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Frau Agnas Herzensnot

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 414

Frau Agnas Herzensnot

Originalroman von

Wally Lebka.

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. - Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. - Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 

 

1. Kapitel

Die fünf Sterne

Vor dem Eingang der ‚Atlantik-Diele’, der durch eine große Bogenlampe von weißen Lichtfluten übergossen war, hielt am Rande des Bürgersteiges gegen elf Uhr abends ein elegantes geschlossenes Privatauto.

Ein Herr in Gehpelz und Zylinder stieg aus und schritt dem Eingang zu.

Das grelle Licht enthüllte ein mageres, von einem leicht ergrauten Spitzbart umrahmtes Antlitz, dessen Augen einen seltsam schillernden Glanz hatten. Der Herr gab Pelz und Zylinder in der Garderobe ab, wo die beiden in Livreei steckenden Diener ihn sehr unterwürfig mit „Guten Abend, Herr Baron“ begrüßten.

Baron von Arnville betrat die Diele, die aus einem einzigen großen Saale bestand, und ging ohne rechts oder links zu schauen bis zur Rückwand des Saales, wo zu kleinen Logen mehrere Marmorstufen emporführten.

Vor der zweiten Loge links machte der Baron halt, faßte in die Tasche, schaute sich nochmals um und klopfte dann fünfmal an die schmale, weißlackierte Tür.

Eine leicht gepuderte, etwas aufwändig angezogene, überschlanke Dame öffnete von innen und trat auf den schmalen Gang heraus, drückte die Tür hinter sich zu und musterte den Baron prüfend.

„Fünf Sterne!“ flüsterte Arnville. „Bitte!“

Er reichte ihr ein kleines Gläschen, das sich bequem in der Hand verbergen ließ.

Die Schlanke nickte, flüsterte zurück: „Fünf Sterne!“ Und schob das Gläschchen in ihrer Handtasche, deren feines Geflecht mattgold schimmerte.

Darauf machte der Baron kehrt, und auch die Schlanke ging in die Loge zurück, wo sie mit einem dicken, ziemlich gewöhnlich aussehenden Herrn im Smoking gerade beim Souper gesessen hatte, als Arnville sie herausrief.

Der Dicke schaute sie mißtrauisch an, als sie nun wieder Platz nahm.

„Wer war denn der Lange, – da geht er,“ meinte er und deutete in den Saal hinab. „Du weißt, Hilde, daß ich jern Alleinherrscher aller Reußen – bei dir! – bin! Kriege ich heraus, daß du nebenbei noch eenen Liebhaber hast, dann – dann is es alle mit uns!“

Die Schlanke hatte gleichfalls dem Baron nachgeschaut. Dann seufzte sie verstohlen, blickte den Dicken offen an und erwiderte:

„Ich kenne ihn nicht mal bei Namen. Das ist die Wahrheit, Otto! Es handelt sich hier lediglich um – um eine Gefälligkeit.“

„Na – in deinem Interesse will ich’s glaubn, Hilde! Aber ’n bißchen komisch is es immerhin, daß du mich jrade heute hier in diese Neppbude und ausjerechnet in diese Loge jeschleppt hast –“

Der Rentier Otto Wenzler griff nach einer Hummerschere, die er kunstgerecht öffnete.

Es klopfte abermals – wieder fünf kurze harte Schläge.

Hilde erhob sich schnell.

„Entschuldige bitte,“ sagte sie verwirrt und trat rasch in den Gang hinaus.

Vor ihr stand eine Dame im modernen, weiten Mantel, das Gesicht dicht verschleiert.

„Fünf Sterne!“ flüsterte die Fremde hastig. „Es ist eine Verwechslung vorgekommen. Schnell, geben Sie mir die Flasche zurück. Da – dies ist das richtige –“

Die Gläschen wurden ausgetauscht, und die Verschleierte drehte sich um und entschwand.

Otto Wenzler hatte sich nun doch mißtrauisch geworden an die Logenbrüstung gestellt. Er sah die Dame, die nun gelassen dem Ausgang zuschritt.

Hilde trat ein.

„Na – wieder ’ne Jefälligkeit?!“ empfinge er sie ironisch.

„Allerdings!“ Das klang kurz und scharf.

„Werd man nich jleich krötig, Hildemaus,“ lachte Wenzler versöhnlich. „Mächen, wenn du nich so verteufelt hübsch wärs, dann – dann – Schwamm drüber!“ –

Hilde nahm sich zusammen. Sie durfte Wenzler nicht merken lassen, daß ihre Gedanken anderswo waren.

Unten im Saale wurde getanzt.

Nach dem Souper erlaubte Wenzler großmütig, daß Hilde für eine Weile in den Saal hinabging. Sie wurde auch sofort von dem blonden Herrn aufgefordert, der schon vorhin mehrmals in die Loge hineingeschaut hatte.

Der Herr tanzte ruhig und gewandt, plauderte dabei in einem fort mit Hilde. Das, was er sprach, war so ganz anders als der in solchen Lokalen übliche sogenannte zwanglose Ton.

„Ich möchte Sie gern wiedersehen,“ sagte er jetzt ganz leise. „Mir scheint diese Umgebung ist noch nichts für Sie –“ – Er hob das ‚noch’ unmerklich hervor.

Hilde errötete flüchtig. „Vielleicht haben Sie recht – Noch nicht!“ hauchte sie versonnen.

„Ich muß Sie wiedersehen,“ flüsterte der Herr abermals. „Gewähren Sie mir ein Zusammentreffen – bitte, bitte!“

„Nein – es geht nicht. – Ich danke –“ Sie löste sich aus seinen Armen und schritt schnell die Lodentreppe empor.

Vor der Tür ihrer Loge blieb sie tief atmend stehen, fuhr mit der Hand leicht über die Stirn hin, erschauerte und trat ein. –

Hildes Tänzer setzte sich an seinen Tisch, an dem nur ein einzelner Herr von recht jugendlichem Äußern, die Beine weit von sich gestreckt, mit einem blasierten Lächeln dasaß und den andern jetzt mit den Worten begrüßte:

„Bantzki – na, wie stehn die Aktien?“

Rechtsanwalt Bantzki warf sich in den Korbsessel.

„Man wird nicht klug aus ihr!“

„Hm – wenn Viktor Bantzki das sagt, muß es wohl so sein! So ’n berühmter Anwalt!“

Bantzki trank einen Schluck Rotwein und steckte sich eine Zigarette an, meinte gleichmütig:

„Deinen Speilzahn kannst du dir getrost ziehen lassen, lieber Holger! Ich habe es ja zum Glück nicht nötig, berühmt zu werden. – Dieses Mädchen interessiert mich,“ fügte er ernster hinzu. „Sie hat ein geradezu klassisch schönes Gesicht –“

„– und ist unklassisch mager, lieber Viktor. – Übrigens bin ich in der glücklichen Lage, dir wenigstens über ihren – Freund, den rotschnauzigen Kerl, Auskunft geben zu können. Dieser edle Don ist der achtfache Hausbesitzer Otto Wenzler, Berlin-Schmargendorf, Lübecker Straße 21, wohnhaft.“

Viktor Bantzki nickte. „Immerhin etwas, – ich meine die Adresse des Rotschäuzigen! Vielleicht läßt sich damit etwas anfangen.“

Holger Daalholm blickte den Freund scharf an. „Du – mach mir keine Geschichten! Wenn du dich für ein Weib interessierst, ist die Sache gefährlich – für dich!“

Bantzkis Blicke ruhten schon ein paar Sekunden nachdenklich auf dem Gesicht des Barons Arnville, der vier Tische weiter an derselben Saalseite saß. Er war allein und präparierte soeben eine Auster.

Daalholm folgte Bantzkis Blick.

„Schon wieder ein Interesse?!“ spöttelte er.

Der Rechtsanwalt wandte sich ihm zu. „Ja – den da drüben mit dem grauen Spitzbart und dem halbkahlen Schädel muß ich bereits früher wo gesehen haben –“

„Gestatte, daß ich dir aushelfe. Der ist hier gleich mir Stammgast. Es ist ein Baron Arnville. Persönlich kenne ich ihn nicht.“

„Arnville – hm – ganz unbekannt.“

Nach einer Weile sah Holger Daalholm nach der Uhr. „Halb zwölf. Kommst du mit in den Klub?“

„Meinetwegen. Aber – jeuen tue ich nicht, du alter Hazardritter!“

„Lobe den Herrn, daß du’s nicht nötig hast! Wie soll ich wohl mit meinen tausendachthundert Mark Gehalt auskommen, wenn es nicht das schöne Baccarat gäbe!“

 

 

2. Kapitel

Hochzeitstag

Agna Tompsen hatte in dieser Nacht sehr wenig geschlafen. Schon um sieben Uhr war sie aufgestanden und hatte dann alle die Kleinigkeiten, die sie heute mit in das neue Heim hinübernehmen wollte, in einen alten Koffer gepackt.

Die selige Erwartung, dieses heiße Glücksgefühl in ihrem Herzen rötete ihre zarten Wangen und trieb ihr das Blut schneller durch die Adern.

Dort unter dem weißen Leinentuch an der Wand hing ihr Brautkleid, dort das neue Winterkostüm, das sie für das Standesamt tragen sollte. Heute würde sie Bodos Frau werden; heute war sie am Ziel ihrer Wünsche – endlich – endlich!

Drüben in der Küche wirtschaftete die alte Kathrine bereits mit den Kochtöpfen herum. Es war Zeit, sich umzukleiden. Der Onkel liebte es nicht, wenn er auf sie am Frühstückstisch warten mußte.

Agna war bald fertig mit ihrer Toilette, schaute nochmals in den Spiegel und nickte ihrem eigenen Ich strahlend zu. Dann ging sie ins Eßzimmer hinüber.

Onkel Heinz stand am Fenster, drehte sich schnell um und streckte ihr beide Hände entgegen.

„Morgen, kleine Braut. Na – wie fühlt man sich? Gut geschlafen?“

Er küßte sie auf die Stirn, seufzte dann kläglich.

„Agna, Agna, wie werde ich’s hier nur ohne dich aushalten!“ meinte er. „Setzen wir uns. Kathrine hat den Kaffee bereits fertig. – Ja, Kind, – nun heißt es also wirklich scheiden! Zwei Jahre lebten wir hier so einträglich zusammen. Dann mußte dieser Bodo – na – ich will nicht klagen! Aber –“

Er räusperte sich, nahm die goldene Brille ab und putzte sehr umständlich die Gläser.

Um zehn erschienen Bodo Helling und sein Vater, der alte Rechnungsrat Helling.

Bodo Helling war ein schlanker, hübscher Mann von jetzt neunundzwanzig Jahren. Seinem Gesicht fehlte nur eins, um es neben diesen gleichmäßigen, fast edlen Zügen auch wahrhaft männlich erscheinen zu lassen: Energie! – In diesem frauenhaft zart geröteten Antlitz lag für jeden schärferen Beobachter etwas Weichliches, Verträumtes. Und der von Natur gewellte dunkle Scheitel und ein Lippenpaar von feiner Zeichnung und schmachtendem Rot erhöhten nur noch diesen Eindruck. –

Gegen halb zehn Uhr begab sich das junge Paar nach dem Standesamt. Rechnungsrat Helling und Heinrich Volkmer, Agnes Onkel, sollten als Zeugen dienen.

Inzwischen hatte sich in der Wohnung auch die Rechnungsrätin eingefunden und der alte Kathrine beim Decken des festlichen Frühstückstisches geholfen.

Als die Neuvermählten zurückkehrten, setzte man sich an die Tafel.

Die Zeit flog hin. Kathrine war es dann, die die Gäste zum Aufbruch mahnte.

„Jotte doch!“ rief sie und zeigte auf den Regulator an der Wand. „Es is ja fast zwei Uhr jeworden! Und um halb vier is Trauung!“

Rechnungsrats und Bodo verabschiedeten sich hastig. Erstere wohnten in Berlin-Wilmersdorf in der Uhlandstraße. Bodo hatte es noch weiter – bis zum ältesten Viertel von Charlottenburg, wo er bereits vor zehn Wochen die beiden Zimmer bezogen hatte, die die Familie des Majors a. D. Parlow abgetreten hatte.

Als Bodo die Flurtür der Parlowschen Wohnung aufschloß, war es bereits etwas nach halb drei. Die beiden Zimmer lagen nach vorn heraus, gleich links von der Flurtür.

Bodo zog sich hastig um. Den Frackanzug hatte er schon vorher bereitgelegt, ebenso die weiße Krawatte. Nun war er bis auf die Krawatte fertig. Aber – wo war diese – wo nur?!

Er begann nervös zu suchen, wurde immer unruhiger. Seine frohe Stimmung verflog. Er suchte an den unmöglichsten Orten, warf im Schlafzimmer alles durcheinander. Die Verbindungstür nach dem Wohnzimmer hatte er offen gelassen.

So hörte er das Klopfen; rief ungeduldig: „Herein!“

Es war die älteste Tochter des Majors, mit der Bodo stets in freundschaftlich zwangloser Weise verkehrt hatte.

„Gott sei Dank, Fräulein Hildegard, – helfen Sie mir!“ meinte er aufatmend. „Ich bin schon ganz wild. Die Frackschleife ist verschwunden –“

Hilde Parlow lachte etwas gezwungen auf.

„Hier – setzen Sie sich ganz artig hin und trinken Sie diese Tasse Kaffee – die letzte, die ich für Sie aufgebrüht habe,“ sagte sie hastig. „Ich werde suchen. Passen Sie auf, ich werde den Ausreißer finden.“

„Ja – Sie!“ nickte er beruhigt und nahm im Wohnzimmer am Eßtisch Platz. Vor ihm stand das Teebrett. Die Tasse war bereits gefüllt. Er trank. Der Kaffee würde ihn erfrischen. Er fühlte sich doch recht abgespannt.

Hilde lachte im Schlafzimmer hell auf. „Ja, wenn Sie auch Ihren Ulster so über den Stuhl werfen!“ rief sie. „Die Krawatte war ja halb darin eingewickelt. Da ist sie!“

Sie trat an den Tisch heran. Ein schneller Blick streifte die Tasse. Sie war leer.

„Danke – danke, Fräulein Hildegard! Wenn ich jetzt nur gleich ein Auto erwische. Es ist so spät geworden!“ meinte er vom Schlafzimmer aus, wo er vor dem Spiegelschrank stand und die Schleife knüpfte.

„Oh – ich laufe schnell hinunter und schaue mich nach einem Kraftwagen um,“ erbot Hilde sich und eilte davon, schlüpfte im Flur in den Mantel und hastete die Treppe hinab.

Dort rechts, nur fünf Häuser weiter, hielt ein dunkelrot gestrichenes Mietauto.

Hilde lief die wenigen Schritte, machte neben dem graubärtigen Chauffeur halt.

„Sind Sie frei – für fünf Sterne?“ flüsterte sie.

„Fünf Sterne!“ erklang die Antwort. „Es ist gut –“

Und schon fuhr das Auto vor dem Hause Arnold Str. 11 vor.

Hilde traf auf der Treppe mit Bodo zusammen.

„Das Auto steht unten –“

„Wie soll ich Ihnen nur danken,“ sagte er herzlich und drückte ihr die Hand.

„Nichts zu danken. Auf Wiedersehen –“ Ihre Stimme zitterte leicht.

Noch ein Händedruck, und Bodo hetzte die Stufen hinab.

„Chauffeur, – Schmargendorf, Lübecker Straße 21. Es gibt zwanzig Mark extra, aber – Höchstgeschwindigkeit!“

Bodo warf sich in die eine Ecke des geschlossenen Wagens, streckte die Beine von sich. – Ein Glück, daß Hildegard in dieser üblen Gegend einen Mietwagen erwischt hatte, dazu noch einen so eleganten! – Hm – der Kaffee hatte nicht viel genützt! Bodo fühlte sich so matt, so müde, konnte kaum noch die Augen offen halten.

Komisch – er sah alles so verschwommen! Ja – er konnte kaum die Zahlen der Taxameteruhr erkennen.

He – seltsam! Die Uhr lief ja gar nicht! Der Fahrpreisanzeiger blieb ja auf – vier – wie angewurzelt stehen.

Wieder gähnte Bodo Helling, reckelte sich bequemer in die gepolsterte Ecke.

‚Weshalb soll ich nicht bis Schmargendorf schlafen?!’ sprang ein letzter wirrer Gedanke in seinem Hirn auf. ‚Der Chauffeur wird mich schon wecken!’ –

*

Agna stand im Brautstaat im Wohnzimmer am Fenster. Onkel Heinz ging im Frack ärgerlich auf und ab. Die alte Kathrine hatte das andere Fenster geöffnet und sich weit hinausgelehnt.

„Reineweg nischt is zu sehn!“ meldete sie und schloß das Fenster. „Das is jradezu ’ne Ricksichtslosigkeit von den Herrn jungen Ehe–mann!“

Agna wurde plötzlich so bang zu Mute. Sie blickte Kathrine in das runzlige, magerer Vogelgesicht, aus dem ein paar kleine Mäuseaugen schlau und doch so unendlich gutmütig die jetzige Frau Agna Helling anblinzelten.

„Kathrine, es – es wird ihm doch nichts zugestoßen sein,“ sagte Agna ängstlich. „Bodo ist doch stets so pünktlich gewesen.“

„Ja – stets mit einer Viertelstunde Verspätung!“ knurrte Heinrich Volkmer. –

Und die oft so erbarmungslose Zeit fügte Minute um Minute der Vergangenheit hinzu.

Agna saß auf dem Sofa und schluchzte. Kathrine war nach unten auf die Straße geeilt. Volkmer suchte Agna zu trösten.

„Wir warten noch fünf Minuten, Kind. Dann nehme ich ein Auto und fahren zu Parlows,“ sagte er liebevoll beruhigend.

Die fünf Minuten waren um. Volkmer rief Kathrine nach oben. Dann zog er den alten Wintermantel über, setzte den Zylinder auf, küßte Agna auf die Stirn und eilte davon.

Er hatte Glück. Gleich in der Nebenstraße bezahlte soeben eine dicke Dame einem Autochauffeur das Fahrgeld und zeterte dabei über den hohen Preis.

„Postamt Halensee!“ befahl Volkmer kurz.

Der Kraftwagen rollte davon, passierte die Halenseer Brücke und hielt in der nahenden Katharinen Straße.

„Warten!“ – Und Volkmer verschwand in dem Postamt, wo er eine der Telephonzellen betrat.

Nach drei Minuten bestieg er das Auto wieder. Er hatte dem Chauffeur ‚Gedächtniskirche’ zugerufen.

Im Vorraum der Kirche waren bereits seit einer halben Stunde sämtliche Hochzeitsgäste versammelt. Volkmer fragte, ob jemand Bodo gesehen hätte oder ob seine Eltern vielleicht wüßten, weshalb er noch immer nicht erschienen sei.

Es war jetzt dreiviertel vier. –

Man schaute sich bestürzt an. Die Rechnungsrätin begann zu weinen.

Volkmer bat einen von Bodos Kollegen, nach dessen Wohnung zu fahren; er selbst wolle lieber hier bleiben; Bodo könnte Agna inzwischen ja aus Schmargendorf abgeholt haben.

Der Magistratsassistent Schönecke benutzte das draußen wartende Auto. Nach zwanzig Minuten war er zurück.

Alles umdrängte ihn.

„Der Bräutigam ist bereits um drei oder doch kurz nach drei Uhr im Auto aus der Arnoldstraße weggefahren,“ erklärte Schönecke erregt. „Ich habe den Major und seine Tochter gesprochen. Fräulein Parlow hatte für Bodo das Auto geholt –“ –

Schönecke telephonierte so dann an alle in der Nähe befindlichen Unfallstationen und Polizeiwachen und fragte an, ob ein Autounfall gemeldet sei.

Überall erhielt er verneinende Auskunft. –

Volkmer besprach sich mit dem alten Rat. Man bat die Gäste um Entschuldigung, und Hellings und Volkmer fuhren nach Schmargendorf hinaus, während die Hochzeitsgesellschaft sich zerstreute. Schönecke hatte es übernommen, den Restaurateur zu verständigen.

 

 

3. Kapitel

Hochzeitsabend

Rechtsanwalt Dr. Juris Bantzki hatte in Halensee auf dem Kurfürstendamm durch Tausch die Sechszimmerwohnung eines Polen übernommen, der nach Bromberg verzogen war. Bantzki war im Juli 1921 nach Berlin gekommen. Zwei Wochen später traf er ganz zufällig auf der Straße seinen Verbindungsbruder, den Apotheker Holger Daalholm, der in der ‚Grunewald-Apotheke’ in Halensee seit einem Jahr ‚gesundheitstärkend’ tätig war, wie er selbst sich auszudrücken beliebte. –

Am Abend desselben Tages, der über Agna Helling so viel Herzeleid brachte, saßen Daalholm und Bantzki gegen halb acht Uhr in des Anwalts modern eingerichtetem Speisezimmer und ehrten die von Bantzkis Wirtschafterin frisch gebratene, köstlich mit Äpfeln gefüllte Gans durch einen überaus gesegneten Appetit.

„Wie gesagt, lieber Viktor,“ meinte Daalholm jetzt und griff nach seinem weingefüllten Römer, „mit der Pillendreherei is nun definitiv und allerendgültigst Schluß. Ich habe heute meinem an sich sehr netten Chef, dem Oberpillendreher alias Apothekenbesitzer Herrn Franz Tobias Maximilian Riekler höflichst erklärt, daß ich seine Giftbude am 1. November verlasse und –“

Bantzki rief ungeduldig: „Du kannst einem durch dein Gequassel rein die Gans verekeln! – Weshalb hast du also gekündigt?“

„Weil ich jetzt zu den angehenden Millionären gehöre, Viktorchen –“

„Ah – du hast gestern im Klub gewonnen?“

„Unverschämt sogar! Dicht bei dreihunderttausend Märker.“

„Unmöglich!“

„Doch, es ist so! – Nun werde ich ’ne Weise auf meinen Lorbeeren ausruhen.“

„Und das Geld wieder verspielen!“

„Ne, mein Sohn, so blödsinnig sein mer nich! Ich werde spekulieren. Und wenn die Million voll ist, heirate ich.“

Bantzki prustete los. „Heiraten?! Du?! Wen denn?!“

„Meine stille, große Liebe –“

Bantzki erhob seinen Römer. „Es lebe deine Verrücktheit, Holger! Du bist noch genau so verdreht wie einst!“

Daalholm schnitt gemächlich der Gans den einen Schenkel ab und meinte:

„Du irrst mein Sohn.“ Sein bartloses, etwas verlebtes Jungengesicht mit den roten Schmißnarben und dem glitzernden Monokel, das er freilich nur ‚außer Dienst’ trug, hatte einen fast glücklichen Ausdruck angenommen. „Ich habe eine stille, große Liebe. Es ist viel Romantik dabei. Nach Tisch erzähle ich dir näheres darüber.“

Bantzki horchte plötzlich auf. „Die Flurglocke hat angeschlagen,“ meinte er.

Es klopfte. Frau Kröger, Bantzkis stattliche Wirtschafterin, trat ein.

„Herr Rechtsanwalt, eine Dame möchte Sie sprechen. Ich habe sie in dem Salon genötigt.“

„Sie soll warten,“ entschied Bantzki kurz.

Frau Kröger sah ihn mit eigentümlichem Blick an und ging hinaus.

„Du – deine Xanthippe vermutet Böses!“ sagte Daalholm leise. „Die denkt, es ist was fürs Herz –“

„Das denkt sie sicher nicht! Die Kröger habe ich nun bereits vier Jahre. Die weiß, daß für holde Frauen bei mir kein Bedarf vorhanden ist. Wer sich mal so gründlich wie ich die Finger verbrannt hat, verzichtet auf –“

„Nanu – Finger verbrannt?!“ fiel Holger ihm ins Wort. „Das ist mir ganz neu!“

„Stimmt. Man stellt sich selbst nicht gern bloß.“ –

Er legte Messer und Gabel weg. „Ich will doch mal nachsehen, wer die Dame im Salon ist, Holger. Entschuldige einen Augenblick.“

Frau Kröger erschien mit einem frisch gefüllten Saucennapf.

„Sagen Sie mal, Krögerchen, was ist denn eigentlich Bantzki in Punkto Liebe zugestoßen?“ fragte Holger vertraulich. „Er machte vorhin allerlei Andeutungen. Unglückliche Liebe – wie?“

Frau Anna Kröger, die Witwe eines früheren Bürovorstehers Viktor Bantzkis, war eine jener Perlen von Wirtschafterinnen, wie sie jetzt immer seltener werden.

„Unglückliche Liebe?!“ meinte sie wegwerfend. „Nein – mein Rechtsanwalt hatte sich damals im Sommer 1919 nur sehr fein einwickeln lassen. Er war acht Wochen nach Borkum gereist, um die Nerven wieder in Ordnung zu bringen. Das Weib war eine Abenteurerin. Und ich habe sie entlarvt – ich, Herr Daalholm!“

„Ach nee! Sehr interessant!“

„Mein Rechtsanwalt hatte sozusagen den klaren Verstand verloren,“ fuhr die Kröger fort und stützte sich auf einen der hochlehnigen Lederstühle. „In Bromberg herrschten damals tolle Zustände. Es war nicht leicht, zu beweisen, daß diese schöne Witwe Emmy Bleaport, die sich als reiche Amerikanerin ausgab, eine bessere Hochstaplerin war, die sich nebenbei noch von drei polnischen Offizieren den Hof machen ließ. Sie war Herrn Bantzki nämlich nachgereist –“

Die Kröger erzählte alles haarklein, und Holger hörte andächtig zu.

Dann trat Bantzki ein und setzte sich wieder. Sein mageres Gesicht mit der etwas langen, schmalen Hakennase war sehr ernst.

„Doch eine Klientin, Holger,“ erklärte er leise. „Der Zusatz auf meinem Schild draußen ‚Spezialist für Strafsachen’ hat diese Frau Agna Helling hergelockt. Sie wohnt drüben in Schmargendorf und hatte bei Spaziergängen dieses Schild am Gitter häufiger gelesen.“

„Gratuliere! Die erste Klientin!“

„Bitte, diese Sache ist sehr ernst. Ein tragischer Fall. Die Dame hat heute geheiratet – standesamtlich, und zur kirchlichen Trauung blieb ihr Mann, der Magistratssekretär Otto Helling, aus. Die Polizei hat alles mögliche versucht, sein Verschwinden aufzuklären. Schließlich erinnerte sich die junge Frau an mein großes Emaileschild. Sie bat mich, ihr einen zuverlässigen Privatdetektiv namhaft zu machen, mit dem ich dann zusammenarbeiten solle. Ich habe mich erboten, den Fall allein zu übernehmen.“

„Viktor, Mensch! Das ist Leichtsinn!“

„Meinst du?! Ich habe ja nichts zu tun, kann mich dieser Sache vollständig widmen. Außerdem würde Frau Helling, die durchaus nicht reich ist, kaum einen so billigen Helfer finden wie mich. Ich habe nämlich von vornherein jedes Honorar abgelehnt.“

„Sehr anständig. Und was gedenkst du nun zuerst zu tun?“ fragte Daalholm.

„Ich werde den Major Parlow morgen mittag besuchen, bei dem Helling gewohnt hat. Parlows Tochter Hildegard, die ihm die Wirtschaft führt, ist die letzte, die Helling gesehen hat. Sie hat ihm auch das Auge geholt, in dem er davonfuhr. Er hatte es sehr eilig, da er sich etwas verspätet hatte.“

Holger lag ganz lang in seinem Klubsessel.

„Nimm mich mit,“ bat er.

„Meinetwegen! Aber – benimm dich anständig.“

„Selbst murmelnd! – Weißt du, ich möchte fast behaupten, hinter diesem Verschwinden Hellings steckt ein Weib – also Eifersucht!“

„So?! Du denkst an eine gewaltsame Entführung etwa? Das ist ausgeschlossen. Helling fuhr im geschlossenen Auto davon. Das steht fest. Es war ein gewöhnlicher Taxameterwagen, wie Fräulein Parlow bekundet hat. Also kann Helling nur freiwillig mit diesem Auto anderswohin gefahren sein. Dies nimmt auch die Polizei an. Frau Agna Helling erklärte mir ganz empört, ein Kriminalbeamter hätte ihr gegenüber angedeutet, ihr Mann wäre vielleicht mit einer früheren Liebe entschwunden. Diese arme junge Frau hat mir geradezu imponiert. In all ihrem Schmerz und ihrer Herzensnot zeigte sie sich so gefaßt, daß man staunen muß. Und – wie warm hat sie ihren Bodo gegen diesen schmählichen Verdacht der Polizei verteidigt! Trotzdem, man muß wohl annehmen, daß er noch im letzten Moment vor der kirchlichen Trauung, also während der Autofahrer nach Schmargendorf hinaus, entweder aus sich selbst heraus oder eben durch einen dritten, ein Weib, den Entschluß faßte –“

„Gestatte – ist das Auto schon gefunden?“

„Nein. So schnell geht das nicht. Morgen früh wird die Kriminalpolizei es aber sicher ermittelt und den Chauffeur auch schon vernommen haben. Frau Agna wollte um zehn Uhr vormittags wieder vorsprechen und mir Bescheid geben.“

„Der Bescheid hinsichtlich des Autos wird negativ ausfallen,“ sagte Holger ruhig und bestimmt. „Der Helling ist gewaltsam entführt worden, behaupte ich, und der Chauffeur steckt mit dahinter.“

Bantzki lächelte etwas überlegen.

„Wir werden ja sehen, was die Kriminalpolizei ausrichtet. Findet sie Chauffeur und Auto nicht, dann steht allerdings fest, daß Helling verschleppt wurde – gegen seinen Willen! – Lassen wir die Sache jetzt aber ruhen. – Wie schlagen wir den Abend tot?“

„Zum Bummeln habe ich eigentlich keine Lust, Holger.“

„Wie wär’s mit Zirkus Busch?“

„Gut. Machen wir.“

Die Freunde bekamen an der Zirkuskasse noch zwei gute Logenplätze. In der Pause musterte Bantzki ohne besonderes Interesse die Insassen der Nachbarlogen. Plötzlich jedoch umkrallte er Daalholms Arm mit so festem Griff, daß dieser erschrocken auffuhr.

„Sie – sie!“ flüsterte Bantzki. „Dort in der vierten Loge – die Dunkelblonde mit dem Reiherstutz! Holger, das ist das Weib, die mir eine so ekelhafte Liebeskomödie vorgespielt hat, daß ich –“

„Ah – Miß Emmy Bleaport!“

„Woher kennst du den Namen?“

„Durch die Krögern, diese Xanthippen–Perle. Sie hat mir als deinem Intimus alles erzählt.“

„So?! – Na – ich hätte dir die Geschichte doch mal anvertraut. – Ja, das ist die angebliche Bleaport. Einen Kavalier hat sie ja auch wieder neben sich.“

Holger erhob sich halb. „Es sind dort noch Plätze frei. Werde mal ’ne Weile mich hinter die beiden setzen,“ meinte er leise. „Ein Weib, das den großen Frauenkenner Bantzki eingewickelt hat, muß ich mir aus der Nähe ansehen!“

„Unsinn! Bleib’ hier!“

Aber Daalholm hatte bereits die Loge verlassen. Nach Schluß der Pause nahm er hinter der Dunkelblonden Platz. Sie beachtete ihn nicht.

Der Kavalier der Abenteurerin war ein mittelgroßer, bartloser Mensch mit schwammigem Gesicht, tadellos angezogen und mit Brillantringen überladen.

Holger fand das Weib ebenfalls recht reizvoll. Sie hatte eine sehr melodische Stimme. Die ganze Art, wie sie mit ihrem Begleiter sich unterhielt, deutete jedoch keineswegs auf zarte Beziehungen hin. Die beiden sprachen deutsch und völlig fließend.

Daalholm hatte sich weit vorgebeugt, um vielleicht einen Brocken ihrer sehr leise geführten, oft recht lebhaften Unterhaltung aufzuschnappen.

Ah – das war eben Bantzkis Name gewesen – ohne Zweifel! Der Begleiter der Bleaport hatte ihn wie wegwerfend genannt, so etwa, als ob die Worte vorher gelautet hätten: ‚Ach was – dieser Bantzki!’

Daalholm spitzte noch mehr die Ohren.

Da – der Name ‚Helling’, – ohne Frage war es ‚Helling’ gewesen!

Dann begann die Musik zu spielen. Holger stand sachte auf und tippte drüben Bantzki auf Schulter.

„Gehen wir – kommt!“

Sie setzten sich unten in das Zirkusrestaurant, und Holger erstattete Bericht. –

„Na, was sagst du hierzu?!“ meinte er zum Schluß. „Wie kommt diese Abenteurerin dazu, den Namen Helling zu erwähnen, und vorher den deinen! – Gewiß, es wird in Berlin viele Hellings geben. Aber – wenn dieses Frauenzimmer gerade heute, wo ein Helling verschwunden ist, sich mit einem Helling beschäftigt, dürfte es angebracht sein, uns ein Auto vor dem Zirkus schon jetzt zu sichern und dem Pärchen auf jeden Fall zu folgen.“

„Ganz recht. Einverstanden –“ –

Die Freunde warteten im Restaurant das Ende der Vorstellung ab. Dann stellten sie sich getrennt auf dem Vorplatz auf.

Das Paar erschien und nahm tatsächlich einen Wagen.

Das andere Auto folgte dicht hinterher. Die Jagd ging die Linden entlang und durch das Tiergartenviertel nach dem Kurfürstendamm – bis zur ‚Atlantic-Diele’.

Das Paar verschwand in dem Schlemmerlokal, nachdem die Bleaport einen dichten gestickten Schleier vorgebunden hatte.

Daalholm folgte ihnen. Bantzki fuhr heim. Die Bleaport hätte ihn ja sofort erkannt.

Als Holger in die Garderobe kam, stand dort wartend der Begleiter der Abenteurerin. Daalholm legte nicht ab. Er ahnte, daß die Bleaport die Diele nur für kurze Zeit betreten hätte.

Er ging schnell in dem Saal und sah gerade noch, wie das Weib im Hintergrunde eine der Logentreppen langsam hinaufstieg. Er beobachtete die Logen, die so niedrig lagen, daß man die Insassen bequem übersehen konnte.

Die Bleaport erschien in keiner der Separees. Nur aus der zweiten Loge entfernte sich jetzt eine Dame, von der Holger nur noch den Hinterkopf und die Schultern erspähte. Sie blieb eine Weile im Treppenaufgang, kam aber nicht in den Saal.

Dann betrat sie die Loge wieder, und gleichzeitig tauchte auch die Abenteurerin im Saal von der Treppe her wieder auf. Jetzt erkannte Holger die Dame in der Loge. Das war die Schlanke, mit der Bantzki am Abend vorher getanzt hatte. Und – sie setzte sich auch wieder zu dem dicke Herr Otto Wenzler.

Daalholm überlegte blitzschnell. Wenn er jetzt dem Paar auf den Fersen blieb, konnten die beiden vielleicht auf ihn aufmerksam werden. –

Er verzichtete also darauf, trat in die Telephonzelle der Diele und rief Bantzki an.

„Hier Holger. – Schließe mir die Haustür auf. Ich werde in zehn Minuten bei dir sein –“

„Gut. Bin gerade erst nach Hause gekommen. – Was wichtiges?“

„Sehr! Du wirst staunen.“ –

*

Holger und Viktor saßen wieder in der Bibliothek.

„Es ist klar, daß die Bleaport deine Schöne in den Logengang hinausgerufen hat,“ erklärte Daalholm. „Sie kennen sich also. Ich werde jetzt nach der ‚Atlantic-Diele’ zurückkehren und den Dicken mit dem ein Prozent Zucker und deine Schöne ‚observieren’, wie der Fachausdruck lautet. Die Sache macht mir einen Heidenspaß! – Wiedersehen, mein Sohn!“

 

 

4. Kapitel

Vier Walzertakte

Onkel Heinz und Agna waren am Nachmittag bei dem zuständigen Kriminalkommissar gewesen. Die Andeutungen des überaus höflichen und hilfsbereiten Beamten, Bodo könnte vielleicht noch von früher her Beziehungen zu einer weiblichen Person haben und daher noch im letzten Augenblick vor der kirchlichen Trauung zurückgeschreckt sein, empörten Agna derart, daß sie die Unterredung ziemlich schroff abbrach.

Volkmer und Agna kehrten nach Hause zurück. Es war jetzt halb sieben Uhr abends. Im Wohnzimmer saß noch immer das Ehepaar Helling. Der alte Rat war’s, der dann von der Notwendigkeit sprach, nachher noch einen zuverlässigen Privatdetektiv mit Nachforschungen zu betrauen.

Onkel Heinz war sichtlich abgespannt, nickte nur.

„Ein sehr guter Gedanke! Wir werden morgen Vormittag, falls Bodo sich bis dahin nicht wieder eingebunden hat, das Nötige in die Wege leiten.“

Agna, die mit tränenlosen Augen in einem Sessel ruhte, griff diesen Vorschlag mit weit mehr Eifer auf und erklärte, es sei besser, heute sich sofort mit einem solchen Herrn in Verbindung zu setzen.

Die alte Kathrine, die man halb und halb mit zur Familie rechnete, stand an der Tür und murmelte: „’n juter Rechtsanwalt is am besten. Es jibt welche, die machen alles, die kriegen sogar ’n Mörder frei –“

In demselben Augenblick erinnerte Agna sich an das große Emaileschild dort am Vorgartengitter des eleganten Hauses am Kurfürstendamm.

„Rechtsanwalt!“ rief sie leise. „Ja, ja, Kathrine! Ich weiß, wo ein Anwalt wohnt, ein Spezialist für Strafsachen, – dicht an der Joachim Friedrichstraße in Halensee. Wie heißt er doch? Ba – Bantzki – richtig – Bantzki! Dr. Bantzki!“

Rat Henning drückte Agna, die schon aufgesprungen war, wieder in den Sessel zurück.

„Nichts übereilen Kind! Du mußt zum mindesten erst etwas essen!“

Das Ehepaar Helling verabschiedete sich. Der Rat hielt Agna lange umschlungen. Er liebte sein blondes Schwiegertöchterchen, und was ihm heute am meisten an ihr gefiel, war ihre plötzlich erwachte Energie. Er hatte dieses sonnige Geschöpf mit dem strahlenden Matronengesicht bisher ganz falsch eingeschätzt. –

Volkmer und Agna waren allein. Kathrine hatte den Tisch gedeckt. Onkel Heinz rührte keinen Bissen an, brütete stumm vor sich hin. Agna zwang sich zum Essen. Sie wollte bei Kräften bleiben. Dann machte sie sich zum Ausgehen fertig. Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, begann Volkmer ruhelos im Zimmer auf und ab zu schreiten. Er hielt den Kopf gesenkt. Hin und wieder murmelte er etwas vor sich hin.

Dann ging er in die Küche. „Kathrine, ich will nochmals an die Polizei telephonieren,“ sagte er leise. „Sie können mir derweil mein Schlafzimmer in Ordnung bringen. Ich werde mich dann niederlegen.“ –

Volkmer hatte schon häufig das Telephon des unten im Hause befindlichen Zigarrenladens benutzt. Das Geschäft war bereits geschlossen. Aber der Inhaber dekorierte noch die Schaufenster und ließ Volkmar ein. Er hörte alles recht genau. Volkmer rief die Nummer Lützow 1518 an.

„Hier Heinrich Volkmer. Etwas Neues?!“

Dann eine Weile nichts.

„Verzeihung. Es ist die falsche Nummer. Ich habe mich geirrt.“ sprach Volkmer nun in den Apparat hinein.

Draußen fuhr ein Auto tutend vorüber. Die neue Nummer konnte der Zigarrenhändler nicht verstehen.

Dann Volkmers Stimme:

„Das arme Mädel ist jetzt in ihrer Sorge zu Rechtsanwalt Bantzki gegangen, Herr Kommissar. – So – Ihnen ist der Name ganz unbekannt? Mir auch! – Also nichts Neues. Danke, Schluß.“ –

Volkmer kehrte in seine Wohnung zurück. Gleich darauf fand Kathrine ihn im Wohnzimmer bewußtlos auf dem Teppich liegen, holte eine Nachbarin herbei und gemeinsam brachten sie ihn zu Bett. Der herbeigerufene Arzt beruhigte Kathrine. Volkmer war ja schon vor Ankunft des Arztes wieder zu sich gekommen. – Es handele sich lediglich um einen Schwächeanfall, meinte der Doktor, verschrieb ein Schlafmittel und ging wieder.

Agna war sehr erschrocken, als sie nach dem Besuch bei Bantzki den Onkel im Bett vorfand.

Er nickte ihr mit schwachem Lächeln zu. „Ein paar Tage Bettruhe, und ich bin wieder der Alte, Kind,“ sagte er leise und streichelte ihre Hand. „Laßt mich nur schlafen und stört mich nicht. Vor neun Uhr möchte ich nicht geweckt werden.“ –

Agna verschloß die Tür ihres Mädchenstübchens. Sie blieb stehen und überschaute den Raum.

Dort der gepackte alte Koffer – zwecklos gepackt.

Dort die drei Photographien Bodos auf dem Schränkchen.

Über das eine Bild hatte Kathrine den Myrtenkranz und den Schleier gelegt.

All der bisher zurückgedrängte Jammer überfiel jetzt das arme, junge Weib mit ungeheurer Wucht.

Agna war nicht mehr fähig, sich gegen diese namenlose Verzweiflung zu wehren. Fast taumelnd schritt sie auf das Schränkchen zu, glitt in die Knie, umklammerte das kühle, polierte Holz wie ein lebendes Wesen, blickte empor zu den Bildern des Geliebten, fühlte die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen strömen, hörte die eigenen jammervoll schluchzenden Laute, die sich aus ihrer Brust wie heiße Schreie der Sehnsucht losrangen, wimmerte in plötzlichem Verzagen, in jäh erwachte Angst immer nur dasselbe Wort:

„Bodo – Bodo!“

Und – horchte plötzlich auf, starrte geradeaus auf die weißen Vorhänge, lauschte, wartete.

War das nicht ein Pfiff gewesen, – nicht dieselben Anfangstakte des Walzerliedes, mit denen Bodo ihr stets schon von der Straße aus sein Kommen angekündigt hatte?!

Sie sprang auf. Eine unsinnige Hoffnung drängte ihr das Blut zu Kopfe.

Sie riß an der Schnur der Vorhänge, öffnete das Fenster, lehnte sich weit hinaus. –

Die Straßen hier im neuen Teil von Schmargendorf waren nachts stets wie ausgestorben.

Einen zerlumpten alten Mann mit schäbigen Filz erblickte sie, der soeben eine Flasche an den Mund führte, dann weitertorkelte und in der Dunkelheit verschwand.

Annas Augen glitten rechts und links, hierhin und dorthin.

Nein – sie konnte sich nicht getäuscht haben! Es war Bodos Pfiff gewesen.

Noch weiter lehnte sie sich hinaus, rief hinab – auf gut Glück:

„Bodo – Bodo!“

Nichts – nichts! Keine Menschenseele.

Und doch! Aus der Ferne – irgendwoher! – wieder die vier Walzertakte – verschwommen, undeutlich, wie verweht von dem Herbstwind, der die Dachfirste umsäuselte.

 

 

5. Kapitel

Hilde Parlow

Der Major a.D. Wilhelm Parlow war ein Frühaufsteher. Winter und Sommer erhob er sich um sechs Uhr morgens von seinem Lager im Wohnzimmer. Er schlief dort auf dem Diwan, wo der kleine, magere Herr bequem Platz hatte.

Wilhelm Parlow schlich in die Küche, nahm den Riesenschwamm und rieb sich kalt ab. Dann begann er seine Freiübungen; rasierte, frisierte er sich vor dem Küchenspiegel und setzte den Wasserkessel auf den Kochherd.

Seine Mädels ließ er bis sieben schlafen; die hatten es schwer genug; besonders Hildegard jetzt mit den Überstunden bei der Bank! Eine verfluchte Schinderei war das! Aber – man mußte zufrieden sein, daß Hilde diese Nachmittagsbeschäftigung gefunden hatte! Da konnte sie doch vormittags die Wirtschaft besorgen und das Essen bereithalten. –

Wilhelm Parlow zog sich fertig an. Dann brühte er den Kaffee auf, stülpte den Wärmer über die Kanne.

Halb sieben – wie immer! – Er ging in das Wohnzimmer, öffnete die Fenster und betrat nebenan den sogenannten Salon, in dem sein Schreibtisch stand.

Er schaltete das Licht ein, setzte sich und begann zu schreiben, wälzte dicke Folianten, machte Auszüge, ging zuweilen an das riesige Bücherregal und arbeitete so weiter an seiner ‚Geschichte der Feldzüge Napoleons I.’. – Das war sein harmloses Steckenpferd. –

In dem dritten Zimmer, das die Parlows für sich behalten hatten und das gleich den beiden an Bodo Helling vermieteten Räumen nach vorn heraus lag, hausten Hilde und Irma. –

Hilde erhob sich leise. Sie war wieder erst gegen ein halb zwei morgens heimgekehrt. Aber sie hatte kein Auge in dieser Nacht zugetan. –

Was andere beglückt hätte, lag auf ihr wie eine Zentnerlast. Was sie schon immer ersehnt in ihrem Heißhunger nach Luxus und Zerstreuung, war ihr nun gleichsam in den Schoß gefallen.

Und doch keine Spur von Freude darüber! Nein – nur quälendes Sinnen, ob nicht doch ein Zufall alles an den Tag bringen könnte. –

Mit diesen Gedanken hatte sie ihr Bett aufgesucht, diese Gedanken hockten die ganze Nacht über an ihrem Lager wie graue Gespenster.

Und noch anderes kam hinzu; war gleichfalls in dieser Nacht wach geworden, die Erkenntnis, wie weit sie bereits hinabgeglitten war in diesen strahlenden Sumpf der Weltstadt!

Ein namenloser Widerwille gegen sich selbst war da in ihr hochgestiegen. – In ihrem Herzen zu alledem noch das unbefriedigte Sehnen nach irgendeinem großen, reinen Glück.

Ein Sehnen, das schon vorgestern wie ein Schatten sie heim begleitet hatte, – vorgestern, als der Fremde in der ‚Atlantic-Diele’ sie in den Armen haltend um ein Wiedersehen gebettelt hatte.

Seltsam, daß sie diesen Mann nicht vergessen konnte – gerade diesen! Und es gab doch so viel hübschere als ihn! Aber in diesem mageren Gesicht mit der scharfen Hakennase und den schmalen Schmißnarben, in diesen grauen, kühlen Augen hatte ein Etwas gelegen, das in nichts an die lüsterne Frivolität der anderen Lebemänner erinnerte, die Hilde allnächtlich zu sehen bekam. In diesen Augen hatte trotz aller vielleicht anerzogener Beherrschung des Blicks in den Tiefen eine bescheiden werbende Zärtlichkeit geschimmert.

Wer war dieser Mann gewesen – wer?! Hatte Hilde so und so oft sich gefragt. Und sie hatte stets dasselbe weitergedacht: ‚Das ist ja so gleichgültig – muß dir gleichgültig sein – dir! Du hast kein Anrecht mehr, als Weib umworben und – vielleicht geheiratet zu werden! Jetzt bist du noch weder Dame noch Dirne. – Du bist nur zu feige, den Becher des Leichtsinns bis zum Grunde zu leeren – und doch schon eine Gefallene! –

Hilde Parlow saß auf dem Bettrand und schaute in dem trüben Morgenzwielicht zu Irma hinüber.

Ihre Schwester schlief!?

Sicher nicht mehr, obwohl sie die Augen fest geschlossen hielt.

Hilde seufzte verstohlen. Seit Wochen hatte Irma sie keines Wortes mehr gewürdigt, wenn sie allein waren; seit damals, als Hilde zum ersten Male so spät heimkehrte und von Irma dabei überrascht wurde, wie sie das elegante Gesellschaftskleid in die Schublade der alten Kommode einschloß.

Da war die Jüngere aus dem Bett hochgefahren; da waren verächtliche Schmähungen über ihre Lippen geflossen.

„Lügnerin! Heuchlerin! Du bist ja gar nicht bei der Handelsbank angestellt! Du bist – eine Dirne! Dein Geld erhältst du –“

Und Hilde, halb trunken von Sekt, hatte – zugeschlagen, hatte dann sofort, von Reue gepackt, vor der Schwester auf den Knien gelegen, gebettelt, geschworen.

Hilde stieß sie zurück.

„Papas wegen werde ich schweigen! Er – er würde dich sonst aus dem Hause jagen!“

Von da an begann die Komödie scheinbarer Eintracht in Gegenwart des Vaters. Waren die Schwestern allein, sahen sie aneinander vorüber. –

Hilde begann sich umzukleiden. Auch Irma erhob sich.

Um halb acht verließen der Major und Irma das Haus. Er fuhr zu seinem Lotteriekollektor; sie nach der Leipziger Straße in die Firma der Barmer Metallwarenfabrik, wo sie Kassiererin war.

*

„Morgen, Viktor,“ begrüßte Holger Daalholm eine Stunde später den am Frühstückstisch sitzenden Freund. „Ich habe doch immer einen verflucht feinen Riecher für die richtige Zeit, bin noch ungefrühstückt und hätte nichts gegen drei Setzeier mit Schinken einzuwenden, die du mir um so lieber spendieren wirst, als ich jradezu voljesogen mit Neuigkeiten mich dir präsentiere.“

Er setzte sich, griff nach der Birne der elektrischen Glocke, die an der Hängelampe hing, läutete und bestellte bei Frau Kröger Setzeier, Schinken, eine leere Tasse und – ein freundliches Gesicht.

„Denn,“ sagte er, „Ihre Morgenmiene, Krögerchen, is stets wie Essigwasser.“

„Also die Neuigkeiten,“ meinte er, als sie Wirtschafterin das Speisezimmer verlassen hatte. „Mein Sohn, du wirst staunen! Ich sehe ein, ich habe meinen Beruf verfehlt. Tatsache! Ich hätte Detektiv werden sollen –“

„Dein Gequassel fällt mir auf die Nerven,“ brummte Bantzki. „Das Auto ist nämlich nicht gefunden worden, und die kleine holde Frau Agna hat mir vorhin am Telephon sehr trübe ihr Leid geklagt. Ihrem Vormund geht es schlechter. Es hat sich Erbrechen eingestellt. Das arme Frauchen! Wenn man ihr doch helfen könnte! Jedenfalls tu’ mir einen Gefallen und bemühte dich, deinen schnoddrigen Ton der Sachlage entsprechend abzuschwächen.“

„Gern, Viktor, gern, – obwohl ich meinerseits allen Grund hätte, noch schnoddriger als sonst zu sein. Und du vielleicht auch! Wir sind nämlich in Punkto ‚Fall Helling’ einen gehörigen Schritt – ne, einen ganzen Tagesmarsch weiter gekommen, und außerdem kann ich in deine Männerseele liebliche Auskunft über die überschlanke Aschblonde wie Balsam träufeln – wenigstens was ihre Beziehungen zu Herrn Otto Wenzler, mehrfachen Haus- und Millionenbesitzer, betrifft –“

Bantzki blickte den Freund scharf an.

„Also doch keine Halbweltdame?“ fragte er schnell.

„Wie man’s nimmt, mein Sohn! Hier dürfte der Ausdruck Viertelweltsdame passen, um den Grad der moralischen Fäulnis zu bezeichnen.“

Bantzki klapperte nervös mit dem Teelöffel auf dem Frühstücksteller.

„Also bitte der Reihe nach!“ sagte er gepreßt.

„Hm – du bist enttäuscht, was die Aschblonde betrifft,“ meinte Holger plötzlich in ganz anderem Tone. „Lieber Viktor, solltest du dich wirklich ernsthaft für dieses Mädchen interessieren?“

Frau Kröger trat mit einem großen Teebrett ein. Das Gespräch verstummte. Als die Freunde wieder allein waren, sagte Bantzki leise und beinahe träumerisch:

„Mein Vater war wohl der reichste Mann Brombergs. An unseren großen Park grenzte eine Mietskaserne, so ein modernes Wohnhaus für ‚feinere’ Leute. Ich verkehrte als Junge mit einigen Kindern aus diesem Hause. Wir tollten in unserem Garten umher, und ich stahl für meine Freunde und Freundinnen aus unseren Gewächshäusern manchen Pfirsich. Da war auch unter unserer Horde so ein blasses, mageres Mädel, das wir nur höhnisch stets das Prinzesschen nannten, weil es an unseren Spielen nicht viel Gefallen fand und andere Zerstreuungen liebte, sehr eitel und dazu trotz ihrer erst sechs Jahre recht kokett war. Ich besinne mich auf den Namen der Kleinen noch, das heißt – auf den Vornamen nur.“

„Vielleicht Hilde?“ fiel Holger gespannt ein.

Bantzki hob überrascht den Kopf höher.

„Ja – Hilde! Aber woher –“

„Später – später! Erzähle erst weiter.“

„Diese Hilde nahm ich stets den anderen gegenüber in Schutz,“ fuhr Bantzki jetzt zerstreut fort. „Sie dankte es mir durch eine rührende Anhänglichkeit. Ihr Vater wird wohl Beamter gewesen sein, denn eines Tages sagte die Kleine mit tränenden Augen, sie seien versetzt. Zum Abschied – und sie schluchzte dabei herzzerreißend – schenkte sie mir das kostbarste, was sie besaß: ein silbernes Medaillon an einem hellblauen Seidenband! –

Sie schenkte es mir, ohne daß ich es merkte. Sie hat es mir nämlich heimlich die Tasche gesteckt, wo ich es erst drei Tage später fand. Und da waren ihre Eltern und sie selbst bereits irgendwohin nach dem Rhein abgereist. Das Medaillon mit dem blauen Vergißmeinnicht in Emaille und dem Seidenband habe ich mir all die Jahre aufbewahrt. Und damals in der ‚Atlantic-Diele’, Holger, – damals tauchte seit langem die Erinnerung an jenes Mädelchen blitzartig wieder in mir auf. Das aschblonde Haar meiner Tänzerin –“

„Genug, – sie heißt ebenfalls Hilde,“ unterbrach Daalholm ihn ernst. „Ja – ja, diese Kindheitserinnerungen! Sie stimmen uns weich. Und wohl jeder – ah bah – weg damit. Für Sentimentalitäten ist dies nicht die geeignete Stunde –“

Er trank einen Schluck Kaffee.

„Also nun zu meinen Erlebnissen. Ich kehrte in die ‚Atlantic’ zurück. In der Loge saßen noch Herr Otto Wenzler mit dem roten Bullenschädel und die Aschblonde. Die Nebenloge war frei. Ich gelangte unbemerkt von Wenzler hinein. Ich wollte dasselbe tun wie im Zirkus – horchen! Aber das war nicht so leicht. Die Holzwände zwischen den Logen sind zu dick. Außerdem die verdammte Musik! Kurz – die Sache sah wenig aussichtsvoll aus, bis ich frech genug war, in den Gang hinauszutreten und an der Tür zu horchen. Es war gerade Pause. Viel hörte ich nicht. Ich hätte wohl gar nichts gehört, wenn Herr Otto Wenzler nicht in seinem Suff und seiner Wut das Mädchen beinahe angebrüllt hätte. So verstand ich manches, auch, daß er sie Hilde anredete. Er machte ihre Vorwürfe; sie hätte ihn an der Nase herumgeführt, wolle ihn nun laufen lassen – usw. –

Dann gewahrte ich auf der Wand der Treppe gegenüber einen Schatten. Es kam jemand die Treppe empor. Ich schlüpfte in meine Loge, konnte aber die Tür nicht mehr ganz schließen. Im Gange ist es nur mäßig hell, und die Türen der Logen liegen ziemlich dicht beieinander. –

Ich hörte, daß die weibliche Person, die soeben heraufgekommen war – der Schatten hatte mir das Geschlecht verraten–, fünfmal gegen die Tür von Wenzlers Loge klopfte. –

So – und nun gib sehr genau acht, Viktor!“

Holger beugte sich weit über den Tisch und flüsterte:

„Hilde trat in den Gang und drückte die Logentür hinter sich zu. Dann sagte die Fremde leise und überstürzt: ‚Fünf Sterne! – Hier, nehmen Sie! Schweigen Sie und seien Sie vorsichtig! Sie werden uns nicht wiedersehen! Es gibt keine fünf Sterne mehr. Wer sich Ihnen fortan mit den fünf Sterne nähert, ist nur ein Spion!’ –

Dann kehrte die Hilde in ihrer Loge zurück. Und ich gewahrte nun unten im Saal die hastig davoneilende, wieder tief verschleierte Emmy Bleaport.“

„Ah!“ machte Bantzki verblüfft. „Das – das klingt ja wie aus einem Hintertreppenroman!“

„Ganz recht! Und ist doch passiert! Ich habe mich auf keinen Fall verhört. ‚Fünf Sterne’ – das muß das geheime Kennwort dieser Bande sein, die Helling entführt hat.“

„Gestatte – diese Vermutung ist doch noch recht schwach begründet.“

„Laß mich erst zu Ende erzählen. – Kaum eine halbe Stunde drauf verließ Hilde allein die Loge und die Diele. Ich hatte es jetzt auf Wenzler abgesehen. Ich tat so, als hätte ich ihn vom Saal aus bemerkt, begrüßte ihn in seiner Loge, markierte den Angeheiterten und erreichte, daß er mir sein enttäuschtes Herz ausschüttete.

Er hat Hilde vor zehn Tagen zufällig im Linden-Kabarett kennen gelernt. Sie saß dort mit einem Herrn zusammen, der nach Wenzlers Beschreibung nur der Begleiter der Bleaport gestern im Zirkus gewesen sein kann. Wenzler hatte am selben Tisch Platz genommen. Der Kerl mit dem schwammigen Gesicht und den Brillantringen verabschiedete sich dann, und Wenzler war mit Hilde allein. Sie sind dann Abend für Abend zusammen gewesen. Doch – der arme verliebte Otto hat für all die verpulverten Zechinen Hilde nur die Hand küssen dürfen. –

Du kannst dir denken, wie er jetzt vor Wut sich selbst mit Ehrentiteln belegte, die zur Gründung einer ganzen Viehherde genügt hätten. Hilde hat ihm tatsächlich gestern den Laufpaß gegeben. Und – er weiß von ihr sonst nichts – nichts! Nicht mal die Wohnung. Als er mir das auf Ehrenwort versicherte, da – ja, rate mal –“

„Da klopfte es abermals –“

„Sehr richtig! Fünfmal! – Wenzler hatte es überhört. Ich ging schnell in den Gang. Und vor mir stand – der Baron Arnville, – du weißt, der Lebegreis mit dem goldgefaßten Monokel –“

„Ja. – Weiter!“

„Arnville fuhr etwas zurück. Ich merke sofort, er hatte Hilde hier noch vermutet. – Ich tat ganz harmlos, schnarrte meinen Namen ‚Daalholm – Sie wünschen?“. – Der Baron verneigte sich. ‚Arnville – Verzeihung, saß nicht eine Dame in Ihrer Loge?’ – ‚Ja. Sie ist bereits nachhause gefahren.’ – Er musterte mich scharf, verbeugte sich, murmelte eine Entschuldigung und verschwand. Ich beobachtete, daß er an einem entfernten Tisch allein Platz nahm. –

Wenzler und ich verließen die Diele. Ich packte den Alten in ein Auto, setzte mich in ein zweites, nachdem ich dem Chauffeur Bescheid gesagt hatte, und wartete auf des Barons Erscheinen. Und der Baron kam, bestieg einen Wagen. Mein Chauffeur gondelte los. Und er benahm sich sehr schlau. Er stoppte, als das Auto vor uns halt machte, sofort und zwar vor einem Hause am Bahnhof Hohenzollerndamm. Ich stieg aus, bezahlte, gab das versprochen Trinkgeld und tat, als ob ich das Haus beträte. Der Baron war indessen die am Bahnhof entlangführende Straße weiter gegangen. Es gibt da zwei Baumreihen. So konnte ich denn hinter ihm bleiben –“

„Der reine Kriminalroman!“

„Aber – der Baron war plötzlich verduftet. Spurlos! Dort liegen nur Holzlagerplätze. Doch ich fand ihn nicht wieder, und – ging recht belämmert heim, mein lieber Viktor! –

Immerhin – glaubst du nun nicht auch, daß es sich hier um eine ganze Bande handelt, die Helling verschleppt hat? Das rote Auto, das ihn gefahren hat, wurde nicht gefunden. Und gestern im Zirkus sprach die Bleaport über Helling. Der Chauffeur der nicht ermittelten Taxameterdroschke ist fraglos ebenfalls ein ‚Fünf Sterne’-Mitglied. – Mir genügend diese Beweise.“

„Hm. – Ich habe mir das Wichtigste auch bis zuletzt verspart, Holger. Frau Agna erzählte vorhin, daß Sie gestern abend gegen elf Uhr unter ihrem Fenster einen Pfiff gehört habe, der immer das Signal ihres Mannes gewesen sei, – vier Takte aus ‚Ein Walzertraum’. Sie behauptet, der Pfiff sei genau derselbe gewesen wie Hellings Signal, der zum Schluß noch immer einen sehr hohen Ton hinzugefügt hätte. Übrigens hörte sie den Pfiff dann nochmals aus der Ferne. Sie hatte das Fenster sofort geöffnet, bemerkte aber weit und breit nur einen zerlumpten, betrunkenen Bettler, der davontorkelte. – So – was sagst du nun?!“

„Ich sage, daß einer der ‚Fünf Sterne’-Bande gepfiffen hat!“

Bantzki schaute vor sich hin.

„Nicht unmöglich!“ meinte er sinnend. –

Es klopfte. Frau Kröger kam und meldete:

„Frau Agna Helling wünscht den Herrn Rechtsanwalt zu sprechen. Sie sitzt im Arbeitszimmer.“

Die Freunde blickten sich an. Und Holger sagte:

„Stelle mich ihr vor. Es muß etwas Neues passiert sein –“

 

 

6. Kapitel

Der Bettler

„Frau Helling, Sie gestatten, daß mein Freund Daalholm unserer Unterredung beiwohnt –“

„Bitte –“

Die beiden Herren nahmen Platz. Holger betrachtete die blasse, so madonnenhafte Frau mit tiefem Mitgefühl.

„Hat sich etwas Neues ereignete?“ begann der Rechtsanwalt.

„Ja. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Kurz nachdem ich Sie antelephoniert hatte, war der Arzt bei Onkel Heinz, meinem Vormund. Er verschrieb etwas, und ich eilte sofort zur Apotheke. Auf dem Weg dorthin fiel mir ein zerlumpter Mann auf, der mir folgte. Als ich die Apotheke verließ, stand er in den Anlagen des Henrietten-Platzes. Ich möchte darauf schwören –“ – sie sprach immer erregter – „daß es derselbe Mann war, den ich gestern Abend unter der Laterne bemerkt habe. –

Nachher war er verschwunden. Als ich nach Hause kam und Onkel Heinz von dem Alten erzählte und erklärte, ich würde sogleich Ihnen dies ebenfalls mitteilen, war er ganz einverstanden. Ich bin dann wieder weggegangen. Und – derselbe Alte ist –“

„– Ihnen bis hierher wiederum gefolgt,“ ergänzte Holger.

„Ja, ja!“ Ihre Hände schlangen sich ineinander. „Und – dann – dann, wie ich hier in Ihrem Hause die Treppe hochschritt, ertönte hinter mir her von unten –“

„– natürlich der Pfiff, die vier Takte!“ sagte Holger abermals.

„Der Pfiff!“ rief Agna. Sie blickte auf und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Da – da rannte ich die Treppe wieder hinab bis auf die Straße. Doch – es war niemand mehr zu sehen –“

„Das heißt, der Strolch war verschwunden,“ nickte Holger.

Agna weinte jetzt still in sich hinein, hatte das Taschentuch gegen die Augen gepreßt und beruhigte sich erst, als Bantzki erklärte:

„Liebe Frau Helling, fassen Sie Mut. Wir haben in dieser Angelegenheit bereits insofern Erfolg gehabt, als wir überzeugt sind, daß ihr Gatte nicht freiwillig verschwunden ist.“

Agna hatte die Hand sinken lassen und nickte.

„Wer der Strolch ist, werden wir schon ermitteln,“ meinte Daalholm nun lebhaft. „Das alles überlassen Sie nur uns, liebe Frau Helling. Wenn Sie jetzt heimkehren, gehen Sie wieder bitte zu Fuß. Schauen Sie sich auch nicht um. Am Henrietten-Platz setzten sie sich etwa fünf Minuten auf eine der Bänke. Dann erst gehen sie weiter.“ –

Agna verabschiedete sich. Sie wußte selbst nicht, wie es kam, sie hatte aber plötzlich zu diesem blonden Herrn Daalholm trotz seiner Geckenhaftigkeit weit mehr Vertrauen als zu Bantzki.

Als die Freunde Frau Helling bis zur Flurtür begleitet hatten und Bantzki diese jetzt zudrückte, zog Holger bereits seinen Ulster an, flüsterte nun:

„Wiedersehen! Möchte mal den Strolch sprechen,“ reichte Bantzki die Hand und ging sehr langsam die Treppen hinab.

Frau Agna war nicht mehr zu sehen. Aber drüben auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig erspähte Holger einen alten Mann, der fraglos ‚der Bettler’ war.

Er wartete, bis der Mensch sich in Bewegung setzte.

Am Henrietten-Platz hatte er den Strolch eingeholt. Der Alte stand hier hinter der Anschlagsäule vor dem Bahnhof Halensee und beobachtete Agna, die in den Anlagen saß.

Holger war nun seiner Sache sicher. Er trat neben den Bettler und flüsterte:

„Fünf Sterne!“

Da – der Alte war herumgefahren, stierte Daalholm entsetzt an.

„Fünf Sterne!“ wiederholte Holger nochmals, um den Menschen zum Reden zu bringen.

Der Bettler hatte sich jedoch schon gefaßt.

„Oh – hier fürchte ich Sie nicht!“ zischte er. „Hier nicht! Dort steht ein Polizeibeamter! Jetzt – jetzt habe ich Sie!“

Holger Daalholm war so sprachlos, daß er zunächst kein Wort hervorbringen konnte.

„Wer sind Sie eigentlich, zum Teufel?“ fragte er dann.

Der Alte unterbrach ihn schon:

„Wer sind Sie denn – he?“

Daalholm war jetzt Herr der Situation. Er hatte keinen Grund, diesen Kerl anzulügen.

„Ich heiße Daalholm, bin ein Freund des Rechtsanwaltes Bantzki, den Frau Helling soeben besucht hat, und bin Ihnen gefolgt, weil Sie ihr folgten,“ erklärte er.

Der Alte schaute Holger verwundert an und sagte: „Dann – gehen wir zu Rechtsanwalt Bantzki.“ –

Gleich darauf standen sie in Bantzkis Arbeitszimmer.

Der Rechtsanwalt traute seinen Augen nicht.

„Was bedeutet das, Holger?“ rief er und fixierte den Alten prüfend.

Dieser drehte sich um und blickte auf die Tür, dann richtete er sich auf, wurde größer.

„Ich bin Bodo Helling,“ sagte er ganz leise.

„Jetzt schlägt’s dreizehn!“ platzte Holger heraus. „Mann – was soll diese Maskerade?! Wozu das alles?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte, meine Herren,“ sagte Helling ernst.

„Setzen wir uns!“ meinte Bantzki. Und dann erzählen Sie im Zusammenhang, Herr Helling!“

„Ganz recht. Das ist am besten. – Wo soll ich anfangen?“

„Nun – von der Fahrt im Auto, also von dem Zeitpunkt, als Sie Ihre junge Frau zur kirchlichen Trauung abholen wollten. Oder hatten sich die ‚Fünf Sterne’ schon vorher bemerkbar gemacht?“

„Nein, oder besser, ich weiß es nicht bestimmt, insofern nämlich, als das Betäubungsmittel sich nur in der Tasse Kaffee befunden haben kann, die Fräulein Hilde Parlow mir vorgesetzt hatte.“

Bantzki war aus seiner Sofaecke hochgeschnellt.

„Wer – wer?! Hilde Parlow?!“ rief er. „Parlow – Parlow! Das – das war der Name. – Holger, der Name jenes Mädelchens! Erst jetzt fällt es mir ein!“

Der Rechtsanwalt sank in seine Sofaecke zurück.

Und Holger fragte ablenkend: „Fräulein Parlow reichte Ihnen also kurz vor der Abfahrt eine Tasse Kaffee. Und weiter?“

„Ich trank ohne jedes Mißtrauen aus. Dann holte Fräulein Parlow mir ein Auto. Es war aber kein richtiges Taxameterauto. Die Uhr lief nicht. Der Zählapparat wird nur zum Schein aufgeschraubt gewesen sein. Das vermutet auch Herr Pallex.“

„Pallex? Wer ist das denn wieder?“

„Der tritt später auf, Herr Daalholm. – Ich wurde im Auto sehr müde und schlief ein. Plötzlich erwachte ich, weil mir übel wurde. Ich erbrach mich, schlief aber wiederum ein. Ich vertrage nämlich kein Morphium. Das war meine Rettung. –

Ich schlief immerhin infolge des Morphiums und der anderen Beimengung, die das Pulver beziehungsweise der Kaffee enthalten haben muß, so fest, daß ich erst munter wurde, als ich mich abermals übergab. Da lag ich schon in einem kleinen, fensterlosen Raum auf einem Strohsack, neben dem eine Radfahrerlaterne stand.“

„Toll – toll!“ murmelte Holger.

„Es kommt noch toller, meine Herren!“ meinte Helling seufzend. „Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich sagte mir jedoch, daß diese Übelkeit und Schlafsucht und dieser zellenartige Raum nur eine Erklärung haben könnten. Man hatte mich entführt! –

Dann wurde die Tür geöffnet, und zwei Gestalten kamen herein. Es beugte sich jemand über mich. Es war ein Weib. Sie sagte leise: ‚Noch immer bewußtlos! Hätte ich ihm nur die Dosis gegeben, die ‚er’ erst vorgesehen hatte, würde er vielleicht zu früh aufgewacht sein. Es war gut, daß ich ‚ihr’ das andere Gläschen zusteckte.’ –

Worauf eine Männerstimme erwiderte: ‚Du hast ganz recht. ‚Er’ wollte ihn zu sehr schonen. Na – nun haben wir ihn ja. Er wird noch stundenlang schlafen, wenn er sich auch erbrochen hat. Ich fahre jetzt zurück. Komm’ mit. Einer genügt hier.’ –

Sie verließen die Zelle wieder. Ich hörte, daß sie von außen abschlossen und auch zwei Riegel vorschoben. –

Ich wußte nun, daß nur eine einzelne Person mich jetzt bewachte. Ich wollte sie herbeilocken und doch weiter eine Ohnmacht oder Bewußtlosigkeit vortäuschen. Und deshalb begann ich zu stöhnen! Das half. Es glückte. Die Tür wurde geöffnet, und eine Person näherte sich auf Fußspitzen meinem Lager. Ich merkte, es war eine Frau. Ihre Röcke rauschten. Ich wartete, bis sie sich über mich beugte. Sie murmelte ängstlich: ‚Mein Gott, was tue ich nur! Wenn er stirbt!’ –

Oh – ich war sehr lebendig. Ich sprang auf, schleuderte sie in den anderen Winkel, raste zur Tür, schmetterte diese zu, schob die Riegel vor. – Es brannte eine Gaslampe in diesem einfach möblierten Zimmer – und stürzte durch eine andere Tür in einen Flur, fand die Haustür, schloß auf, da der Schlüssel von innen steckte, und rannte wie gehetzt davon, bis ich über ein Stück Brett stolperte und hinschlug. Als ich aufstehen wollte, hatte ich im linken Knie solche Schmerzen, daß ich halb ohnmächtig zurücksank.

Links von mir schimmerte hinter einem Staketenzaun ein helles Fenster. Ich schleppte mich bis an die Pforte, weiter bis zur Tür des kleinen Häuschens, klopfte, wurde dann von Herrn Pallex, einem Bildhauer, der hier wohnte, hineingetragen. Pallex flößte mir sofort etwas Kognak ein, machte mir um das Knie Umschläge und benahm sich so mitfühlend, daß ich ihm mein Abenteuer erzählte.

Er war es dann, der mir dringend riet, vorläufig unsichtbar zu bleiben. Er machte mich darauf aufmerksam, daß ich lediglich gegen Hilde Parlow den Verdacht äußern könnte, mir das Betäubungsmittel gereicht zu haben, daß ich die übrigen Leute, die an meiner Entführung beteiligt seien, gar nicht kenne und daß der Zweck dieser Entführung niemals festgestellt werden würde, wenn ich sofort zu meiner Frau zurückkehrte und dann gezwungen wäre, der Polizei alles mitzuteilen. –

Kurz – Pallex erreichte, daß ich schweren Herzens einwilligte, mich bei ihm zu verbergen. Er wollte dann weiter in meinem Interesse tätig werden. Sein bester Freund sei der Rechtsanwalt Justizrat Blunk, der berühmte Strafverteidiger. Mit diesem haben wir heute früh alles durchgesprochen. Blunk war sofort Feuer und Flamme für meinen Fall. Ich solle nun zunächst unsichtbar bleiben. Nachholen muß ich noch das eine, daß ich Pallex gegenüber darauf bestand, Agna ein Zeichen zu geben, daß ich lebe. Er hat mir die Maske zurechtgemacht, und in dieser Verkleidung habe ich gestern Abend um dreiviertel elf vor Agna Haus das bekannte Signal gepfiffen. – So, das wäre wohl alles –“

„Und nun?“ fragte Bantzki. „Sollen wir Ihrer Frau mitteilen, wo Sie sich befinden?“

„Blunk hat mir dringend geraten, Agna noch im Ungewissen zu lassen. Sie können sich denken, wie furchtbar schwer mir das wird. Anderseits sehe ich ein, daß Agna durch ihr verändertes Wesen sofort – was Blunk betonte – verraten würde, daß jede Sorge von ihr genommen ist. Blunk meint, die Bande sei nur dann zu fassen, wenn deren Mitglieder im Unklaren blieben, was aus mir geworden ist.“

Helling stand auf.

„Gut, dann bitten Sie Blunk, vorläufig gegen Hilde Parlow in keiner Weise vorzugehen,“ sagte Bantzki rasch. „Er soll sie auch nicht beobachten lassen und heute abend um acht zu einer Besprechung sich hier zu mir bemühen. Bestellen Sie ihm nur, daß Holger und ich schon weit tiefer in dies Geheimnis eingedrungen seien.“

Helling versprach, alles an Blunk auszurichten und verabschiedete sich.

 

 

7. Kapitel

Aus der Jugendzeit

Als er gegangen, nahm Holger eine neue Zigarette und sagte in kurzen Unterbrechungen:

„Lieber Viktor, – wenn jemals – das Schicksal – seine Karten – wunderbar – gemischt hat, dann – ist es hier!“

Bantzki war auf und ab geschritten und blieb nun vor Daalholm stehen.

„Wieso? Schicksal –?!“

„Ja, mein Sohn,“ erklärte Holger sehr ernst, „Meine große, stille Liebe heißt nämlich – Irma Parlow – und dürfte Hildes Schwester sein.“

„Ah! Das ist allerdings – seltsam!“

„Genauso seltsam wie meine Liebe zu Irma, lieber Viktor. Ich habe diese junge Frau vor sieben Wochen in einem Konzert kennen gelernt. Wir saßen nebeneinander, kamen ins Gespräch, fanden Gefallen aneinander, und ich durfte sie damals bis zur Bismarckstraße in Charlottenburg begleiten. Weiter dann nicht. Ich bat sie, mir ein Wiedersehen zu gewähren und mir ihren Namen zu nennen. Sie lehnte ab. Sie verlangte mein Wort, daß ich ihr nicht heimlich folgen würde. –

Eine Woche später traf ich sie abends in der Leipziger. Ich war selig, und sie – freute sich offenbar auch. Wieder durfte ich sie begleiten. Wieder flehte ich sie an, mir – und so weiter! Sie blieb fest. –

Und abermals nach zehn Tagen begegnete ich ihr wieder gegen viertelacht abends in der Leipziger; wieder dasselbe Spiel. Nur daß sie diesmal mir folgendes offen erklärte:

‚Herr Daalholm, es hat keinen Zweck, daß wir uns noch näher kennenlernen. Ich gehöre einer Familie an, deren Ruf so schlecht ist, daß jeder Mann sich schämen würde, bei uns zu verkehren. – So, und nun bitte ich Sie, mich nicht mehr anzusprechen, falls wir uns treffen.’

Lieber Viktor, ich war Irma verfallen. – Ich bin dann jeden Abend in der Leipziger gewesen, bis ich herausgebracht – und das war erst vor vier Tagen –, daß Irma Kassiererin in der Filiale der Barmer Metallwarenfabrik ist. Ihren Namen nun ebenfalls zu erfahren, war eine Kleinigkeit. Jetzt ist mir Irmas Verhalten völlig klar. Sie weiß, daß ihre Schwester Hilde in den Sumpf der Großstadt hineingeraten ist, und hält sich daher auch für mit entehrt. – Das, mein lieber Viktor, bezeichnete ich mit ‚Schicksal’!“

„Ich werde jetzt zu Hilde fahren,“ erklärte Viktor, der am Fenster lehnte. „Allein! Bleibe du hier, Viktor. Ich bringe die Sache mit Hilde allein besser ins Reine.“

„Gut – du magst recht haben!“

Bantzki verschwand in seiner Bibliothek, schloß hier einen Schrank auf und entnahm einer Truhe ein Medaillon an hellblauem Seidenband.

*

Hilde Parlow hatte die Zimmer aufgeräumt.

Der alte Regulator schlug elf. – Es war also Zeit, an die Zubereitung des Mittags zu denken. Hilde machte sich zum Ausgehen fertig. Die Einkäufe waren bald erledigt. Nun stand sie in der Küche, die große blaue Wirtschaftsschürze vorgebunden, und schälte Kartoffeln.

Ihre Gedanken spiegelten sich auf dem schmalen Gesicht wieder. Hilde hatte vorhin in den Spiegel geblickt. Sie sah wie eine Kranke aus!

Und – das war sie auch, – seelenkrank!

Und wieder und wieder fragte sie sich: ‚Wie konntest du nur soweit sinken?! Wie war es möglich, daß du so jeden moralischen Halt verlorst?!’

Aus Gewissensbissen und Reue wuchs langsam ein ohnmächtiger Haß empor gegen den Mann, der sie nach und nach immer weiter hinabgezerrt hatte von dem schmalen Wege des grauen Alltags in den rauschenden Trubel sinnloser Genüsse. Sie glaubte das Spiel jetzt zu durchschauen, daß man mit ihr getrieben. Mit raffinierter Geduld hatte dieser Mensch sie allmählich umgarnt, hatte sie Schritt für Schritt dem gleißenden Abgrund näher geführt, hatte ihre Schwächen schnell erkannt und sein Handeln danach eingerichtet.

„Daß ich so – so blind war!“ stöhnte sie auf. „Daß ich nicht merkte, was hinter alledem lauerte wie ein Dämon! Stern – ‚fünf Sterne’!“

Draußen schlug die Flurglocke an.

Hilde säuberte schnell die Hände, schaute dann zur Vorsicht erst durch das Guckloch. Sie sah nur einen eleganten braunen Ulster und weiter oben eine Krawatte mit einer Perle darin. Das Gesicht war nicht zu sehen. Der Herr stand zu nahe an der Tür.

Hilde hakte die Sicherheitskette los und öffnete, blickte den Herrn scheu in das magere Gesicht, fuhr etwas zurück.

Bantzki zog den Hut.

„Mein Name ist Bantzki – Rechtsanwalt Dr. Bantzki, gnädiges Fräulein. Dürfte ich Sie um eine Unterredung bitten?“

Hilde umkrallte den Türdrücker mit aller Macht. Der Schmerz sollte ihr helfen, gefaßt zu erscheinen.

Sie hatte ihren Tänzer von vorgestern abend erkannt. Und – Rechtsanwalt war er! Wenn auch er wegen Bodo Helling käme wie gestern und vorgestern die Kriminalbeamten, die sie ausgefragt hatten und denen gegenüber sie so mühsam die Ruhe bewahrt hatte.

„Bitte, Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie dann, und ihre Stimme klang ihr selbst ganz fremd.

Bantzki trat ein. Hilde schloß die Tür.

„Ich möchte Sie allein sprechen, Fräulein Parlow,“ meinte er nun mit leichter Verbeugung.

Sie stieß die Salontür auf, fügte hinzu: „Ich möchte nur die Schürze abbinden. Einen Augenblick.“

„Nein!“ Es klang hart und befehlend. „Bleiben Sie, wie Sie sind. Was wir zu besprechen haben, bedarf der Äußerlichkeiten nicht.“

Hilde schaute Bantzki fast hochmütig an.

„Sie werden doch gestatten, daß ich in meiner Häuslichkeit tue, was mir beliebt, Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie eisig.

„Unter anderen Umständen – ja! So aber, wie die Dinge hier liegen, werde ich Sie keinen Moment aus den Augen lassen, Fräulein Parlow,“ erklärte er fest. „Bitte – setzen Sie sich!“

Wie einem inneren Zwange gehorchend schritt sie auf einen der verschossenen Plüschsessel zu.

Er drückte die Tür ins Schloß und nahm auf dem zweiten Sessel an der anderen Tischseite Platz.

„Fräulein Parlow,“ begann er ohne Umstände. „Ich komme als Anwalt Frau Hellings zu Ihnen, die mich beauftragt hat, Nachforschungen nach ihrem Gatten anzustellen. Ich komme aber auch als – sagen wir – als wohlmeinender Freund. Vielleicht als Retter!“ Seine Stimme hatte jede Schärfe verloren, klang gütig und eindringlich. „Fräulein Parlow, wollen Sie mir nicht freiwillig alles mitteilen, was – die ‚Fünf Sterne’ betrifft?“

Hilde fühlte, wie jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht wich, aber sie brachte es fertig, die Erstaunte zu spielen.

„Fünf Sterne? Ich verstehe Sie nicht, Herr Rechtsanwalt,“ meinte sie ablehnend. „Sie müssen sich schon deutlicher ausdrücken.“ –

Und doch – ihr Antlitz, ihr halb irrer Blick drückten eine so wahnwitzige Angst aus, daß in Bantzkis Herzen das Mitleid siegte. Wozu sollte er sie unnötig quälen? Wozu nicht das Mittel, sie zum Reden zu bringen, sofort versuchen?!

Er stand auf und schritt zu ihr hin.

Aus den Augen der noch mädchenhaften Frau flackerte ihm die Todesfurcht eines gehetzten Wildes entgegen.

Dicht vor ihr blieb er stehen.

„Fräulein Hilde – kleine Hilde, glauben Sie mir doch – ich komme als Retter!“ sagte er leise. „Kleine Hilde, – kennen Sie dies?“

Und er zog das Medaillon an dem hellblauem Seidenband aus der Tasche.

„Kleine Hilde, einst – vor langen, langen Jahren, schenkte mir ein kleines Mädelchen dies Medaillon. Es war das wertvollste, was sie besaß. Und damals, als sie von dem bereits vierzehnjährigen Jungen Abschied nahm – es war in einem unserer Treibhäuser –, da legte sie mir die dünnen Ärmchen um den Hals und küßte mich, weinte und stammelte: ‚Wer – wird mich jetzt beschützen, Viktor. Du – du warst stets so gut zu mir!’ – Und nun steht dieser selbe Junge hier von dem kleinen Prinzeßchen von einst und will es wieder beschützen. Kleine Hilde, glauben Sie mir jetzt –“

Er schwieg tief aufatmend.

Hilde hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt, schluchzte, – sank plötzlich von dem Sessel herab, lag vor Bantzki auf den Knien, krallte ihre Finger in seinen Ulster.

„Viktor – Viktor, – hilf mir!“

Dann ein neuer Tränenstrom, – wimmernde, wehe Laute, – fast wie aus dem Munde eines Kindes. –

Er hob sie auf, drückte sie in den Sessel, zog einen Stuhl herbei, nahm ihr die Hände sanft vom Gesicht.

„Hilde, ich werde Sie retten. Deshalb kam ich ja zu Ihnen,“ meinte er so weich und liebevoll.

Er legte ihr das Medaillon in den Schoß.

„Hilde, ich habe es mir aufbewahrt. Ich habe das Prinzeßchen nicht vergessen! – Haben Sie Vertrauen zu mir! Seien Sie ehrlich!“

Sie nickte unter Tränen.

„Sie sollen alles erfahren, Viktor. Ich werde mich nicht schonen. Ich – ich bin schlecht – verdorben! Ich bin Ihre Güte gar nicht wert –“

„Erzählen Sie, Hilde!“ mahnte Bantzki. „Unsere Zeit ist kostbar.“

„Ja. Ich will mich kurz fassen. –

Im August begann das Unheil. Bis dahin war ich nichts als Hausmütterchen. Zu ersehnten Vergnügungen hatte ich kein Geld. Da sprach mich eines Nachmittags ein Herr an, als ich mir im Erfrischungsraum bei Wertheim eine Tasse Kaffee leistete. Er nannte sich Herbert Stern. Er bat mich dann, ihm bei der Auswahl einer Seidenbluse behilflich zu sein. Und – er schenkte mir die Bluse, drängte sie mir förmlich auf. Er tat so väterlich – freundlich. Und nachher mußte ich mit ihm in einem Weinrestaurant soupieren. Erst um acht Uhr kam ich heim. Papa schalt. Wie ich dann mein Handtäschchen öffnete, fand ich darin einen Tausendmarkschein. Nur Herbert Stern konnte ihn mir heimlich zugesteckt haben. –

Die Bluse hätte ich sehr billig gekauft, log ich Papa und Irma vor. Und sie glaubten mir. –

Herbert Stern sah ich dann fast täglich. Er war’s, der langsam mein Gewissen einlullte, der mir die eleganten Lokale des Berliner Westens zeigte, der mich schließlich überredete, den Meinen zu erzählen, ich hätte bei der Handelsbank eine Beschäftigung für die Nachmittags- und Abendstunden gefunden.

Dabei hat Stern niemals sich irgendwelche Vertraulichkeiten herausgenommen. Er spielte den guten Kameraden – nichts weiter. Er kaufte mir elegante Garderobe, kaufte mir Schmuck. Ich hatte stets Geld in Hülle und Fülle. Gedankenlos verbrachte ich die Nächte in Bars und Dielen. Als dann eines Nachts meine Schwester –“

Hilde schluchzte leise auf.

„Weiter!“ bat Bantzki.

„Es kam zwischen mir und Irma zu einem völligen Bruch. Trotzdem blieb alles beim alten. Ich war bereits zu tief verstrickt in all diese Lockungen eines Daseins, das mir nichts versagte. –

Vor vierzehn Tagen etwa war ich dann eines Abends mit Herbert Stern im Theater. Wir saßen allein in einer Loge. Und da begann er von treulosen Männern zu sprechen, die Liebe mit Undank lohnten. –

Ich mußte zunächst nicht, was diese Einleitung sollte, bis er Bodo Helling erwähnte. Dieser sei mit seiner – Sterns – Schwester verlobt gewesen – heimlich, ein ganzes Jahr lang. Und jetzt würde er eine andere heiraten – Agna Thompson! Obwohl diese arm wäre und obwohl er der anderen die Ehe versprochen hätte. – Stern nannte seine Schwester stets Emmy –“

„Ah!“ machte Bantzki. „Emmy!“

„Ja. Und ganz allmählich gewann er mich für Emmys Racheplan –“

„Unglaublich!“ murmelte Bantzki wieder.

„Stern versicherte mir auf Ehrenwort, daß Helling kein Leid zugefügt werden würde; er sollte nur einige Zeit irgendwo verborgen gehalten werden. Inzwischen wollte Emmy dann Agna die Briefe Hellings zusenden und ihr so beweisen, daß Helling ein Unwürdiger sei –“

„Sehr fein ausgeklügelt!“ meinte Bantzki „Glaubten Sie das alles, Hilde?“

„Ja. Wenigstens bis gestern. – Stern versprach mir fünfundzwanzigtausend Mark, wenn ich es fertigbrächte, Helling eine Tasse Kaffee zu reichen, kurz bevor er zu seiner Braut fuhr, um sie zur Trauung abzuholen. Ich würde rechtzeitig ein Schlafmittel erhalten, das ich in den Kaffee schütten müsse. Er ließ mich dann beim Andenken an meine Mutter schwören, daß ich jeden Befehl genau befolgen würde, der mir von Personen übermittelt wurde, die sich durch das Kennwort ‚Fünf Sterne’ auswiesen. –

Stern wollte in den nächsten Tagen abreisen. Da lernte ich einen gewissen Otto Wenzler kennen –“

„Der ist mir gleichgültig, Hilde. Weiter –“

„Vor fünf Tagen meldete sich einer der ‚Fünf Sterne’ zum ersten Mal. Es war eine Frau. Sie sprach mich auf der Straße an und befahl mir, am übernächsten Abend in die ‚Atlantic-Diele’ zu gehen und mich in die zweite Loge zu setzen. Ebenso sollte ich die folgenden zwei Abende mich dort einfinden.“

Sie erzählte nun, wie ihr das Gläschen übergeben wurde und wie dann in der verflossenen Nacht eine Frau, die wahrscheinlich ‚Emmy’ gewesen, ihr die fünfundzwanzigtausend Mark ausgehändigt hätte.

„Ich weiß!“ nickte Bantzki. „Und als Sie dann bereits die Diele verlassen hatten, wollte der Baron Arnville Sie noch sprechen – auch einer der ‚Fünf Sterne’!“

„Arnville? Meinen Sie den mit dem Monokel und dem grauen Spitzbart?“

„Ja. Sie kennen also den Namen nicht?“

„Nein. Ich habe diesen Mann nur einmal gesehen, als er mir das Gläschen gab. Ich kenne überhaupt nur zwei Namen der ‚Fünf Sterne’: Herbert Stern und Emmy! – Und diese Namen sind wahrscheinlich falsch. Über Herbert Stern vermag ich nichts anzugeben – nur sein Aussehen kann ich schildern. Ich weiß nicht, wo er wohnt, – nichts weiß ich! Nur das eine ist mir jetzt klar geworden, daß diese geheimnisvollen Menschen, die mich vernichten wollten, falls ich meinen Schwur nicht hielte, mich schändlich umgarnt und über den Zweck dieser Verführung getäuscht haben!“

Hilde perlten Tränen über die Wangen, und weinend rief sie:

„Ich – ich habe das Glück zweier Menschen zerstört! Vielleicht wird man Helling töten! Viktor, retten Sie ihn! Schonen Sie mich nicht! Eilen Sie zur Polizei. Ich –“

Bantzki streichelte ihre Hand.

„Helling ist frei, ist entflohen, Hilde! Aber Sie dürfen zu niemandem davon sprechen – zu niemandem! – Sie haben jetzt selbst eingesehen, daß es sich hier nicht lediglich um den Racheakt einer Frau handelt. Nein, Hilde, diese Leute, die auch Sie mit so hohen Kosten umgarnt haben, beabsichtigen ganz etwas anderes. Was – das weiß ich nicht! – Noch nicht! – Ihnen jedoch kann man nach Lage der Sache von Gesetzes wegen nicht viel anhaben. Das, was Sie getan haben, ist Körperverletzung und Beihilfe zur Freiheitsberaubung. Anders steht es mit den ‚Fünf Sternen’. Bodo Hellings Person muß für diese einen bestimmten Wert haben, und dieser Wert geht ohne Zweifel in die Millionen. Darauf deutet die Geduld hin, mit der diese Leute ihren Hauptschlag vorbereitet haben mit all den Geldausgaben. –

Hören Sie nun genau hin, Hilde. Sie müssen sehr vorsichtig sein. Gehen Sie möglichst wenig aus. Lassen Sie sich nicht in irgendein Haus locken. Seien Sie mißtrauisch bis zum äußersten. Falls ich Ihnen irgendwie eine Nachricht sende, werde ich –“ – er überlegte – „ja, dann werde ich dem Boten oder dem Briefe ein Stückchen blaues Seidenband mitgeben oder beifügen.“ Er lächelte sie dabei an. „Hellblaues Seidenband, Hilde! Aber nicht von diesem Medaillon!“

Und er nahm es und schob es wieder in die Tasche.

„Dann wissen Sie, daß Sie der Botschaft trauen dürfen! Vielleicht wird die Bande der ‚Fünf Sterne’ erst später erfahren, daß Sie geplaudert haben; vielleicht unternehmen die Leute aber auch sehr bald etwas gegen Sie. Wie gesagt, Sie brauchen nichts zu fürchten! Ich werde noch mehr zu Ihrem Schutze tun. –

So, und nun leben Sie wohl, Hilde! Nun wieder Kopf hoch, kleines Prinzeßchen!“

Er beugte sich vor. Sie fühlte seine Lippen auf ihrer Stirn.

Dann ging er schnell hinaus.

 

 

8. Kapitel

Herbert Sternke

Um dieselbe Stunde etwa saß Agna an Onkel Heinz’ Bett und erzählte von ihrem Besuch bei Bantzki, von dem zerlumpten Strolch, der ihr abermals nachgeschlichen war und von Holger Daalholms Anordnung, daß sie sich in die Anlagen des Henrietten-Platzes hatte setzen müssen.

Volkmer lag still in den Kissen.

„Du tatest es auch?“ fragte er matt. „Hast du irgend etwas beobachtet?“

„Ja, Onkelchen. Ich sah, daß Holger Daalholm auf die Anschlagsäule am Bahnhof Halensee zuschritt und daß er dann dem Bettler nachging. Sie verschwanden den Kurfürstendamm hinunter. –

Onkelchen, ich weiß gar nicht, wie mir jetzt nach diesem Besuch bei Bantzki zu Mute ist. Alle Angst um Bodo ist wie weggewischt. Dieser Daalholm wirkt ja eigentlich etwas komisch. Aber – ich habe ein so großes Vertrauen zu ihm. Er ist fraglos sehr schlau, und er tat ganz so, als ob Bodo nicht die geringste Gefahr drohe. Wirklich, ich bin jetzt ganz ruhig. Es ist mir so, als wäre Bodo nur verreist und müßte jeden Augenblick zurückkehren –“

Volkmer drückte nur ihre Hand und schwieg.

„Oder – oder – siehst du die Sache ernster an, Onkel Heinz?“ fragte sie nach einer Weile beklommen.

„Ich – ich kann mich darüber nicht äußern, Kind. Ich – fühle mich sehr schwach. Das Denken fällt mir schwer. – Übrigens werde ich mich doch beim Direktor des ‚Esplanade’ krank melden müssen. Geh’, hole mir von meinem Schreibtisch einen Rohrpostbriefumschlag, ein Blatt Papier, Bleistifte und Unterlage –“

„Soll ich nicht schreiben, Onkel?“

„Nein, Kind. Das geht nicht. Doch bringe auch Siegellack und Petschaft – –“ –

Agna legte ihm alles auf das Zudeck und schaltete die Nachttischlampe ein. Dann ging sie in zu Kathrine in die Küche. –

Die Alte war heute sehr schlechter Laune.

„Kathrine, was fehlt Ihnen nur?!“ meinte Agna vorwurfsvoll. „Sie sind so – so unfreundlich.“

Die Alte schüttelte den Kopf.

„Nein, Agnachen, – wie sollte ich! Ich werd doch nicht zu Ihnen häßlich sein! Sie armes Dingchen Sie! Nee, nee, nur die Gedanken, Agnachen! Das will einem nicht aus dem Kopf!“

„Was denn?! Gedanken? Bodos wegen? – Kathrine, ich sagte Ihnen ja schon, Sie gute Seele, daß – daß ich jetzt ganz mutig –“

Die Alte schaute Agna so sonderbar an und brummte:

„Alte Leut hab’n man ’n leisen Schlaf –“

Da wurde Agna aufmerksam.

„Kathrine, Sie verheimlichen mir etwas,“ rief sie und griff nach der runzligen Hand der Alten.

Die deutete nun mit der Linken auf den Hof hinaus, murmelte wieder: „Da – der Stall, Agnachen, der Stall!“ Dann machte sie ein ärgerliches Gesicht. „Was schwatze ich, Unsinn! Agnachen, daß Sie ja keiner Menschenseele was von dem Stall erzählen! Agnachen – Hand drauf!“

„Gut, gut. Aber – was ist’s denn mit dem Stall?“

Im selben Moment läutete es dreimal.

„Onkel hat geklingelt,“ rief Agna und huschte hinaus. –

*

Holger Daalholm blieb noch eine halbe Stunde in Bantzkis Arbeitszimmer, sah die Morgenzeitungen durch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Seine Gedanken schweiften von den Tagesneuigkeiten jedoch immer wieder ab und umspielten das Geheimnis der ‚Fünf Sterne’.

Dann fiel ihm etwas ein. –

Helling war entflohen! Schon gestern Abend gegen neun Uhr. Er war aber für die Welt noch immer verschwunden, auch für jene Verbrecherbande. Ob diese da nicht vielleicht das Haus Agnas in Schmargendorf beobachten lassen würden? Ob es nicht ganz lohnend wäre, nach Schmargendorf hinauszubummeln? –

Daalholm war eine Viertelstunde später vor dem Hause angelangt. Der Zigarrenladen im Erdgeschoß erinnerte ihn daran, daß sein Zigarettenvorrat verbraucht war. Er ging hinein. Der Besitzer, ein älterer Mann, machte gern einen kleinen Schwatz mit seinen Kunden.

Holger sprach über das schöne Herbstwetter, über die ruhige Gegend hier, über allerlei und beobachtete draußen die Straße, bemerkte jedoch nichts Auffälliges. Dann begann der Zigarettenhändler von dem Verschwinden des jungen Ehemannes der hier im Hause wohnenden Agna Tompsen, jetzt verehelichten Helling zu erzählen.

„Richtig – in den Zeitungen steht ja auch bereits etwas davon,“ warf Holger ein. „Sie kennen die junge Frau wohl?“

„Und ob! Ein so sonniges Geschöpf! Sie kann einem von Herzen leidtun. Nun ist noch ihr Onkel und Vormund erkrankt. Der Arzt war heute schon bei ihm. Ein sehr zugänglicher Herr, der alte Volkmer, – ich meine den Onkel, Heinrich Volkmer. Ihm geht dies Unglück furchtbar nahe. Gestern Abend war er noch hier und telephonierte. Ganz konfus war er schon. Er wollte die Polizei anrufen, und aus alter Gewohnheit verlangte er ‚Lützow 1518’. Gleich darauf wurde er oben ohnmächtig –“

Draußen ging Agna schnell vorüber. Holger zahlte jetzt und verließ den Laden.

Er hielt sich stets hundert Meter hinter Agna, paßte genau auf, ob nicht jemand ihr folgte. Doch nein – keine verdächtigen Personen weit und breit.

In der Nähe der Halenseer Brücke sprach er Agna an.

„Ah, Herr Daalholm. – Ist etwa der Bettler wieder in der Nähe?“ meinte sie und reichte ihm die Hand.

„Nein, Frau Helling. – Sie wollen zur Post?“

„Ja. Halensee hat Rohrpostanschluß. Onkel hat sich krank gemeldet. Er ist doch abends stets im ‚Esplanade’ beschäftigt. Er besorgt die Korrespondenz nach dem Ausland. Beherrscht er doch sechs Sprachen perfekt.“

Agna hatte den Brief, den sie in der Hand hielt, etwas hoch gehoben. Holger las gerade noch von der Adresse ‚Lützowplatz 14, 2’.

Hm – Lützow 11518, und hier Lützowplatz!

„Der Brief geht nicht direkt nach dem ‚Esplanade’,“ meinte er gleichgültig

„Nein, der Direktor des Hotels wohnt Lützowplatz 14, 2.“ –

Und wieder hob sie die Hand mit dem Brief.

Holger überflog den Namen:

Herbert Sternke

Stern! Sternke! – Hm –! – Er kniff die Lippen zusammen. Verkehrte er doch selbst im ‚Esplanade’. Der Direktor hieß ganz anders und wohnte auch nicht Lützowplatz. Holger kannte ihn persönlich und recht gut.

„Frau Helling,“ sagte Daalholm leichthin, „bevor Sie den Brief in den Kasten werfen, kommen Sie bitte mit zu Bantzki, nur für Minuten.“

„Sie – Sie hegen irgend einen Verdacht gegen Onkel Heinz?“

„Nun denn – ja!“ –

Er hatte ihre Hand in die seine genommen.

„Frau Helling, es ist besser, daß Sie eingeweiht werden. Ihr Gatte ist der Bettler in der Verkleidung! Er war heute hier bei Bantzki. Er ist frei. Er wurde gewaltsam entführt –“

Agna stützte sich schwer auf den Schreibtisch im Büro des Anwalts. Holger berichtete in aller Kürze das Nötigste.

„Fünf Sterne also!“ fuhr er nun fort. „Und hier im Siegellack fünf Löcher, und der Brief ist für einen Sternke bestimmt! – Frau Helling, Ihr Vormund treibt ein falsches, erbarmungsloses Spiel mit Ihnen! Lassen Sie sich aber nichts anmerken, wenn Sie heimkommen! Denken Sie stets daran, daß Ihr Gatte frei ist. Und das ist doch die Hauptsache!“

Agna weinte.

„Es ist ja unmöglich, Herr Daalholm!“ schluchzte sie. „Onkel Heinz war ja stets die Güte selbst! Wie hat er mich verwöhnt, wie hat er mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen! Nein, nein, er kann nicht falsch sein!“

„Darüber werden Sie sehr bald Gewißheit erlangen, liebe Frau Helling. Jetzt – Ruhe und Selbstbeherrschung! Trocknen Sie die Tränen. Wir müssen gehen. Sie dürfen nicht zu lange von Hause fortbleiben.“ –

Der Brief war besorgt. Agna und Holger schritten die Ringbahnstraße entlang. Agna erzählte von ihrer Jugend auf dem großen Gute in Kurland, das der Familie Tompsen seit Jahrhunderten gehörte.

„Im Jahre 1919, im April, kam ich dann in ein Pensionat nach Dresden. Im Juli bereits erhielt ich die furchtbare Nachricht, daß meine Eltern und meine beiden Geschwister bei neuen Unruhen ermordet, die Gutsgebäude völlig ausgeraubt und niedergebrannt worden waren. Onkel Heinz, der schon seit vielen Jahren mit Papa in Geschäftsverbindung gestanden hatte, erschien dann in Dresden und wies sich durch eine bis dahin von einem Notar in Königsberg deponiert gewesen Urkunde als mein Vormund aus. Er nahm mich mit nach Berlin, wo er seit einem Jahr wohnte.“

„Und wo hatte er früher seinen Wohnsitz?“

„In Königsberg. – Er hat dann auch mit dem Notar Hugius zusammen das Gut verkauft. Ich habe alle Schriftstücke gesehen. Onkel hatte nie Geheimnisse vor mir – nie! Deshalb will und kann ich auch nicht glauben, daß er etwas mit diesen – Verbrechern zu tun hat!“

Holger schwieg eine Weile. –

„Wieviel Vermögen besitzen Sie?“ fragte er dann.

„Einhundertundachtzehntausend Mark. Meine Eltern waren sehr reich. Papa hatte jedoch der unsicheren Zeiten wegen sein ganzes Vermögen im Gutshause in einem Panzerschrank. Der Tresor wurde gesprengt und ausgeplündert vorgefunden.“

„Woher wissen Sie, daß Ihr Vater das Vermögen daheim aufbewahrte?“

„Onkel Heinz erzählte es mir.“

Sie gingen weiter. Agna hielt den Kopf tief gesenkt. Dann hob sie ihn mit einem Ruck, rief leise:

„Mein Gott, – Kathrine!“

„Die alte Köchin? Was ist mit der?“

„Sie – Sie war heute so unfreundlich, machte so sonderbare Redensarten –“ –

Agna mußte Kathrines Worte ganz genau wiederholen, und Holger sagte darauf grüblerisch:

„Der Stall – der Stall? – Es steht also ein Stall auf dem Hofe?“

„Ja. Das flache Dach benutzen wir so halb als Dachgarten im Sommer. Aus Onkels Schlafstubenfenstern kann man bequem hinaufgelangen.“

Holger kniff wieder die Lippen zusammen. Ihm war jetzt klar, weshalb Kathrine von dem leisen Schlaf alter Leute gesprochen hatte.

„Frau Helling,“ sagte er. „Sie werden, sobald Sie nach Hause kommen, Kathrine mit einer Besorgung wegschicken. Lassen Sie sich von dem Zigarrenhändler im Erdgeschoß ein Paket Zündhölzer holen.“

„Wenn Sie es wünschen. – Aber wozu das, Herr Daalholm.“

„Weil ich Kathrine fragen will, ob sie etwa den ‚Kranken’ über das Dach hat schleichen sehen –“

Abermals stand Agna wie angewurzelt.

„Oh – ich – begreife,“ stammelte sie. „Kathrine traut – ihm auch nicht!“

„Sehr wahrscheinlich nicht! – So, nun leben Sie wohl, Frau Helling. Und – vergelten Sie gleiches mit gleichem! Heucheln Sie! Spielen Sie weiter für diesen Onkel Heinz die liebevolle, besorgte Nichte!“

 

 

9. Kapitel

Die andere Parlow

Eine Stunde später – Holger lag in einem Klubsessel in des Rechtsanwalts Arbeitszimmer und lauschte wortlos dem knappen Bericht Bantzkis über dessen Besuch bei Hilde Parlow.

Dann sagte er triumphierend:

„Viktor, – Herbert Sternke, Lützowplatz 14. gleich Herbert Stern. Das dürfte stimmen!“

Bantzki nickte. „Ohne Zweifel.“

„Und Kathrine hat Volkmer tatsächlich in der verflossenen Nacht gegen fünf Uhr über das Stalldach heimkehren sehen! Sie hat Volkmer auch genau beschrieben. Ohne Brille und Perücke ist er – Baron Arnville!“

„Daran habe ich soeben auch gedacht!“

„Nummer drei der ‚Fünf Sterne’ wäre dann Emmy Bleaport. Wenn es fünf Leute gewesen sind, fehlen noch zwei.“

„Der Chauffeur und das Weib, das von Helling in die Ecke geschleudert wurde –“

„Ja, Viktor, – dann wären es fünf. Und nun noch, der Zweck dieses Schurkenstreichs?“

„Das ist wohl auch klar. Eine Art Erpressung!“ meinte Bantzki.

„Hm. Das möchte ich bezweifeln. Ich bin auf einen anderen Gedanken gekommen, – einen noch gemeineren! Man wollte Agna später vielleicht ebenfalls verschwinden lassen –!“

Bantzki schwieg und überlegte. Da fuhr Holger schon vor:

„Nein – diese Vermutung trifft nicht zu. Ich habe mich da gründlich verhauen! Besinne dich auf die Worte des Weibes in Hellings Zelle: ‚Er würde vielleicht zu früh aufgewacht sein.’ – Mithin wollte die Bande Helling lebend haben und lebend für ihre Zwecke benutzen. Die Absicht der Beseitigung des jungen Ehepaares darf man also nicht unterstellen. Vielleicht also doch Erpressung – oder was Ähnliches, zumal ja Frau Agnas Erbschaft meiner festen Überzeugung nach bedeutend größer gewesen sein muß.“

Es klopfte. Frau Kröger meldete den Justizrat Blunk.

Bantzki eilte in den Flur und kehrte mit einem schlanken, älteren Herrn zurück.

„Mein Freund Daalholm – Herr Kollege Blunk,“ stellte er vor.

Die drei nahmen Platz. –

„Ich komme soeben von Pallex und Helling,“ begann der berühmte Strafverteidiger. „Helling erzählte mir, daß Sie, Kollege Bantzki, in dieser Angelegenheit bereits einige wichtige Punkte ermittelt hätten.“

Er lächelte ein wenig.

„Vielleicht gerade – fünf Punkte – wie?!“

Holger und Bantzki waren nicht im Stande, ihre Überraschung zu verbergen.

Blunks geistvolles, glatt rasiertes Gesicht behielt das liebenswürdig überlegene Lächeln bei.

„Sie dürfen nicht vergessen, meine Herren,“ sprach er in leichtem Plauderton weiter, „daß ich über eine Anzahl tadelloser Hilfskräfte verfüge. Einer dieser Männer kam mir im Auto zu Pallex nachgefahren, nachdem er in eine Wohnung eingedrungen war und dort ein Gespräch – oder eine Beichte besser – belauscht hatte –“

Bantzki richtete sich auf.

„Etwa bei Major Parlow?“ stieß er hervor.

„Ja – bei Major Parlow, Kollege. Ich hatte dem Manne den Auftrag erteilt, Hilde Parlow zu beobachten. Daß sie bei dieser Sache irgendwie beteiligt war, stand für mich fest. Die Tasse Kaffee! – Jedenfalls ist Ihre Unterredung mit Hilde Parlow bereits Wort für Wort zu meiner Kenntnis gelangt, Kollege Bantzki. Und – ich weiß auch noch etwas mehr. –

Sie gestatten, eine Zigarette. Danke, brennt schon. –

Ja, noch etwas mehr. Zum Beispiel den wahren Namen dieses Herrn Herbert Stern –“

„Oh – den kennen wir auch!“ warf Holger ein.

„So?!“

„Ja – Herbert Sternke, Lützowplatz 14.“

Der Justizrat blies den Rauch in die Höhe. „Das stimmt nicht ganz, Herr Daalholm. Nicht ganz! Der Mann nennt sich so, heißt aber in Wirklichkeit Herbert Volkmer und ist der Sohn Heinrich Volkmers. Volkmer hat auch noch eine Tochter namens Emmy, die kurze Zeit mit einem Amerikaner Bleaport verheiratet war. –

Ich habe mich eben mit Heinrich Volkmer bereits sehr eingehend beschäftigt. Bei mir geht derartiges recht schnell. Mein geschultes Personal ermittelt so ziemlich alles. In diesem Falle waren nur ein paar Telephongespräche mit der Polizei in Königsberg, Heinrich Volkmers früherem Wohnsitz, nötig. Volkmer war im Frühjahr 1919 in eine ziemlich böse Betrugsgeschichte verwickelt, kam aber mit einem blauen Auge davon. Sein Sohn Herbert, ein ähnliches Früchtchen wie der Vater, hatte auch bei diesen Schwindeleien damals als Herbert Sternke eine Rolle gespielt. Und hier ist er ja seit anderthalb Jahren unter demselben Namen als Agent polizeilich gemeldet. –

Heinrich Volkmer ist übrigens verheiratet, lebt aber von seiner Frau – zum Schein – getrennt. Sie wohnt ganz in seiner Nähe in Schmargendorf, Pudlitzerstraße 32 Parterre und spielt die ehrbare Modistin.“

Bantzki und Holger waren vollständig verstummt. Jetzt rief Holger aber:

„Weiß der Himmel – Sie sind uns über, Herr Justizrat!“

Blunk legte den Zigarettenstummel weg. „Ich bin achtzehn Jahre Strafverteidiger, Herr Daalholm. Das ist eine lange Lehrzeit. –

Wie denken sich die Herren nun den Abschluß dieser Sache? –

Sie, Kollege, möchten Fräulein Hilde Parlow gern schonen, womit Helling und ich sehr einverstanden sind. Dann müßten wir diese ‚Fünf Sterne’ also privatim kaltstellen und die Öffentlichkeit täuschen. Dieses Verfahren erscheint mir in einer Beziehung nicht ganz empfehlenswert. Wir bleiben dann sehr wahrscheinlich über den Zweck der Entführung Hellings im unklaren! Freiwillig wird die Bande mit der Wahrheit nie herausrücken. Und wir sind uns darüber doch wohl einig, daß es sich hier um einen Millionenraubplan handelt. Die Frage ist, wo stecken diese Millionen? Ich antworte auf Grund meiner Kenntnis der Familientragödie der Tompsens, diese Millionen liegen irgendwo in einer Bank! – Aber – Heinrich Volkmer kann an das Geld nicht heran. Wenigstens nicht ohne Frau Agna, die einzige Überlebende der Tompsens. –

Nehmen wir an, man hat Helling entführt, um seine arme, verängstigte Frau dann zur Ausfertigung irgendeiner Urkunde zu zwingen, durch die Heinrich Volkmer dann den ‚Schatz’ heben könnte, – nehmen wir dies an, so werden wir der Wahrheit wohl ziemlich nahe gekommen sein.“

Die Besprechung dauerte noch eine halbe Stunde.

Blunk hatte jetzt auch von dem Rohrpostbrief und den Beobachtungen Kathrines Kenntnis, und er erklärte hiernach sehr bestimmt, daß Volkmer sehr wohl ahne, wer der zerlumpte Bettler sei, und daß er dies seinem Sohn Herbert in Chiffreschrift mitgeteilt hätte. –

*

Irma Parlow kam aus dem Geschäft. Es war zehn Minuten nach sieben. In der Leipziger Straße herrschte das übliche Drängen und Hasten, das übliche Abendbild.

Irma schaute nicht rechts, nicht links. Schneller als sonst eilte sie heute heim. Holger Daalholm war vor einer halben Stunde im Geschäft gewesen und hatte sich ein Taschenmesser gekauft, hatte beim Bezahlen mit ihr an der Kasse ein paar Worte gewechselt und sie dabei so – so merkwürdig angelächelt.

Irma trieb die Angst vorwärts – die Angst, daß sie ihren Vorsätzen untreu werden könnte, falls Holger sie ansprechen sollte.

Und doch; sie wußte ganz genau, wenn er heute neben ihr auftauchte, dann würde sie nicht die Kraft finden, in wegzuschicken. –

Sie stand jetzt an der Haltestelle der Straßenbahn vor dem Warenhaus Wertheim. Irgendwie war sie enttäuscht. Holger kam nicht!

Aber gerade wie sie nun dem herannahenden Straßenbahnwagen entgegeneilen wollte, um sich einen Platz zu erkämpfen, sagte neben ihr Holger Daalholm leise:

„Darf ich, Fräulein Parlow?“

Sie blickte ihn an. Aber – aus dem strengen Gesichtsausdruck wurde nur zu schnell ein beinahe glücklicher.

„Sie sind ja doch nicht loszuwerden,“ meinte Irma.

„Nee – niemals! Gehen wir ein Stück durch den Tiergarten –“ –

Als sie am Brandenburger Tor in den Promenadenweg der Charlottenburger Chaussee einbogen, sagte Holger plötzlich in ganz anderem Tone:

„Nun weiß ich alles, Irma, alles. Ihrer Schwester wegen waren Sie so scheußlich ablehnend mir gegenüber. –

Sie brauchen nicht zu erröten, Irma. Hilde hat nichts getan, was irgend einem leidlich vernünftigen Menschen das Recht gebe, den Stab über sie zu brechen. Sie ist das Opfer eines raffinierten Halunken geworden, der sie Schritt für Schritt dem Ziele näherführte, daß er sich gesteckt hatte. Und nun erlauben Sie wohl, Irma, daß ich Sie unterfasse –“

Irma Parlow sträubte sich nicht mehr. Arm in Arm gingen sie weiter. Holger erzählte – alles – alles!

Der Wind umfächelte Irma Parlows heiße Wangen. In ihrer Brust war ein namenloses Glücksgefühl erwacht. Sie hatte vom Leben nichts mehr erwartet – nur Arbeit, Pflichterfüllung, des Alltags graues, zermürbendes Einerlei. Und in diese trübe Dämmerung ihrer jungen Jahre fiel nun ein so gleißender Lichtstrahl hinein. Sie fühlte ja, daß Holger sie liebte. Und wie es in ihrem eigenen Herzen aussah, wußte sie längst. –

„Deshalb also bitte ich Sie, Irma, seien Sie gut zu Hilde!“ sagte er nun. „Helfen Sie ihr, daß sie schnell hinwegkommt über diese jüngsten Geschehnisse! – Wollen Sie das?“

„Ja – ja! – Wie gern will ich’s! Sie ahnen ja nicht, welche Last Sie auch von meiner Seele genommen haben!“

Er drückte ihren Arm an sich, flüsterte:

„Und wir beide, Irma? Was wird aus uns?“

Sie hatte den Kopf tief gesenkt.

„Irma, muß ich lange bitten? Weit und breit ist keine Seele – nur wir beide! Gibt es keine bessere Gelegenheit, sich zu verloben?“

Er hatte den Arm um sie gelegt.

Und – ehe er sich’s versah, hatte sie ihn schon umschlungen, bot ihm die Lippen dar. –

Als Irma kurz vor acht heimkehrte, ging sie sofort in die Küche. Es roch hier so merkwürdig nach verbrannten Lumpen. –

Hilde stand am Herd. Sie drehte sich nicht um.

„Hilde,“ sagt Irma leise, „Hilde, verzeih’ mir. Ich war hart zu dir, sehr hart. Aber – du drohtest mir mein Glück zu zerstören –“

Hilde hatte sich langsam, ungläubig umgewandt.

Dann schluchzte sie auf. Und Irma küßte ihr die Tränen weg, jubelte:

„Du – verlobt bin ich – verlobt! Mit Bantzkis Freund Holger. Und Bantzki, du, – der – aber nein, – ich habe zu schweigen versprochen. –

Was hast du hier eigentlich verbrannt, du? Das – das –“

„– das sind all die Dinge, die mich dem Abgrund näher lockten, Irma: Kleider – alles, was mich an diesen Herbert Stern erinnern mußte –“ –

Vom Flur des Majors knarrende Stimme:

„Sauwirtschaft! Um acht hat das Abendrot auf dem Tisch zu stehen!“

Er riß die Küchentür auf.

Irma flog ihm um den Hals.

„Na nu – bist du verdreht, Mädel!“ knurrte er.

„Nein, Papa, verdreht nicht, aber ver – lobt! Und dreihunderttausend Mark Vermögen besitzt Holger, und er will mit Bantzki zusammen ein Gut kaufen, und dann kannst du auch wieder mal auf die Jagd gehen, Papa, und –“

„Halt – halt! – Wie heißt der Mensch denn eigentlich? Was ist er?“

„Pillendreher, Papachen, – Pillendreher! Aber er trägt Monokel und – und ist unglaublich frech!“

Dem Major würgte die Rührung in der Kehle. Er sah ja Irmas strahlende Augen, und Irma war sein Liebling.

Er drückte sie an sich.

„Werde glücklich, Kind!“ –

Dann ging er schnell hinaus.

 

 

10. Kapitel

Was die Liebe vermag

An demselben Abend war Heinrich Volkmer gegen sieben Uhr aus dem Bett aufgestanden, hatte sich vollständig angezogen und erschien ganz überraschend im Wohnzimmer, wo Agna gerade beim Abendbrot saß.

Sie blickte auf. Ihr Gesicht drückte mehr Schreck als Freude aus, und ihre Frage: „Onkel, du?!“ klang so kühl, daß ihm dieser frostige Ton kaum entgehen konnte.

„Ich will dir Gesellschaft leisten, Kind,“ sagte er etwas unsicher. „Du – du sollst nicht so viel allein sein –“

„Ich werde dir ein Gedeck holen, Onkel,“ meinte Agna.

„Ja – tu’s –“

Agna kehrte mit Teller, Messer und Gabel ins Wohnzimmer zurück.

Volkmer sprach wenig. Und aß mechanisch, trank dafür mehrere Glas Rotwein und blickte immer wieder verstohlen Agna an, die sich krampfhaft bemühte, harmlos zu erscheinen.

Kathrine räumte den Tisch ab. Die beiden Menschen, zwischen denen jetzt eine geheime Feindseligkeit herrschte, die ihrem ganzen Benehmen etwas Unnatürliches gab, waren wieder allein.

Heinrich Volkmer starrte Agna lange an. Das Lampenlicht ließ ihr blondes Haar aufleuchten.

In Volkmers Blick lag ein seltsames Gemisch von Empfindungen. Mit einem Male stand er leise auf, ging an seinen Schreibtisch, setzte sich und schrieb auf einen Zettel ein paar Worte, steckte den in einen Umschlag, klebte ihn zu und trat hinter Agnas Stuhl.

„Kind, laß Kathrine diesen Brief sofort nach der Ecke der Rudolfstraße bringen. Dort hält ein rotbraunes Auto. Kathrin soll dem Chauffeur den Brief abgeben –“

Agna hatte sich aufgerichtet. In ihren Augen lauerte der Argwohn.

Volkmer beobachtete sie.

„Hast du Angst vor mir, Kind? Magst du mit mir nicht allein sein?“

Er nickte langsam mit dem Kopf, rauchte ein paar Züge und sagte traurig:

„Ja, ja – es ist weit gekommen mit uns beiden, Agna! Du fürchtest mich. Und – du magst Grund dazu haben. –

Nicht wahr, Kind, der Rechtsanwalt Bantzki hat bereits ermittelt, daß ich zwei Leben lebte, eins als Volkmer, das andere als Baron Arnville. Ich habe es deinem veränderten Wesen angemerkt. Und, Agna, – das – das hat den Ausschlag gegeben.“

Agna lehnte sich an den Ofen. Langsam rannen ihr die Tränen über die Wangen. Am liebsten wäre sie zu Onkel Heinz hingeeilt, hätte sich ihm wie noch vor kurzem auf den Schoß gesetzt und –

Ihr Gedankenfaden zerriß jäh.

Unten von der Straße der Pfiff – die vier Takte.

Agna erbleichte. –

Sie wußte, das war die Falle für die ‚Fünf Sterne’! Sie sollten Bodo wieder entführen! Aber man wußte jetzt, wo das Haus mit der Zelle und dem Strohsack war, man wollte nur abwarten, was die ‚Fünf Sterne’ dann tun würden.–

Und – Volkmer erhob sich jetzt, ging ans Fenster, öffnete es und winkte Agna heran.

„Kind, rufe Bodo herauf. Ich möchte mit euch beiden etwas besprechen –“

Agna sanken die Arme schlaff herab.

„So rufe doch!“ mahnte Volkmer und machte Agna am Fenster Platz.

Agna zauderte nicht länger.

„Bodo – Bodo! Du sollst heraufkommen! Onkel Heinz wünscht es! Ich werde dir die Haustür aufschließen –“

Sie lief hinaus. –

Heinrich Volkmer saß wieder auf dem Sofa, hörte Stimmen im Flur. Dann wurde es still. Aber nebenan in Agnas Mädchenstübchen lachte und weinte das junge Weib am Halse des Geliebten. –

Nun traten die beiden ein.

Und Volkmer begann:

„Ich weiß, daß Ihr mich nun durchschaut habt. Das, was Ihr noch nicht wißt, sollt Ihr jetzt erfahren. –

Dein Vater, Agna, hatte sein Barvermögen in Königsberg bei der ostpreußischen Bank unter ganz besonderen Bestimmungen deponiert – etwa anderthalb Millionen Mark. In der Urkunde, die mich zum Vormund berief, befand sich als Nachschrift ein Zusatz, der dieses Barvermögen betraf. Ich schnitt die Nachschrift ab, und die ganzen Umstände ließen in mir den Plan ausreifen, dieses Geld an mich zu bringen. Ich war kein Neuling in solchen Dingen. Ich lebte gern gut und scheute die Arbeit. Damals kannte ich dich nicht, Agna. Und – als ich dich dann als mein Mündel lieben gelernt hatte wie mein eigen Kind, war es zu spät zur Umkehr, besonders deswegen, weil meine Frau und meine Helfershelfer – mein Sohn und meine Tochter sowie deren zweiter Mann – mir keine Ruhe mehr ließen, das Werk zu vollenden. So wurde denn Bodo entführt. Wir wollten dich dann zwingen, für Bodo eine Urkunde auszufertigen, die ihn der Bank gegenüber zur Abhebung des Geldes legitimierte. Einzelheiten erspart mir. Der Plan wäre der ganzen Sachlage nach geglückt. Ich werde das vor der Polizei zu Protokoll geben. –

Dann sah ich deine Verzweiflung, Agna. Aber heute warst du so verändert. Ich wußte, ich hatte deine Liebe verloren. Und – das ertrug ich nicht! Ich bin ein Verbrecher. Doch auch die haben Gefühl. –

Bodo wollten wir heute abermals entführen. Ich habe das Auto durch den Brief weggeschickt. Und jetzt werde ich zur Polizei gehen und mich selbst stellen. –

Agna, Kind, – das hast du aus mir gemacht! Einen Menschen, der jetzt an der Grenze des Greisenalters endlich Einkehr gehalten hat –“

Er stand auf. „Werdet glücklich, Kinder. Ich bin es schon jetzt! In wessen Seele das Gute doch schließlich siegt, der muß glücklich sein –“

Er ging langsam zur Tür.

„Onkel, Onkel – ich habe dich lieb behalten trotz allem! Ich wußte, daß du nicht schlecht sein kannst. Du sollst hier bleiben, Onkel Heinz. Bantzki wird alles ordnen –“

Heinrich Volkmers Körper flog in mühsam unterdrücktem Schluchzen hin und her.

Auch Bodo Helling sagte sehr bestimmt:

„Du bleibst, Onkel! Es handelt sich hier nicht nur um dich, sondern auch um Hilde Parlow!“

Und – der alte Mann blieb. –

Justizrat Blunk mit seinen weitreichenden Beziehungen half dabei, den Fall Helling zu vertuschen. Die ‚Fünf Sterne’ zerplatzten. Volkmer brach alle Beziehungen zu seiner Familie ab.

Drei Tage nach der Wiedervereinigung der beiden Liebenden fand in aller Stille die kirchliche Trauung statt. Nur Parlows, Bantzki, Holger, Blunk, Volkmer und Bodos Eltern wohnten ihr bei und nahmen nachher an dem Hochzeitsmarsch teil, das Bantzki dem jungen Paare in seiner Wohnung ausrichtete.

Bantzki hatte Hilde einen prachtvollen Strauß roter Rosen überreicht mit einer hellblauen Schleife, an der noch ein kleines Päckchen ging. Sie waren allein in seiner Bibliothek, als Hilde das Päckchen öffnete. Es enthielt ein Etui mit zwei Verlobungsringen.

Es bedurfte keiner Worte weiter. Hilde wurde bleich. Dann ruhte sie an der Brust des Mannes, der ihr Retter geworden.

Frau Agnas Herzensnot hatte nur Gutes im Gefolge. Zwei verirrte Seelen hatten sich selbst wieder gefunden, waren durch Liebe geläutert worden.

 

 

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Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.