich ein Vergnügen daraus machen, ein paar Pfund Dynamit abzubrennen. Darf ich Sie bitten, mich jetzt zur Sprengstelle zu begleiten und sich dort anzusehen was Sie mit einem Fingerdruck angerichtet haben.“

Da lachte sie, daß ihn ihre weißen Zähne anblitzten und sagte:

Ein gefährlicher Fingerdruck, wenn man damit hundert Pfund Dynamit zur Explosion bringen kann.“

„Das möchte ich verneinen, meine Gnädigste. Das war absolut gefahrlos. Viel gefährlicher dagegen ist oftmals ein leichter Händedruck, der kein Dynamit zur Explosion bringt, aber – –“

Er riß seine Worte förmlich ab, als hatte er plötzlich das Gefühl, als wage er zuviel.

Sie aber wartete darauf, daß er jetzt ein entscheidendes Wort sprechen würde. Mit allen Sinnen begehrte sie danach, von ihm erobert zu werden. Ohne jeden Widerstand – bedingungslos – hätte sie ihm ein glückseliges „Ja“ geantwortet.

Auf Milly Hagen legte sich sein Schweigen wie die vernichtende Kälte des Eises, ließ sie langsam erstarren, vernichtete all ihre glückseligen Hoffnungen, all die heißen Wünsche dieser Stunde und je weiter sie zur Arbeitsstelle vordrangen, um so ernster wurde sie, bis sie plötzlich im stolzen Trotz stehen blieb, Schöning allein vorgehen ließ und auf ihren nachkommenden Vater wartete.

Mit dem zusammen ging sie zur Arbeitsstelle.

Dort sah es grausig aus. Wie mit riesigen, ungeheuren Tatzen hatte das entfesselte Dynamit die Strecke des Tunnelstollens um zwei Meter weiter verlängert, den Fels aus dem Felsen herausgescharrt, ihn zu kleinen Brocken und Blöcken zerrissen und in den Stollen gestreut.

Milly Hagen bückte sich und nahm einen kleinen Felssplitter auf. Den wollte sie zur Erinnerung mit nach Hause nehmen, ein Datum darauf schreiben und als Briefbeschwerer aufbewahren.

Aber er sollte sie auch erinnern, daß es leichter war, den ganzen Berg mit Tausend Zentnern Dynamit zu zertrümmern, als Georg Heinrich von Schöning zu gewinnen.

Und während sie sich unter dem jetzt wieder einsetzenden wütenden Lärm der Druckluftbohrer zum Tunnelausgang zurückwandten, und ihr die anderen folgten, empfand sie noch einmal die köstlichen Minuten, die sie an Schönings Seite verlebt hatte.

Gar fest ballte sich ihre kleine nervige Faust um den Felsbrocken, so fest, als wolle sie ihn zerdrücken. Ganz schweigsam und nachdenklich ging sie neben ihrem Vater und in ihrem Herzen formte sich der brennende Wunsch, doch das zu erreichen, was ihr Glück bedeutet. Sie wollte Georg Heinrich von Schöning besitzen.

Keiner andern Frau gönnte sie diesen Mann. –

 

 

4. Kapitel.

Geheimrat Hagen saß in seinem Salon im Hotel zu Interlaken mit seiner Tochter zusammen.

„Ich werde voraussichtlich bereits morgen genötigt sein, wieder auf einige Tage nach Paris zu gehen“, sagte er zu Milly. „Du sollst während dieser Zeit hier in Interlaken bleiben.“

„Ach so!“ meinte Milly ein wenig ärgerlich. „Dann wird es mit der Einladung der Frau Oberst Vinzenz wohl ernst. Warum nimmst Du mich nicht nach Paris mit?“

Der Geheimrat seufzte leicht auf.

„Es ist traurig, liebes Kind, daß Dir seit dem Tode Deiner Mutter das rechte Heim fehlt. Diese Verhältnisse haben mir schon manche sorgenvolle Stunde bereitet. Ich bin ernstlich auf der Suche nach einer passenden Gesellschaftsdame für Dich, denn auf die Dauer tut solch ungebundenes Leben nicht gut.“

Milly machte gegen ihren Vater hin eine leichte, ein wenig spöttische Verbeugung.

„Ich danke Dir, Pa, für die guten Absichten. Ich meine aber, daß mir das bisherige Leben recht gut bekommen ist. Und wenn ich denke, was für kleine dumme Gänschen die meisten meiner Pensionsfreundinnen geblieben sind, so freue ich mich, daß ich anders geworden bin. Ich sehe die Welt doch mit offenen Augen an.“

Der Geheimrat konnte sich während dieser Worte eines leuchten Lächelns nicht enthalten. Doch dann legte sich tiefer Ernst über seine Züge.

„Und doch möchte ich Dir vor meiner Abreise noch einmal zurufen: Halte Deine Augen offen und sieh Dir die Leute Deiner Umgebung doppelt und dreifach an, bevor Du ihnen irgend welches Vertrauen schenkst. Es ist nicht alles Gold was glänzt.“

Milly sprang auf und trällerte vergnügt einen Walzer vor sich hin.

„Aha, mon cher pere! Diese Warnung bezieht sich wohl auf die diversen jungen und jüngeren Herren, die mir oder vielleicht noch richtiger gesagt, Deinem Gelde, den Hof machen, seitdem ich hier in Interlaken bin. Glaube mir, daß ich mir diese Herrschaften sehr genau ansehe, und im übrigen denke ich heute überhaupt noch nicht daran, mich irgendwie zu binden. Ich sage das trotz der süffisanten Bemerkung des Barons von Falkenstein, daß mit zwanzig Jahren eigentlich die wahre Jugend aufhört.“

Der Geheimrat ließ diesen Erguß seiner Tochter ruhig über sich ergehen.

„Was sich liebt, das neckt sich!“ meinte er dann kurzweg. „Im übrigen ist von Falkenstein immerhin eine Persönlichkeit, gegen die sich im Ernste nichts einwenden läßt. Ich würde nichts dagegen haben, wenn er heute um Deine Hand bäte.“

Milly wurde einen Moment rot.

„Du gestattest mir doch gütigst, Pa, daß ich bei dieser Angelegenheit auch ein wenig gefragt werde. Herr von Falkenstein ist einer unter den Herren meiner Bekanntschaft und weiter gar nichts. Und wenn er sich abgeschmackte Bemerkungen erlaubt, so erfährt er von mir eine gehörige Zurechtweisung.“

„Mein liebes Kind“, begann der Geheimrat, als Milly jetzt schwieg. „Ich werde Dir niemals etwas aufzuzwingen versuchen und ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein volles Glück. Du bist heute ein junges, blühendes Mädchen und Du bist außerdem auch ein reiches Mädchen. Du bist die Erbin eines Vermögens, welches ich heut auf etwa zwanzig Millionen Franken schätze. So etwas wird schnell bekannt und wohl jeder von denen, die hier mit Dir Tennis spielen oder sonstwie gesellschaftlichen Umgang pflegen, weiß es und stellt es als Faktor in seine Rechnung ein.“

„Aber ich weiß auch, daß sie es tun, und ich nehme es ihnen nicht übel“, entgegnete Milly. „Es ist doch schließlich das gute Recht der Leute, sich über die Verhältnisse ihrer Umgebung zu informieren. Glaubst Du, daß ich es selber anders mache? Ich weiß ganz genaue wie groß, oder besser gesagt, wie klein beispielsweise das Vermögen dieses Freiherrn von Falkenstein ist. Ich weiß, daß Herr von Ukrow seinen Schneider nicht mehr bezahlen kann und sich hier in Interlaken a tout prix reich verheiraten will.“

„Hör auf, hör auf“, winkte der Geheimrat den Redefluß seiner Tochter ab. „Du scheinst ja ein besseres Auskunftsbureau zu sein. Jetzt verstehe ich übrigens, warum Du Dich auch so eingehend über Deinen neuesten Schwarm, unsern Oberingenieur, erkundigt hast.“

Nun errötete Milly bis unter die Haarwurzeln.

„Aber laß doch Herrn von Schöning aus dem Spiele, Pa!“ rief sie unwillig. „Er kommt doch über nur für seine Arbeiten und hält uns Frauen für Nebensächlichkeiten, wenn nicht gar für notwendig Übel. Übrigens scheint Dein Herr Oberingenieur ein Faible für dies Bähschäfchen, die Tochter des Herrn Fabry zu haben. Er widmet sich ihr jedenfalls mit auffallender Hingabe.“

Der Geheimrat lachte ein Weilchen herzlich vor sich hin.

„Herr von Schöning scheint ja entschieden in Ungnade bei Dir zu sein,“ bemerkte er schließlich. „Nun vielleicht ändert sich …“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Worte. Der Kellner trat ein und überbrachte ein Telegramm.

Der Geheimrat öffnete das Telegramm mit einer gewissen Unruhe, da es aus Kandersteg kam. Kaum aber hatte er den Inhalt gelesen, so zog ein leichtes Lächeln über sein Gesicht.

„Etwas unangenehmes, Pa?“

Der Geheimrat zuckte die Achseln.

„Ich hoffe nicht, Milly. Herr von Schöning teilt mir soeben mit, daß er sich einen Tag Urlaub genommen habe und bittet mich um die Liebenswürdigkeit, den Tag in meiner Gesellschaft verbringen zu dürfen.“

Millys Stirn kräuselte sich ein wenig und ihre Unterlippe schob sich etwas spöttisch vor.

„Well – da könnt ihr Herren ja den Tag mit ernsten Betrachtungen über den Tunnelbau und sonstige Dinge, die mit Mannesarbeit zu tun haben, recht angenehm verbringen. Merkwürdig seid Ihr Männer doch … Ich glaube, Euretwegen brauchte der liebe Gott den herrlichen Sonnenschein und all das Schöne nicht geschaffen zu haben. – Ihr sitzt und rechnet.“

Der Geheimrat wiegte lächelnd seinen ausdrucksvollen Kopf.

„O doch, mein Kind! Damit ihr Frauen den Sonnenschein genießen könnt, arbeiten wir Männer freudig und willig.“

„Ich werde zum Sportplatz gehend – Herr von Falkenstein wird bereits warten und falls Du Lust hast, uns mit Herrn von Schöning zu besuchen, so werden mir die hohen Gäste willkommen sein.“

Sie reichte ihrem Vater die Hand und bot ihm zum „Adieu“ ihre Wange zum Kuß.

Dann ging sie. –

* * *

Ein wundervoller Maimorgen lag über den Schweizerbergen. Von den schneeigen Firnen, die das Berner Oberland nach dem Süden zu begrenzen, von Schreckhorn und Wetterhorn, von Mönch und Jungfrau her, bis hinüber zu den anderen Gipfeln, die den Thuner- und Brienzersee umrahmen, spannte sich ein dunkelblauer Himmel.

Oberingenieur von Schöning hatte die Bahn von Kandersteg bis Interlaken benutzt. Langsam nahm er seinen Weg durch die Hauptstraße und freute sich über jeden elegant gekleideten Touristen der bei ihm vorbeikam. Und fester denn je wurde in ihm der Entschluß, diesen Tunnelbau für lange Zeit seine letzte Arbeit bleiben zu lassen.

Und dann war er über solche Betrachtungen glücklich bis vor das Metropol-Hotel gelangt und gab dort seine Karte ab. Nach wenigen Minnten kam der Kellner zurück und geleitete ihn in das Empfangszimmer des Geheimrats Hagen.

Mit herzlichem Handschlag begrüßte dieser seinen Besucher.

„Sie haben sich allzu streng an die hergebracht Sitte gehalten, mein lieber Herr von Schöning, einen offiziellen Besuch um zwölf Uhr abzustatten. Aber wir pflegen hier in Interlaken den Tag früher zu beginnen. Meine Tochter ist schon längst auf dem Tennisplatze. Wenn es Ihnen angenehm ist, halten wir uns hier im Hotel nicht auf, sondern unternehmen sofort eine kleine Promenade zu den Sportsplätzen.“

Gern nahm Schöning den Vorschlag an und wenige Minuten später schritten die Herren den Höheweg entlang, den Sportsplätzen zu. Ein munteres Leben und Treiben bot sich hier ihren Blicken.

Prüfend ließ Schöning seine Blicke über dies Bild gleiten. Dann schlenderte er mit Hagen durch die Gänge zwischen den einzelnen Spielplätzen dahin.

Sie näherten sich einem Spielplatze, auf welchem Milly im Einzelspiele gegen einen Partner kämpfte. Unaufhörlich sprangen die Spieler hin und her, schlugen nach den blitzartig durch die Luft sausenden Bällen und riefen sich englische Zahlen zu.

„Fifteen, out!“ klang es in diesem Augenblick von den Lippen Millys. Sie hatte den Ball richtig über das Netz gebracht und ihr Partner hatte ihn nicht zurückgeben können.

Einen Augenblick ruhte das Spiel, während die Ballboys über den Platz liefen und die verstreuten Bälle auflasen.

Milly benutzte die Spielpause, um sich ein wenig umzusehen und erblickte jetzt ihren Vater. Mit fröhlichem Gruße trat sie ans Gitter und öffnete die Tür.

„Guten Tag, Papa! Ah! Du bringst einen seltenen Gast mit. Ich begrüße Sie, Herr von Schöning. Treten Sie bitte in diesen Käfig hinein. – Halt! Um Gottes willen! Halt! Es ist eine Todsünde, in Schuhen mit Absätzen auf den Spielrasen zu treten. Sie dürfen nur den Gang zwischen Rasen und Gitter benutzen.“

Während dieses Geplänkels war Millys Gegenspieler um das Spielnetz herumgeschritten. Mit einer leichten Verbeugung trat er näher.

„Mein Partner, Baron von Falkenstein. Herr Oberingenieur von Schöning,“ stellte Milly die Herren vor. „Herr von Schöning bearbeitet den Lötschberg berufsmäßig mit Bohrmaschinen und Dynamitpatronen und ist heute nur ausnahmsweise von seiner Höhe hinuntergestiegen, um zwischen uns gewöhnlichen Sterblichen zu wandeln.“

„Muß kolossal interessant sein, solch Tunnelbau“, sagte der Baron von Falkenstein und ließ sein Monokel mit unnachahmlicher Grazie aus dem rechten Auge fallen.

„Wir müssen noch eine Partie spielen. Die Entscheidungspartie, Papa“, begann jetzt Milly. Danach stehe ich ganz zur Verfügung.“

„Allright“, nickte ihr Herr Hagen zu und schlenderte mit Schöning gemächlich weiter durch die fröhliche Menge und den warmen Sonnenschein.

Milly blieb mit ihrem Partner, der sich wieder auf seinen Platz zurückbegeben hatte, allein. Aber sie hatte es durchaus nicht eilig, das Spiel wieder aufzunehmen, ihrem Partner einen Ball einzuschenken, wie der Sportausdruck lautet. Vielmehr trat sie bis dicht an das Netz und winkte auch ihren Partner dorthin.

„Da haben Sie eine neue Bekanntschaft gemacht, lieber Baron. Sagen Sie, welchen Eindruck hat Herr von Schöning auf Sie gemacht?“

„Ich muß sagen, Gnädigste“, erwiderte Falkenstein, „der Mann sieht relativ anständig aus. Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, daß er Ingenieur ist, hätte ich ihn ohne weiteres für einen Juristen gehalten. Sein Anzug ist tipp topp! Schien übrigens ein Erzeugnis eines Londoner Ateliers zu sein. Von Schöning ist doch guter alter Adel. Wie kommt der Mann eigentlich unter die Ingenieure?“

Milly biß sich einen Moment auf die Lippen. Dann begann sie ein wenig zögernd:

„Es ist eine lange Geschichte, wie Herr von Schöning, der als Offizier begann, schließlich Ingenieur wurde. Mein Vater versichert mir, daß der Herr in seinem Fache Hervorragendes leistet. Na, das kann ich nicht beurteilen. Aber das weiß ich sicher, daß seine Galanterie mancherlei zu wünschen übrig läßt.“

Mit wachsendem Interesse war Herr von Falkenstein diesen Auseinandersetzungen gefolgt. Seit einer Reihe von Monaten bewarb er sich selbst ziemlich offenkundig um Milly. Denn der Herr Baron von Falkenstein verfügte zwar über einen Adelstitel von gutem Klang, aber mit seinen Finanzen sah es weniger berühmt aus. Die Zinsen seines kleinen Vermögens reichten nicht annähernd für seine Lebensführung. Er verbrauchte jedes Jahr einen beträchtlichen Teil des Kapitals und der Moment war genau zu berechnen und sehr bald zu erwarten, da der Baron die letzte Krone von der Bank holen und dann mittelos dastehen würde.

Mit ziemlich gemischten Gefühlen hatte er daher den neuen Ankömmling begrüßt. Instinktiv fühlte er, daß die männliche, energische Persönlichkeit dieses Oberingenieurs seinen eigenen Absichten recht hinderlich werden könnte.

Und jetzt zog ihn Milly direkt ins Vertrauen, erzählte ihm, daß dieser Schöning es an Galanterie fehlen ließen Wie der Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, daß sich ihm hier eine große Chance böte, daß er diesen Schöning als Postament benutzen könnte, um sich selber ein erhöhtes Ansehen zu geben.

„Hm! Äh!“ erwiderte er also jetzt ein wenig knarrend über das Netz hin. „Sollte bei wirklich guter Kinderstube doch nicht vorkommen, daß gute Manieren lädiert werden, trotz jahrelangem Umgang mit Arbeitern und Kulis. Wird wohl nötig werden, diesen Oberingenieur ein wenig zu erziehen, wenn er sich in guter Gesellschaft bewegen will.“

Die verschiedensten Gefühle und Empfindungen durchwogten Milly bei diesen Worten. Ihre Gedanken schweiften zum Tage ihres Besuches auf der Baustelle zurück. Sie erinnerte sich jenes Weges, auf welchem Schöning Celestine Fabry geführt und sie selbst seinem Assistenten überlassen hatte. Und bei dieser Erinnerung stieg ihr die helle Zornesröte in die Wangen und ihre Augen blitzten auf.

Und so rief sie dann über das Netz zurück:

„Ich glaube, Sie treffen den Kern der Sache. Herr von Schöning ist ein sehr netter Mensch, aber er muß noch ein wenig abgeschliffen werden.“

„Geschliffen“, dachte Falkenstein bei sich Und während allerlei Erinnerungen an seine eigene Militärzeit durch seinen Kopf gingen, murmelte er, „werden wir besorgen, Gnädigste.“

Aber Milly war schon vom Netz zurück auf ihren Platz getreten.

Achtung!" rief sie und begann das Spiel.

Herr von Falkenstein mußte alle Gewandtheit und Aufmerksamkeit zusammennehmen und kam darüber einstweilen nicht zum Nachdenken. Endlich war die Partie entschieden. Sie war zu seinen Ungunsten ausgegangen.

Und jetzt kamen Hagen und Schöning zurück. Man begrüßte sich und schlenderte dann in zwanglosem Durcheinander über die breite Mittelallee des Sportsplatzes. Wiederholt musterte Falkenstein während dieses Ganges den Oberingenieur. Und dann beschloß er, mit der Erziehung sofort zu beginnen, in der sicheren Meinung, daß ihm das bei Milly bedeutend nutzen werde.

„Ich hörte vom gnädigen Fräulein, Sie waren früher Offizier,“ wandte er sich jetzt direkt an Schöning.

„Das war einmal, es ist lange her“, erwiderte der Oberingenieur.

„Fiel Ihnen der Übergang vom Militär in die Technik nicht kolossal schwer?“

„Wie man es nimmt, Herr von Falkenstein. Im Anfange meiner Laufbahn ist mir manches sehr spanisch vorgekommen. Ich will nicht von meiner ersten praktischen Fabrikarbeit reden, die dem Studium auf den technischen Hochschulen voranging. Da bekam ich natürlich die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten zugewiesen und irgend ein Werkführer oder Vorarbeiter freute sich diebisch, wenn ich nach solchen Arbeiten total verschmutzt aus irgend einem Kessel oder Tank wieder herauskroch. Aber das ging ja naturgemäß in wenigen Monaten vorüber.

Doch als ich dann nach vollendetem Studium und mit dem Titel eines Diplom-Ingenieurs versehen, wieder in die Praxis trat, da ging es noch manchmal recht böse zu.“

Herr von Falkenstein hatte den Worten Schönings, der sich ein wenig in den alten Erinnerungen einspann, geduldig zugehört.

„Dann war das Ganze aber doch ein bedenklicher Abstieg auf der …, auf der … na, sagen wir mal, sozialen Stufenleiter“, warf er jetzt ein. „Freilich hatten Sie ja immer noch Ihren Leutnantstitel, der Ihnen helfen und Autorität verschaffen mußte.“

Höchst überrascht blickte der Oberingenieur auf und ließ sein Auge einen Moment auf dem Gesichte Falkensteins ruhen. Und dieser empfand diesen harten, stählernen Blick höchst peinlich.

Doch ehe er noch etwas erwidern konnte, antwortete Schöning, der wieder ruhig vor sich hinschaute, in zwangloser Weise:

„Ihre Ansicht, Herr von Falkenstein, entspricht nicht ganz den Tatsachen. Ich gestatte mir als Eideshelfer keinen geringeren, als Werner von Siemens zu nennen. Sie wissen, daß er vierzehn Jahre als Leutnant in der preußischen Armee diente, bevor er seinen Abschied nahm und sich der Technik zuwandte, in welcher er so gewaltige, unsere ganze Kultur beeinflussenden Erfolge erringen sollte. Man wird füglich nicht behaupten können, daß Siemens auf der sozialen Stufenleiter hinuntergestiegen ist als er die Kaserne mit der Werkstatt, den Degen mit dem Zeichenstift vertauschte.“

Und wieder traf dabei ein zwingender Blick Herrn von Falkenstein, der in diesem das Gefühl verstärkte, daß auch mit dem simplen Mister Schöning unter Umständen sehr schlecht Kirschen essen sein mußte.

Man trat durch ein Umfassungsgitter und ging eine schattige Baumallee entlang. Nach einer Weile machte das Gehölz einem freien Anger Platz und man kam an die für Schießstände typischen Aufbauten. Kleine Holzschuppen, die den Schützen vor dem direkten Sonnenlicht schirmen sollten, ein Häuschen für die Aufbewahrung von Schußwaffen und die Unterkunft des Büchsenmeisters und dergleichen mehr.

Inzwischen war der Büchsenmeister herangekommen. Er begrüßte Milly, die auf diesem Platze oft verkehrte, mit einer tiefen Verbeugung. Dann brachte er auf einen Wink der jungen Dame mehrere gute Teschings herbei und trug sie zu einem der Stände, von dem aus man freien Ausblick auf eine etwa hundert Meter entfernte Scheibe hatte.

„Pa, Du kannst anfangen!“ sagte Milly.

Der alte Geheimrat nahm mit vergnügtem Lächeln eine der Schußwaffen.

„Ich will Dir den Gefallen tun, Milly, aber Du wirst nicht viel Ehre mit mir einlegen. Ich bin froh, wenn ich überhaupt die Scheibe treffe.“

Nach diesen Worten legte er die Waffe auf und zielte geraume Zeit. Endlich drückte er ab.

„Zwei!“ rief der Büchsenmeister, der am elektrischen Zeigeapparat stand.

„Das war nicht berühmt,“ lachte Hagen. „Versuchen wir unsere Kunst noch einmal.“ Und wieder zielte er sehr sorgfältig und setzte seinen Schuß auf den sechsten Ring.

„Schon besser, murmelte er befriedigt und seine Stimmung wurde die beste, als er seinen dritten Schuß auf dem elften Ring anbrachte.

„Zur Not geht es noch,“ sagte er und übergab die Waffe dem Herrn von Falkenstein.

Der ließ sie vom Büchsenmeister neu laden und putzte derweil mit vieler Umständlichkeit sein Monokel. Dann legte er die Waffe auf und schoß eine „neun“.

Triumphierend blickte er auf Schöning, um dann mit großer Umständlichkeit den zweiten Schuß zu tun. Aber es wurde auch nur eine „neun“ und der dritte Schuß ergab dasselbe Resultat.

„Jetzt sind Sie dran, Herr von Schöning!“ rief Milly.

„Ich glaube nicht, daß ich mit dieser Waffe irgend etwas treffen werde,“ erwiderte der Oberingenieur mit behaglichem Lächeln. „Ich habe solch ein Ding seit zehn Jahren nicht mehr in der Hand gehabt.“

„Ja, aber Sie erzählten uns doch, daß Sie schießen können.“

„Pardon, mein gnädiges Fräulein. Ich erzählte Ihnen, daß ich das Schießen niemals als Sport betrieben habe, sondern daß es in manchen unzivilisierten Gegenden einfach als Verteidigungsmittel unentbehrlich war.“

„Nun, das kommt doch wohl so ziemlich auf dasselbe heraus,“ rief die junge Dame, und Herr von Falkenstein sekundierte ihr mit den Worten: „total egal!“

„Doch nicht so ganz und gar,“ erwiderte Schöning. „Ihre Schießübungen waren sportlich sicherlich sehr wertvoll. Für die Verteidigung in wilden Ländern ist aber etwas anderes notwendig. Dort pflegt man Feindseligkeiten überhaupt nicht auf eine Entfernung hin zu annoncieren. Dort kam es immer sehr plötzlich und aus nächster Nähe. Da tauchte beispielsweise beim Bau der Mandschurischen Bahn irgend so ein Tunguse unmittelbar vor einem auf und während einer halben Sekunde gab es ein Wettrennen zwischen Kugel und Messer.“

„Ist ja riesig interessant, aber ein bißchen romantisch,“ knurrte Herr von Falkenstein. „So gewissermaßen kleine Knipserei ohne alle Formalitäten.“

„Sehr richtig, Herr von Falkenstein,“ sagte Schöning, dem die Ironie in den Worten des Barons nicht entgangen war. „Wenn Sie beispielsweise in gewissen westlichen Gebieten eine kleine Differenz mit einem Gentleman haben, und dabei nach der Hüfttasche oder dem Stiefel greifen, wo das Schießeisen zu sitzen pflegt, so ist die Geschichte verkehrt. Der andere schießt dann sofort und das soll doch nicht sein. Wenn man dagegen so …“

Er brach seine Rede ab. Aber bei dem letzten Worte erglänzte plötzlich eine elegante Schußwaffe in seinen Händen.

Keiner der Umstehenden hätte sagen können, wo sie hergekommen war. Niemand hatte gesehen, daß Schöning irgend eine seiner Taschen berührt hätte. Der Revolver lag eben plötzlich in der Rechten Schönings und funkelte verlockend im Sonnenschein.

„Ein kleines Taschenspielerkunststück, meine Herrschaften,“ lächelte der Oberingenieur mit vergnügtester Miene.

Er wandte sich an den Büchsenmeister und verhandelte mit ihm. Der Mann verschwand in der Hütte und kam nach wenigen Sekunden zurück. In der rechten Hand trug er fünf Kugeln aus weißem Ton in der ungefähren Größe von Hühnereiern. Er stellte sich etwa zehn Schritt von Schöning entfernt auf und warf eine der Kugeln in die Luft. Sie erreichte eine Höhe von fast drei Metern, um sich dann wieder zu senken. Doch in diesem Augenblick blitzte es aus der Waffe Schönings. Ein kurzes scharfes Krachen und die dünnwandige Tonkugel zersplitterte in kleine Stücke.

Im Moment des Schusses schleuderte der Büchsenmeister die zweite Tonkugel und ebenso sicher wie die erste wurde sie in der Luft zerschmettert. Die weiteren drei gingen denselben Weg.

„A la bonheur!“ rief der Geheimrat. „Etwas ähnliches habe ich zuletzt bei Buffalo Bill gesehen und dann nicht wieder.“

Gerade jetzt warf der Büchsenmeister fünf Kugeln gleichzeitig in die Luft.

Sofort begann die Schußwaffe in Schönings Hand wie eine Kaffeemühle zu rollen. Eine Kugel nach der andern zersplitterte in der Luft. Keine einzige erreichte den Boden.

„So, mein gnädiges Fräulein,“ wandte Schöning sich jetzt an Fräulein Hagen. „Nun habe ich doch allen berechtigten Wünschen entsprochen und mich auch auf dem Sportsplatz ehrlich gemacht.“

Jetzt erst bemerkten die anderen, daß die Waffe aus Schönings Händen wieder verschwunden war. Ebenso rätselhaft und geheimnisvoll wie sie vorhin plötzlich in seiner Hand gelegen hatte, ebenso spurlos und unbemerkt war sie auch wieder weggetaucht. Mit stillem Amüsement bemerkte Schöning das Staunen der übrigen, aber er hütete sich wohlweislich, etwas von seinem Geheimnis zu verraten.

Nicht nur der Büchsenmeister betrachtete ihn mit unverhohlener Hochachtung. Auch auf Milly hatte das Geschehnis unverkennbaren Eindruck gemacht. Mit einer gewissen Befriedigung konstatierte sie, daß Schöning, der doch nur seine Arbeit und immer wieder nur Arbeit zu kennen schien, hier recht vorteilhaft abgeschnitten hatte.

Sehr viel anders waren die Gefühle, mit welchen Herr von Falkenstein dies ganze Intermezzo bewerte. Der Baron war selbst ein ganz erträglicher Schütze und hatte bereits öfters seinen Mann im Zweikampf gestanden. Zur Vorgeschichte dieses jetzt dreißigjährigen Mannes gehörten auch zwei Pistolenduelle und ein Jahr Festung zur Belohnung für diese im übrigen ziemlich unblutig verlaufenen Heldentaten. Unausgesetzt hatte der Baron, der nach dem Urteil kompetenter Leute an der Erfindung des Pulvers nicht beteiligt war, sich überlegt, wie er sich diesen ungehobelten Ingenieur kaufen könnte. Er hatte sich das bereits wunderbar schön ausgedacht. Eine kleine durchaus maßvolle Reiberei, bei welcher er selbst als Kavalier Millys auftrat. Schon seit einer Stunde suchte er Anlaß zu solcher Szene, der dann eine Forderung von seiner Seite aus folgen sollte. Und jetzt entpuppte sich dieser Dynamitonkel nebenbei auch noch als ein veritabler Kunstschütze, mit dem ernstlich auf Pistolen losgehen zu wollen, der blanke Selbstmord gewesen wäre.

Höchst fatal und widerwärtig.

Man verließ jetzt die Schießstände, wanderte dem Restaurant auf dem Platze zu und setzte sich zum Diner nieder.

– – – – – – – – – – – – –

Der Nachmittag war weit fortgeschritten und die Strahlen der Frühlingssonne fielen schräg durch das frische Baumlaub, als Milly die Beobachtung machen mußte, daß Herr von Falkenstein sich jeder Erziehungsversuche enthielt. Sie mußte konstatieren, daß der Ton der Unterhaltung, die von Schöning ja von Anfang an in der korrektesten und höflichsten Weise geführt worden war, von Falkenstein in derselben Weise erwidert wurde.

Und Milly Hagen mußte noch eine weitere Entdeckung machen, eine Entdeckung, die ihre Eigenliebe tief verletzte.

Herr von Schöning behandelte sie mit ausgesuchter, vollendeter Höflichkeit. Nichts wäre daran für einen Fremden zu tadeln gewesen. Anders aber für Milly Hagen. Sie vermochte es sich zuerst gar nicht zu erklären, weshalb er den vertraut klingenden warmen Ton aus seinen Worten herausnahm.

Ebenso zeremoniell höflich wie Herr von Schöning benahm sich daher auch Milly Hagen und unterdrückte alle die Worte, welche etwa eine Auszeichnung des einen dem andern gegenüber bedeuten konnten,

Aber einmal kam es doch zum Ausbruch. Allerdings nicht Schöning gegenüber.

Herr von Falkenstein beschrieb gerade die Vorzüge, welche eine Gänseleberpastete erst dadurch erhielt, daß man nicht etwa einen Portwein oder anderes Zeug dazu tränke, sondern englisch Porter.

Da funkelte es in den Augen Milly Hagens ärgerlich und abweisend auf.

„Wissen Sie, Herr von Falkenstein, ich finde Sie ganz nett beim Tennisspiel, Ihre Unterhaltung dabei ist einigermaßen erträglich, soweit sie sich nur um das Spiel dreht. Aber außerhalb des Sportsplatzes scheinen Sie wirklich zu glauben, daß man für nichts weiter Interesse hat, als für Diners, Mode und allenfalls irgend eine Sportssache. Mir ist es sehr egal, ob ich Porter oder Portwein oder sonst irgend ein Zeug zu einer Gänseleberpastete trinke. Meinen Durst löscht am besten ein Glas frisches Wasser und den Hunger ein Stück frisches Brot.“

Der von Falkenstein saß wie ein geschlagener Pudel da.

„Donnerwetter! Das war ja eine geradezu eklatante Abfertigung! Dicht unter den Augen dieses Menschen, der seinen Offiziersrock ausgezogen, um so eine Art von abenteuerndem Ingenieur zu werden. Einfach scheußlich!“

Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte diesem Kerl, in dessen Augen ein ganz frech vergnügtes Lächeln lag, eine Unverschämtheit gesagt und –das weiter. –

Aber der Respekt vor dessen sicherer Hand unterdrückten diese Gefühlsäußerung.

Er blieb kalt und steif von jetzt ab an dem Tische sitzen, führte das Gespräch möglichst mit dem Geheimrat und vermied es, Schöning und Milly Hagen anzusehen.

So hatte Herr von Falkenstein es fertig bekommen, daß Georg Heinrich von Schöning endlich sehend wurde.

Für mehrere Sekunden fanden Milly und er keinen Gesprächsstoff.

Aber ihre Augen begegneten sich und die sagten sich mehr als alle Worte vermochten.

Als es in Spiez, wohin Milly mit ihrem Vater Schöning begleitet hatte – Herr von Falkenstein war kurz nach dem Souper verschwunden – zum Abschiednehmen kam, sah der Geheimrat, welcher sich plötzlich eine Zigarre sehr umständlich anzünden mußte, und stehen geblieben war, daß die beiden sich die Hände zum Abschied reichten und sie länger als es üblich gewesen, ineinander ruhen ließen.

„Auf baldiges, baldiges Wiedersehen“, rief Milly, als Schöning am Kupeefenster stand, und beide reichten sich nochmals die Hände.

Ja sie winkte mit dem Taschentuch dem in die Nacht fortrollenden Zuge nach und Schöning erwiderte den Gruß mit seinem Hute.

Dann wandte sie sich mit strahlenden Augen an ihren Vater und sagte:

„Pa, er ist ein furchtbar netter Mensch! Ein Mann, den man lieb gewinnen muß.“

„So so“, erwiderte der Geheimrat lang gedehnt und sog bedächtig an seiner Zigarre.

„Hast Du ihn nicht auch gern, Pa?“

„Aber, ja! Wie kommst Du zu solcher Frage?“

„Dein Ton klang mir nicht ganz zustimmend.“

„Dann hast Du falsch gehört. – Im Gegenteil! – Ich wäre sehr damit einverstanden, falls er –“

Der Geheimrat steckte die Zigarre in den Mund und stieß eine dicke Tabakswolke aus, er wollte es seiner Tochter doch nicht so leicht machen. –

Aber da hing sie sich an seinen Arm, lachte ihn glückselig an und sagte:

„Du guter, lieber Pa!“

Und dann schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn lange und kräftig.

„Du erstickst mich ja, Mädel“, rief der Geheimrat lachend aus. „Ich glaube, Du gibst diese Küsse an eine falsche Adresse.“

Herr von Falkenstein wartete am nächsten Tage vergeblich auf das Erscheinen Milly Hagens auf dem Tennisplatz.

Als er sich dann bewaffnet mit einem Veilchenstrauß aufmachte, um sich im Hotel für seinen faux pas zu entschuldigen, sagte der Portier: „Bedaure, Herr Baron, die Herrschaften sind mit dem Frühzuge fortgefahren.“

„Darf ich wissen wohin?“

„Ich hörte vom Herrn Geheimrat, daß die Herrschaften nach Kandersteg fuhren.“

Das wirkte wie ein Schlag aus den Baron.

Also zu dem Ingenieur Herrn von Schöning. Na also –.

In Wahrheit war Milly mit ihrem Vater nicht nach Kandersteg gefahren, sondern sie begleitete ihn auf einer Geschäftsreise nach Paris.

Dem Portier hatte der Geheimrat Kandersteg nur deshalb angegeben, um den Baron von Falkenstein deutlich zu zeigen, daß er seine Rolle ausgespielt habe.

Das war ihm voll und ganz gelungen.

 

 

5. Kapitel.

Der Stationsvorsteher auf dem Bahnhofe von Kandersteg ging äußerst mißmutig hin und her. Wiederholt lief er an das Stationstelephon. Schließlich trat er in einen reservierten Raum neben dem Wartesaal. Die Mütze in der Hand näherte er sich in höflicher Haltung dem Herren, der dort saß und in dem wir den Regierungsrat Fabry wiedererkennen.

„Verzeihen der Herr Rat“, begann er, „wir können den fahrplanmäßigen Zug nicht ablassen. Der Dynamitzug von Spiez ist noch nicht heran und erst in einer halben Stunde fällig.“

Wütend schlug der alte Herr mit der Faust auf den Tisch.

„Unerhört! Diese Beanspruchung unserer Linie durch die Bauleitung. Die Leute sollen ihr Dynamit beizeiten heranschaffen und den Fahrplan nicht stören.“

Erregt sprang er auf und ging im Zimmer hin und her.

„Aber Vater, so beruhige Dich doch“, hub jetzt Celestine Fabry an, die neben ihrem Vater am Tische saß. „Die Bauverwaltung muß doch schließlich ihre Sachen heranbekommen. Wenn die Leute kein Dynamit haben, können sie doch auch nicht sprengen.“

Doch der alte Herr ließ sich nicht so leicht beruhigen.

„Die Herren Ingenieure von der Bauleitung denken nur, wir sind da, um nach ihrer Pfeife zu tanzen.“

„Aber das kannst Du doch von Schöning nicht sagen“, warf Celestine wiederum ein.

„Du nimmst ja auffallend Partei für diesen Herrn von Schöning“, brauste der Alte von neuem auf. „Ich aber sage Dir, sie taugen alle zusammen keinen Schuß Pulver und ich bin ernstlich gewillt, den Burschen das Handwerk zu legen. Heute früh telefoniert dieser Volkmar im letzten Augenblick, fünf Minuten vor Abgang des Frühzuges, man solle ihm noch von Interlaken ein Paket Schnittabak mitbringen. Der Zugführer kenne seine Marke und würde die Sache schon besorgen.

Na, zufällig kam ich dazu und hörte das Gespräch mit an. Selbstverständlich bekam der Zugführer von mir den strikten Dienstbefehl, den Tabak nicht zu besorgen, sondern sich während der Dienststunden lediglich um seine Geschäfte zu bekümmern. Als wir heute früh hier ankamen, stand schon ein Bote von Volkmar da, um den Tabak zu holen. Der mußte ja unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das Gesicht von Volkmar hätte ich gern gesehen, als er die Nachricht bekam, daß ein gewisser Herr Fabry die Besorgung des Tabakes ausdrücklich verboten habe.“

Nach diesen Worten begann der alte Rat gereizt im Zimmer auf und ab zu wandern und hörte während der nächsten halben Stunde auf keinen Zuspruch mehr.

Endlich wurde die Stille, die auf dem Bahnhofe lastete, durch einen Pfiff unterbrochen. Der Stationsvorsteher trat auf den Bahnsteig und auch der Regierungsrat begab sich mit seiner Tochter ins Freie.

Schon konnte man in der Ferne die Rauchfahne einer Lokomotive erkennen. Immer größer wurde der Zug und jetzt rollte er langsam in den Bahnhof ein. Die Bremsen knirschten und die Lokomotive stand.

Das war ein eigenartiges Bild. Hinter der Lokomotive folgten etwa sechs flache Güterwagen, die mit schweren eisernen Konstruktionsteilen beladen waren. Dann kamen zwei leere Wagen. Dann folgte ein geschlossener Güterwagen. Er war sorgfältig plombiert und trug eine Stange, von welcher eine breite tiefschwarze Flagge mit einem weißen „P“ darin wehte.

Es war das internationale Zeichen, die Pulverflagge, welche schon von weit her anzeigte, daß hier ein Transport gefährlichen Sprengstoffes ankam.

Dann begann das Ausladen. In Gegenwart des Vorarbeiters zerschnitt der Stationsvorsteher die Plombenschnur und öffnete die Tür. Es kam eine einzige Holzkiste von mäßiger Größe zum Vorschein.

„Das ist aber wenig Dynamit“, meinte der Stationsvorsteher. „Sonst haben wir doch immer beinahe den ganzen Gepäckwagen voll einzelner Holzkisten gehabt. Das kann kaum für eine einzige Sprengung langen.“

„Es ist auch kein Dynamit“, meinte der Vorarbeiter. „Wir haben noch zweihundert Zentner Dynamit bei uns liegen. Das sind Sprengkapseln, die wir brauchen, um die Patronen zum Explodieren zu bringen. Ohne die Kapseln kann man das Dynamit anstecken wie ein Talglicht. Es brennt ruhig weg. Wenn aber so eine haselnußgroße Kapsel dran ist, dann geht es los.“

Und nun traten die Leute des Vorarbeiters hinzu. Mit unendlicher Sorgfalt hoben sie die Kiste aus dem Wagen und trugen sie zu der elektrischen Feldbahn, die vom Bahnhofe zur Baustelle führte.

Danach begann das Ausladen der schweren Eisenteile und nach einer weiteren Viertelstunde trat der Stationsvorsteher zu dem Regierungsrat und meldete, daß nun in fünf Minuten ein Zug nach Interlaken zur Verfügung stände.

* * *

Aus der großen flachen Halde, die sich vor der Tunnelmündung ausdehnt und die mannigfachen Gebäude der Tunnelbauleitung trug, stand breit und behäbig der Herr Ingenieur Hans Volkmar. Er trug heute eine grobe lederne Arbeitskleidung und hohe Wasserstiefel, denn er hatte eine Begehung des Tunnels vor.

Aber einstweilen schien er noch etwas anderes zu erwarten. Wieder und wieder zog er die Uhr und spähte dem Feldbahngleis nach, das Kandertal hinunter.

Und nun sollte seine Erwartung Befriedigung finden. Aus der Ferne nahte ein kleiner Arbeitszug, und der letzte Wagen dieses Zuges trug die schwarze Pulverflagge.

Volkmar trat an den Wagen heran.

„Tragt die Kiste in mein Zimmer, aber seid vorsichtig“, rief er den Arbeitern zu.

Und wiederum wurde die Kiste, die bereits dem Herrn Fabry so vielen Verdruß bereitet hatte, mit allergrößter Vorsicht aus dem kleinen Feldbahnwagen gehoben und über den Platz in das Haus und die Treppen hinauf in das Wohnzimmer Volkmars getragen. Kopfschüttelnd entfernten sich dann die Arbeiter. Die lebhaften Italiener gestikulierten mit Händen und Füßen, während sie über die Gründe debattierten, die den Signor Volkmar bewogen haben konnten, die gefährliche Kiste direkt in sein Wohnzimmer zu nehmen.

Indessen stand Volkmar ruhig in diesem Raum. Sobald die Schritte der Leute auf der Treppe verklungen waren, drehte er den Schlüssel in der Tür herum und dann nahm er Hammer und Meißel zur Hand und näherte sich dem Holzkasten. Mit geübtem Griff setzte er den Meißel in die Fuge und trieb den Deckel in die Höhe. Jetzt legte er ihn zur Seite und nahm mehrere Hände Holzwolle aus der Kiste, die er sofort in den leeren Ofen steckte. Und dann griff er ohne jede Scheu in die gefährliche Kiste hinein … und zog ein großes Paket Pfeifentabak heraus.

„So mein lieber Herr Fabry“ murmelte er dabei vor sich hin, „meinen Tabak hätte ich nun ja doch richtig bekommen. Und das Euer Hochwohlgeboren dessenthalben eine runde Stunde haben auf dem Bahnhof Kandersteg sitzen und warten müssen, das freut mich ganz besonders. Direkt werdet Ihr von der Geschichte ja nie etwas erfahren. Das könnte doch unter Umständen unangenehme Weiterungen geben. Aber daß sie Euch indirekt zu Ohren kommt, dafür werde ich schon sorgen.“

Er schob das Tabakpaket in den Schreibtisch und ließ die wieder geschlossene Kiste durch die Arbeiter in das Sprengstoffmagazin bringen.

Und dann setzte sich der Ingenieur Hans Volkmar auf sein bescheidenes Ledersofa, stopfte sich eine Pfeife mit eben jenem Tabak, der soeben im Sonderzuge unter der Dynamitflagge angekommen war und begann mit vollem Behagen zu rauchen.

* * *

Die Tischzeit war vorüber, als Herr von Schöning in das Zimmer Volkmars trat. Behaglich streckte dieser dem Kollegen die Rechte entgegen.

„Der Ausflug nach Interlaken ist Ihnen doch wohl bekommen“, hub er an. „Sie haben den Urlaub aber auch verdient. Ihre neuen Bohrmaschinen arbeiten ganz vorzüglich. Jetzt, wo die Leute auf den Betrieb eingefuchst sind, lernt man die Leistung erst voll würdigen. Wir machen jetzt jeden Tag zehn volle Meter gegen fünf bis sechs mit der alten Maschine.“

Ein Lächeln ging über die Züge Schönings.

„Ich freue mich über Ihr günstiges Urteil, Kollege“, erwiderte er. „Aber ich wollte Sie was anderes fragen. Ich höre, daß Sie die Sicherheitstore, die noch in Interlaken lagerten, hier herkommen ließen, und in den Tunnel brachten. Haben Sie besondere Gründe für diese Maßnahme.“

Volkmar hatte sich während dem erhoben und ging ein paarmal im Zimmer hin und her.

„Der könnte auch was anderes fragen“, dachte er bei sich. „Daß ich die hundert Zentner Eisen hier hergeholt habe, um einen anständigen Beipack für meinen Tabak zu haben, werde ich ihm lieber nicht erzählen.“ Und laut fuhr er fort:

„Besondere Gründe, lieber Kollege, nicht gerade. Sie wissen ja, daß wir die Sicherheitstore für alle Fälle anfertigen ließen, um sie eventuell an irgend einer Stelle des Tunnels schnell einzusetzen und eine Absperrung zu erzielen.“

Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann begann Schöning von neuem:

„Ich frage Sie bei Ihrer Ehre, ob der Hertransport der Tore in irgend welchen Beziehungen zu dem Marteauschen Gutachten steht?“

„Herr des Himmels“, dachte Volkmar, „wenn ich gewußt hätte, daß man um diese alten Eisentore so viel Aufhebens machen würde, dann hatte ich sie wirklich nicht mitkommen lassen. Freund Schöning scheint in seiner Gemütsruhe ernstlich erschüttert zu sein. Ich muß ihn gründlich trösten.“

Und dann richtete sich der Ingenieur zur vollen Höhe auf und erwiderte:

„Ich versichere auf meine Ehre, nein! Ich würde nie und nimmer daran denken, die Leute in der bisherigen Weise weiter im Tunnel arbeiten zu lassen, wenn ich etwas Derartiges fürchtete.“

„Das Gestein erscheint Ihnen nach wie vor unbedingt sicher“, fragte Schöning weiter.

„Unbedingt“, erwiderte Volkmar.

„Ich danke Ihnen, Kollege! Aber ich möchte heute selbst noch einmal den Stollen begehen und Gesteinspartien nehmen. Ich schlage vor, daß wir bald zusammen aufbrechen.“

„Gerne“, sagte Volkmar. „Rauchen Sie bitte erst noch eine Pfeife Tabak bei mir und dann wollen wir uns auf den Weg machen.“ –

 

 

6. Kapitel.

Ein kalter Herbstwind fegte über das Gebirge, und die Belegschaft des Tunnels, welche jetzt nach Sonnenuntergang rottenweis herausmarschierte, hüllte sich fröstelnd in ihre Jacken und ging schneller als gewöhnlich den Heimstätten zu.

Als einer der letzten kam mit mehreren Rottenmeistern George Heinrich von Schöning, besprach noch dieses und jenes und bog dann von den Leuten zur Bauhütte ab, aus derem oberen Fenster gedämpftes Licht in das Abenddunkel schimmerte.

Hans Volkmar selbst saß vor seinem großen über und über mit Schriftstücken und Zeichnungen bedeckten Arbeitstisch, hatte den mächtigen Kopf mit dem rotblonden Bart in die Hände gestützt und stieß unentwegt neue Tabakswolken aus seiner kurzen Shagpfeife hervor.

„N’Abend Volkmar!“ sagte Schöning kurz und steuerte durch den Tabaksnebel zu dem Sitzenden hin.

Der rückte nicht einmal den Kopf nach rechts, blieb ruhig sitzen, sagte keinen Guten Abend, sondern knurrte :

„Ein Hexensabbat! Ein mixtum compositum.“

„Sie scheinen ja in einer netten Stimmung zu sein, Kollege Volkmar.“

Jetzt blickte der mit seinen graublauen Augen zu ihm empor:

„Stimmung? – Stimmung! – eine teuflische Stimmung, Herr Kollege. Na! ich habe wenigstens den einen Trost, daß ich an Ihnen einen Kameraden im Unglück finden werde. Legen Sie ihren Mantel ab, pflanzen Sie sich hier bitte an meinen Arbeitstisch und dann machen Sie sich das Vergnügen, das höchst zweifelhafte Vergnügen und rechnen Sie mit mir die Nacht hindurch bis Ihnen der Schädel genau so brummt, wie mir, und Sie dasselbe Resultat erhalten wie ich, nämlich daß wir beide uns begraben lassen können, weil das Ende des Tunnels sich im Gebirge um volle zehn Meter seitlich von dem Punkte verschoben hat, an dem es nach dem Plane sein sollte. Geradezu zum Verrücktwerden. Jawohl – jawohl – – ich bin schon verrückt!“

Noch nie hatte Schöning seinen Kollegen in einer so wilden Aufregung gesehen.

Ruhig und kaltblütig, wie es Schönings Art war, legte er seinen Überzieher ab, nahm den Hut, hing ihn an einen Nagel und zündete sich dann eine Zigarette an.

Jetzt ging er zu dem Arbeitstisch und warf einen prüfenden Blick auf das mit unendlichen Zahlenreihen bedeckte Papier.

Ohne ein Wort weiter zu verlieren, setzte sich Schöning vor den Arbeitstisch, nahm ein Stück Papier, einen Bleistift und begann nochmals genau dasselbe zu tun, was Volkmar getan und fing die Arbeit von neuem an. Er achtete gar nicht darauf, daß Volkmar ohne ihn zu stören das Zimmer verließ, um sich müde wie ein Kriegsgaul, nach harter Knochenarbeit zu Hause auf seine Feldpritsche zu werfen.

Als es drei Uhr morgens war, war Georg Heinrich von Schöning mit der Arbeit fertig und klipp und klar stand vor ihm mit nüchternen Zahlen dasselbe Ergebnis, das sein Kollege Volkmar gefunden:

Der Tunnel war bereits zehn Meter von der gewünschten Richtung abgewichen und würde nie und nimmer, wenn nicht sofort eine Änderung eintrat, den von der anderen Seite in den Berg gearbeiteten Tunnel erreichen.

Aber während Volkmar in wilder Aufregung über das Resultat nach Hause geeilt war, zündete sich Georg Schöning eine letzte Zigarette an, nahm seinen Überzieher und Hut, löschte das Licht und ging anscheinend ebenso kaltblütig, wie er am Abend zu Volkmar gekommen war, nach Hause.

Zu Hause angekommen, ließ er sich das späte Abendbrot auftragen, aß mit gewohntem Appetit, nahm dann die eingelaufene Post vor und das erste, was ihm unter den Postsachen entgegenfiel, war ein violettes Kuvert mit dem Poststempel: Basel. Und die Aufschrift zeigte ihm die energischen Züge von Milly Hagen.

Er schnitt mit einem Papiermesser das Kuvert auf, nahm den Brief heraus und las:

Mein lieber Herr von Schöning!

Ich bin mit Papa in Basel und da Papa die Absicht hat, morgen mit Herrn Regierungsrat Fabry zusammen zu Ihnen zu kommen, so werden Celestine Fabry und ich die alten Herren nach Interlaken begleiten. Es würde uns beide sehr freuen, wenn Sie und Ihr Kollege Volkmar morgen Abend zum Souper nach Interlaken kommen, um sich dort in unserer Gesellschaft wieder unter kultivierten Menschen zu erholen. Ich bitte Sie, mir keine Absage zu senden, da ich Ihnen sonst meine allerhöchste Ungnade zu teil werden lassen müßte.

Es grüßt Sie bestens

Ihre Sie hochschätzende

Milly Hagen.

P.S. Auch Herrn Volkmar bitte von mir und Celestine zu grüßen.

Zweimal überlas Schöning den Brief, steckte ihn dann wieder sorgfältig in das Kuvert, nahm seine Brieftasche heraus und legte ihn hinein.

Dann zündete er sich wieder eine Zigarette an, ging durch das Zimmer auf und nieder und aus den feinen Tabakswolken tauchte ihm das lockende Bild der schönen Milly Hagen auf.

Und ihr Bild verwischte die riesigen Zahlenreihen in seinem Kopf und gab ihm eine wohltuende Ruhe, dämpfte alle Besorgnisse, welche er wegen der vermeintlich falschen Berechnung hegte und mit der stillen Freude, daß er sie am nächsten Abend sehen würde, legte er sich zur Ruhe.

Am nächsten Morgen fand er sich frühzeitig auf der Arbeitsstelle ein und traf dort bereits Hans Volkmar.

Dessen Laune hatte sich noch absolut nicht gebessert.

„Guten Morgen Kollege Volkmar", begrüßte ihn Schöning und beide reichten sich die Hände.

Dann folgte ein langgedehntes Na! von Haus Volkmar.

„Na, ja“, erwiderte Schöning mit einem Achselzucken, die Sache ist so, wie Sie es ausrechneten. Zehn Meter Differenz. Im übrigen habe ich einen Gruß an Sie auszurichten.“

„Rutschen Sie mir mit allen Grüßen den Buckel hinunter!“

„Erlauben Sie mal, Volkmar, der Gruß, den ich Ihnen zum Buckel hinunter bringen sollte, der kommt von einer Dame. Fräulein Celestine Fabry.“

„Wird mich bald nicht mehr grüßen lassen. Wenn ihr Vater die Sache erfährt, wird er alle Hebel in Bewegung setzen, um meine Entlassung herbeizuführen. Jetzt hat er am Ende Gelegenheit, mir meine früheren Streiche gebührend und verdientermaßen anzukreiden.

Was wollen wir jetzt tun, Kollege?

Wir werden mit dem Feldmesser, den ich durch einen Boten aus den Federn geholt habe, nochmals die Ausmessungen vom Tunnelmund her von neuem machen.“

Mit einer Rotte von Arbeitern, die ihnen dabei zur Hand gingen, begannen sie die mühselige Arbeit.

Um zehn Uhr waren die ersten Punkte von ihnen neu gemessen und Schöning sowohl wie Volkmar beschlossen zu frühstücken und den Arbeitern eine Pause zu gewähren.

Während sie die mitgenommenen Butterbrote aus dem Papier wickelten und sich auf einige Holzklötze zu Seiten der Tunnelwandung niederließen, hörten sie aus dem Tunnel vom Eingang her Stimmen, Lichter tauchten auf und aus einer Lore, welche von Arbeitern geschoben wurde, kamen Hagen und Fabry angefahren.

Kaum sahen sie Schöning, so ließen sie die Lore bremsen und anhalten.

Volkmar wäre am liebsten in das Dunkel des Tunnels weiter hineingeeilt.

Jetzt gab es kein Vertuschen mehr.

Schon nach den ersten Begrüßungsworten, zeigte Geheimrat Hagen auf die Meßlatten und Feldmeßapparate und sagte mit erstauntem Ausdruck:

„Ich sehe, Herr von Schöning, daß Sie sich mit dem Ausmessen des Tunnels beschäftigen. Stimmt etwas nicht in den Berechnungen?“

„Dieser Fuchs“, dachte Volkmar, „Der wittert schon wieder Unheil für das Kapital.“

Aber eine unvorhergesehene Dynamitexplosion würde kaum eine schlimmere Wirkung auf Volkmar ausgeübt haben, als die Antwort, die Schöning jetzt mit unerschütterlicher Ruhe dem Geheimrat gab.

„Allerdings! Herr Geheimrat. Der Berechnung nach sind wir um zehn Meter abgewichen.“

„Um zehn Meter? – – Wie ist das nur möglich? Herr von Schöning“ rief der Geheimrat aufgeregt.

„Ich bedaure, Herr Geheimrat, Ihnen darauf nicht gleich eine Antwort geben zu können. Sie sehen, daß ich soeben erst anfange, die Berechnung nachzuprüfen.“

Fabry neigte sich dicht zum Geheimrat Hagen hin und sprach leise und eindringlich auf ihn ein. Aber trotz der Geräusche, die ja stets im Tunnel herrschten, vermochte Schöning doch einzelne Stichworte der Unterhaltung aufzufangen.

„– Einfach unerhört! – geradezu der Beweis, daß Volkmar nicht die richtige Kraft am Platze – Mensch der Allotria treibt –“

Der rotblonde Hüne zitterte vor Aufregung. „Ich stehe jederzeit für meine Arbeit ein“, brach er jetzt los, „und wenn hier ein Fehler eingetreten ist, so werde ich ihn auch ausfinden und Remedur schaffen.“

„Ein Fehler! – ein Fehler!“ der kleine Regierungsrat reckte sich förmlich auf den Zehenspitzen und setzte eine Inquisitionsmiene auf. „Meines Wissens gehört die Ingenieurkunst zu den exakten Wissenschaften. – Wie sagten Sie doch, Herr von Schöning? Zehn Meter Abweichung? Na ich danke für die Exaktheit! Ich wüßte jedenfalls, was ich mit solchen Ingenieuren in meinem Betriebe machte. –“

„Ich empfehle Ihnen ganz dringend, sich zu mäßigen, Herr Regierungsrat“, rief jetzt Schöning dazwischen. „Einstweilen haben wir ja noch nicht die Ehre, unter Ihrem schätzenswerten Kommando zu stehen. Sie müssen es also uns selbst überlassen, uns aus der Affäre zu ziehen“.

Mit wachsendem Unbehagen hatte Geheimrat Hagen die Kontroverse zwischen dem Herrn Fabry und seinen Ingenieuren beobachtet. Tatsächlich hatte der Regierungsrat sich ganz und gar nicht um die Arbeiten dieser Herren zu kümmern. Aber anderseits war der Geheimrat selbst durch diese Nachmessungen und durch den Umstand, daß seine Ingenieure sich ihrer eigenen Berechnungen nicht sicher zu sein schienen, in die aller größte Aufregung versetzt.

„Meine Herren“, wandte er sich jetzt an seine Ingenieure, „ich erwarte von Ihnen, daß die Messungen und Berechnungen auf das sorgfältigste kontrolliert werden.“

„Ich bin bereits dabei, diese Arbeiten auszuführen", sagte der Oberingenieur mit einer kühlen Verbeugung. „Wir werden genau festlegen, wo wir uns augenblicklich befinden und wir werden dann die weitere Richtung so wählen, daß wir den Südstollen sicher treffen.“

Und dann mußte Schöning vorläufig seine Arbeit aussetzen und mit den Herren die Tunnelstrecke befahren. Als er nach mehreren Stunden zurückkehrte, sah er sich vergebens nach Volkmar um. Der hatte den Arbeitsplatz verlassen und Schöning fand ihn auf seinem Arbeitszimmer, den Kopf wieder in die Hände gestützt wie am vorletzten Abend.

„Beruhigen Sie sich doch, Volkmar. Keine Suppe wird so heiß gegessen, wie man sagt und so weiter …“

„Mir das zu sagen – mir das zu sagen!“ von neuem packte der Ingrimm über die beleidigenden Worte des Regierungsrats Volkmar und schüttelte den kräftigen Körper so stark, daß er wie ein Rohr zitterte.

„Ich will Ihnen einen guten Rat geben,“ sagte Schöning. „Ziehen Sie jetzt Ihren Arbeitskittel aus und machen Sie sich gesellschaftsfähig. Wir wollen beide den Abend in Interlaken verleben.“

„Den Arbeitskittel werde ich ausziehen, lieber Kollege. Aber nicht, um einen Gesellschaftsrock anzuziehen, sondern um ihn in meinen Koffer zu packen. Da liegt auf dem Schreibtisch mein Entlassungsgesuch und morgen früh – so Gott will – werde ich nach Stettin reisen, wo man mir seit langem eine Stellung auf der Vulkan-Werft angeboten hat. Hier kann ich nicht mehr bleiben.“

„Man sollte wirklich nicht glauben“, sagte Schöning, „daß ein so großer und erwachsener Mensch wie Sie, ein Gemüt wie ein Kind hat. Sie werden Ihren Koffer nicht packen, lieber Kollege. Das wäre ja eine Feigheit von Ihnen. Ich hätte doch auch noch ein Wort mitzureden. Ich kann jetzt keinen neuen Kollegen hier auf dem Arbeitsplatz brauchen. Sie sind mir unentbehrlich geworden.“

„Ich danke Ihnen, lieber Kollege Schöning. Und Ihre Worte erfüllen mich mit aufrichtiger Freude. Aber – sagen Sie doch selbst – – kann man sich als ehrenhafter Mensch wirklich solche Behandlung gefallen lassen?“

„Aber Volkmar, Hand aufs Herz! – Sie müssen doch zugeben, daß Sie dem alten Herren, dem Regierungsrat mit Ihrem Streich – dem Dynamitextrazug – wirklich ganz gehörig mitgespielt haben. Der hat einen ehrlichen Haß auf Sie. Natürlich revanchiert er sich da. Also nun seien Sie vernünftig.“

Der Oberingenieur hatte eine derartige Gewalt über seinen Kollegen, daß dieser wirklich daran ging, sich umzukleiden und benutzte die Zeit, um selbst Toilette zu machen.

Als sie auf dem kleinen Bahnhof den Zug nach Interlaken bestiegen, wollte Hans Volkmar durchaus die Flucht ergreifen, weil in dem Wagen Geheimrat Hagen und Regierungsrat Fabry saßen.

„Feindliche Pole“, lachte Schöning in sich hinein, als sich der Regierungsrat und Volkmar äußerst kühl begrüßten. Dann aber begann er mit dem Geheimrat Hagen ein interessantes gesellschaftliches Gespräch und bemühte sich, die Unterhaltung über alles andere als den Tunnelbau zu führen.

– – – – – – – – – – – – –

Milly Hagen streckte dem Oberingenieur die Hand entgegen als sie an der Seite ihres Vaters in den Salon trat.

Neben ihr stand Celestine und während sich Milly mit Schöning sofort in ein lebhaftes Gespräch einließ, sollte es zwischen den beiden nicht recht in Gang kommen.

Volkmar fiel es auf, daß Celestine Fabry ein wenig anders aussah als früher. Die fröhliche helle Heiterkeit jener Zeit war einem leichten Anflug von schwermütiger Gelassenheit gewichen. Die dunklen Augen, die früher so heiter und lebenslustig strahlten, hatten einen melancholischen verschleierten Ausdruck und die leichte Blässe ihrer Wangen verstärkte noch den Ausdruck einer stillen Resignation.

Wenn Volkmar ein ebenso guter Physiologe wie Ingenieur gewesen wäre, so hatte er vielleicht gewisse Beziehungen zwischen dieser Veränderung konstruiert und zwischen dem Umstande, daß er sich den ganzen Sommer hindurch im Hause des Regierungsrates nicht hatte sehen lassen.

Nach allerlei Phrasen über das Wetter und sonstigen banalen Dingen sagte Volkmar:

„Ich bin bei Ihrem Herrn Vater durchaus in Ungnade gefallen.“

„Sie müssen das Papa nicht übel nehmen“, erwiderte Celestine, „und ich kann Sie eigentlich nicht einmal in Schutz nehmen, denn Sie haben Papa sehr geärgert.“

In das frische Gericht Volkmars trat ein lustiger Zug.

„Es scheint Ihnen noch heute Freude zu bereiten Herr Volkmar“, sagte Celestine.

„Aber ja, mein gnädiges Fräulein. Ich leugne das absolut nicht. Es war doch unbedingt ein famoser Einfall von mir, unter dem Schutz der Pulverflagge meinen Tabak kommen zu lassen.“

„War denn das gar nicht anders möglich?“

„Nein, mein gnädiges Fräulein. Ich hatte mindestens einen vollen Tag warten müssen, bevor ich endlich den Tabak erhalten. Da war das der einfachste Weg und vor allen Dingen der schnellste.“

„Aber sicher ein etwas sehr ungewöhnlicher, Herr Volkmar.“ Dann richtete sie den Kopf wieder hoch, blickte zu ihrem Vater, der mit Geheimrat Hagen plaudernd am Fenster stand und sagte:

„Heute scheint Papa wieder eine entsetzliche Laune zu besitzen.“

Volkmar verbeugte sich, schlug sich dröhnend gegen die breite Brust und sagte:

„Auch das ist wieder meine Schuld, gnädiges Fräulein. Wäre nicht Herr von Schöning gewesen, so säße ich überhaupt nicht mehr hier vor Ihnen, sondern hätte meine Entlassung eingereicht.“

Celestine Fabry wurde noch blässer.

„Ihre Entlassung Herr Volkmar? Aber mein Gott, was ist denn nur zwischen Ihnen und meinem Vater vorgefallen?“

„Der Herr Regierungsrat kann mich eben nicht ausstehen.“

Das war so laut gesprochen, daß es sowohl Geheimrat Hagen, wie auch Regierungsrat Fabry hörten.

Unwillig zog der Regierungsrat die Augenbrauen zusammen und trat zu Volkmar, welcher ihn fest und ruhig erwartete.

Celestine dagegen fühlte plötzlich starkes Herzklopfen. Sie fürchtete, daß ihr Vater in seiner leicht aufbrausenden Art jetzt vielleicht wieder eine Szene bereiten würde.

„Sie sagten soeben, Herr Volkmar, daß ich Sie nicht ausstehen kann. Darin irren Sie sich gewaltig. Sie sind mir als Privatperson ein äußerst sympathischer Mensch. Aber als Ingenieur im Dienst der Tunnelbauleitung habe ich allerdings manches an Ihnen auszusetzen. Vorläufig ist doch die Sache mit der Berechnung des Tunnels nicht aufgeklärt, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein beachtenswerter Schaden daraus erwachsen.“

Hans Volkmar hörte indes kaum auf die Worte des alten Herren, sondern erging sich in der stillen Betrachtung, daß es doch merkwürdig sei, wie oft die Natur den hübschesten und liebenswürdigsten Mädchen die unausstehlichsten Väter beschert.

Geheimrat Hagen, welcher gleichfalls zu Hans Volkmar getreten war, um diesem zu Hilfe zu kommen, sagte:

„Ich kenne Herrn Ingenieur Volkmar als einen viel zu tüchtigen Menschen, Herr Regierungsrat, als daß er tatsächlich einen so groben Fehler bei der Berechnung der trigonometrischen Punkte hätte unterlaufen lassen."

Hans Volkmar verbeugte sich gegen den Geheimrat.

„Ich hoffe, Herr Geheimrat, daß ich den, meine Ehre als Ingenieur schwer tretenden Vorwurf, nicht richtig rechnen zu können, bald lösen werde. Trotzdem – – mein weiteres Verbleiben als angestellter Ingenieur hängt, wenn mich keine Schuld trifft, selbst verständlich von einer Entschuldigung des Herrn Regierungsrates ab.“

Diese Worte färbten das Gesicht des Regierungsrates zornig rot.

„Entschuldigen Sie meine Herren,“ sagte Celestine Fabry, „wenn ich mich jetzt in Ihr Gespräch mische. Mir fällt jetzt erst eine merkwürdige Unterhaltung ein, die sich ganz bestimmt auf den Tunnelbau bezog.“

„Auf den Tunnelbau“, fragte Hans Volkmar interessiert.

„Jawohl Herr Volkmar. Ich habe natürlich selber keine Ahnung von Ihrem Tunnelbau und werde Ihnen vielleicht manches falsch wiedergehen. In Ihrem Tunnel gibt es Dinge, die man mathematische … oder nein! die man geometrische Punkte nennt.“

Hans Volkmar lachte sie offen an. Celestine errötete.

„Gnädiges Fräulein meinen wahrscheinlich trigonometrische Punkte.“

„Jawohl ganz recht, trigonometrische Punkte. So war der Ausdruck, den ich hörte. Um solche Punkte handelte es sich. Dann eine zweite Frage, Herr Volkmar?! Kann man solche Punkte versetzen, oder verrücken oder fälschen? So ähnlich war der Ausdruck den ich vernahm.

Eine plötzliche Veränderung ging bei diesen Worten mit Hans Volkmar vor. Er durchmaß das Zimmer mit so gewaltigen Schritten, daß die Nippsachen auf der Etagere klirrten und Milly Hagen und Schöning, welche sich in einem Nebenzimmer aufhielten neugierig in den Salon traten.

Jetzt blieb Volkmar vor Celestine Fabry stehen und sagte:

„Sprechen Sie gnädiges Fräulein. – Was wissen Sie davon. Das wäre ja ein nichtswürdiger Bubenstreich, den man uns gespielt hätte? Man kann nämlich tatsächlich trigonometrische Punkte ebenso verrücken wie Grenzsteine. Was haben Sie gehört, mein gnädiges Fräulein. – Mit diesen Händen – –“, er hielt seine mächtigen breiten Hände, die einen Zentner wie einen Spazierstock balancieren konnten, dicht vor das Gericht Celestines, so daß diese sich erschrocken vor dem impulsiven Ausdruck seiner Leidenschaft in ihren Sessel zurücklehnte.

Das hätte sie dem so ruhigen und gelassenen Hünen nie zugetraut.

In schweigsamer nervöser Spannung lauschten die Anwesenden.

„Als ich vor einigen Tagen ausging, schritten dicht vor mir zwei Männer, die nach ihrer Kleidung zu urteilen Erd- oder Steinarbeiter sein mußten. Sie unterhielten sich in ihrem heimatlichen romanischen Dialekt. Sie glaubten wohl nicht, daß sie irgend jemand verstehen würde und so konnte ich einen großen Teil ihrer Unterhaltung mit anhören.“

Volkmar war vor Celestine stehen geblieben. Eine Ahnung dämmerte in ihm auf.

„Was haben Sie gehört, gnädiges Fräulein“, stieß er beinahe keuchend hervor.

„Die Männer sprachen von ungerechtfertigten Entlassungen, von Rache, die sie nehmen wollten und von der Art, wie das zu machen sei.“

„Und dann was weiter!“ schrie Volkmar dazwischen.

„Dann sagte der eine, er wüßte wohl, wie man sich am besten und am empfindlichsten rächen könne. Er hätte das schon mal in einem Tunnel gemacht. Und dann sprachen die beiden von trigonometrischen Punkten und vom Fälschen. Den Rest konnte ich nicht mehr recht verstehen.“

Celestine schwieg und sah Volkmar fragend an.

Nur allmählich gelang es diesem, der furchtbaren Erregung Meister zu werden.

„Mein gnädiges Fräulein“, sagte er endlich, „Sie haben mir durch Ihre Mitteilungen einen unermeßlichen Dienst erwiesen, einen Dienst, der mir die Ehre rettet. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

Eine leichte Röte überflog während dieser Worte das Antlitz der jungen Dame und ihre Augen zeigten für einen kurzen Moment wieder den alten frohen Schimmer.

„Ich freue mich, wenn ich Ihnen nützlich sein konnte“, sagte sie kurz und schlicht.

Beide hatten in ihrer Erregung gar nicht mehr darauf geachtet, daß außer ihnen noch vier Personen anwesend waren.

Hans Volkmar ergriff die Hand Celestines, eine schmale kleine Hand, welche in seiner Bärentatze völlig verschwand. Und er faßte sie so zart an, als wäre sie aus zerbrechlichem Meißner Porzellan. Er beugte sich nieder über diese Hand und der Kuß, den er darauf drückte, dauerte dem Herrn Regierungsrat Fabry verdächtig lange. Milly Hagen aber sah Georg Heinrich von Schöning mit neckischem Lächeln an, gab ihm einen Wink und beide verschwanden wieder im Nebenzimmer.

Darauf achtete außer dem alten Geheimrat niemand. Sie sahen nicht das stille trauliche Lächeln, das auf seinen Zügen lag.

Nun gab es für den Herrn Regierungsrat eine böse Pille zu schlucken. Bevor er seine entschuldigenden Worte an Hans Volkmar richtete, griff er sich mit beiden Fingern seiner rechten Hand zwischen Kragen und Hals und begann an dem Kragen zu ziehen.“

Der war ihm plötzlich zu eng geworden. Als er sich endlich in Verfassung gebracht hatte, trat er zu Volkmar und sagte:

Sie gestatten also Herr Volkmar, daß ich Ihnen vorläufig mein Bedauern ausspreche, mich vom Impuls des Augenblicks hinreißen zu lassen.“

„Sie haben nicht nötig, Herr Regierungsrat, sich in diesem Falle bei mir zu entschuldigen,“ erwiderte Hans Volkmar. „Denn ich verdanke die Aufklärung dieser Angelegenheit Ihrem Fräulein Tochter.“

„Na – ja! Na ja – Gewiß! Das hat meine Tochter sehr brav gemacht. Aber nun“, er bemühte sich aus der ihm peinlichen Situation möglichst schnell heraus zu kommen – „mache ich wirklich den Vorschlag, daß wir durch ein gutes Glas Wein unsere durch die Affäre mitgenommenen Nerven wieder in Ordnung bringen.“

„Mit dem Vorschlag bin ich einverstanden“, erwiderte der Geheimrat Hagen.

„Und ich auch“, fügte Volkmar freudestrahlend hinzu.

Nun war er wieder ein glücklicher Mensch.

Als er Celestine den Arm reichte, um sie zur Tafel zu führen, hatte er das Gefühl, daß sie ihm plötzlich ein Teil seines Lebens geworden sei.

Als die beiden Paare, Milly Hagen und Schöning, Celestine Fabry und Volkmar Arm in Arm vor den beiden Vätern in den Speisesaal schritten, blieb Geheimrat Hagen einen Moment stehen und sagte in leicht scherzendem Tone zu dem Regierungsrat:

„Wissen Sie wie wir beide mir vorkommen? Als ob wir den Tunnel nur bauten, damit wir Schwiegerväter würden.“

Darüber machte der Regierungsrat ein total verblüfftes Gesicht.

 

 

7. Kapitel.

Am nächsten Morgen standen Georg Heinrich von Schöning und Volkmar wiederum vor dessen Arbeitstisch und vergnüglich dampfend und qualmend machte Volkmar ein sehr zufriedenes Gesicht.

Dann sagte Schöning:

„Also Sie haben es herausgekriegt?“

„Jawohl mein lieber Kollege. Ich habe die Punkte mit unserem Feldmesser von Anfang an auf das sorgfältigste nachgemessen. Bei Kilometer drei sind zwei aufeinander folgende Punkte ganz gehörig versetzt worden. So sehr, daß wir jetzt schon zehn Meter aus der Richtung sind. Und ich besinne mich auch, daß wir um diese Zeit mehrere Entlassungen vorgenommen haben.“

Schöning zeigte eine sorgenvolle Miene.

„Das ist sehr fatal. Ich kann doch unmöglich ständige Wachen neben die Punkte stellen. Aber schützen müssen wir uns natürlich gegen diese Angriffe. Was schlagen Sie vor Kollege?“

Volkmar erhob sich von seinem Stuhle, trat an einen Schrank, holte eine Zeichnung heraus und breitete sie anstatt jeder Antwort vor Schöning aus.

Interessiert betrachtete der Oberingenieur die zeichnerische Darstellung.

„Hm, hm! Kollege, gehen Sie da nicht ein bißchen weit?“

„Aber ich denke ja gar nicht daran“, rief Volkmar sehr lebhaft. „Wer kann es mir denn verbieten, meine Meßpunkte gleichzeitig als die Pole einer elektrischen Hochspannungsleitung auszubilden. Nein! Herr Oberingenieur, wenn ich weiter die Verantwortlichkeit für die richtige Tunnelführung tragen soll, so hauen wir die Punkte jetzt nach dieser Zeichnung. Ein Blechkasten kommt herum und mit brennend roter Farbe soll: Achtung Hochspannung und Lebensgefahr daraufstehen. Wer sich dann noch daran vergreift, der hat sich die Folgen selber zuzuschreiben.“

Sehr vergnügt schritt Volkmar ein paarmal durch das Zimmer und zog eine lange Rauchfahne hinter sich her.

Die Uhr an der Bauhütte verkündete die erste Morgenstunde. Das Licht in allen Fenstern war längst erloschen und nur der Platz vor dem Tunnelmund lag im Scheine der Bogenlampen da.

Im Tunnel arbeitete die Nachtschicht an den Bohrmaschinen. Sonst war nirgends ein lebendiges Wesen zu erblicken.

Wenn die beiden Gestalten, die jetzt in den Tunnel eintraten, irgend etwas vorhatten, zu dem sie keinen Beobachter brauchen konnten, so war die Zeit entschieden gut gewählt.

„Ich sage Dir, Beppo!“ hub jetzt der eine der beiden Eindringlinge an, „laß die Finger lieber davon. Sie müssen etwas gemerkt haben. Die Dinger sehen ganz anders aus.“

Der Angeredete brach in ein höhnisches Gelächter aus.

„Du bist ängstlich wie ein altes Weib, Natale. Ich falle auf den Spuk nicht rein. Du meinst, daß sie jetzt Blechkästen aufgestellt und allerlei Unsinn draufgeschrieben haben.“

Der erste blieb stehen und gab seinem Kumpan einen freundschaftlichen Stoß.

„Du kannst nicht lesen, Beppo“ kicherte er dabei.

Der andere warf ihm einen wütenden Blick zu.

„Was geht das Dich an!“ schrie er wild. Sein Gefährte blieb ganz ruhig.

„Dich sollte es jedenfalls sehr viel angehen, was auf den Kästen steht. Da steht nämlich Lebensgefahr und Hochspannung drauf“.

Der mit Beppo Angeredete grinste.

„So! haben sie das aufgeschrieben. Vielleicht finden sie einen, der es ihnen glaubt. Unser Schachtmeister pflegte auf seine Schnapsflasche auch „Gift“ zu schreiben. Aber wir haben sie ihm doch ausgetrunken.“

Während solcher Reden waren die beiden Italiener im Tunnel weit vorgeschritten und hatten jetzt den letzten trigonometrischen Punkt erreicht. Anstelle des früher gebräuchlichen einfachen Holzgestelles stand hier ein kleiner Blechkasten, ähnlich etwa gestaltet, wie die Haube einer Schreibmaschine.

„Sieh Dich vor“, schrie Natale. Aber Beppo hatte sich bereits über den Kasten gebeugt und mit einem kurzen Brecheisen das Schloß gesprengt. So konnte er den Kasten vom Felsboden abheben.

„Ha! wo ist nun Deine Lebensgefahr und Hochspannung?“ rief er seinem Begleiter zu. „Passe jetzt auf, daß uns niemand überrascht. In zehn Minuten habe ich das Ding versetzt.“

In der Tat war unter dem Kasten nichts irgendwie Ausfallendes zu bemerken. Auch hier war wie bei den früheren Punkten ein einfaches leichtes Kreuz in den Stein gemeißelt und im Treffpunkt der vier Kreuzesarme steckte ein kleiner, winziger Metallknopf.

Beppo warf sich auf die Knie, holte Hammer und Meißel aus dem Rock und begann zu arbeiten.

Wenige kräftige Schläge verwischten den einen Kreuzarm vollständig.

„Weg jetzt mit dem Knopf.“

Und er legte den Meißel gegen das Metallstiftchen, um es mit einem Hieb loszuschlagen …

Oder richtiger gesagt, er wollte das alles tun. Denn in dem Augenblick, da der Italiener den Meißel gegen den Metallstift brachte, taumelte er mit einem lauten Schrei zurück.

Eine unsichtbare Macht hatte den Mann gepackt. Einen Moment schnellte er zur vollen Höhe empor. Dann flog er zwei Meter zur Seite und dann blieb er bewußtlos liegen. Und dabei war im Momente der Berührung nur ein ganz winziges blaues Fünkchen von dem Metallknopf in den Meißel gefahren.

Natale war zunächst erschreckt zurückgesprungen. Jetzt beugte er sich über seinen Geführten und rüttelte und schüttelte ihn. Aber der war immer noch wie gelähmt und starrte mit weitaufgerissenen Augen vor sich hin.

Minuten vergingen, bevor er sich soweit erholte, daß er taumelnd und torkelnd am Arme seines Genossen den Tunnel verlassen konnte.

Aber die Erfindung Volkmars ging noch einen Schritt weiter. Sie besaß noch ein kleines Anhängsel, von dem sogar der Oberingenieur Georg Heinrich von Schöning nichts wußte.

Genau in demselben Augenblick, da tief im Tunnel drin Beppo mit seinem Meißel den Metallknopf berührte, schlug über dem Bett von Hans Volkmar schrill und grell eine Alarmglocke an.

Und als hätte ihn ebenfalls ein elektrischer Funke getroffen, sprang in diesem Augenblick Hans Volkmar aus den Federn.

Noch nicht zwei Minuten waren seit dem Anschlagen der Glocke vergangen, da schritt er bereits – die mächtigen Glieder in die lederne Arbeitstracht gehüllt – aus der Bauhütte dem Tunneleingang entgegen.

Die Kappe hatte er in der Eile vergessen. Aber in der Rechten trug er ein spanisches Rohr von 80 Zentimeter in der Länge und 2 Zentimeter durchschnittlicher Stärke.

Und dann weiß Frau Fama zu berichten, daß den Herren Beppo und Natale die Begriffe „Hochspannung“ und „Lebensgefahr“ in dieser Nacht noch einmal fürchterlich klar geworden sind.

– – – – – – – – – – – – –

Eine Woche war verflossen, als eines Morgens Georg Heinrich von Schöning, welcher sich soeben zum Tunnel begeben wollte, erstaunt stehen blieb weil Hans Volkmar vor ihm auftauchte, angezogen, wie ihn der Oberingenieur noch nie gesehen.

Hans Volkmar trug einen Zylinderhut.

„Hören Sie mal, Volkmar.“

„Ich weiß schon“, schnitt der jedes weitere Wort ab, „Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, Kollege, ich mache auf Sie einen Eindruck wie ein plötzlich auftauchender und noch nie gesehener Zulukaffer im Kriegsschmuck.“

„Kindtaufe? – Standesamt oder Begräbnis. – Was ist los?! –“

Da machte Hans Volkmar ein bitter ernstes Gesicht.

„Nehmen Sie alles zusammen –, mein Begräbnis als Junggeselle will ich soeben bestellen, das Standesamt wird folgen und dann mögen die Kindtaufen herankommen. Das wäre die umgekehrte Reihenfolge von dem, was Sie fragten.“

„Hören Sie mal Volkmar“, sagte Schöning und hielt den Weiterschreitenden am Arm fest. – „Machen Sie hier nicht so faule Witze am frühen Morgen.“

„Absolut nicht, Kollege. Ich habe mir alles reiflich hin und her überlegt und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß ich den Riesendank, den ich Fräulein Fabry schuldig bin, nur in dieser Weise wettmachen kann.“

Jetzt wußte Schöning, was los war.

„Allerdings, Kollege,“ lachte er und blickte zu dem ihn tun einen halben Kopf überragenden Hans Volkmar empor – „es ist in des Wortes verwegenster Bedeutung ein Riesendank.“

„Halten Sie mich nur nicht weiter auf, denn wenn ich den Zug verpasse, wer weiß, was dann geschieht. Vorläufig habe ich noch Mut. Also Adieu!“

„Adieu“, rief ihm Schöning nach und ging still vor sich hinlachend zum Tunnel, sich darüber amüsierend, daß dieser Hüne Volkmar doch nur ein großes Kind wäre.

Als der Mittagszug von Kandersteg in Interlaken einfuhr, entstieg ihm Hans Volkmar.

Sein Mut mußte wohl schon etwas verflogen sein, denn bevor er den Bahnhof verließ, trank er am Büffet ein Glas Portwein.

Dann sah er nach der Uhr.

Hatte er doch fest beschlossen, seinen Besuch in eine Zeit zu legen, zu welcher er unbedingt den Herrn Regierungsrat Fabry zu Hause traf.

Vor einem Blumenladen blieb er stehen und erstand dort den schönsten Strauß aus Rosen und Maiglöckchen, der überhaupt zu haben war.

Warum wohl das kleine Mädchen, das ihm diesen Strauß verkaufte, so merkwürdig lachte.

Er blickte in einen Spiegel des Ladens.

Donnerwetter! Sah man ihm denn bereits auf zehn Schritte Entfernung an, was er vorhatte.

Die Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, als er endlich in das Haus des Regierungsrats trat und dem dienstbaren Geist seine Karte abgab.

Dabei vergaß er ganz und gar zu sagen, daß er selbstverständlich zuerst das gnädige Fräulein zu sprechen wünschte.

Sein Eintritt in das Haus war von der Frau Regierungsrätin mit Freuden bemerkt worden.

Hatte ihr doch Celestine in einer vertrauten Stunde die Wünsche ihres Herzens anvertraut. Und als jetzt Hans Volkmar in seiner festlichen Bekleidung, mit dem Riesenbukett auf das Haus lossteuerte, war die Frau Regierungsrätin sofort zu ihrem Manne geeilt und als der unwillig über die Störung ihr zurief:

„Aber ich bitte Dich – ich habe zu arbeiten, wie Du siehst. Störe mich bitte nicht!“

Da blickte sie ihn hoheitsvoll an und sagte:

„Du wirst wohl gestatten, daß man Dich stören darf, wenn es sich um das Glück unserer Tochter handelt.“

„Celestine?“

„Jawohl – Herr Ingenieur Hans Volkmar kommt, um wahrscheinlich bei Dir um ihre Hand anzuhalten.“

Der Regierungsrat wußte wirklich nicht, was er sagen sollte. Mit offnem Munde blickte er seine Frau an, und gerade, als er etwas antworten wollte, klopfte es, der Diener trat ein und überreichte auf einem silbernen Teller die Visitenkarte Volkmars.

Kaum war der Diener verschwunden, so sprang er auf und sagte:

„Ich denke ja gar nicht daran, ich bin nicht zu Hause. Ich bin verreist. Ich arbeite. Ich – ich – –“

Jetzt war es aber mit der Geduld der Frau Regierungsrat zu Ende.

Sie trat dicht vor ihn hin, blickte ihm fest in die Augen, mit dem gewissen Blick, vor dem er als Ehemann absoluten Respekt besaß.

„Du bist ein Narr. Dieser Volkmar ist eine gute Partie. Ein solider, braver und arbeitsamer Mann. Dir wäre wohl so ein Tagedieb, wie sie sich hier im Sommer zu Dutzenden auf den Sportsplätzen herumtreiben, lieber. Nimm Dich jetzt zusammen.“

„Er hat mich zuviel geärgert. Du weißt nicht, wie sehr er mich gekränkt hat.“

„Unsinn –! Wir haben auch manchen Disput in unserer Ehe gehabt. Willst Du etwa damit sagen, daß Du mich deshalb nicht mehr liebst?“

„Aber ich bitte Dich. Du weißt doch, wie sehr ich Dich liebe.“

„Gut –! Dann wirst Du jetzt in den Salon gehen und Dich gegen Herrn Volkmar in liebenswürdigster Weise benehmen. Beweise mir dadurch Deine Liebe endlich einmal.“

„Es ist gut,“ sagte er mit würdevoller Miene und vertauschte mit überraschender Fixigkeit seinen bequemen Hausrock mit einem empfangsfähigen Habit. Dann trat er in den Salon.

Sehr steif – sehr zeremoniell – Hans Volkmar mit rotem Kopf, verlegen das Riesenbukett in den Händen drehend. – Der Regierungsrat mit hochmütiger, abweisender Miene, die Augenbrauen wichtig zusammengezogen und den rechten Daumen zwischen den zugeknöpften Rock des ersten und zweiten Knopfloches gesteckt.

„Nehmen Sie bitte Platz“ begann der Regierungsrat die Unterhaltung.

Gehorsam setzte sich Hans Volkmar auf eins der zierlichen Goldstühlchen, so daß es bedenklich krachte und knackte.

„Darf ich wissen, Herr Volkmar, was Sie zu so ungewohnter Stunde zu mir führt?“

„Jawohl – Herr Regierungsrat. – Ich wollte Ihrem Fräulein Tochter meine Aufwartung machen und ihr meinen persönlichen Dank für die große Hilfe entrichten, die sie mir bei dem Tunnelbau geleistet hatte.“

„Das Bukett ist sehr schön, das Sie mitgebracht haben, Herr Volkmar.“

„Finden Sie, Herr Regierungsrat, das freut mich ungemein.“

Ganz mechanisch hatte Hans Volkmar die Worte gesprochen.

Da holte der Regierungsrat zu einem Hieb aus.

„Hoffentlich haben Sie sich nicht wieder einen Extrazug dafür stellen lassen?“

Hans Volkmar bekam es fertig, nicht aus der Rolle zu fallen. Jetzt hieß es, sich in Verteidigungsstellung zu setzen und den Gegner unterlaufen.

„Einen Extrazug, Herr Regierungsrat?“ fragte er mit gutgespieltem Erstaunen.

„Jawohl, mein lieber – einen Extrazug. – So einen netten, schönen Extrazug, in dem man sich ein Paket Tabak schicken läßt. So ein ganz außerhalb des gewöhnlichen Fahrplans bestellter Eisenbahnzug.“

Jetzt erhob sich Volkmar zum Angriff. Herausbekommen durfte der alte Herr die Sache nicht. Dann war womöglich alles in Frage gestellt.

„Ich weiß wirklich nicht, Herr Regierungsrat, von welcher Angelegenheit Sie sprechen.“

Jetzt wurde der Regierungsrat wild.

Auch er erhob sich. Und mit einer Stimme die so laut war, daß man sie drei Zimmer weit hören konnte, rief er: „Junger Mann – junger Mann – ich nehme an, daß Sie hier hergekommen sind, um bei mir einen feierlichen Gang wegen meiner Tochter zu tun.“

Er schwieg, um Luft zu holen. Und diese Pause benutzte Hans Volkmar, um mit behaglichem Lächeln zu sagen:

„Ganz recht, Herr Regierungsrat. Über die Sache wären wir ja nun weg. Was halten Sie von meinem Vorschlag?“

Während Hans Volkmar nach diesen Worten ein Stein vom Herzen fiel, glaubte der Regierungsrat, ein Stein sei plötzlich auf ihn gefallen. Das war ja die merkwürdigste Art der Brautwerbung, die er jemals gehört.

„Lassen Sie mich erst ausreden.“

„Ich bitte sehr darum.“

„Was! – Sie bitten darum? – Ja, wie stehen wir eigentlich zueinander? Sie wollen doch von mir etwas.“

Er rannte ein paarmal die Arme über den Rücken verschränkt, durch das Zimmer hin und her und blieb dann dicht vor Hans Volkmar stehen.

Um zwei Köpfe überragte der seinen zukünftigen Schwiegervater.

„Also was ich sagen wollte, Herr Volkmar – nur wenn Sie mir die Sache mit dem Extrazug abbitten, und mir auf Ihr Ehrenwort versichern, sich niemals wieder einen derartigen Streich gegen die Betriebsverwaltung zu erlauben – – will ich meinethalben Ihr Schwiegervater werden.“

Da legte Hans Volkmar das Riesenbukett auf den Tisch, streckte dem Regierungsrat seine breite, mächtige Hand hin und sagte:

„Ich verspreche hiermit auf mein Ehrenwort, daß ich mir niemals wieder erlauben werde, gegen meinen Schwiegervater irgend etwas zu unternehmen, was er als eine den Betrieb störende und beeinträchtigende Tat auffassen könnte.

Zögernd legte der Regierungsrat seine Hand in diejenige Volkmars und sagte:

„Es ist gut, Herr Volkmar, nehmen Sie jetzt Ihren Riesenstrauß und gehen Sie damit zu meiner Frau und Tochter. Die haben mehr darüber zu reden als ich. Wenn Sie mich danach wünschen, bin ich bereit zu erscheinen.“

Hans Volkmar gab keine Antwort, aber sein ganzes Gesicht strahlte von eitel Glück und Sonnenschein.

 

 

8. Kapitel.

Seit vielen Monaten ging die Arbeit im Tunnel nun schon ihren eintönigen Gang. Und über solch rastloses Arbeiten war aus dem Spätsommer Herbst geworden. Und dann waren die Tage des Winters gekommen, da die Schneekappen der Alpengipfel sich von Woche zu Woche zu immer längeren Kapuzen und Umhängen auswuchsen und die schwere Schneedecke endlich bis tief in die Täler hinunterhing.

Und dann wich draußen der Winter. Der Schnee schien wieder den Berg hinaufzukriechen und im Tale des Kanderbaches sproßten die ersten Veilchen und Anemonen. Doch das kümmerte die Arbeiter im Tunnel kaum und noch weniger rührte es das Herz Hans Volkmars, der in diesen Märztagen mehr denn je in seiner Stube blieb und unendliche Zahlenreihen zusammenfügte.

Wieder waren die Bohrmaschinen vom Felsen zurückgezogen und emsig füllten die Arbeiter den gefährlichen Dynamitteig in die Bohrlöcher.

Hinter den arbeitenden Mannschaften standen Volkmar und Schöning beisammen.

Jetzt war die Sprengladung eingebracht und die Mannschaften wollten sich zurückziehen. Doch Volkmar gab ihnen ein Zeichen mit der Hand und wandte sich selbst mit einigen Worten an den Werkmeister.

Wie ein Lauffeuer ging seine Mitteilung von Mund zu Munde und beinahe regungslos verharrten die Leute auf ihren Plätzen.

Und jetzt begannen die Leute sich gegenseitig fragend anzusehen. Hier drückte einer das Ohr gegen das Felsmassiv, um besser hören zu können und dort warf sich ein anderer lang auf die Erde, um den Schall besser aufzufangen. Und nun glaubte auch Schöning etwas zu vernehmen. Ein leichtes, gleichmäßiges dumpfes Brausen und Dröhnen schien aus der Tiefe des Berges zu kommen.

Alle jene Männer, die hier lauschend standen, wußten in diesem Augenblick, um was es sich handelte. Sie wußten, daß jenes dumpfe Geräusch von der Südseite her zu ihnen drang, daß es von den anderen Bohrmaschinen her durch das Gesteinsmassiv zu ihnen kam, von jenen Maschinen, die sich seit Jahren und Monaten ebenso zäh und unermüdlich vom Süden her in den Berg eingefressen hatten wie jene anderen vom Norden.

Wieder gab Volkmar seinen Leuten ein Zeichen mit der Hand und während sich diese nun emsig daran machten, den zündenden Draht zu legen um zu sprengen, schritt er selbst mit Schöning zusammen langsam dem Tunnelausgang zu.

Wohl dreißig Minuten waren sie nebeneinander dahingeschritten, als er stehen blieb und einen Plan aus der Tasche zog. Wortlos reichte er die Zeichnung seinem Kollegen. Da war das genaue Resultat der letzten mühevollen Rechnungen eingetragen und da zeigte es sich klipp und klar, daß nur noch eine Wand von achtzig Metern die beiden Stollen von einander trennte.

Gingen die Arbeiten in der bisherigen Weise weiter, drangen die beiden Stollen wie bisher jeden Tag zwanzig Meter vor, so mußte man in drei Tagen mit dem Durchschlage rechnen.

Lange und bedachtsam betrachtete der Oberingenieur die Skizze. Dann reichte er sie seinem Kollegen zurück und schüttelte ihm herzlich die Rechte.

„Also in drei Tagen werden wir Ihre Verlobung feierlichst begehen!“ hub er dann an. „In drei Tagen werden Sie den alten Murrkopf, den Fabry, durch die Praxis überzeugt haben, daß Ihre Rechnung stimmt und alles wird zu gutem Ende kommen.“

„Ich hoffe es“, erwiderte Volkmar kurz, während er den Plan wieder zusammenfaltete, und dann schritten die beiden Ingenieure weiter dem Ausgange zu.

Noch an demselben Nachmittage begann der Telegraph zu spielen. Er trug nach Paris und Basel, nach Berlin und Wien die erfreuliche Kunde, daß nur noch achtzig Meter die beiden Stollen des Lötschbergtunnel voneinander trennten, daß die Belegschaften der Nord- und Südseite sich bereits bei der Arbeit hören könnten und daß in wenigen Tagen der Durchbruch zu erwarten sei.

Und immer weitere Kreise brachte die Kunde des bevorstehenden Durchbruches in Aufregung. In Kandersteg und Kandergrund, in Gampel und Goppenstein rüstete sich die ganze Bevölkerung, um den Durchschlag des neuen gewaltigen Tunnels feierlich zu begehen. Reden wurden vorbereitet und Festzüge geplant. Lampen und Lichter wurden für Illuminationen und Fackelzüge zusammengesucht. – –

Der dritte Tag war ins Land gekommen. Immer deutlicher waren in den letzten zweiundsiebzig Stunden die Geräusche des Südstollens in den Nordtunnel gedrungen.

Seit vierundzwanzig Stunden lag eine ständige telephonische Verbindung, die vom Arbeitsort des Südstollens hinaus und über den Lötschberg in den Nordstollen hineinführte.

An beiden Arbeitsorten waren die Belegschaften in ständiger telephonischer Verbindung, und gewaltig war der Donner der letzten Südsprengung in den Nordstollen hineingedrungen. Genau um die Mittagsstunde war diese Sprengung erfolgt und dann waren die Arbeiten im Südstollen verabredungsgemäß abgebrochen worden. Die weiteren Arbeiten sollten vom Norden her geschehen.

Äußerlich zeigte sich kaum eine Veränderung als an diesem Mittage die Herren der ausführenden Firmen Hagen und Harman in Begleitung der Ingenieure Schöning und Volkmar in den Nordstollen einfuhren. Wohl lag eine gewisse Spannung und Vorfreude auch auf den Zügen des einfachsten Tunnelarbeiters. Aber noch wurde die Freude gewaltsam zurückgehalten. Denn wirklich sicher war man des Erfolges ja erst nach glücklich erfolgtem Durchschlage.

Und was den Herrn Regierungsrat Fabry betraf, der jetzt in Begleitung seiner Tochter zusammen mit den übrigen Gästen in den Stollen einfuhr, so zeigte er die grimmigste und unnahbarste Amtsmiene, die man seit langem an ihm bemerkt hatte.

Die schwergoldene Glashütter Uhr, welche der Geheimrat Hagen aus der Tasche zog, zeigte gerade eins, als die Gäste am Arbeitsort ankamen. Dort war nur eine einzige Bohrmaschine in Tätigkeit. Aber sie machte genügend Lärm, um jede Verständigung und Unterhaltung der Gäste zu verhindern.

Ermüdend und doch gleichzeitig faszinierend wirkte das Knattern des mit hundert Hüben in der Minute laufenden Druckmotors auf die Zuschauer.

Da plötzlich kam ein anderes Tempo in die Maschine. Mit einem Schlage fuhr die Stange wohl einen Viertelmeter nach vorn. Dröhnend schlug ihr Bund gegen die Auflager und langsamer spielte die Stange mit sehr viel größerem Hube hin und her.

Ein Arbeiter sprang hinzu und schloß das Luftventil. In einer halben Minute war die mächtige Maschine zurückgezogen und Herr von Schöning trat an das Bohrloch.

Man sah wie er den Mund an die Öffnung brachte, einige Worte hineinsprach und dann zu horchen schien.

Und dann trat er auf den Geheimrat Hagen zu und schüttelte ihm kräftig die Hand.

„Der Bohrer ist in den Südstollen gedrungen!“

Es war, als ob in diesem Augenblick eine ängstliche Spannung von vielen Gesichtern wich. Wohl stand der eigentliche Durchschlag noch bevor. Aber der Bohrer hatte bereits die trennende Wand durchdrungen und ein Verfehlen der beiden Stollen war nun nicht mehr möglich.

Dann schritten die Gäste langsam zurück, während die Arbeiter alles für die letzte Sprengung vorbereiteten.

Doch schon während dieses kurzen Ganges drangen von außen her, vom Tunnelmunde, dumpfe und dröhnende Geräusche hinein. Es klang, als ob auch dort gesprengt und geschossen wurde und so war es auch in der Tat,

Denn schon hatte das Telephon die Kunde von jenem glücklichen Bohrerschlag nach außen getragen. Und nun, während man sich im Tunnel noch zum allerletzten Werke, zur letzten Sprengung rüstete, krachten dort draußen im Tale des Kanderflusses bereits die Böller und trugen die fröhliche Kunde weiter, nach Kandergrund und Frutigen.

Und jetzt brachten auch die Arbeiter schon die elektrischen Drähte vom Arbeitsort her. Und hier stand bereits der braune Kasten, aus welchem der zündende Strom zum Dynamit hinfließen sollte.

Herr von Schöning zog sein Chronometer und stellte sich neben den Kasten.

„Ein Uhr einundfünfzig, Herr Geheimrat.“

„Geht Ihre Uhr auch genau, Herr von Schöning?“

„Sie wurde vor einer Stunde mit der Uhr im Südstollen telephonisch auf die Sekunde ausgeglichen.“

„Dann wird sie in wohl stimmen“, meinte Hagen.

Aber der Oberingenieur hörte nicht mehr auf ihn. Er begann jetzt laut zu zählen: …

„Dreiundfünfzig … vierundfünfzig … fünfundfünfzig … Achtung, eins, zwei, drei.“

Und dann rollte der Donner der Explosion durch den Stollen.

„Vorwärts! los!“ sagte Schöning und, den Geheimrat mit sich ziehend, schritt er der Sprengstelle schnell entgegen. Die Acetylenlampe, die er in der Rechten trug, warf ihren blendenden Lichtkegel nach vorn und sie beleuchtete jetzt an der Sprengstelle einen Haufen wüst zertrümmerten Gesteines.

Aber ein Unterschied zeigte sich.

Gerade in der Mitte der ausgesprengten Wandmulde klaffte ein schwarzes Loch, etwa einen Meter breit und einen halben Meter hoch.

„Der Durchschlag“, sagte Schöning kurz und wies auf diese Öffnung.

Und gerade in diesem Augenblick verwandelte sich jener dunkle Fleck zusehends. Auch von dort drüben her fiel blendendes weißes Licht durch die Öffnung und im nächsten Moment wurde eine Hand und dann ein Kopf sichtbar.

Mit schneller Bewegung trat Schöning auf den Durchschlag zu. Zwei weiße, schlanke Hände streckten sich ihm entgegen und jetzt, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen – die blitzenden, lachenden Augen Milly Hagens schauten ihn an, wieder hielt er sie in den Armen, wie damals, bei der Dynamitexplosion und von dem Glücksgefühl der Minute, daß endlich der Tunneldurchschlag gelungen und ein stolzes Werk der Menschheit geschenkt worden war mit seiner Hilfe, hatte er all seine kaltblütige Ruhe verloren, hielt Milly Hagen fest in den Armen und sagte leise:

„Für das glückliche Gelingen hat mir Ihr Herr Vater eine Belohnung versprochen. Darf ich sie mir bei Ihnen holen?“

Sie wußte, was er damit meinte, blickte ihn mit glückstrahlenden Augen an und die sagten ihm mehr als die fehlenden Worte.

Ganz dicht beugte er sich über sie und sagte dann leise und zart:

„Dich wünsche ich, Milly – denn Dich hab ich lieb.“

Beide hielten sich fest umschlossen und ihre Lippen preßten sich fest im ersten Kusse gegen einander.

Alles weitere wurde vom Jubel der Arbeiter übertönt, die jetzt von der anderen Seite durch den Tunneldurchbruch kamen und sich mit ihren Kollegen umarmten.

Unter den donnernden Evivas, die weithin durch den Tunnel hallten, schritten Georg Heinrich von Schöning und Milly Hagen dahin.

Beide suchen und hörten nichts weiter als nur sich allein.

 

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.