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Das leere Haus

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 414

Das leere Haus

Originalroman von

Walther Neuschub.

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. - Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. - Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 
 
1. Kapitel

Über die alte Havelstadt Potsdam raste der erste Herbststurm hinweg.

In dem Sprechzimmer des Nervenarztes Doktor Meinzer in der Nauenerstraße hörte man ganz deutlich, wie ein loses Stück der Regenrinne mit blechernem Klang gegen die Hauswand schlug.

Meinzer beobachtete still den jungen Rechtsanwalt Hanke, der neben dem großen Diplomatenschreibtisch in einem bequemen Klubsessel saß und bei diesen Geräuschen jedes Mal zusammenzuckte. Er hatte ihn soeben gründlich untersucht und überlegte nun, wie er dem Freund die ziemlich harte Wahrheit in möglichst schonender Weise beibringen sollte.

Hanke sah blaß und abgespannt aus. Und doch erkannte man auf den ersten Blick, daß dieser vielleicht dreißigjährige, bis ins kleinste sorgfältig angezogene Herr ein hochintelligenter Kopf sein mußte. Seine Züge hatten etwas Durchgeistigtes an sich, und der Blick der dunklen Augen war trotz der unverkennbaren Müdigkeit zeitweise belebt und verriet jene scheinbare Unrast, die doch nur das Zeichen eines viel–seitigen Interesses ist.

Doktor Meinzer, äußerlich ganz Lebemann in reiferen Jahren, fragte nun leise, und seine Stimme hatte wie stets etwas Beruhigendes, Streichelndes an sich:

„Wie kommt es, Hans, daß du mit einem Male mit den Nerven so ziemlich fertig bist?“

Der Anwalt blickte den Arzt fest an.

„Also bin ich total herunter?! – Nun, ich hab’s geahnt. Man fühlt so etwas, wenn man auch die Energie hat, gegen all diese Erscheinungen völliger Erschöpfung anzukämpfen.“

Meinzer nickte ihm zu. „Du mußt ausspannen, Hans. Mindestens für drei Monate. Nimm dir einen Vertreter und faulenze. – Wir habe uns seit vier Wochen nur flüchtig gesehen. Was ist dir begegnet? Es muß etwas besonderes gewesen sein. Über Fränzis Tod bist du einigermaßen hinweggekommen. Und nun nach zehn Monaten diese Anzeichen hochgradiger Nervenschwäche?! Da muß sich etwas ereignet haben, das dich völlig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hat.“

Hans Hanke schaute auf die beiden goldenen Ringe an seinem linken Ringfinger.

„Auf dich ist Verlaß, Karl. Das weiß ich,“ meinte er zögernd. „Du wirst schweigen. Ich muß mich jemandem anvertrauen. Was mich quält und mir den Schlaf raubt,“ fuhr er dann etwas lebhafter fort, „läßt sich schnell erzählen. Fränzi hat – hat sich das Leben genommen.“

Meinzer beugte sich weit vor und legte dem Freunde die Hand auf das Knie.

„Du phantasierst!“ rief er.

Hanke schüttelte den Kopf und blickte den Arzt wieder voll an.

„Fränzi hat sich vergiftet – mit Chloralhydrat. Du nahmst Herzschwäche an. Die war wohl vorhanden. Aber Fränzi hat nachgeholfen. Deshalb fanden wir sie damals morgens tot im Krankenzimmer auf.“

Seine Stirn hatte sich mit feinen Schweißperlen bedeckt. Die Augen waren plötzlich eingesunken, und das Gesicht erschien alt und verfallen in dem ungesunden Graugelb der welken Haut.

„Weshalb tat sie es?!“ flüsterte er. „Weshalb?! – Wenn ich das wüßte! Aber – ich weiß es nicht und werde es vielleicht nie erfahren –“

Karl Meinzer lehnte sich wieder in dem Schreibtischsessel zurück. Er hatte die grauen Augen jetzt ein wenig zusammengekniffen. Sein Gesicht drückte Besorgnis und Unruhe aus. – Hatte des Freundes Verstand etwa gelitten?! Das war ja so unsinnig, was er da vorbrachte! Franziska Hanke sollte sich vergiftet haben?! Unmöglich!

Da fuhr der Anwalt schon fort:

„Ich lese dir die Gedanken vom Gesicht ab. – Und doch ist es so, Karl: Fränzi hat sich selbst den Tod gegeben, und ich – ich bin genau so normal wie du!“

Meinzer blickte auf die Uhr, die auf dem Schreibtisch stand. Es war gleich elf. Und draußen im Wartezimmer saß noch ein Dutzend Patienten.

Dann erklärte er sehr energisch:

„Du wirst sofort einen Vertreter für dich besorgen – sofort! Ich verlange es. Und nachmittags komme ich zu dir!“

Er schrieb noch schnell ein Rezept.

„Da – hole dir diese Tabletten. Du nimmst täglich dreimal zwei davon, abends drei, vor dem Schlafengehen.“

Hanke erhob sich. „Ich werde ein gehorsamer Patient sein. Ich fühle ja – ich werde von Tag zu Tag nervöser. Wenn ich nur schlafen könnte!“

Sie drückten sich die Hand, und dann verließ der Anwalt langsam und gepeinigt von wütenden Kopfschmerzen das alte Haus.

Er ging über die Straße, ging am Bassin Platz vorüber, wo der Sturm mit den welken Blättern ein tolles Spiel trieb.

Schrill lachte er auf. – Ein Herr, der ihm entgegenkam, schaute ihn verwundert an.

Hanke sah ihn nicht, wollte vorüber.

„Herr Rechtsanwalt, einen Augenblick,“ sagte der Herr und lüftete den Hut.

Hanke wurde verlegen.

„Ich war so in Gedanken. – Sie wünschen, Herr Stadtrat?“

„Ich war soeben bei Ihnen. In einer etwas ungewöhnlichen Mietangelegenheit. Es handelt sich um das leere, baufällige Häuschen, das auf dem Nachbargrundstück steht. – Ich denke aber, wir gehen besser die Moltkestraße entlang. Dort ist’s windstiller. Hier wird einem ja das Wort vom Munde weggerissen.“

„So,“ meinte er. „Hier in der Straße des großen Schweigers schweigt auch der Sturm. – Ja, stellen Sie sich vor, Herr Rechtsanwalt! War da heute morgen ein Flüchtling aus Oberschlesien bei mir im Bureau, ein Berufsphotograph namens Oldenberg – Hilmar Oldenberg. Die Polen haben ihn nebst Schwester rausgeekelt. – Verfluchte Bande! Nun sitzt er ohne Wohnung da, auch ohne Verdienst, hat aber so ein paar Möbelstücke glücklich bis hier mitgeschleppt.“

„Ah – und er will meine Baracke beziehen,“ sagte Hanke zerstreut.

„Das möchte er. Wir vom Wohnungsamt haben sie ja für zu baufällig erklärt. Sie steht daher leer. Aber dieser Oldenberg hat sich erkundigt und meint, zwei Stuben würden ja wohl noch leidlich bewohnbar sein, wie er gehört habe. Und weil wir doch den Flüchtlingen aus Oberschlesien möglichst entgegenkommen sollen, gebe ich meinen Segen dazu, falls Sie nicht gerade –“

„Durchaus nicht, Herr Stadtrat. Meinetwegen mag dieser Herr Oldenberg ruhig einziehen. Viel Freude wird er an dem Heim leider nicht haben.“

„Na, dann wäre die Sache also erledigt. Übrigens, Herr Rechtsanwalt, die Schwester – ich sage Ihnen, – ganz was Rares! So Madonna mit Weltschmerz, aber Augen – Augen!“

Er streckte Hanke die Hand hin.

„Der Mann wird Sie wohl heute noch überfallen. – Wiedersehen –“

Sie trennten sich.

Der Anwalt schritt an der Mauer des Neuen Gartens entlang, trat durch die kleine Pforte ein und schlenderte aufs Geratewohl über die einsamen Wege.

Das Rauschen der Bäume erinnerte ihn an das Branden der See. Vor einem Jahr hatte er mit Fränzi noch in Borkum in den Dünen gelegen und hatte von nichts anderem gesprochen als dem Kinde, das nun bald ihnen beschert werden würde. Fränzi war immer so still und geistesabwesend. Aber daran hatte wohl ihr Zustand schuld.

Und jetzt – jetzt war er wieder allein. Nur das Kind war ihm geblieben, die kleine Evi.

Sein Kind!

Hans Hanke hatte plötzlich seine Schritte beschleunigt.

Sein Kind. Wie – wie kam es nur, daß er keine Liebe für Evi aufbringen konnte?! Wenigstens nicht die Liebe, die er sich einst ausgemalt hatte mit jubelndem Vaterstolz.

Hanke hatte schon so und so oft sich gefragt, ob er es Evi nachtrüge, daß sie der Mutter das Leben gekostet hatte.

Früher hatte er sich dies gefragt – früher – bis vor einem Monat. Und dann hatte er sich ehrlich gestanden: ‚Nein – das ist es nicht! Das ist nicht der Grund für diese – diese geheime Abneigung gegen Evi!‘

Und jetzt – jetzt brauchte er sich diese Frage nicht mehr vorzulegen. Er wußte: Fränzi war am zehnten Tage nach der Geburt des Kindes freiwillig aus dem Leben geschieden. –

Er riß den Hut vom Kopf, stöhnte auf.

Wäre es ein Wunder, wenn er über alledem den Verstand verlor?! – Nein – nein, das alles mit sich herumzutragen, in sich hineinzufressen – das rieb die besten Nerven auf! –

Er wurde sich mit einem Male bewußt, daß er vor der Rückfront des Marmorpalais angelangt war.

Und dicht vor ihm stand eine Dame, – nein, ein junges Mädchen, und starrte ihn mit seltsam hilflosem Blick an.

Er sah: sie bemitleidete ihn! Sie konnte wohl in Gesichtern lesen. Und bei ihm mochte das nicht schwer sein.

Er wollte sich schon abwenden und weitergehen, als er, nun wieder völlig Herr seiner Sinne, mit einem Gefühl reiner Freude an weiblicher Schönheit feststellte, daß dieses junge Mädchen von ganz eigenartigem Liebreiz war.

Er zog den Hut, verbeugte sich.

So dankte er ihr für die Teilnahme in ihrem Blick.

Dann schritt er davon.

Merkwürdig: das Gesicht des Mädchens erschien immer wieder vor seinem inneren Auge.

Er wurde fast unwillig darüber.

Was kümmerten ihn die Weiber?! Er hatte nur seine Fränzi geliebt – nur! Und seit ihrem Tod war Hans Hanke nie mehr einer Frau begegnet, die auch nur für Sekunden sein Interesse hätte wachrufen können. –

Er verließ den Park durch den Ausgang nach der Albrechtstraße hin und befand sich gleich darauf in einer der älteren Villenstraßen vor seinem eigenen Grundstück, das durch eine alte Ziegelmauer, die oben noch einen Schutz von Stacheldrähten trug, gegen die Außenwelt abgesperrt war.

 

 

2. Kapitel

Auf der Diele traf Hanke mit seiner Schwiegermutter zusammen, die ihm seit Fränzis Tod die Wirtschaft führte.

Frau Therese Koßnitzki war eine schlanke, stattliche Frau mit grauem Scheitel und farblosem Teint.

„Hans, ein Herr möchte dich sprechen,“ sagte sie, als er ihr die Hand reichte. „Ein Herr Oldenberg. Er sitzt in deinem Zimmer.“

Der Anwalt musterte seine Schwiegermutter prüfend, zog sie näher an die Glastür heran und meinte:

„Du siehst so blaß aus, Mama. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Doch. Ich habe nur schlecht geschlafen. – Was sagte Meinzer?“

„Nicht viel, Mama. Ich soll drei Wochen ausspannen. – Aber – du hast wirklich so tiefe Schatten um die Augen, daß ich –“

„Laß nur. Das geht vorüber,“ beruhigte sie ihn hastig. „Dieser Herr Oldenberg will, wie er mitteilte –“

„Weiß schon, Mama. Das alte Häuschen hat’s ihm angetan. Er soll’s haben. – Entschuldige, ich will ihn abfertigen. Hier ist ein Rezept. Mag Anna die Tabletten holen.“

Er schritt auf eine Tür zu, die in die linke Hausseite führte.

Frau Koßnitzki blickte ihm mit seltsam verzerrtem Gesicht nach. Dann faltete sich unnatürlich ihre Hände.

„Mein Gott – mein Gott, – drei Monate soll er ohne seine Arbeit sein!“ flüsterte sie. „Drei Monate! Und – er ahnt etwas! Dann – dann hat er Zeit, sich mit –“ –

„Hilmar Oldenberg,“ stellte sich der Besucher mit weltmännischer Verbeugung vor.

Hanke war überrascht, einen so gut angezogenen und äußerlich so sympathischen Herrn vor sich zu sehen.

Die Beiden waren bald einig. Hanke forderte einen sehr geringen Preis für das Häuschen – monatlich fünfzig Mark.

Hanke nahm ein Bund Schlüssel vom Schlüsselbrett. Dann gingen sie hinüber in das leere Haus.

Von dem Garten der Villa war durch einen morschen, hohen Bretterzaun ein Stück abgetrennt. Und inmitten dieses verwilderten Gärtchens lag in einer Linie mit der Villa hinter Walnußbäumen und Linden das kleine uralte Gärtnerhäuschen.

Dann standen sie vor der schweren Eichentür des leeren Hauses. Der Sturm pfiff in den Ästen der Bäume. Die alten Stämme ächzten und knarrten.

Der Anwalt schob einen mächtigen Schlüssel in das Schlüsselloch. Plötzlich blickte er zur Seite.

„Ah – hier ist letztens jemand gewesen,“ meinte er. „Da – das ist noch eine ziemlich frische Spur in dem Maulwurfshaufen.“ – Er trat zur Seite und bückte sich, schüttelte den Kopf und fügte hinzu: „Die Spur eines Frauenschuhs – merkwürdig! Ich wüßte nicht, wer hier –“

Oldenberg lachte. „Sie haben doch weibliche Dienstboten. Und diese vielleicht Verehrer. Sollte das Häuschen nicht vielleicht als Liebesnest gedient haben?!“

Hanke drehte schon den Schlüssel um. „Ist ja auch gleichgültig,“ meinte er. „Zu stehlen gibt es hier nichts –“ –

Das Haus hatte drei Stuben, eine Küche und zwei Nebengelasse im Erdgeschoß. Unter dem Dache gab es noch zwei schräge Kammern.

Hanke hatte die Läden der kleinen Fenster aufgestoßen.

„Eine Räuberhöhle,“ meinte er. „Es gehört Mut dazu, hier zu hausen.“

„Morgen erkennen Sie diese beiden Stuben nicht wieder!“ sagte Oldenberg gelassen. „Agathe und ich werden es uns schon behaglich machen. Als Photograph ist man so etwas Künstler, Herr Rechtsanwalt.“

Hanke war mit seinen Gedanken bereits wieder anderswo, nickte nur und zeigte Oldenberg dann die zweite Eisentür in der Mauer nach der Straße zu, gab ihm auch dafür den Schlüssel.

„Auf diese Weise sind es sozusagen zwei Grundstücke,“ meinte er. „Wir werden uns also gegenseitig gar nicht belästigen.“

Oldenberg verabschiedete sich dann. –

Nachmittags um fünf stellte sich Doktor Karl Meinzer ein.

Die Freunde saßen in dem kleinen Wintergarten beim Kaffee. Frau Koßnitzki war zu Einkäufen in die Stadt gegangen. Man war also ganz unter sich und ganz ungestört. Trotzdem rückten die Freunde die Korbsessel dicht aneinander, als sie nun über Fränzi zu sprechen begannen.

Doktor Meinzer legte seine Rechte auf die Hand des Rechtsanwalts. Es war etwas beinahe Väterlich-Gütiges in dieser körperlichen Berührung und auch in der Art, wie er nun fragte:

„Woraus schließt du also, daß deine Frau sich vergiftet hat, Hans?“

„Ich habe drei Beweise dafür. Mir genügen sie. Ob sie dir genügen, magst du nachher entscheiden.“

Er stand plötzlich auf und schob die Rolltüren, die den Wintergarten vom Salon trennten, zu.

Nachdem er wieder mit dem Rücken zu der Tür hin Platz genommen hatte, zog er ein flaches Fläschchen mit einem silbernen Drehverschluß aus der Tasche.

Das Fläschchen war zur Hälfte mit weißen Kügelchen gefüllt. – Hanke hielt es so, daß jemand, der im Salon etwa die beiden Herren durch die Glastüren beobachtete, nicht sehen konnte, was der Anwalt dem Arzte zeigte.

Meinzer wurde jetzt auf diese Vorsichtsmaßregeln aufmerksam und fragte leise:

„Fürchtest du, daß uns jemand –“

„Davon später,“ fiel Hanke ihm ebenfalls leise ins Wort. „Zunächst das Fläschchen. Ich fand es, als wir kaum acht Tage verheiratet waren, in einer Schublade von Fränzis Frisiertisch – zufällig. Da war das Fläschchen bis oben gefüllt. Als ich es Fränzi zeigte und scherzend meinte, es enthielte wohl Gift, da sagte sie ganz ernst: ‚Es ist ein Schlafmittel, Hans, – Chloralhydrat. Aber ich brauche das Mittel nicht mehr.‘ – Trotzdem nahm sie mir das Fläschchen weg und legte es hastig wieder in die Schublade zurück, wobei ihre Hände so auffallend zitterten, daß ich sehr wohl merkte, wie erregt sie war und wie sie sich alle Mühe gab, dies vor mir zu verheimlichen.“

Er seufzte. Und Doktor Meinzer sagte nun, indem er den Freund von der Seite anschaute:

„Ja – Fränzi hatte zuweilen etwas Sphinxhaftes an sich. Ihre Augen schienen oft fröhlich zu sein und doch lag darin noch etwas anderes. – Jetzt Hans, wo wir notwendig auch Fränzis Charakter zerlegen müssen, darf ich wohl ganz offen sein. Du mußt zugeben: es war viel Unausgeglichenes in ihrem Wesen. Man wußte nie recht, ob das Sonnige bei ihr aus dem Herzen oder – aus dem Verstande kam.“

Hanke nickte. „Du hast es also auch gemerkt.“ Er seufzte wieder. „Mir ist all das ja erst nach Fränzis Tode so recht klar zum Bewußtsein gekommen. So lange sie lebte, befand ich mich in einem Glücksrausch, wie ihn wohl selten ein Mann genießen durfte. Und doch – du hast recht: sie war eine Sphinx, ein Rätselwesen, – eine süße, betörende Sphinx –“

„Also das Fläschchen!“ mahnte der Doktor zur Fortsetzung.

„Ja – ich vergaß es sehr bald. Kurz vor Evis Geburt, als ich bereits in der Bibliothek schlief, sollte ich abends Fränzi aus dem Frisiertisch etwas heraussuchen. Und da lag das Fläschchen in einer leeren Puderschachtel unter einer dünnen Watteschicht. Es war noch voll. Die Kügelchen reichten bis zum Verschluß hinauf. – Ich dachte nichts Arges, als es mir so wieder vor die Augen kam. – Fränzi starb, wurde morgens – doch, das weißt du ja. Du weißt auch, daß ich das Schlafzimmer, das ihr Sterbezimmer wurde, genau so belassen habe, wie es an jenem Unglücksmorgen –“

„Ich weiß, Hans. Nur weiter.“

„Vor etwa vier Wochen betrat ich spät abends wieder einmal das Zimmer. Den Schlüssel hatte ich in Verwahrung. – Mich trieb die Sehnsucht dahin. Ich setzte mich auf den Rand des zerwühlten Bettes. Die elektrische Deckenlampe mit der flachen Milchglasschale zeigte mir noch den Eindruck in dem Kissen, wo Fränzis Kopf geruht hatte. Auf dem Stuhl daneben lagen ihre Kleider. Der zarte Duft ihres Lieblingsparfüms umgab mich. – Sinnend, schmerzlich bewegt und mit den Gedanken ganz bei der Toten hatte ich an Fränzis Ehering gedreht, den ich über dem meinen wie stets am Finger trug. Der Ring rollte plötzlich unter das Bett. Ich mußte es von der Wand abrücken, da der Ring wie spurlose verschwunden war. Er war nämlich im Bogen unter dem Bett wieder hervorgerollt und lag dicht an der Tür, wo ich ihn dann fand, nachdem ich – das Fläschchen gefunden hatte. Es hatte –“

Er schwieg plötzlich und hob lauschend den Kopf.

„Hörtest du nichts, Karl? Knarrte da nicht die Tür im Salon?“ flüsterte er dann überstürzt. „Ich möchte mich nicht umdrehen. Es ist auch bereits zu dunkel, um –“

„Nerven!“ sagte Meinzer beruhigend. „Ich hörte nichts. Und ich habe doppelt aufgepaßt – auf deine Worte und auf Geräusche. Du beargwöhnst deine Schwiegermutter –“

„Nun gut – es stimmt.“ Er steckte schnell das Fläschchen in die Brusttasche seines Rockes. „Ich beargwöhne sie – aber nur – doch zurück zu meinem Fund. Weiß Gott – meine Gedanken sind wie aufgescheuchte Tauben. Ich habe da letztens zwei Prozesse verloren, nur weil –“

„Das Fläschchen!“ mahnte der Doktor.

„Ja doch – es lag in der einen Ecke des über die Steppdecke geknöpften Überzugs wie in einem Beutel. Als ich das Bett abrückte, glitt die Decke ein wenig herab, und ich trat auf das Fläschchen. – So fand ich es. – Und es war zur Hälfte leer –“

Meinzer sagte nichts.

„Wie ich so das Fläschchen gefunden hatte,“ fuhr der junge Anwalt plötzlich lauter und eindringlicher fort, „da erinnerte ich mich, weil nun doch der erste Gedanke an ein freiwilliges Ende Fränzis in mir aufzuckte, auch an anderes, was mir seiner Zeit bei ihrem Tode aufgestoßen war, ohne daß ich diesen geringfügigen Beobachtungen damals Beachtung geschenkt hätte.“

„Leiser!“ warnte Meinzer. „Für alle Fälle nur, Hans!“ Der Nachsatz sollte den Freund beruhigen, ausdrücken, daß er nicht mit einem Lauscher rechnete. Doch vorhin hatte er ebenfalls deutlich die Tür knarren gehört.

„Gut, gut. – Da war zuerst das Verhalten meiner Schwiegermutter. Und das nennen ich Beweispunkt zwei. – Ich verehre sie. Das weißt du. Diese Frau, die im Kriege ihre beiden Söhne verlor und die doch stets sagt: ‚Andere mußten sogar drei, auch vier hingeben‘, ist für mich eine Heldin. Und ich merke ja auch täglich, wie sehr sie an mir hängt. Sie liebt mich, verwöhnt mich förmlich. Sie hat so eine liebe gütige Art, die unaussprechlich wohltut. Und doch – so behaupte ich – hat sie damals an jenem Morgen Komödie gespielt, als sie mir die Nachricht von Franzis Hinscheiden überbrachte. Ich will dir das nicht alles im einzelnen schildern, Karl. Aber für mich steht jetzt fest: sie hat von dem Selbstmord gewußt, und ihre Verzweiflung und ihre Tränen waren nur eine Maske, unter der hervor sie mich ständig belauerte, ob ich auch nicht die Wahrheit ahnte oder diese Wahrheit irgendwie ergründen wollte. –

Ich bin als Anwalt ja zumeist Strafverteidiger. Und dazu gehört Menschen- und Lebenskenntnis. Ich bilde mir ein, beides zu besitzen –“

„Bis zu einem bestimmten Grade – ja!“ warf Meinzer ein.

„– und daher begreife ich jetzt meiner Schwiegermutter Benehmen vollständig.“

„Dritter Beweispunkt?“

„Ist der, daß sie verschiedentlich den Schlüssel zum Schlafzimmer sich von mir geben ließ – schon bald nach Fränzis Tode, um dort in stiller Andacht zu verweilen, wie sie sagte. Einmal, als ich fürchtete, daß sie sich dort ihrem Schmerz zu sehr hingeben würde, folgte ich ihr nach einer Weile, öffnete leise die Tür, und – fand sie mit dem Rücken nach der Tür vor dem Kleiderschrank knien, dessen Schubladen sie durchstöberte. Sie warf Fränzis Wäsche heraus, – alles mit großer Hast, und dann hörte ich sie qualvoll, trostlos murmeln:

„Wieder nichts – wieder nichts!“

„Ah!“ machte Meinzer. „Das sagt genug! Sie suchte das Fläschchen –!“

„Siehst du, Karl, jetzt wirst du an meinem gesunden Verstande nicht mehr zweifeln. Auch dir scheinen die Beweise zu genügen.“

„Allerdings. Zumal Fränzis Herzschwäche nicht so gefährlich war, daß man eine Katastrophe befürchten mußte. – Trotz alledem, Hans, weshalb nur sollte deine Frau sich das Leben genommen haben – weshalb?! Ihr lebtet glücklich; das von dir so heißersehnte Kind war da; ihr hattet alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann; du warst schon wohlhabend, und Fränzi brachte dir noch ein Vermögen mit in die Ehe. Keine Wolke verdunkelte euer Glück. Also – weshalb dieses Ende?! Ich begreife das nicht!“

„Ich erst recht nicht,“ meinte Hans Hanke aufstöhnend. „Und weil ich’s nicht begreife, kenne ich jetzt keine andere Gedankenarbeit als das Nachgrübeln über dieses Geheimnis, das Fränzi in den Tod getrieben hat. Ein Geheimnis spielt hier mit. Das ist so sicher wie die Tatsache, daß Fränzi mir am Abend vor ihrem Tode, als ich ihr gute Nacht sagte, wie eine Halbirre am Halse hing und mich unter Tränen immer wieder küßte. Noch nie hatte ich sie so erregt gesehen. Ich konnte sie kaum beruhigen.“

Als er jetzt schwieg, hörten beide im Salon das Knarren einer Tür. Dann wurde dort die große Kristallkrone eingeschaltet. Durch die Scheiben der Schiebetür fiel eine strahlende Lichtbahn auf die beiden Freunde, die riesigen Fächerpalmen und die anderen tropischen Gewächse.

Hans Hanke war schnell aufgestanden.

Im Salon stand Frau Koßnitzki, kam näher, schob die Türen auf und meinte:

„Wie – hier im Dunkeln, meine Herren?!“

Auch Meinzer erhob sich.

„Wir sprachen soeben über Hans’ Nervenschwäche und über die Reise, die er auf Ihren Vorschlag unternehmen möchte, gnädige Frau –“

Er küßte der alten Dame die Hand.

„Ah – nicht wahr, Herr Doktor,“ sagte sie hastig, „Sie raten Hans auch dazu? Ja – er muß weg von hier, in eine andere Umgebung. Dann haben wir ihn Weihnachten frisch und munter wieder daheim.“

Sie schaltete nun auch die Deckenbeleuchtung des Wintergartens ein.

Meinzer dachte: ‚Kein Zweifel – sie will ihn von hier entfernen!‘

Und sagte daher mit liebenswürdigem Lächeln:

„Sie haben mich falsch verstanden, gnädige Frau. Ich als Arzt bin entschieden dagegen, daß Hans verreist. Er soll sich hier zu Hause ordentlich ausfaulenzen, soll Holz hacken, leichte Gartenarbeit tun, nicht rauchen, nicht Kaffee trinken, aber – so gut gepflegt werden, wie nur Sie dies in Ihrer mütterlichen Liebe tun können. Eine fremde Umgebung wäre für Hans nur nachteilig.“

Meinzer verabschiedete sich gleich darauf. Der Anwalt begleitete ihn ein Stück Wegs.

Der Sturm tobte noch ärger als am Vormittag.

Vor der zweiten Pforte der hohen Steinmauer stand ein großer Tafelwagen, mit allerlei Möbelstücken hoch bepackt.

„Meine Mieter ziehen wirklich schon ein,“ sagte Hanke und erzählte dem Freunde von Herrn Oldenberg.

Der Doktor dachte an anderes, faßte den Anwalt unter und meinte eindringlich:

„Du hast jetzt Zeit, das aufzuklären, was du als ‚Geheimnis‘ bezeichnetest. Tu’s nur! Bevor du hierüber nicht Klarheit gewonnen hast, wirst du doch nicht gesund. Aber – sei vorsichtig, Hans! Ich halte deine Schwiegermutter nicht für ungefährlich – seit heute – und das Geheimnis vielleicht für bedenklicher, als wir auch nur im entferntesten ahnen können.“

Der Rechtsanwalt war stehen geblieben und starrte Meinzer ins Gesicht.

„Ja – ja,“ murmelte er dann, als der Arzt ihm ernst zunickte, „dasselbe fürchte ich auch: dieses Geheimnis muß derart sein, daß –“ – Er verstummte. Er hatte dieselbe junge Frau erblickt, der er vormittags am Marmorpalais begegnet war.

Sie kam auf dem Bürgersteig dicht an den beiden Freunden vorüber, die ihr Platz machten. Sie hatte es sehr eilig und trug mehrere Päckchen und einen größeren Karton.

„Sieh da!“ meinte der Doktor, als sie vorüber war. „Das ist ja dieselbe blonde Schöne, der ich vorgestern nacht hier in deiner Straße begegnete, als ich von Ballschwings kam. Mir machte es ganz den Eindruck, als ob sie aus der Pforte schlüpfte, die zu dem leeren Häuschen gehört. Aber das muß natürlich ein Irrtum sein. – Kennst du die Blonde etwa?“

„Nein,“ sagte Hanke zerstreut. „Sie fiel mir heute im Neuen Garten auf.“ – Und er dachte dabei an die Fußspur vor der Tür des leeren Hauses.

„Ich werde umkehren,“ fügte er hinzu. „Auf Wiedersehen, Karl –“

Dreht sich abrupt um, schritt auch schon davon. Und Doktor Meinzer folgte ihm. Aber auf der anderen Straßenseite. –

Die junge Dame in dem dunkelblauen Kostüm und dem grauen Velourhut blieb neben dem großen Tafelwagen stehen und sprach ein paar Worte mit den Arbeitern. Dann betrat sie durch die Pforte den verwilderten Garten.

Und Hans Hanke und Doktor Meinzer, die dies getrennt beobachtet hatten, dachten genau dasselbe:

‚Es ist Oldenbergs Schwester!‘

Aber der Rechtsanwalt dachte noch mehr: ‚Hier stimmt etwas nicht! Meinzer wird schon richtig beobachtet haben –: das Mädchen schlüpfte wirklich aus der Pforte! Die Fußspur sagt genug, und besonders Oldenbergs Bestreben, sie durch ein Dienstbotenabenteuer zu erklären!‘

 

 

3. Kapitel

Die Geheime Regierungsrätin Ballschwing war eine sehr dürre Dame. Und auch ihr verstorbener Gatte konnte sich zu seinen Lebzeiten nie eines überflüssigen Pfundes Fleisch auf seinem Knochengerüst rühmen. Desto wunderbarer war es, daß die beiden Töchter Margot und Alexandra – kurz Lexa genannt – ganz aus der Art geschlagen und bei schlanker Figur recht üppig und stattlich waren, ohne gerade dadurch unfein zu wirken.

Ballschwings hielten keine Bedienung. Sie mußten sich sehr, sehr einrichten. Die Töchter arbeiteten heimlich für ein Berliner Geschäft kunstvolle Stickereien.

Die drei Ballschwings saßen jetzt beim Abendbrot.

„Hanke hat das kleine Häuschen vermietet,“ sagte die Geheimrätin. „Der Mieter ist Berufsphotograph. Seine Schwester soll sehr hübsch sein. Stadtrat Helmbach erzählte es mir.“

Sie schaute ihre Jüngste an. „Lexa, du wirst morgen für die kleine Evi ein Spielzeug kaufen und es ihr vormittags bringen. Hanke hat seine Praxis vorläufig einem Vertreter übergeben. Ich traf vorhin die Hankesche Köchin. Hanke ist mit den Nerven nicht in Ordnung. Er wird sich zu Hause erholen. Man muß die Beziehungen zu ihm etwas enger gestalten.“

Lexa verstand und seufzte.

„Mama, du machst dir da Hoffnungen, die nie in Erfüllung gehen werden,“ sagte sie scheu.

„So?! – Freilich, wenn man wie du so wenig Talent hat, sich ein wenig in Szene zu setzen, dann – dann –“ – Der Satz blieb unvollendet, aber die Geheimrätin rührte sehr nervös in ihrer Teetasse herum.

Frau Ballschwing, geborene Baronesse Isenbühl, rückte jetzt den goldenen Kneifer auf ihrer scharfen Nase zurecht.

„Vorgestern war Meinzer wieder bei uns,“ begann sie und strich sich eine Schnitte Brot dünn und bedächtig mit Margarine. „Margot, wenn du nur etwas – etwas klüger wärest, könntest du längst Braut sein.“

Ein scharfer Blick schoß zu der älteren Tochter hinüber.

Als die Scheibe Brot wieder der Mutter Augen beschäftigte, lächelte Margot Lexa verstohlen an. In diesem Lächeln lag ein stilles Glück und froher Übermut.

„Meinzer beschäftigt sich sehr viel mit dir, Margot,“ fuhr die Geheimrätin fort. „Ich habe bei Sendens, bei Langenheims und Stüwickes erzählt, wie häufig er zum Tee zu uns kommt. Senden wird ihm nun auf meine Bitte hin nächstens nahelegen, diese Besuche einzuschränken, da er euch kompromittiert, oder – sich zu verloben.“

Margot, blond und nicht gerade hübsch, weil sie eine zu starke Nase hatte, sagte jetzt sehr ruhig:

„Mama, das ist nicht mehr nötig –“

„Was, wie meinst du das?“

„Doktor Meinzer wird jetzt noch häufiger kommen. Und Onkel Senden wird daran nichts ändern.“

Die Geheimrätin legte das Messer weg und schaute ihre Älteste prüfend an.

„Ich traf Doktor Meinzer vor einer Stunde,“ fügte Margot hinzu. „Er begleitete mich. Wir gingen durch den Neuen Garten. Und – da haben wir uns – verlobt –“

Frau Ballschwing bekam weiße Flecken auf den Wangen. Ihre Hände zitterten.

„Und das – das sagst du mir erst jetzt!“ rief sie empört.

„Karl kommt gegen halb neun zu uns. Dann wollte er –“

Die Geheimrätin war schon versöhnt. Die Rührung packte sie. Sie schluchzte laut auf.

„Die Freude – die Freude!“

Allmählich wurde sie wieder die alte. Das Strahlende aus ihren scharfen Zügen verschwand. Ihre Lippen preßten sich zusammen. Sie dachte angestrengt nach.

„Meinzer ist Hankes Freund,“ sagte sie nun und rührte wieder in ihrer Teetasse. „Margot, wenn es dir gelänge, für Lexa so ein wenig bei Hanke Vorsehung zu spielen –“

„Zur Ehestifterin eigne ich mich nicht, Mama.“

„Ich verbitte mir diesen Ton, Margot!“ fuhr die Geheimrätin auf. Aber ebenso schnell dachte sie auch daran, das sie jetzt klug täte, die junge Braut anders zu behandeln.

„Der Ton paßt sich nicht, Kind,“ fügte sie hinzu. „Es geht um Lexas Zukunft. Vergiß das nicht. Wenn ich mal die Augen schließe, bleibt Lexa so gut wie nichts übrig. Wovon soll sie leben?! Und – Hanke ist doch nicht nur eine gute Partie, sondern auch ein lieber, netter Mensch, der zum Glück bei all seiner Klugheit in vielen Dingen sehr harmlos ist, was seine erste Ehe beweist –“

Jetzt lächelte sie halb ironisch, halb geheimnisvoll.

„Frau Koßnitzki und ihre Tochter sollen keinen festen Wohnsitz gehabt und seit drei Jahren auf Reisen gewesen sein. Hanke lernte sie ja auch in Stockholm kennen, wo er geschäftlich zu tun hatte.“

Sie nahm einen Schluck Tee. Margot und Lexa waren jetzt ganz Ohr.

„Ja – und schon nach fünf Tagen verlobte er sich mit ihr,“ fuhr die Geheimrätin fort. „Und nach drei Wochen heirateten sie in aller Stille in Hamburg, wo Fränzis Vater früher mal Schiffskapitän gewesen war. – Nun, mit alldem erzähle ich euch ja nichts Neues. Aber – das wichtige kommt jetzt: die Koßnitzkis haben den guten Hanke belogen, als sie behaupteten, sie wären seit 1918 auf Reisen gewesen. Sie haben acht Monate in Stettin gewohnt.“

„Wie hast du das erfahren, Mama?“ fragte Lexa nicht besonders erstaunt, denn sie kannte ja der Mutter Vielseitigkeit – auch im Spionieren.

„Meine Sache, Kind!“ – Sie überlegte. „Hm – weshalb soll ich euch nicht die Wahrheit sagen,“ meinte sie dann. „Ich habe mich mit der alten Ursel, der Hankeschen Köchin, angefreundet. Schon lange.“

„Mama – wie kannst du nur!“ sagte Margot.

„Margot!“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Ursel hat mal in Frau Koßnitzkis Zimmer ein paar Briefe gefunden,“ begann sie wieder. „Und die waren sämtlich nach Stettin, Neue Straße 14, adressiert. Absender war ein gewisser Herbert Bregold, der sie von verschiedenen Orten Deutschlands an Frau Koßnitzki geschickt hatte. Leider waren sie in einer fremden Sprache geschrieben. Ursel meint, französisch. Ich habe dann bei meinem Bruder in Stettin angefragt. Und Onkel Oskar antwortete mir, die beiden Koßnitzkis hätten tatsächlich Neue Straße 14 gewohnt. Jedenfalls hatten sie Stettin erst kurz vor dem Zusammentreffen mit Hanke in Stockholm verlassen gehabt. Sie dürften also sehr triftige Gründe gehabt haben, ihm diese Stettiner Zeit zu verschweigen.“

„Ja,“ fuhr die Geheimrätin bedächtig fort, „wenn die Ursel nur nicht so – so feige wäre! Sie sollte mir einen der Briefe aus der Kofferkasette –“

„Wie – Kofferkasette?“ rief Lexa verwundert.

„Nun ja – eine in einem großen Rohrplattenkoffer angebrachte Stahlkasette –“

„Also hat die Ursel regelrecht spioniert,“ sagte Margot aufgebracht. „Pfui – wie häßlich ist das! Mama – ich will nichts weiter hören!“

Sie stand auf und ging hinaus.

Die Geheimrätin lächelte nachsichtig.

„Margot ist gut daran,“ meinte sie zu ihrer Jüngsten. „Sie ist versorgt. – Kind, wenn man Hans Hanke beweisen könnte, daß seine angebetete Franziska doch nicht so war, wie er gedacht hat, dann – dann würde er wohl leichter –“

„Mama!“ Jetzt erhob sich auch Lexa mit einem Ruck. „Mama – das, das ist deiner nicht würdig. Weshalb soll ich auch gerade Hans Hanke heiraten?! Es gibt doch –“

Unter dem stechenden Blick der Mutter wurde sie feuerrot.

„Lexa, komm’ einmal her,“ befahl die Geheimrätin kurz. Sie stand auf und schaute ihre Jüngste durchdringend an.

„Du – wirst Hanke heiraten, Lexa!“ sagte sie unnatürlich ruhig. „Ich möchte den Rest meines Lebens nicht in dieser erbärmlichen Armut vertrauern! Ich darbe euretwegen, damit ihr euch nett kleiden könnt. Hanke ist Millionär durch seine erste Frau geworden. Und du – wirst seine zweite werden! – Räume den Tisch ab –“ –

Als Doktor Meinzer um halb neun an der Ballschwingschen Flurtür läuten wollte, öffnete Margot ihm, zog ihn mit strahlenden Augen in den Flur und schlang ihm die Arme um den Nacken.

Meinzer war glücklich. – So hatte er sich seine Frau immer vorgestellt: frisch, nicht zimperlich, gesund im Empfinden. –

Er küßte sie innig.

Dann saß er in dem kalten Salon der Geheimrätin gegenüber und brachte seine Werbung vor.

Oh – sie zeigte ihm nicht im geringsten, wie sie sich über diese Partie freute. Nein – sie gab ihm sehr fein zu verstehen, daß er als Sohn eines Postunterbeamten in eine Familie hineinheiratete, die zu den besten Potsdams gehöre.

Meinzer tat sehr bescheiden. Aber er dachte: ‚Du willst auch mich unterkriegen! Du willst mir imponieren! Da kennst du Karlchen Meinzer schlecht!‘ –

Nachher im sogenannten Musikzimmer trank man billigen Rotwein. Die Geheimrätin hatte Meinzer sofort das verwandtschaftliche ‚Du‘ angeboten. Sie beherrschte die Unterhaltung, lenkte sie nach ihrem Willen, brachte das Gespräch sehr bald auf Hans Hanke, so daß Meinzer nun notwendig dessen Nervenzusammenbruch erwähnen mußte.

„Er sollte heiraten,“ meinte die Geheimrätin da. „Die Liebe zu seiner Frau war doch wohl nur Flackerfeuer. Ich weiß nicht, man hatte Frau Fränzi gegenüber immer das Gefühl, daß sie so etwas schauspielerte. Ich will wahrhaftig über eine Tote nichts Nachteiliges reden. Ich gebe hier nur eine Meinung wieder, die jeder über Fränzi Hanke sich sehr bald bilden mußte.“

Meinzer äußerte sich hierzu nicht und rauchte ruhig seine Zigarre weiter.

„Ich denke, wir lassen dieses Thema fallen, Mama,“ sagte Margot an seiner Stelle. „Hanke hat seine Frau angebetet. Von Strohfeuer oder dergleichen kann man –“

„Liebes Kind,“ fiel die Geheimrätin ihr ins Wort, „du besitzt doch wohl zu wenig Menschenkenntnis, um eine Frau beurteilen zu können, die vor ihrem Manne Geheimnisse hatte.“

Meinzer schaute auf.

„Ja, lieber Schwiegersohn, – Geheimnisse, hinter die ich ganz zufällig gekommen bin. Mein Bruder Oskar, der Oberst a.D., wohnt in Stettin, und von ihm erfuhr ich – wie gesagt ganz zufällig – daß Frau Koßnitzki nebst Tochter acht Monate in Stettin, Neue Straße 14, gewohnt hat. Hiervon weiß Hanke nichts. Also hat man es ihm aus Gründen, die ich mich kenne, verschwiegen.“

Doktor Meinzer strich langsam die Zigarre an der Aschenschale ab.

„Es ist richtig – davon weiß Hans nichts,“ sagte er zögernd.

„Nun also!“ meinte die Geheimrätin triumphierend. „Die Koßnitzkis hatten doch fraglos irgend etwas zu verhehlen.“

„Es kann ganz harmlos sein,“ rief Margot gereizt. „Karl,“ wandte sie sich an ihren Verlobten, „bist du eigentlich einmal in dem leeren Hause Hankes gewesen, das jetzt vermietet worden ist?“

„Nein, Liebling,“ entgegnete er, – „ich kenne das Häuschen nur von außen. Die Geschwister Oldenberg werden sich dort kaum behaglich fühlen –“

Man sprach über diese schlesischen Flüchtlinge. Aber Meinzer blieb zerstreut.

„Neue Straße 14!“ – Er merkte sich diese Adresse. Man müßte doch mal Sonntags nach Stettin fahren. Vielleicht kam man da dem Geheimnis näher! – Aber Hans Hanke sollte hiervon vorläufig nichts mitgeteilt werden. – Und ganz unverhohlen bat er dann die Geheimrätin, über diese Dinge im Interesse Hankes zu schweigen.

 

 

4. Kapitel

Die beiden Fenster des Schlafzimmers Hans Hankes lagen nach derselben Seite der Villa heraus, der gegenüber die Brettertür in dem morschen Holzzaune sich befand. Und jenseits dieses Zaunes wohnten nun in dem kleinen Häuschen die Geschwister Oldenberg.

Hanke hatte bis halb zehn mit Frau Koßnitzki eine Partie Schach gespielt – wie fast jeden Abend. Dann hatte er ihr die Hand geküßt und war in sein Schlafzimmer gegangen.

Er schaltete das Licht nicht ein, setzte sich auf den Fensterkopf des einen Fensters, das selbst im Winter immer offen blieb, und schaute durch die entlaubten Bäume nach dem Häuschen hinüber.

Durch den einen Fensterladen schimmerte ein schmaler Streifen rötliches Licht hindurch. Dort drinnen brannte wohl eine Petroleumlampe. –

Hans Hankes Gedanken ordneten das, was er über die Oldenbergs jetzt wußte.

Für ihn stand fest, daß es nur Oldenbergs Schwester gewesen sein konnte, die ihre Spur in dem fischen Maulwurfshügel zurückgelassen hatte.

Die Geschwister mußten sich also zu der eisernen Mauerpforte einen Nachschlüssel besorgt und sich das Häuschen wohl auch von innen angesehen haben, bevor sie auf das Wohnungsamt gingen und Stadtrat Helmbach um seine Vermittlung baten. Meinzer hatte die Blonde ja nachts aus der Pforte schlüpfen sehen.

Dann fiel ihm seine Begegnung mit Agathe Oldenberg vor dem Marmorpalais ein.

Konnte denn dieses blonde, junge Weib, das ihm so mitleidig angeschaut hatte, wirklich moralisch nicht ganz einwandfrei sein?! Konnten die Geschwister nicht lediglich vorher sich in aller Ruhe allein haben überzeugen wollen, ob das Häuschen noch leidlich bewohnbar herzurichten wäre?!

So suchte er nach Entschuldigungsgründen – im Interesse Agathe Oldenbergs! Und als er merkte, daß er nur ihretwegen die Dinge so harmlos zu deuten suchte, da schrak er fast zusammen.

Wie – war ihm dieses Mädchen, mit dem er noch nicht ein einziges Wort gewechselt hatte, etwa nicht mehr gleichgültig?! Hatte sich ihr Bild bereits so fest seinem Gedächtnis eingeprägt, und daß nur ihrer dunklen, schwermütigen, warmen Augen wegen.

Hier geschah etwas, das seinem Denken eine neue Richtung gab.

Dort unten huschte eine Frauengestalt, ein langes Tuch um den Kopf, auf die Brettertür zu, blieb jetzt stehen.

Hanke hatte sich schon ganz leise tiefer ins Zimmer zurückgezogen. –

Der abnehmende Mond war gerade hinter den jagenden Wolken hervorgetreten.

Die Frau blickte zu Hankes Fenstern empor.

Aber sie hielt das Tuch so eng vor dem Gesicht geschlossen, stand außerdem im Schatten der Bäume, daß der Anwalt sie nicht erkennen konnte.

Er sah nur unter dem dunklen Tuche unten einen grauen Rock hervorragen, und er entsann sich, daß das Stubenmädchen Anna zuweilen einen solchen Rock im Hause trug.

Die Frau glitt weiter auf die Brettertür zu. – Der Sturm schwieg ein paar Sekunden. Hanke hörte den verrosteten Riegel des Schlosses quietschen.

Die Frau zog die Tür wieder zu und eilte nach dem Häuschen hin, pochte hier an den Fensterladen und verschwand um die Ecke. –

Hans Hanke überlegte. Er wollte wissen, ob es wirklich das Stubenmädchen gewesen war, die dort so scheu zu den neuen Nachbarn hinüberhuschte.

Er ging in sein Arbeitszimmer. Dort hing das Schlüsselbrett.

Ja – der Schlüssel zu der Brettertür fehlte! –

Hanke schlich den Flur entlang. Er wollte sehen, ob seine Schwiegermutter noch wach war. Er mußte ihr diese Entdeckung sofort mitteilen. Die beiden Oldenbergs kamen ihm jetzt wieder höchst fragwürdig vor. – Woher kannte Anna sie so genau, daß sie sie so heimlich besuchte?! Und – offenbar war Anna doch erwartet worden! Das bewies schon das viermalige Pochen gegen den Laden. –

Er klopfte leise.

Ah – die Tür war ja nur angelehnt –!

Er öffnete sie etwas, rief leise:

„Mama – bist du hier?“

Alles dunkel. Niemand meldete sich.

Hanke schaltete das Licht ein. – Dort über dem Stuhl lag Frau Koßnitzkis Hauskleid, das sie heute getragen hatte. –

Der junge Anwalt mußte sich plötzlich gegen den Türpfosten lehnen. Ein Schwindel überkam ihn; kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Und das Bohren in der Stirn verstärkte sich jäh zu rasenden Kopfschmerzen. –

Aber er raffte sich wieder auf. Er mußte Gewißheit haben.

Er holte sich einen Mantel, zog die Mütze tief in die Stirn und verließ die Villa, stellte sich hinter eine der dicken Kastanien, die nahe der Brettertür standen.

*

In der einen Stube des Häuschens brannte auf einem Fichtentisch eine Petroleumlampe.

An der einen Seite des Tisches saß Hilmar Oldenberg, an der anderen Agathe.

Das junge Mädchen hatte die Augen voll Tränen.

„Du bist so hart!“ schluchzte sie. „Weshalb mußte ich auch jetzt wieder –“

„Schweig!“ flüsterte er heftig. –

Es gibt Menschen, deren Antlitz durch ein Lächeln zur Teufelsfratze wird.

So auch das Hilmars Oldenbergs.

Er schaute Agathe spöttisch an.

„Ich denke, du führst ein Leben wie wenige Mädchen,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Du kleidest dich gut. Du kannst dir alles leisten. Weshalb also diese Versuche, dich von mir frei zu machen – selbständig zu werden, wie du es nennst?! – Kind, die sogenannte ehrliche Arbeit hat Bleigewichte an den Füßen. Wer sie erwählt, kommt nicht vorwärts. Du stellst es dir zu leicht vor, etwa als Ladenmädel oder dergleichen dein Brot zu verdienen. Ich habe dir außerdem bereits versprochen, daß wenn dies Geschäft hier erledigt ist, unser Leben einen ganz anderen Zuschnitt bekommt. Wir werden seßhaft werden, und – ah – es klopft. Das wird die Alte sein!“

Er erhob sich und verließ die Stube, kehrte gleich darauf mit der in das Tuch gehüllten Frau zurück.

Langsam trat diese näher, schlug die Umhüllung auseinander, sank matt in einen Stuhl und wimmerte:

„Die Angst – die Angst!“

Oldenberg stand an dem eisernen Ofen und rieb sich über dem glühend roten Deckel die Hände, als ob ihn frieren würde.

„Wovor haben Sie denn eigentlich so große Angst?! Der Herr Schwiegersohn schläft doch wohl bereits –“

Frau Koßnitzki starrte Agathe an.

Diese wagte nicht aufzusehen, murmelte nur mit halb erstickter Stimme:

„Ich bin nur gezwungen worden, hierher –“

Ein schneidendes Auflachen des Bruders ließ sie verstummen.

„Sie – Sie Ärmste,“ flüsterte Frau Koßnitzki und blickte dann nach Oldenberg hin.

„Gott wird Sie strafen,“ sagte sie, und ein Beben lief über ihren Leib.

„Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“ meinte er höhnisch. „Ich wiederhole Ihnen jetzt nochmals: wenn Sie noch weiter Ausflüchte machen, dann – erfährt Hans Hanke, Ihr lieber Schwiegersohn, alles – alles! Sie verstehen mich! Und was dann geschieht, wissen Sie!“

Frau Koßnitzki war noch bleicher geworden. Ihre Lippen zitterten.

„Sie – Sie Mörder!“ rief sie plötzlich und schnellte von ihrem Stuhl empor. „Sie haben –“

Er stand schon vor ihr, packte ihre Handgelenke, drückte sie zurück auf den Sitz.

„Sind Sie verrückt, so zu schreien!“ fauchte er. „Lassen Sie mich mit dem albernen Gewäsch in Ruhe. – Nochmals – wollen Sie oder wollen Sie nicht?!“

Er hielt noch immer ihre Hände umklammert. Seine Blicke bohrten sich in die ihren.

Agathe flüchtete aufschluchzend in die Nebenstube, warf sich hier auf ihr Bett und weinte in die Kissen hinein. –

„Reden Sie!“ befahl Oldenberg. „Oder – Sie werden morgen von Hans Hanke aus dem Hause gejagt, lernen – das Gefängnis kennen!“

Frau Koßnitzki rutschte vom Stuhl in die Knie, wimmerte:

„Ich schwöre Ihnen bei der namenlosen Liebe zu meinem Kinde: ich weiß nichts! – Fränzi hat mir absichtlich verschwiegen –“

Er hatte ihre Hände fortgeschleudert.

„Gut – wenn in zwei Wochen die Sache nicht erledigt ist, dann schone ich Sie nicht mehr!“ sagte er eisig. „Sie sind an allem schuld – Sie allein!“

Frau Koßnitzki richtete sich mühsam auf.

„Ich biete Ihnen nochmals dreihunderttausend Mark,“ flüsterte sie, wie von Fieber geschüttelt. „Dann – dann besitze ich fast nichts mehr –“

Er zuckte nur die Achseln. „Mit Trinkgeldern speist man Domestiken ab. Sogar die Kellner nehmen sie – angeblich – nicht mehr an. Gehen Sie! Sie haben vierzehn Tage Zeit! Tun Sie auch Ihrerseits alles, damit wir in Frieden scheiden können.“

Sie zog das Tuch fester um sich. Dann brachte er sie hinaus, verschloß hinter ihr die Tür.

Der Sturm packte die Frau. Wie betäubt harrte sie eine Weile regungslos.

‚Wenn ich nur das Chloral fände!‘ schoß es ihr wieder durch den Kopf. ‚Dann – dann wäre ich – frei, wenn die Stunde kommt – wie Fränzi sich frei gemacht hat –‘

Ein qualvolles Weinen würgte ihr die Kehle. Sie stolperte vorwärts. Ein Hauch von Sterben und Vergehen war um sie her: der Duft des Herbstes, der welken Blätter, der feuchten Erde, die auf Winterkälte harrte. –

So schlich sie der Villa zu. Der Riegel des Schlosses kreischte. Ängstlich blickte sie sich um, blickte zu des Mannes Fenstern empor, der ihr in Wahrheit ein Sohn geworden, der ihrem Herzen so nahe stand und von dem sie doch ein Abgrund trennte. –

Hans Hanke lehnte am Stamm der Kastanie.

Er kam sich vor wie ein Geistesgestörter.

Seine Schwiegermutter – seine Schwiegermutter im Rock des Stubenmädchens, also verkleidet, war dort drüben bei den Oldenbergs gewesen! –

Seine Gedanken kamen langsam zur Ruhe.

Er wartete noch eine halbe Stunde. Dann kehrte er heimlich wie ein Dieb in sein Schlafzimmer zurück, nahm drei Tabletten, spülte sie hinab, warf sich angekleidet auf sein Bett.

Er war völlig erschöpft. – Aber Meinzers Mittel half. Die zitternden Nerven beruhigten sich – wie vorhin seine jagenden Gedanken.

Ganz still lag er da.

Das Geheimnis – das Geheimnis von Fränzis Sterben! – Er ahnte: die Oldenbergs hingen irgendwie damit zusammen. Und seine Schwiegermutter konnte ihnen die Schlüssel zur Pforte und zu dem Häuschen für Tage ausgehändigt haben. –

 

 

5. Kapitel

Nach dem gemeinsamen Frühstück mit seiner Schwiegermutter, die bleich und übernächtigt aussah, ging er zu den neuen Nachbarn, um Agathe persönlich kennen zu lernen.

Er traf sie im Garten, in der Wildnis. Sie hatte sich einen Stuhl unter die Linde vor das Haus gestellt und las.

Sie war zuerst sehr verlegen und unsicher. Mehr noch, er spürte geradezu, daß sein Erscheinen sie erschreckt hatte.

„Hilmar ist nach der Stadt gegangen,“ erklärte sie nun auf seine Frage hin.

„Würden Sie mir nicht einmal zeigen, wie Sie sich eingerichtet haben, Fräulein Oldenberg,“ bat er dann recht freundlich.

Sie wurde wieder rot.

„Nein – nein, es ist noch nicht aufgeräumt, Herr Rechtsanwalt,“ stotterte sie und blickte an ihm vorbei.

Ah – sie log! Weshalb nur wollte sie ihn nicht in das Haus einlassen? Und – ob sie etwa hier draußen nur – Wache hielt?

„Na – dann ein andermal,“ lachte er harmlos. „Obwohl unaufgeräumte Stuben mir durchaus nichts Schreckliches sind.“

Sie standen beide noch immer auf demselben Fleck.

Agathes hilfloser Blick irrte bald hierhin, bald dorthin.

Hanke merkte: sie wollte ihn irgendwie schnell wieder los sein!

Und wirklich.

„Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie ganz unvermittelt. „Ich muß jetzt ins Haus. Auf Wiederse –“

Die letzte Silbe blieb unausgesprochen.

In dem Häuschen war eine Tür knallend zugeschlagen.

Agathe wurde bleich.

„Die Fenster stehen hinten offen – der Zugwind!“ stammelte sie und schritt schnell der Haustür zu.

„Auf Wiedersehen!“ rief Hanke ihr nach.

Da war sie schon verschwunden.

Er kehrte in seinen Garten zurück, ging auf den Hof und begann Holz zu spalten.

„Sie hat gelogen,“ dachte er immer wieder. „Ihr Bruder war daheim. – Weshalb verleugnete sie ihn? Was treibt der Mensch da drinnen?!“ –

*

Lexa Ballschwing sollte für Evi Hanke ein Spielzeug kaufen. Mit ihrem leichten, federnden Gang schritt sie die Charlottenstraße hinunter. Sie überlegte. Hatte sie nicht vielleicht noch etwas anderes einzukaufen – dort, wo sie so oft in Gedanken weilte? – Aber – würde es Doktor Brennecke nicht auffallen, wenn sie schon wieder eine Kleinigkeit bei ihm besorgte? Würde er nicht merken, daß sie nur seinetwegen die Drogerie so häufig besuchte?!

Das Verlangen, mit ihm wieder ein Weilchen zu plaudern, war doch stärker als alle diese Bedenken. –

In der Charlottenstraße gab es da eine kleine Drogerie, die Phönix-Drogerie. Und als Firmeninhaber stand an der Ladentür in weißen Glasbuchstaben:

Dr. phil. Viktor Brennecke

Dieser Brennecke war Apotheker, hatte sich aber selbstständig machen wollen und daher vor einem Jahr diese Drogerie eröffnet. Sie sollte ihn und seine Mutter ernähren. Aber – es war keine Goldgrube! Nein, die Einnahmen reichten gerade so knapp zum Leben – ganz knapp.

Brennecke mochte dreißig Jahre alt sein. Er hatte ein blasses, feines Gesicht und war der stille Schwarm mancher heiratslustigen Jungfrau. Aber Viktor Brennecke hatte bis vor kurzem auch nicht im entferntesten ans Heiraten gedacht. Wie sollte er auch?! Er war Idealist. Gegen eine Geldheirat sträubte sich alles in ihm.

Eines Tages betrat Lexa Ballschwing zufällig den Laden. Sie wollte einen Ölfleck aus einem Rock entfernen und fragte Brennecke nach einem probaten Mittel.

So kamen sie ins Gespräch. Und plauderten bald von diesem und jenem. Eben wie zwei Menschen, die sich sofort sympathisch sind.

Und Lexa kam des öfteren. Bald wußte Viktor Brennecke genau, wer sie war. Sie machte auch kein Hehl daraus, wie knapp es daheim zuging und daß sie Tag für Tag emsig für das Berliner Geschäft stickte.

Brenneckes Mutter, eine rundliche, rosige Matrone, bediente Lexa ebenfalls einmal. Und auch die beiden Frauen fanden Gefallen aneinander.

So ging es nun bereits zwei Monate. Viktor Brennecke war noch stiller geworden. Was ihn bewegte, verschloß er fest in seinem Herzen. Doch – Mutteraugen sehen meist mehr, als die Kinder ahnen. Und Frau Brennecke wußte ganz genau, wie es um ihren Einzigen stand. Er tat ihr unendlich leid. Dieses Fräulein Ballschwing würde den Doktor Brennecke, der hinter dem Ladentisch jeder Küchenfee seinen Bückling machen mußte, nie heiraten – nie! Außerdem: wie sollte Viktor auch noch eine Frau ernähren?! Nein – dazu reichte es nicht! –

Dann, vor etwa vierzehn Tagen, hatte Lexa Viktor gegenüber geäußert, es würde doch so sehr viel an kosmetischen Mitteln, an Zahnpasten, Mundwassern und dergleichen, verdient. Er müßte auch so etwas ‚erfinden‘. Damit sei sicher ein Geschäft zu machen. – Sie hatte das alles so klug und verständig gesagt, so recht wie ein Mensch, der den Anderen vorwärtsbringen möchte und der sich selbst schon den Kopf über neue Erwerbsmöglichkeiten zerbrochen hat.

Diese Anregung war auf fruchtbaren Boden gefallen. Viktor hatte mit der Mutter darüber gesprochen. Zu dem kleinen Laden und der Dreizimmerwohnung gehörten auch zwei große Lagerräume auf dem Hofe.

Viktor Brennecke wurde ‚Erfinder‘. Lexa ahnte noch nichts davon. –

Etwas zögernd öffnete sie jetzt die Ladentür. Der Lehrling Fritz Wachs bediente gerade einen schlanken Herrn mit blondem Spitzbart.

„Schicken Sie mir die acht Pfund Zement nach der Gartenstraße Nr. 21,“ sagte der jetzt. „Aber nicht zu Rechtsanwalt Hanke, sondern nebenan zu Oldenberg, – Oldenberg,“ diktierte er dem Lehrling den Namen. „Hm – ich werde doch zehn Pfund nehmen. Also – zehn Pfund.“

Er bezahlte, faßte an den Hut und ging. Lexa hatte er kaum flüchtig mit einem Blick gestreift. –

Fritz Wachs dienerte vor Lexa. Er kannte sie ja. Und – er hatte einen feinen Riecher für Herzensgeschichten. Hier spann sich etwas an – kein Zweifel!

„Gnädiges Fräulein, Herr Doktor ist in der Fabrik,“ meinte er sehr wichtig.

„Geben Sie mir eine Tube Zahnpasta,“ sagte Lexa kurz. Die Vertraulichkeit des Stiftes ärgerte sie.

„Vielleicht die neue Marke Phönix?“ dienerte Herr Fritz Wachs noch tiefer. „Aus unserer Fabrik, gnädiges Fräulein. Mit Pfefferminzgeschmack! Tadellose Bleichkraft. Sparsam im Gebrauch und billig – nur drei Mark die große Tube. Da – bitte –“

Lexa war ganz verwirrt. – Eigene Fabrik?! Sollte Doktor Brennecke ihren Rat wirklich befolgt haben?

Da erschien auch schon Frau Brennecke im Laden. Denn mittlerweile waren zwei neue Kunden gekommen.

„Ah – Fräulein Ballschwing – guten Tag! – Kommen Sie, Sie müssen doch Ihr Werk sehen,“ meinte sie nun. „Viktor wird sich ja so sehr freuen.“

Und sie zog die leicht Widerstrebende hinter den Ladentisch und durch das Wohnzimmer auf den Hof.

„Dort – die Tür ist’s,“ flüsterte sie froh. „Dort hat Viktor sein Laboratorium. Gehen Sie nur hinein. Ich muß im Laden bedienen.“

Sie trippelte eilig zurück. Fritz Wachs sprach gerade mit einer hageren Dame, deren Gesicht alles andere als freundlich war.

„Meine Tochter betrat vorhin den Laden,“ sagte die gerade eisig zu dem bereits verängstigten Stift. „Wo ist sie jetzt? Reden Sie!“

Der Kneifer der Geheimrätin zitterte auf der großen, scharfen Nase.

Die arme, kleine Frau Brennecke wurde blaß. Und Fritz Wachs zog sich nun dadurch sehr geschickt aus der Affäre, daß er auf Viktors Mutter deutete und erklärte:

„Da – Frau Brennecke weiß Bescheid.“ Wobei er verlegen grinste.

Die Geheimrätin musterte die kleine Frau geradezu vernichtend.

„Meine Tochter Alexandra muß hier sein – muß!“ rief sie dann empört. „Wo – wo –“

Frau Brennecke hatte sich schon gefaßt. Hier galt es vielleicht das Lebensglück zweier Menschen! Da durfte sie nicht zaghaft sein! Es ging um ihren Sohn, um ihren Einzigen.

„Wollen Sie bitte näher treten, gnädige Frau,“ sagte sie höflich, aber sehr bestimmt. „Hier der Laden dürfte nicht der geeignete Ort sein, Ihnen einige Aufklärungen zu geben.“ –

Die Geheimrätin blieb dann im Wohnzimmer stocksteif stehen, – unnahbar, äußerlich kühl, innerlich ein Vulkan.

Und die kleine Frau Brennecke erzählte, weshalb Lexa jetzt das Laboratorium besichtigte, wie diese Bekanntschaft zustande gekommen sei.

„Unerhört!“ meinte Frau Ballschwing darauf. „Ich werde meine Tochter sofort holen und –“

Frau Brennecke hatte die Geheimrätin jetzt wiedererkannt, hob wie bittend die Hände und rief weich:

„Baronesse Anna! Und früher?!“

Die Geheimrätin stutzte.

„Mein Gott, – Sie sind Amalie Werner,“ flüsterte sie verlegen. „Ja – Sie sind’s –“

Sie war sehr rot geworden. Dieses ‚Und früher?!‘ hatte gewirkt.

In ihrer Erinnerung tauchte ein hübscher heiterer Männerkopf auf. Und – das Konfitürengeschäft der Witwe Werner in ihrer Vaterstadt; und Amalie Werner, damals wie sie ein junges Mädchen, damals die Beschützerin einer heimlichen Liebe zu dem bürgerlichen Gerichtssekretär Müller – Walter Müller! Das Stübchen hinter dem Konfitürengeschäft hatte so oft die stolze Baronesse und einen stattlichen Mann zu vertrautem Schäferstündchen beherbergt, wenn die Witwe Werner außer dem Hause ihren Kaffeeklatsch hatte. –

Die Geheimrätin streckte Frau Brennecke die Hand hin.

„Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“ – Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen.

Dann setzte sie sich.

„Sind – sind die beiden etwa schon verlobt?“ fragte sie zögernd.

„Nein, nein. Aber Sie sollen nicht dazwischentreten, gnädige Frau. Das dürfen Sie nicht. Mein Junge ist ein studierter Mann, und er wird sich hocharbeiten. Der Anfang ist schon gemacht.“

Frau Ballschwing schüttelte den Kopf.

„Meine werte Frau Brennecke, Ihr Sohn mag Lexa lieben – daran zweifle ich nicht,“ meinte sie freundlich. „Es ist aber ganz ausgeschlossen, daß meine Tochter diese Neigung irgendwie erwidert – ausgeschlossen! Sie hat einen anderen Bewerber, der ihr eine glänzende Zukunft bieten kann. Und – ich brauche wohl nicht mehr zu sagen. Ihr Sohn wird sich danach richten.“

Sie erhob sich. Ihre Intrigantennatur hatte gesiegt. – Frau Brenneckes Augen füllten sich mit Tränen. Ganz hilflos stammelte sie:

„Mein armer Junge!“

„Männer bilden sich leicht etwas ein,“ sagte die Geheimrätin wie tröstend. „Er wird eine andere finden, die mehr zu ihm paßt, liebe Frau Brennecke.“

Wieder gab sie Viktors Mutter die Hand. Aber Frau Amalie war noch viel zu niedergeschlagen, um auf irgend etwas zu achten, was um sie her vorging. Sie dachte nur an ihren armen Viktor und an diese herzlose, kokette Alexandra, die doch schon so gut wie verlobt war – aber nicht mit Viktor, und die hier doch gerade so getan hatte, als ob sie, das arme Kirchenmäuschen, nie auf eine Heirat hoffen durfte.

Die Geheimrätin merkte, daß sie hier überflüssig war. Sie ging leise hinaus. Sie hatte es nicht mehr nötig, Lexa eine Szene zu machen. Frau Amalie würde dafür sorgen, daß Lexa und dieser Drogist für immer auseinanderkämen. –

 

 

6. Kapitel

Lexa verließ den Laden. In ihren Augen war ein stilles Aufleuchten. So verklärt sah sie aus, daß Doktor Meinzer, der ihr von ungefähr entgegenkam, ganz verwundert rief:

„He – kleine süße Schwägerin, – heute noch süßer als sonst?! Woher das?“

Sie lächelte nur. „Man kann doch auch mal seinen guten Tag haben, Karl,“ meinte sie.

Er schloß sich ihr an.

Als sie wieder die recht belebte Brandenburger Straße entlangschritten, meinte der Doktor plötzlich:

„Lexa, auf dich ist doch wohl Verlaß, nicht wahr? Zu den Plaudertaschen gehörst du nicht, schätze ich. Und die Wahrheit verträgst du wohl auch. – Der Hampelmann in deiner Tasche hat mich auf Hans Hanke gebracht. Ich fürchte, der arme Kerl geht bösen Zeiten entgegen. Irgend etwas mit diesen Koßnitzkis stimmt da nicht. Du hast ja gestern abend von deiner Mutter gehört, daß die beiden in Stettin gewohnt und dies verschwiegen haben. Nun sind in das bisher leere, baufällige Häuschen, wie du ebenfalls weißt, die Geschwister Oldenberg eingezogen –“

Er erzählte ihr, daß er Agathe Oldenberg damals nachts gegen zwölf Uhr habe aus der Pforte schlüpfen sehen.

„Ich bin Hans gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen, Lexa,“ fuhr er fort. „Es kam nämlich noch ein Mann hinterher. Und der schloß das Pförtchen ab. Ich wollte Hans nicht gleich gegen seine neuen Mieter einnehmen. – Du könntest nun, da du doch anscheinend Hans jetzt häufiger Gesellschaft leisten wirst, obwohl – hm ja – obwohl die heimlichen Wünsche deiner Mutter nie in Erfüllung gehen werden –“

„– was nur meinen heimlichen Wünschen entspricht!“ ergänzte sie übermütig und lachte ihn an.

„So – so, dann sind wir ja eine Meile weiter auf dem Wege der Verständigung,“ nickte Meinzer. „Die Sache ist also kurz die. Mir kommen diese Geschwister Oldenberg etwas fragwürdig vor. Ich war vorhin bei Stadtrat Helmbach und habe ihn von hinten herum ausgefragt. Er erzählte sehr begeistert, denn er scheint sich in Agathe-Madonna vergafft zu haben – entschuldige den Ausdruck! –, daß die Oldenbergs trotz ihrer Notlage nicht einmal die Hilfe der Oberschlesier-Fürsorge in Anspruch genommen hätten. – Na – jedenfalls kam heraus, daß sie mit anderen Oberschlesiern gar nicht verkehren und – angeblich – auch nur wenig Personalpapiere herübergerettet haben –“

„Ah – ich verstehe, Karl: vielleicht heißen sie ganz anders –“

„Richtig – vielleicht! – Also, Lexa, vielleicht gelingt es dir, entweder in Hans Hankes Villa durch Beobachtung Frau Koßnitzkis oder dadurch, daß du dich mit dieser Agathe etwas anfreundest, herauszubringen, ob diese Oldenbergs Koßnitzkis vorher gekannt haben und in welchem Verhältnis sie zu einander stehen. –

Sieh mal, ich habe Hans da einen Rat gegeben, der sich auf ähnliche Nachforschungen bezieht. Näher darf ich mich darüber nicht auslassen. Es wäre aber besser, daß nicht er, sondern wir, seine Freunde, zuerst der Wahrheit nahekämen. Man kann nie wissen, wie diese Wahrheit ausschaut. Und Hans in seiner Aufgeregtheit könnte vielleicht eine Dummheit begehen.“

„Karl, es liegen also noch andere Geheimnisse vor – Unklarheiten oder sonst etwas?“ fragte Lexa schnell. „Du fürchtest, Hanke könnte vielleicht zu einem – einem Selbstmord getrieben werden?“ – Ganz scheu flüsterte sie die letzten Worte.

„Ja, Lexa. Das fürchte ich. Jedenfalls ist es besser, wir halten unsere Hände schützend über ihn. Wäre er nicht so bis zur Blindheit in seine Frau verliebt gewesen, hätte er wie wir alle früher merken müssen, daß hinter diesem scheinbaren Frohsinn, diesem scheinbar goldigen Gemüt Fränzis die blasse Angst stets hervorgrinste.“

Sie gingen schweigend weiter, doch dann fiel Lexa die Begegnung mit Oldenberg in der Drogerie ein.

„Ich habe ihn heute gesehen,“ platzte sie heraus. „Ihn – diesen Oldenberg. Der Mensch sieht gut aus, Karl. Tadellos angezogen, ein sehr sicheres Benehmen. Er kaufte in der Phönix-Drogerie zehn Pfund Zement und gab dabei seine Adresse an.“

„Zehn Pfund?!“ meinte der Doktor kopfschüttelnd. „Wozu das? – Na, vielleicht will er die Wände der alten Bude selbst etwas ausflicken. – Hm – ich könnte eigentlich auf einen Sprung mit zu Hans kommen –“ –

Der Rechtsanwalt hackte noch auf dem Hofe Holz. Als Meinzer um die Ecke bog, rief er ihm zu:

„Du – ich bin wie neugeboren. Zwei Stunden betreibe ich dieses Geschäft schon. – Da – der Berg Spaltholz ist mein Werk! – Au – das Kreuz ist mir ja steif wie –“

„Zuviel ist ungesund!“ warnte Meinzer.

Sie drückten sich die Hände.

„Aber – frisch siehst du wirklich aus, Hans!“ sagte der Doktor.

Der Anwalt zog die Hausjoppe über. Sein Gesicht wurde mit einem Male wieder welk und farblos. Über der Arbeit hatte er seine Seelennot etwas vergessen gehabt. Nun fielen die Gedanken wieder über ihn her wie ein peinigender Mückenschwarm. Und plötzlich tauchte die Erinnerung an die verflossene Nacht auf: an Frau Therese, die in das leere Häuschen schlich!

„Gehen wir in den Garten,“ sagte er müde.

Der Doktor hatte ihn still beobachtet, faßte ihn unter und meinte:

„Etwas Neues, Hans?“

„Zu viel Neues –“

Die Freunde setzten sich auf die Brüstung des Pavillions. Und Hans Hanke begann zu berichten – von den Ereignissen der Nacht, von seinem Gespräch mit Agathe, von der im Häuschen zuknallenden Tür.

Meinzer hatte die Zigarre ausgehen lassen. Er sah seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Hier bereitete sich eine Katastrophe vor! Und seine Pflicht war es, bei diesem Drama den Regisseur zu spielen! Nur er durfte hier der Eingeweihte sein, nur er! Hanke mußte womöglich entfernt werden. Er bedauerte es jetzt unendlich, daß er ihn nicht ins Gebirge geschickt hatte. Aber – hatte er denn dies voraussehen können – dies?! Daß Frau Koßnitzki mit den Oldenbergs im Einverständnis war! –

Er ging sehr diplomatisch vor, der Doktor. Doch – es half ihm nichts.

„Ich merke – jetzt soll ich weg!“ rief Hanke blaß und mit nervös flatternden Händen. „Nein, Karl, – niemals – niemals! Rede mir nicht davon, ich soll auf meine Gesundheit Rücksicht nehmen! Unsinn! Meine Gesundheit! Was liegt daran?! Nichts – nichts! Bildest du dir ein, ich könnte mit den Gedanken in der Ferne auch nur eine Minute Ruhe finden!“

„Du magst recht haben,“ erklärte Meinzer seufzend. „Die Dinge haben sich hier eben zu schnell zugespitzt. Aber etwas mußt du mir versprechen: du unternimmst nichts ohne mich, obwohl ich jetzt recht wenig Zeit habe. Doch – Margot ist ein verständiges Mädchen und wird mich nicht zu sehr mit Beschlag belegen.“

Hanke griff nach des Freundes Händen. „Du – verlobt? – Meinen Glückwunsch! Werde glücklich, Karl!“

Dann saßen sie eine Weile still da, bis Hanke sagte:

„Und – was nun?“

„Abwarten – beobachten, sich nichts merken lassen! Letzteres ist die Hauptsache. Mach’ dich an die Oldenbergs so etwas heran. Agathe soll ja und ist auch, wenigstens bei Laternenlicht, ein Weib, daß einen Mann beschäftigen kann –“

Eine flüchtige Röte huschte über des Anwalts Gesicht. Er schaute hinab in den Garten. Aber er war ehrlich und erwiderte leise:

„Schade um sie. Sie hat so liebe, gute Augen. Und – heuchelt trotzdem! – Es ist ganz merkwürdig, daß mir jede Einzelheit ihres Gesichts so deutlich vorschwebt. Ich höre noch immer den Klang ihrer Stimme. Ich glaube, wenn sie eben nicht Agathe Oldenberg wäre, könnte ich mit ihr sehr gut Freund werden –“

Meinzer nickte und legte dem Freunde die Hand fest auf die Schulter.

„Hans – heuchle Freundschaft, wenn’s nottut. Aber hüte dich vor dem, was vielleicht am schlimmsten wäre: verliebe dich nicht – nicht in Agathe Oldenberg!“

Hanke meinte nur wehmütig: „Es ist so viel zusammengebrochen in mir. Fränzi ist mir wie fern gerückt – so fern, daß ich stets – an ihr vorüberdenke. Du verstehst mich: meine Gedanken eilen in die Vergangenheit, und wenn sie auf Fränzi treffen, weichen sie ihr aus.

Er seufzte. „Vielleicht hattest du mir gestern vormittag das Richtige geraten: heiraten! – Gestern wies ich das noch von mir als ganz unmöglich. Heute bin ich seelisch so müde, so anlehnungsbedürftig. Und – trösten kann nur ein Weib, das einem ganz gehört –“

Meinzer fiel die intrigante Geheimrätin ein und – Lexa!

„Du, meine Schwägerin ist bei Klein-Evi,“ sagte er. „Sie hat ihr einen Hampelmann gebracht und –“

Er schwieg. Er merkte, daß Hanke gar nicht zuhörte. Der Anwalt starrte schräg nach links in die Wildnis des Nachbargartens hinein – unverwandt, flüsterte dann:

„Sie weint, – Karl, sie weint!“

Meinzer stand leise auf und beugte sich vor.

Dort drüben jenseits des grünbemoosten Bretterzaunes lehnte Agathe an einer Eiche und hatte die Hände gegen das Gesicht gedrückt. Ihr Körper flog hin und her.

Dann – ein dumpfer Knall.

Die Hände sanken ihr herab, hoben sich wieder und streckten sich wie in hellem Entsetzen gegen das Häuschen hin.

Meinzer zog den Freund schnell von der Brüstung weg.

„Sie darf uns nicht sehen,“ sagte er keuchend. „Hörtest du den Knall? Woher kam er? Was geht dort drüben vor?!“

Die beiden Männer schauten sich bestürzt an. Hanke war graugelb im Gesicht. Seine Wangenmuskeln zuckten. –

Meinzer blickte dann vorsichtig um die Holzwand des Pavillions, bog den Kopf sofort wieder zurück.

„Oldenberg!“ flüsterte er. „Er steht neben dem Mädchen, und er scheint ihr Vorwürfe zu machen.“

Wieder spähte er nach den beiden aus. Auch Hanke hatte sich vorgewagt.

Oldenberg schritt neben Agathe dem Häuschen zu. Sein rechter Arm bewegte sich heftig. Er drohte ihr. – Sie hatte den Kopf tief gesenkt und ging unsicher, schwankte zuweilen.

Dann verschwanden sie in der offen stehenden Hintertür. –

Meinzer rieb ein Streichholz an und rauchte ein paar Züge. Hanke hatte sich mit auf die oberste Stufe der Treppe gesetzt. Ihm zitterten die Beine. Übelkeit würgte ihm in der Kehle.

„Ich werde verrückt!“ rief er stöhnend. „Mein Kopf – mein Kopf!“

Meinzer nahm ihn und führte ihn in die Villa, in das Schlafzimmer.

„Leg’ dich auf den Diwan!“

Er gab ihm zwei Tabletten, reichte ihm ein Glas Wasser, setzte sich neben ihn.

„Versuche zu schlafen, Hans. Ich muß jetzt gehen. Abends komme ich wieder, gegen zehn. Laß mich aber heimlich ein.“

„Ja – durch den Keller. Ich werde um zehn an der Gartenpforte sein –“–

 

 

7. Kapitel

Sie standen von Tisch auf. Hans küßte seiner Schwiegermutter wie immer die Hand. Dann ging er in das Herrenzimmer und durchblätterte die Zeitungen.

Aber seine Gedanken waren drüben im Gärtnerhäuschen. Eine steigende Unruhe zerrte an seinen Nerven. Das war so anders als die Nervosität der letzten Wochen.

Was war’s nur?! War’s der falsche Frühling draußen?!

Sein Blick wanderte empor zu Fränzis Porträt; blieb starr darauf haften.

Ja – Fränzi hatte ihm viel, sehr viel verheimlicht! Das wurde ihm immer klarer. Ihre wilde Sinnlichkeit, diese Kunst, ihn stets von neuem zu reizen und seine Begehrlichkeit aufzustacheln, war doch wohl nur Mittel zum Zweck gewesen: er sollte aus dem Taumel nicht erwachen!

Und trotz alldem: Sie mußte ihn geliebt haben!

Wenn er an jenen Abend zurückdachte, als sie von ihm für ewig Abschied nahm, ohne daß er’s ahnte, wenn er sich ihre ihm damals so unverständliche, tränenreiche Verzweiflung wieder vergegenwärtigte, dann – dann wurde ihm so weh ums Herz, so weich und nachsichtig.

Hastig verließ er das Zimmer. Zögernd ging er zu der Brettertür. Er hatte den Schlüssel vormittags stecken lassen, diesen Schlüssel, den Frau Koßnitzki in der Nacht sich geholt und dann wieder an das Brett gehängt hatte. –

Es gab in der Tür fingerbreite Spalten. Er lugte hindurch.

Dort im Sonnenschein saß wieder Agathe unter der Linde mit einem Buche.

Er beobachtete sie.

Und ahnte nicht, daß seine Schwiegermutter ihn von dem einen Fenster seines Schlafzimmers aus mit gegen die Brust gepreßten Händen, starr wie eine Bildsäule belauerte.

Agathe ließ so häufig das Buch sinken, schaute dann ins Leere.

Und Hans Hanke sah jedes schmerzliche Zucken um ihre Lippen, sah jeden scheuen Blick, den sie nach dem Häuschen gleiten ließ. Und dann beugte sie sich stets wie lauschend vor.

Hanke kämpfte mit sich. – Sollte er hinübergehen? Sollte er bleiben? – Irgend etwas zog ihn zu Agathe hin – irgend etwas! War’s wirklich der falsche Frühling; war’s der Mann, der sich in ihm regte? – Er fühlte abermals diese Unruhe in den feinsten Nerven, fühlte das Blut heiß zum Herzen strömen. –

Dann riß er die Tür auf.

Sie knarrte häßlich; und Agathe war aufgesprungen.

Er schritt schnell auf sie zu.

„Störe ich, Fräulein Oldenberg?“

„Nein – nein –“

Wieder diese angstvolle Verlegenheit.

„Wollen Sie sich nicht einmal meine Villa ansehen?“ fragte er liebenswürdig. „Ich bot Ihrem Bruder einige Möbel leihweise an, die bei mir auf dem Boden stehen –“

Und – sie kam wirklich mit. Und Hans Hanke dachte: ‚Wie wird sie sich benehmen, wenn ich sie der Mama vorstelle?‘ –

Agathe gab sich jetzt ganz zwanglos. Mit jedem Schritt, mit dem sie sich von dem leeren Zuhause entfernte, wurde sie freier, wurde sie lebhafter.

Im Herrenzimmer zeigte Hanke ihr absichtlich das Bild Fränzis, stand etwas hinter ihr und belauerte ihre Züge.

Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt; die Augen halb geschlossen.

„Wie schön,“ sagte sie nur und wandte sich ab.

Hanke wußte jetzt: Agathe hatte Fränzi gekannt. Sie fürchtete das Bild, wagte nicht, es länger zu betrachten, wollte sich nicht verraten. –

Im Salon trafen sie auf Frau Koßnitzki.

Hanke stellte vor.

Oh – wie vortrefflich die Mama schauspielerte. Und wie verlegen Agathe war, wie gequält alles klang, was sie mit ihr sprach. –

Sie kamen ins Kinderzimmer.

Klein-Evi turnte in der weißlackierten Hürde umher.

Agathe war an der Tür stehen geblieben. Ihre Wangen hatten plötzlich jede Spur von Farbe verloren.

Frau Koßnitzki war an dem Holzgitter niedergekniet, hielt Klein-Evi umschlungen und weinte – weinte. –

Hanke blieb ruhig, blieb aufmerksamer Beobachter.

Zögernd schritt Agathe weiter.

Mit einem Male schwankte sie, taumelte sie zurück.

Hanke war zugesprungen, fing sie auf und drückte sie sanft an sich – nur einen Moment.

Und diese kurze körperliche Berührung gab ihm Klarheit über das, was in ihm vorging.

Aber – Hans Hanke hatte in diesem Moment noch eine zweite Erkenntnis gewonnen. Ihm war nicht entgangen, daß Frau Koßnitzki wie abwehrend die eine Hand gegen Agathe ausgestreckt und dem jungen Mädchen einen fast drohenden Blick zugeworfen hatte.

Deshalb war Agathe zurückgetaumelt – deshalb!

Sie machte sich jetzt aus seinen Armen frei, stammelte:

„Ein Schwindel. Ich – ich möchte ins Freie.“

Er reichte ihr den Arm, führte sie in den Garten.

Und Frau Koßnitzki schaute ihnen nach, bis die Tür ins Schloß fiel, riß dann Klein-Evi an sich und schluchzte:

„Du – du kannst nichts dafür. Du – du sollst –“

Evi kreischte ängstlich auf. –

Draußen schritten Agathe und Hanke über den Hof. Er zeigte ihr den Haufen Spaltholz.

Sie gingen zum Pavillion, setzten sich auf die Brüstung, – dorthin, wo vormittags Meinzer und Hanke gesessen hatten.

Agathes Gesicht war wieder zart gerötet. Ihre weißen, schlanken Hände ruhten im Schoße. Sie hatte den Kopf etwas gedreht.

Hanke sah: sie war mit ihren Gedanken in dem Häuschen – bei dem Bruder vielleicht.

Und – plötzlich ein neuer Verdacht: War es wirklich ihr Bruder?!

Das Blut schoß ihm ins Gesicht. – ‚Eifersucht?!‘ fragte er sich. ‚Bist du etwa eifersüchtig? Gönnst du sie keinem anderen?‘

Agathe stand auf.

„Ich muß gehen, Herr Rechtsanwalt. Mein Bruder soll nicht auf den Nachmittagskaffee warten. Er – er richtet sich im Keller eine Dunkelkammer ein –“

Sie stiegen die Treppe hinab.

„Viel Ähnlichkeit ist nicht zwischen Ihnen beiden,“ meinte Hanke leichthin.

Aber Agathe schien doch aus dieser Bemerkung etwas Besonderes herausgehört zu haben. Sie richtete ihre großen, schwermütigen Augen voll auf Hankes Gesicht und sagte:

„Das mag sein. Und doch sind wir Geschwister, wenn wir auch innerlich uns ziemlich fremd sind.“ –

Sie verabschiedete sich dann. Als sie ihm die Hand reichte und er diese länger als wohl üblich fest umspannt hielt, lief ein Zittern über ihre Gestalt hin und ihre Augen schienen zu flehen:

‚Schone mich! Sei gerade du nicht lieb zu mir.‘

Dann nahm er seine Arbeit auf dem Hofe wieder auf. – Er dachte aber nicht mehr an all das Dunkle, Geheimnisvolle, das jetzt seine Villa umwebte, – nein, er dachte nur an Agathe Oldenbergs süße Lippen und an den Augenblick, als er sie im Kinderzimmer umschlungen hielt.

 

 

8. Kapitel

Lexa stand der Mutter in der Küche gegenüber. Sie war soeben aus der Villa Hanke zurückgekehrt.

„Du weißt wohl, daß ich deinem – Flirt mit dem – dem Menschen da ein Ende gemacht habe,“ sagte die Geheimrätin mit beißender Ironie. „Alles hätte ich dir zugetraut – eine solche Geschmacklosigkeit nicht! Ein Drogist!“

Lexa trat an den Herd und machte sich dort zu schaffen.

„Die Sache ist ja erledigt, Mama,“ meinte sie nur. „Vollständig erledigt –“

Die Geheimrätin sah nicht das feine Lächeln um Lexas Lippen.

„Gut – ich kenne dich ja, Kind,“ sagte sie versöhnlich gestimmt. „Wie war’s bei Hanke?“

„Ich habe ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, Mama.“

„So?! – Dann gehst du morgen wieder hin und bittest Frau Koßnitzki um das Rezept zu den Pasteten.“

Margot erschien. „Oh – ich war mit Karl im Neuen Garten!“ rief sie glücklich. „Und dann haben wir zusammen dies gekauft – dies!“

Sie zeigte den blanken Goldreif am linken Ringfinger. –

Die Schwestern verschwanden in ihrem Zimmer. Hier fiel Lexa der Älteren um den Hals.

„Du, Alte, – du – ich habe mich auch verlobt!“ jubelte sie.

„Herr Gott – mit Brennecke?“

„Natürlich, Alte, – mit wem sonst. Aber Mama darf noch nichts wissen. Sie war mir heute nachgeschlichen und –“

Margot gab ihr erst schnell ein paar Küsse.

Dann rief die Geheimrätin die Schwestern zu Tisch. –

Abends um acht fand sich Meinzer ein. Man war sehr vergnügt. Hans Hanke wurde nicht erwähnt.

Als der Doktor um dreiviertel zehn aufbrach, begleitete Margot ihn noch ein Stück. Es war ja Vollmond und in der stillen Gartenstraße gab es niemand, der junge Damen belästigt hätte.

Meinzer vertraute sich jetzt Margot an. „Ich wäre länger geblieben, aber ich habe mich noch mit Hanke verabredet. Was wir vorhaben, darf ich dir nicht sagen, Liebes. Du kannst dir wohl denken, daß es sich um die Oldenbergs handelt. Lexa sollte dich ja einweihen. Ich möchte dich nun bitten, deine Mutter so etwas zu überwachen. Vielleicht zieht sie in Stettin noch weiter Erkundigungen ein. Übrigens habe ich heute an meinen Korpsbruder Hilmer nach Stettin geschrieben, der dort Staatsanwalt ist. Die Briefe, die die alte Ursel durchschnüffelt hat, waren doch ‚Herbert Bregold‘ unterzeichnet. Ich möchte feststellen lassen, ob dieser Bregold in Stettin bekannt ist. – Gute Nacht, Liebling –“

Noch ein langer Kuß, und Margot eilte die kurze Strecke zurück. –

Hanke wartete bereits an der Gartenpforte.

„Es ist zu hell heute,“ meinte er. „Wir werden nichts unternehmen können. Und die Mama wird sich ebenfalls hüten, heute zu Oldenbergs zu schleichen.“

Sie gelangten unbemerkt ins Haus und setzten sich in Hankes Schlafzimmer an das offene Fenster.

Die Stunden vergingen. Es wurde Mitternacht. Nichts geschah. Dunkel lag das Häuschen da. Kein Lichtstrahl fiel durch die Läden.

Um halb eins wollte Meinzer sich verabschieden.

Da – von drüben her wieder so ein dumpfer, schwacher Knall.

Die Freunde beugten sich zum Fenster hinaus.

Alles still.

Dann knarrte eine Tür – auch drüben im Gärtnerhäuschen.

Eine Gestalt trat in das Mondlicht hinaus, blieb stehen, schien zu lauschen.

„Agathe!“ flüsterte Hanke.

Meinzer zog ihn vom Fenster tiefer ins Zimmer hinein.

„Merkst du!“ flüsterte er. „Agathe soll sich überzeugen, ob der Knall aufgefallen ist. Was mag Oldenberg dort nur treiben – was?!“ –

Agathe ging vor der Haustür auf und ab. Nach vielleicht fünf Minuten verschwand sie wieder. –

Um ein Uhr brachte Hanke den Freund bis auf die Straße.

„Karl – und wenn wir jede Nacht wachen müßten, – ich will die drei überraschen!“ sagte er und preßte des Doktors Hand.

„Ich auch, Hans, ich auch! Beruhige dich! Wir werden die Wahrheit erfahren. – Gute Nacht. Nimm drei Tabletten, Hans. Gute Nacht!“ –

Aber die Freunde hatten kein Glück. Noch zwei Nächte saßen sie am Fenster und warteten ganz umsonst.

In diesen Tagen hatte Hanke sich mit seinen Mietern noch mehr angefreundet, hatte auch das Häuschen von innen gesehen, hatte die dürftige Einrichtung der beiden Stuben verwundert betrachtet und Agathe im stillen bemitleidet, die in dieser ärmlichen Umgebung hausen mußte.

Hanke war häufig mit Agathe allein. Zweimal besuchten sie den Park von Sanssouci. Und Hans Hanke fühlte immer deutlicher, daß er sie liebte, – so ganz anders liebte als damals Fränzi, die er schon am dritten Tage in Stockholm im Skansen Park an sich gerissen hatte, weil die Leidenschaft ihm jede Vernunft raubte.

Ja – so ganz anders war diese Liebe. Es war die Harmonie zweier Seelen, die nach Licht und Freude dürsteten und doch in der Finsternis wandeln mußten. –

Am vierten Tage nach dem Einzug der Oldenbergs in das leere Häuschen lernte auch Meinzer die Geschwister kennen – in Hankes Garten, mittags, als die Sonne wieder so warm auf die herbstliche Erde herabbrütete. –

Als Meinzer heimkam, fand er einen Brief des Staatsanwalts Hilmer vor.

Bevor er ihn öffnete, nahm er noch das neueste Bild Klein-Evis zur Hand und betrachtete es sehr – sehr lange.

Seufzend legte er es beiseite.

Und nun der Brief.

‚– dieser Herbert Bregold hat bei Koßnitzkis sehr viel verkehrt. Er ist eine ziemlich anrüchige Persönlichkeit. Wohl so ein Hochstapler feinster Sorte. Er spricht so ziemlich alle fremden Sprachen, wohnte hier in Stettin in der Nähe der Koßnitzkis, war aber viel unterwegs. Seine Schwester führte ihm den Haushalt. Ein hübsches Mädel – Madonnentyp, wie Kriminalwachtmeister Wenzel sagte. Heißt Agathe, die Schöne. Wird wohl auch stark angefault sein. –

Die beiden Koßnitzkis verschwanden dann von hier ganz plötzlich. – Bregold hat alles mögliche versucht, ihre Spur wiederzufinden. Wenzel hat ermittelt, daß Bregold sogar zwei Berliner Privatdetektive auf ihre Fährte gehetzt hat. Sie reisten angeblich nach München. Ihre ganze Wohnungseinrichtung hatten sie am Tage vor ihrer Flucht verkauft. Man kann hier getrost von Flucht sprechen. –

Bregold galt im Hause der Koßnitzkis allgemein als Verlobter Franziskas. Die Mitbewohner haben das Paar häufig Arm in Arm gesehen. Nur kurz vor der Flucht der beiden Frauen soll es in der Wohnung zu sehr erregten Auftritten gekommen sein. Wenzel hat die damalige Köchin der Koßnitzkis gesprochen. Sie hat wahrscheinlich gelegentlich an den Türen gehorcht und meinte, das Fräulein habe Bregold mit Ehrentiteln bedacht, von denen ‚Schurke‘ noch eine Schmeichelei gewesen sei. Außerdem, erklärte sie, hat Bregold wohl die vielen Reisen im Auftrag der Frau Koßnitzki gemacht, um in anderen Städten für sie Geschäfte zu erledigen. Was für Geschäfte, wußte sie nicht. –

Bregold stammt übrigens aus achtbarer Familie, hat Jura studiert und gab zuletzt als Beruf ‚Versicherungsagent‘ an. Wo er geblieben, ließ sich nicht ermitteln –“–

Das waren die Hauptpunkte des Briefes. –

Meinzer nahm jetzt nochmals Klein-Evis Bild vor, seufzte wieder, dachte lange nach und rief dann seinen Kollegen Wessel an, der damals Frau Fränzi in ihrer schweren Stunde beigestanden hatte.

„Hier Doktor Meinzer. – Tag, Kollege. Ich wollte Sie mal etwas fragen. Sie haben doch seiner Zeit die kleine Evi Hanke glücklich an das Licht dieser schlechten Welt befördern helfen. Es war eine Frühgeburt, so weit ich mich erinnere –“

„Stimmt. Siebeneinhalbmonatskind –“

„Die Kleine war sehr schwächlich, nicht wahr?“

„Keine Rede! Wog sechs Pfund. Für ein Siebenmonatskind ein Kuriosum, Kollege. Habe so was noch nicht erlebt. – Weshalb fragen Sie das alles?“

„Das erkläre ich Ihnen als Berufsgeheimnis mündlich. – Schluß – Wiedersehen!“

Er legte den Hörer auf die Stützen.

Dann bat ihn seine Haushälterin zu Tisch.

Aber er aß wenig. Er dachte nur immer an das, was er heute bei Hilmar Oldenberg bemerkt hatte und an Klein-Evi.

Oldenberg war Bregold. Das stand fest. Und weiter stand jetzt für Meinzer fest, daß Klein-Evi gar nicht Hans Hankes Kind war.

Daher auch die schlecht verhehle geheime Abneigung, die Hans gegen das Kind empfand.

Aber – weshalb vergiftete sich Fränzi?! Und – weshalb waren die beiden Bergolds jetzt hier als falsche Oberschlesier-Flüchtlinge aufgetaucht?! –

Meinzer trank eine ganze Flasche aus. Ihm war hundeelend zu Mute.

Wie – wie nur sollte er Hans diese niederschmetternde Wahrheit beibringen, daß Fränzi ihn schamlos betrogen und belogen, daß sie mit dem Kinde eines Anderen unter dem Herzen ihn rasch geheiratet hatte?! –

 

 

9. Kapitel

Die Haushälterin klopfte an und meldete den Rechtsanwalt Hanke.

Meinzer sprang auf und eilte in den Flur. Er ahnte, daß irgend etwas sich ereignet hatte.

Hanke hing gerade den Ulster an den Garderobenständer.

„Tag, Karl.“ Das klang ganz heiser.

Meinzer wurde himmelangst.

Dann saßen sie in der Bibliothek auf dem weichen Klubsofa.

„Das Fläschchen ist weg,“ stieß Hanke hervor. „Das Fläschchen mit dem Chloral. Ich hatte es in meinen Schreibtisch eingeschlossen. Nur sie kann es genommen haben, diese Frau, die ich am liebsten noch heute hinauswerfen möchte.“

„War denn der Schreibtisch unverschlossen?“ fragte Meinzer mehr zum Schein, denn auch er war überzeugt, daß Frau Koßnitzki es gesucht und gefunden hatte.

„Ja. Es lag in der rechten Schublade. Agathe war morgens bei mir, und ich nahm dort Heftpflaster heraus. Sie hatte sich den Finger geritzt. Ich vergaß dann den Schlüssel abzuziehen.“

„Hm – du sagtest mir doch, du hättest auf das Fläschchen einen Papierstreifen geklebt und ‚Gift!‘ als Warnung geschrieben. – Sah Agathe das Fläschchen?“

„Wahrscheinlich. Ich mußte die Schublade halb auskramen, und sie stand neben mir.“

„War Agathe vielleicht nachher allein im Zimmer?“

Hanke packte Meinzers Arm.

„Wie, denkst du etwa, daß Agathe –? Unsinn!“

„Gestatte. – Ich frage nochmals: War sie allein im Zimmer?“

„Hm – einen Augenblick. Ich holte eine Schere, um ein Stückchen Verbandgaze abzuschneiden.“

„Nun, dann könnte wohl ebenso gut Agathe jetzt das Fläschchen haben,“ meinte der Doktor ernst.

Hanke sprang auf, begann hin und her zu gehen, blieb dann vor Meinzer stehen und rief:

„Du – die – die Nachtwachen hören auf! Ich will nichts mehr von alledem wissen – nichts! Ich liebe Agathe. Und sie liebt mich ebenfalls. Wenn wir uns auch noch nicht ausgesprochen haben – ich bin meiner Sache sicher! Und – ich will glücklich sein, will vergessen!“

Meinzer atmete schwer. – Welche Verantwortung für ihn! Durfte er dulden, daß der Freund sich an dieses Mädchen kettete, deren Bruder –

Nein – nein, das durfte er nicht! Ein Zufall konnte Hanke die Wahrheit enthüllen, und dann würde dieser ihm mit Recht die schwersten Vorwürfe machen.

Nein – diese Liebe mußte erstickt werden – durch die Wahrheit.

„Setz’ dich,“ sagte Meinzer leise. „Setz’ dich, Hans. Ich habe mit dir zu reden – über Agathe und ihren Bruder. – So, Hans, nun versprich mir, ganz ruhig zu bleiben. Das, was ich dir eröffnen muß, ist sehr, sehr traurig. Es wird dich aus allen Himmeln stürzen –“

Der Rechtsanwalt erbleichte und lehnte sich wie in einem Schwächeanfall ganz tief in die Sofaecke zurück. Dann richtete er sich mit einem Ruck wieder auf. Eine starke Blutwelle schoß ihm ins Gesicht.

„Ich will nichts hören – nichts!“ schrie er und rüttelte Meinzers Schulter. „Nichts – gar nichts! Mag mit Fränzi –“

Die Erregung war so groß, daß er jetzt in ein Schluchzen ausbrach und wieder in sich zusammensank.

Meinzer war völlig ratlos. – Nochmals überlegte er alles. Durfte er unter diesen Umständen schweigen?! – Und wieder kam er zu demselben Entschluß: er mußte den Freund vor dieser Torheit bewahren, die gar nicht auszudenkende Folgen nach sich ziehen konnte! –

Hankes krampfhaftes Schluchzen ließ nach.

Meinzer wollte schnell ein Ende machen. Weshalb den Freund durch lange Worte, durch Andeutungen vorbereiten und quälen?!

„Hans,“ sagte er laut und bestimmt, „diese Oldenbergs sind Hochstapler oder dergleichen. Oldenberg heißt in Wirklichkeit Bregold und war noch kurz vor deiner Hochzeit der Geliebte Fränzis. Evi aber,“ nun zögerte er doch, „Evi – ist gar nicht dein Kind.“

Die Wirkung dieser Sätze war ganz anders, als Meinzer gefürchtet hatte.

Hankes Gesicht schien jäh zu verfallen. Die gelbgraue Farbe wurde zu einem farblosen Weiß. Die Augenlider öffneten sich unnatürlich weit.

„Ich – ich habe es – geahnt,“ murmelte er geistesabwesend. „Fränzi war – war so seltsam zu dem Kinde. Und in mir – in mir war so – so wenig Vaterfreude. Nur daß dieser – dieser Oldenberg Fränzis Geliebter war, daran – habe ich bisher nicht gedacht –“

Meinzer rückte ganz nahe an ihn heran, nahm seine Hände und sagte hastig:

„Hans, die Koßnitzkis lebten viele Monate in Stettin. Heute erhielt ich von dort Auskunft über sie und die beiden Bregolds –“

Er sprach weiter, erregt und doch klar.

Hanke nickte nur zuweilen. Er hatte die Augen jetzt halb geschlossen.

Als Meinzer schwieg, verzerrte ein Lächeln sein Gesicht. Seine Stimme klang wie gebrochen, als er mühsam hervorbrachte:

„Also – alles aus – alles! Auch die Hoffnung, daß für mich ein neues Liebesglück erblühen könnte. – Karl, ich habe diese Agathe sehr lieb gewonnen. An ihrer Seite hätte für mich ein neues Leben angefangen. Es soll nicht sein –“

Eine lange Pause. – Hans Hankes Gedanken prüften das, was er nun wußte.

Dann sagte er hart und energisch:

„Es muß ein Ende gemacht werden! – Da – draußen rieselt ein feiner Regen gegen die Scheiben. Ganz plötzlich ist der trügerische Sommer endflohen. Es ist wieder Herbst geworden. Vielleicht wird Frau Koßnitzki diese erste dunkle Nacht dazu benutzen, diese Bregolds wieder zu besuchen. Wir werden wachen, Karl! Ich muß wissen, was der Kern all dieser Geheimnisse ist –“

„Recht so!“ meinte der Doktor. „Schon deshalb müssen wir volle Klarheit gewinnen, weil ich das Gefühl habe, daß Fränzi nicht so schuldig ist, wie es scheint. – Außerdem, Hans: was bedeuten die dumpfen Knalle, die wir zweimal hörten?! Weshalb wacht Agathe draußen vor dem Häuschen?! Weshalb ist sie so bedrückt, weshalb lehnte sie damals weinend an der alten Eiche? –

Hans, es gibt da noch so sehr viel dunkle Punkte. Kann man wissen, ob sich nicht auch für Agathe Entschuldigungsgründe ergeben?! – Ich will dir keine Hoffnungen machen, Hans. Aber ebenso, wie ich mich für verpflichtet hielt, dir die Augen über die Geschwister zu öffnen, darf ich auch nicht mit dem für deine Herzenswünsche Günstigen zurückhalten.“

Er drückte dem Freunde die Hand.

„Mut also, und – Vorsicht!“ fügte er hinzu. „Dieser Bregold ist nicht ungefährlich. Vielleicht wird die kommende Nacht etwas aufregend. Nun – mich soll sie gewappnet finden. Ich stecke für alle Fälle meinen Revolver zu mir. – Übrigens – eine Frage: Hast du bemerkt, daß Bregold in dem Hause irgend etwas mit Zement ausgebessert hat? Ich verschwieg dir dies bisher. Er kaufte in der Phönix-Drogerie zehn Pfund Zement.“

Hanke wandte den Kopf. „Wie – zehn Pfund?! – Nein, ich habe nichts von Ausbesserungen gesehen. Es hätte sich doch höchstens um den Wandputz handeln können. Merkwürdig – zehn Pfund! Was will er nur damit?!“ –

Es klopfte. Meinzers Haushälterin brachte einen Brief – von Margot Ballschwing.

„Das gnädige Fräulein will den Inhalt des Briefes in einer halben Stunde wieder abholen,“ erklärte die Frau und ging. –

Es war inzwischen in der Bibliothek ziemlich dunkel geworden.

Meinzer schaltete die Krone ein, stellte sich an den Mitteltisch und schnitt den versiegelten Umschlag auf, der einen Zettel mit Margots Schrift und einen Brief in französischer Sprache enthielt.

Margot schrieb:

‚In aller Eile, Liebster! Mama hat von der alten Ursel heute diesen Brief ausgehändigt erhalten. Ich soll ihn Mama übersetzen, da es mit ihrem Französisch nicht mehr recht geht. – Die wichtigsten Stellen führe ich wörtlich unten an. Innigst – Deine M.‘

Diese Stellen lauteten:

‚Das Ding ist und bleibt gefährlich. Es ist eben zu wertvoll. Jeder argwöhnt, daß es gestohlen sein könnte. –

Zweimal bin ich nun beinahe schon festgenommen worden. Ich denke, Sie sollten Ihre Vorwürfe besser für sich behalten und mir dankbar sein, daß ich für Sie und Franziska so viel wage. –

Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Sie beide ganz in der Hand habe. Ich warne Sie, die Beziehungen zu mir abzubrechen. – Weshalb plötzlich dieser Ton?! Sie haben mir doch so lange Vertrauen geschenkt. Ist Franziska anderen Sinnes geworden? Nun – das wären nur Launen. Ich bin die Persönlichkeit dazu, derartige Launen zu verscheuchen.‘ –

Meinzer überflog dann den Originaltext des Briefes, den Bregold – ohne Ort und Datum – an Frau Koßnitzki geschrieben hatte. Aber es ergab sich nichts Neues aus dem Gesamtinhalt. Margot hatte wirklich die wichtigsten Stellen herausgesucht. –

Als Hanke den Brief gelesen hatte, schleuderte er ihn von sich, als beschmutze er sich dadurch.

„Rätsel – nichts als Rätsel!“ stieß er hervor. „Aber doch die Bestätigung, daß zwischen diesem Schurken und Fränzi intime Beziehungen bestanden haben!“

„Ruhe, Hans, – Ruhe! Was noch dunkel ist, wird hell werden. – Gehen wir ein Stück ins Freie – trotz des Regens! Ich werde den Brief für Margot schnell einsiegeln!“ –

Sie waren dann aber kaum bis zum Brandenburger Tor gelangt, als es in Strömen zu gießen begann. Sie betraten daher ein Cafee und setzten sich in eine ruhige Ecke.

Mit einem Male hatte Meinzer Lexa erspäht, die mit Viktor Brennecke ebenso versteckt auf der anderen Seite saß.

„Aha – die heimlich Verlobten!“ meinte er. „Hans, dort drüben, Lexa und der Apotheker Doktor Brennecke, Erfinder der Phönix-Zahnpasta, für die ich überall Reklame mache –“

Lexa hatte die Freunde jetzt gleichfalls bemerkt, nickte dem Schwager zu, stand auf und kam mit strahlendem Lächeln an ihren Tisch.

Nach kurzer Begrüßung sagte sie glücklich und übermütig zu Meinzer:

„Karl, denk’ dir, Viktor hat die Phönix-Pasta mit allen Rechten an die Germania-Fabrik in Berlin verkauft. Der Preis bleibt Geheimnis – der Steuern wegen. Aber die Hauptsache: die Germania hat nebenbei noch Viktor für fünf Jahre als Chemiker für ihr Laboratorium engagiert – mit einem Kriegsschiebergehalt! Heut um fünf hält Viktor bei Mama um mich an. Wenn sie nein sagt, heiraten wir ohne ihre Einwilligung.“

Die Freunde gratulierten herzlich. Und Meinzer versprach, die Geheimrätin ebenfalls ‚gehörig zu bearbeiten‘.

Lexa verabschiedete sich. Hans Hankes bleiches, trübes Gesicht paßte so wenig in ihre selige Stimmung hinein.

Hanke schaute ihr nach.

„Auch sie hat ihr Glück gefunden,“ meinte er bitter. „Nur ich bleibe Außenseiter –“

„Warte ab!“ tröstete Meinzer warm. „Wenn Agathe dich liebt, wird sie den Mut zur Wahrheit haben. Sollte diese Nacht keine Entscheidung bringen, dann rate ich dir, morgen eine Aussprache mit Agathe herbeizuführen. Verlange von ihr die Wahrheit! Ich glaube, sie wird die Angst vor dem Bruder überwinden und alles gestehen.“

Hanke erwiderte nichts. Erst nach einer Weile sagte er wie verzweifelt:

„Mir graut jetzt vor der Heimkehr in mein Haus, vor dem – Kinde, vor dieser Frau, die ich Mama nannte und die stets so mütterlich besorgt um mich war. Ja – das war sie. – Ich bin gerecht. Aber ich habe kein Heim mehr –“

Meinzer legte seine Hand auf die des Freundes.

„Du wirst aufatmen, wenn du endlich Gewißheit hast, Hans. Quäle dich jetzt nicht mit solchen Gedanken. Wir haben eine lange Nacht vor uns. Halte dich frisch. Du wirst an deine Nerven vielleicht sehr harte Anforderungen stellen müssen.“

 

 

10. Kapitel

Regen und Sturm umtobten das Haus.

In ihrem Zimmer saß Frau Koßnitzki, tief in die Sofaecke geschmiegt. Auf dem Tische vor ihr brannte eine Stehlampe mit gelbem Seidenschirm.

Das verhärmte Gesicht der Frau leuchtete förmlich vor Blutleere. Ihre Augen waren starr auf die eiserne Kasette gerichtet, die auf dem Tische stand. Sie war gefüllt mit Briefen und Papieren.

„Es fehlt ein Brief,“ murmelte Frau Koßnitzki wieder. „Man hat ihn mir entwendet. Aber – wer tat es – wer?! Hans etwa? – War er heute beim Abendbrot nicht so seltsam gesprächig?! Heuchelte er nicht eine Harmlosigkeit, die mich mehr erschreckte, als wenn er stumm dagesessen hätte?! Er ist uns auf der Spur. Ich fühle es – das Verhängnis rückt näher. Mein Gott – was nur tun – was nur tun?!“

Ihre Hände preßten sich gegen die Schläfen.

Ein Windstoß trieb den Regen wie Hagelschlossen knatternd gegen die Fenster.

Die Frau zitterte.

„Dieses Unwetter. Aber – es kommt mir gelegen. Ich muß hinüber, muß ihn anflehen, daß er flieht – noch in dieser Nacht. Ja – Hans ist uns auf der Spur. Das arme, arme Kind! Ich selbst?! Was habe ich noch vom Leben zu erwarten?! Aber Evi – Evi!“

Ein wimmerndes Schluchzen mischte sich in das Toben des Sturmes. –

Frau Koßnitzki schloß die Kasette ab, stellte sie wieder in den Reisekoffer, an dessen Boden ein Geheimverschluß sie festhielt.

In dem Koffer lag ein großes, dunkelblaues Umschlagetuch.

Sie hüllte sich darin ein, sah nach der Wanduhr.

Elf. – Hans war längst schlafen gegangen. Er hatte ja gleich nach Tisch drei Tabletten genommen. Sie war sicher vor ihm. –

Leise verließ sie das Haus. Die Brettertür des morschen Holzzaunes war ja nie mehr verschlossen. – Sie brauchte keinen Schlüssel. Hans wollte ungehindert zu Agathe gelangen können.

Während sie durch den Garten schritt und der Sturm ihr den Regen ins Gesicht jagte, dachte sie an Hans und Agathe.

Fränzi, ihr Kind, war vergessen. Hans hatte Ersatz gefunden!

Wie weh das tat – wie weh! Und Fränzi hatte ihn doch geliebt – geliebt mit der steten Angst im Herzen vor dem Anderen, der sie suchte. Fränzi war gestorben, um zu sühnen.

Wie weh das tat! –

Die Brettertür knarrte.

Durch den Fensterladen des Häuschens schimmerte Licht. Frau Koßnitzki pochte – vier Mal, eilte dann zur Vordertür.

Es dauerte lange, bis Agathe endlich öffnete.

Sie schloß hinter Frau Koßnitzki ab, folgte ihr in die armselige Stube.

„Wo ist Herbert?“ fragte die Frau und setzte sich.

„Im Keller.“ – Agathe stand vor ihr, betrachtete die klägliche Gestalt fast feindselig.

„Er sucht?“

„Ja – er sucht! Er behauptet noch immer, daß Fränzi ihm, als er sie kurz vor der Geburt des Kindes flüchtig an der Gartenpforte sprach, angedeutet hätte, das Kollier liege so tief in der Erde, daß niemand es finden würde. Und deshalb hat er unten im Keller den alten, vermauerten Brunnen gewaltsam geöffnet. Es war eine Ritze in der Ziegel- und Balkenschicht, und er meint, Fränzi könnte das Kollier dort hindurchgeworfen haben. Er hat sich eine Strickleiter hergestellt. Der Brunnen ist so tief, und er enthält nur noch zähen Schlamm. – Was wollen Sie hier?“

„Ich habe Angst, Agathe, namenlose Angst. Einer der Briefe Herberts ist mir gestohlen worden. Hans ist – ist – uns auf der Spur –“

Agathe taumelte zurück. Dann sank sie vor der Frau in die Knie.

„Oh – wir beide – wir wollen tapfer sein! Frau Therese – wir wollen hinüber zu ihm, ihm alles sagen. Er wird großmütig sein –“

Ihr wimmerndes Flehen trieb der Frau die Tränen in die Augen.

„Agathe – ich würde es tun! Aber – das Kind, das Kind –! Dann ist Evi ohne Vater und Mutter, ein Kind der Schande! Nein – nein, Agathe, – ihr müßt fliehen, müßt verschwinden – sofort!“

Agathe richtete sich auf. Ihr Gesicht war wie versteinert.

„Gut – hier, nehmen Sie die Laterne, gehen Sie in den Keller, sprechen Sie mit Herbert –“

Frau Koßnitzki nickte langsam. „Es muß sein, Agathe. Des Kindes wegen!“ – Sie verließ die Stube.

Agathe stand noch an derselben Stelle, schaute in das Lampenlicht, flüsterte:

„Sie hat recht! Es muß sein!“

Ein jammervolles Lächeln verzerrte ihr Antlitz, als sie nun aus dem Blusenausschnitt ein flaches Fläschchen hervorholte. Weiße Kügelchen waren darin.

Sie schraubte den silbernen Deckel ab, setzte es an den Mund, griff nach der Teetasse, spülte die Kügelchen hinunter.

Da – die Tasse fiel ihr aus der Hand.

Vom Fenster her ein Ruf – seine Stimme:

„Agathe – öffnen Sie – öffnen Sie!“

Sie überlegte. Und lächelte wieder. Aber dieses Lächeln war wie überirdisch. Er sollte die Wahrheit hören. Vielleicht blieb ihr noch so viel Zeit – zum Beichten – vielleicht.

Sie ging in den kalten Flur, öffnete.

Meinzer packte sie sofort bei der Hand. Hans Hanke stammelte: „Agathe, was haben Sie getan!“

Der Doktor zog sie in die Stube. Auf dem Tische lag das leere Fläschchen.

Meinzer hatte in der Linken eine Taschenlampe, stürmte in die Küche.

Agathe und Hanke waren allein.

„Wir haben durch die Spalte im Fensterladen alles gesehen,“ keuchte er. „Agathe – du darfst nicht sterben –“

Er hatte sie umschlungen.

„Sag’ mir eins, Agathe: Bist du schuldlos?“

Sein Gesicht war wieder wie ein Totenkopf. Angst flackerte aus seinen Augen.

„Schuldlos – ja! So weit wir Menschen schuldlos sind, wenn ein Dämon uns seinen Willen aufzwingt,“ flüsterte sie lallend. „Und Herbert ist ein Dämon. Das hat auch – Fränzi gespürt –“

Meinzer kehrte zurück mit einem Topf Kochsalz und einem Löffel.

„Sie müssen schlucken, Agathe!“

Er hielt ihr den vollen Löffel Salz hin.

„Ich will nicht!“

Da riß Hanke sie an sich. „Agathe – du sollst leben – für mich! Agathe – für mich!“

„Und für – Evi!“ lallte sie schwach.

Dann würgte sie das Salz hinunter – drei volle Löffel.

Immer schwerer hing sie in Hankes Arm.

„Auf das Bett!“ befahl Meinzer. – Und sie trugen sie in die Ecke auf das Lager Herbert Bregolds.

Mit einem Male wirkte das Salz.

Meinzer hielt ihr den Kopf. – „Gewonnen!“ flüsterte er. „Hole Wasser, Hans. Der Magen muß ganz leer werden.“ –

Fünf Minuten später schlief Agathe. – Die beiden Freunde wischten sich den Schweiß von der Stirn.

„Wir haben gesiegt,“ murmelte der Doktor.

Die Tür nach dem Flur flog auf. Frau Theresa stürzte herein, sah nichts, war völlig von Sinnen.

„Tot – tot!“ kreischte sie. „Agathe – er ist – im Schlamm versunken!“

Dann erst gewahrte sie die beiden Männer.

Klirrend fiel die Laterne zu Boden.

„Mama,“ sagte Hanke schnell und hatte die Taumelnde aufgefangen. „Mama, ich will dir verzeihen, wenn du die Wahrheit eingestehst –“

Meinzer hatte schon einen Stuhl hingeschoben. Frau Koßnitzkis Blick suchte Agathe. Dann sah sie die Gestalt auf dem Bett.

Und Hanke beugte sich über sie.

„Mama – auch Agathe hat sich vergiften wollen – mit demselben Chloral. Ich weiß so ziemlich alles. Den Rest wirst du mir jetzt erklären –“

Frau Theresa nickte wie im Traum.

„Er – er ist jetzt ja tot,“ sagte sie ganz geistesabwesend. „Er muß abgerutscht sein von der Strickleiter. Nur noch seine Mütze ragt aus dem Schlamm hervor –“

Meinzer hielt ihr ein Glas Wasser an den Mund.

„Trinken Sie,“ bat er mild.

Sie trank. – Hanke setzte sich neben sie, nahm ihre eisig kalten Hände in die seinen.

„Du warst mir stets wie eine Mutter,“ sprach er mit warmer Herzlichkeit. „Fränzi hat sich vergiftet. Weshalb?“

Sie begann zu weinen. Sie umklammerte ihn. Und so wurde sie langsam ruhiger.

Dann beichtete sie.

Wie sie Bregold in Stettin kennen gelernt hätten. Er sollte für sie unter der Hand Brillanten verkaufen.

„Ich hatte schon im letzten Kriegsjahr einen Teil meines Vermögens auf Anraten eines Freundes meines verstorbenen Mannes in Schmuck angelegt. Dann kam die Zeit, wo für Brillanten ungeheure Preise gezahlt wurden. Bregold reiste für mich hierhin und dorthin. Er verkaufte bald hier, bald dort ein Stück. Er war scheinbar so ehrlich, schmeichelte sich in unser Vertrauen ein. –

Wir hatten noch ein Brillantkollier, das gut anderthalb Millionen wert barg. Doch das war schwer anzubringen. –

Bregold liebte Fränzi auf seine Weise. Und – er hatte eine unheimliche Macht über die Menschen. Fränzi glaubte ihn zu lieben, bis – bis der Elende sich eines Tages an ihr verging. –

In aller Stille flohen wir – nach Dänemark, dann nach Schweden. Er hatte gedroht, mich bei der Steuerbehörde anzuzeigen – wegen unterschlagener Umsatzsteuer. Fränzi sollte ihn heiraten. Doch nun verachtete ja haßte sie ihn sogar. –

Dann lernte sie dich kennen. Und dich hat sie geliebt, Hans, über alles geliebt. Aber das Schicksal war gegen sie. Sie fühlte sich Mutter, wurde trotzdem dein Weib. Nie – nie ist sie über diesen Betrug hinwegkommen! –

Bregold hatte uns schließlich hier gefunden. Er lauerte Fränzi auf. An der Gartenpforte sprach er sie an. Er verlangte das Kollier als Schweigegeld. Sie muß damals schon den Entschluß gefaßt haben, nach der Geburt des Kindes zu sterben. Sie sagte Bregold, sie könne ihm das Kollier erst geben, wenn sie wieder völlig hergestellt sei, sie habe es so tief in der Erde versteckt, daß niemand es finden könne. –

Bregold gab sich zufrieden. Selbst ich weiß nicht, wo der Brillantschmuck sich befindet. Fränzi war ja vor der Geburt des Kindes oft wie von Sinnen. –

Dann hat Bregold von mir das Kollier verlangt. Ich sagte, daß meine Tochter es an einem sicheren Ort versteckt hätte. So kam er auf den Gedanken er es hier suchen. –

Das ist die Wahrheit, Hans. Meine Schuld ist meine Sucht nach Reichtum. Fränzi sollte alles haben, sich nichts zu versagen brauchen. So bekam uns Bregold in seine Gewalt –“–

Nun waren die Rätsel gelöst.

Hanke war lieb und gut zu der völlig gebrochenen Frau, führte sie hinüber in die Villa, sorgte, daß sie sich niederlegte, küßte sie auf die Stirn.

„Wir bleiben zusammen, Mama. Und Evi soll weiter als mein Kind gelten. Die Welt wird nie erfahren, weshalb Herbert Bregold dort im leeren Hause den Tod fand. Gute Nacht, Mama.“

*

Es ist wieder Frühling mit Sonnenglanz und Knospenpracht.

Im Garten der Villa Hanke trippelte Klein-Evi über die Kieswege, und Frau Agathe und Frau Theresa schreiten langsam hinterdrein.

Klein-Evi steht jetzt an der Brettertür des grünbemoosten Zaunes und blickt durch eine Ritze hinüber nach dem leeren Hause.

„Mutti – Mutti,“ ruft sie. „Mutti – weshalb ist die Tür immer verschlossen? Evi will dort Blumen pflücken –“

„Nein, Evi. Die Blumen dort sind giftig,“ sagt Frau Agathe ernst. „Der Papi hat verboten, den Garten zu betreten. Komm’, Kind, hier bei uns ist es ja viel, viel schöner. Hier wohnt das Glück, Evi. Und drüben im leeren Hause wohnen nur trübe Erinnerungen –“–

Das leere Haus ist dem Verfall preisgegeben. Das Brillantkollier ruht vielleicht wirklich im tiefen Schlamm des Brunnens – vielleicht! Hans Hanke hat nie danach gesucht.

 

 

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Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.