Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 415
Das Land der Liebe
Originalroman von
Walther Bekal
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Bei der großen Menge der angebotenen Bücher ist es für den Leser nicht leicht, eine Auswahl zu treffen. Wenn wir hier empfehlend auf unsere
Vergißmeinnicht-Romane
hinweisen, so glauben wir bestimmt damit den Lesern einen guten Dienst zu erweisen. Vom ersten Bande dieser Sammlung an waren wir bestrebt, nur wirklich gute und einwandfreie Arbeiten zu veröffentlichen. Unseren Lesern wird es nicht entgangen sein, daß viele Arbeiten der Autoren der Vergißmeinnicht-Romane in guten Familienzeitschriften, in den angesehensten Tageszeitungen und in Buchausgaben erschienen sind, die einen Ladenpreis von 3 bis 5 Mark haben, ein Beweis für die Güte unserer Bücher.
Ein Unternehmen, welches sich wie die Vergißmeinnicht-Romane seit fast zehn Jahren in die weisesten Kreise unseres Volkes eingebürgert hat und welches während der langen und schweren Kriegsjahre so unendlich vielen Männern im Schützengraben und im Lazarett und so vielen Frauen und Mädchen in der Heimat ein guter Freund in trüben Stunden gewesen ist, kann nur ein gutes sein.
Wir werden auch fernerhin nur gute und unterhaltene Romane veröffentlichen und bitten unsere Leser die Vergißmeinnicht-Romane in Bekanntenkreisen zu empfehlen.
Der Verlag.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
1. Kapitel.
Genesung.
Das Land der Liebe ist die ganze Welt.
Wo des Nordpols Eiseshauch glitzernde Schneefelder selbst im Sommer, bestehen läßt, wo die Glutsonne Arabiens des Namens „Winter” spottet, wo an reich gedeckten Tischen die goldenen Glückskinder des Lebens prassen, wo im Kämmerlein der armen Waise das Folterwerkzeug der menschlichen Frontiere von früh bis spät das weiße Garn im weißen Linnen verschwinden läßt – überall herrscht die Liebe.
Sie begrüßt uns beim Eintritt in diese Welt mit sonnigem Mutterkuß; sie wandelt sich mit den Jahren, wird zum stärksten Triebe in unserer Seele, läßt uns das Weib unserer Sehnsucht freien, wandelt sich abermals in der Freude und Fürsorge um das eigene Kind, wird schließlich im Herbste des Lebens zu wehmütig Erinnern an der Jugend heiße Freuden.
Das Land der Liebe ist die ganze Welt.
***
Niemand wußte mehr recht, weshalb man einst das kleine Städtchen, als es noch Dörfchen war, Liebland getauft hatte.
Eine Stadtchronik existierte wohl. Aber sie war in so wunderlichem Deutsch und mit so verschnörkelten Buchstaben geschrieben, daß niemand sich die Mühe machte, in diesem dicken, wurmstichigen Folianten dem Geheimnis des Namens Liebland nachzuspüren.
Liebland hatte seinen alten Bürgermeister verloren. Die Stelle war neu ausgeschrieben worden – in der Deutschen Städtezeitung und ein paar anderen Blättern.
***
Mai war’s – so ein echter, lauer Honigmond mit Sonnenschein und prickelnder Luft.
Christa Schmiedt durfte heute nach dem sechswöchigen Krankenlager zum ersten Male ausgehen.
Sie stand vor dem Spiegel in dem schmalen Mädchenstübchen, das eigentlich für die Köchin bestimmt war. Aber Schmiedts hielten sich keine Dienstboten. Sie hätten es in ihren Verhältnissen sich wohl Ieisten können, doch – mit Frau Therese Schmiedt war eben nicht gut Kirschen essen! Sie hatte als Hausfrau ihre Eigentümlichkeiten, und als Weib und Mutter nicht minder.
Christa erschien das helle Tageslicht heute geradezu grausam.
Wie deutlich der Spiegel ihr zeigte, daß sie blaß. schmal, reizlos und – fast kahlköpfig geworden durch den schweren Typhus, – fast kahlköpfig! Und das war am schlimmsten!
Die prächtigen blonden Haare waren bis auf einen winzigen Rest verschwunden, aus dem sich zur Not ein Jungenscheitel herstellen ließ.
Christa beschaute sich weiter.
Schrecklich – auch der Hals so mager, und die Haut so welk und gelblich!
Was würde wohl Hans Brandtner für ein Gesicht machen, wenn sie sich jetzt wieder begegneten.
Christa seufzte. – Ach – der Brandtner, dieser entzückende Mensch! Nun war es sicher aus mit den heimlichen Spaziergängen.
Die Stubentür wurde langsam geöffnet, und Tante Jette trat ein.
Tante Jette war in Darkehmen in Ostpreußen zu Hause und früher mal eine überaus segensreiche Person gewesen, nämlich Hebamme. Jetzt lebte sie von ihren Zinsen und war nur für acht Tage nach Berlin gekommen, um Christa während der Abwesenheit der Eltern zu betreuen, die nach Liebland gereist waren, weil der Herr Oberstadtsekretär Hubert Schmiedt sich um die Bürgermeisterstelle in Liebland beworben gehabt hatte und auch letztens gewählt worden war, eine Tatsache, die bei Hubert Schmiedt nur sehr gemischte Gefühle, bei seiner Gattin Therese dagegen ein stolzes, befriedigtes Lächeln hervorrief.
Tante Jette ließ sich keuchend auf einen Stuhl fallen.
„Na, Christa, nu man ’n bisschen fix, Mariell. Sonst is ’s mit dem scheenen Vormittag alle, eh Du noch an die Luft kommst –”
Christa wischte die Tränen weg.
„Ich mag gar nicht ausgehen, Tante. Ich bin ja die reine Vogelscheuche geworden. Ich habe nichts Passendes anzuziehen. Für halsfreie Blusen bin ich zu mager –”
„Das füllt sich wieder aus, mein Marjellchen,” tröstete die Tante in ihrem breitesten ostpreußischen Deutsch, das für die neugebackene Frau Bürgermeister Therese Schmiedt, geborene von Hundius, mindestens ebenso „entsetzlich gewöhnlich” wie der frühere Beruf dieser einzigen Schwester ihres Mannes war.
„Aber wann, Tantchen, wann?!” meinte Christa, die nun mit dem Kamm einen Scheitel in den abgeknabberten blonden Haaren herzustellen suchte.
„Bis zu Deiner Hochzeit is alles wieder da,” sagte Tante Jette, und ihr Vollmondgesicht lächelte Christa herzlich an.
„Ach was – Hochzeit!” rief Christa unwirsch. „So verlobt sich kein Mensch mit mir – keiner!”
Na so eilig is ’s damit auch nich, Marjellchen – nee da laß Dir doch man Zeit damit. Allzu jung jefreit, hat schon manchen jereut! Denk an Willy, Christachen!”
Der Blick der schlanken Genesenden wanderte zu dem Bilde des einzigen Bruders hin, der als zwanzigjähriger Student damals ins Feld gezogen war und dann während eines Urlaubs heimlich ein armes Mädel geheiratet hatte, worauf er sehr bald – August 1918 gefallen war.
Von dieser Kriegsehe hatten Schmiedts erst nach Willys Tode Kenntnis erhalten. Hubert Schmidt hätte in seiner Herzensgüte den Brief dieses jungen Weibes, in dem sie um eine Unterstützung bat und die nötigen Papiere über die Eheschließung beigefügt hatte, wohl anders beantwortet, als er es dann auf Befehl Frau Thereses tun mußte. Jene Frau Adda Schmiedt, geborene Fröbel, hatte darauf nie wieder etwas von sich hören lassen. Für Frau Therese war dieser „dumme Jungenstreich” des Sohnes damit erledigt. Nicht so für Herrn Hubert, den Vater, und noch weniger für die damals fünfzehnjährige Christa, die sich heimlich die Adresse ihrer Schwägerin notiert hatte und ebenso heimlich wie der Vater unter anderem Namen ihr Geld schickte, so viel sie nur irgend aufbringen konnte.
Adda Schmiedt, geborene Fröbel, hatte ja in ihrem bescheidenen Briefe angedeutet, daß sie im Januar 1919 einem Kinde das Leben geben würde und daß sie als Tochter eines ständig kränkelnden Vaters, der nur eine kleine Pension als früherer Kanzleidiener bezöge und dessen Frau seit Jahren bereits tot wäre, kaum etwas verdienen könne. – Das alles hatte auf Therese, geborene von Hundius, nicht den geringsten Eindruck gemacht. Wie ihr Sohn sich derart von „so einer” hatte „einfangen” lassen, das war und blieb dieser eitlen Mutter ein Rätsel. –
Christas Blicke hingen noch immer an dem Studentenbilde. Bis Tante Jette fragte:
„Du, wie is ’s aijentlich, – hat Willys Frau sich nochmals jemaldet?”
Christa schüttelte den Kopf. „Seit einem Jahr wissen wir nichts mehr von ihr, – seit dem – großen Krach zwischen den Eltern –”
„Krach?! Ach nee! Wie war denn das? Davon hat der Hubert mir ja reine gaar nichts gesagt."
„Na – schön war’s nicht, Tantchen. Eine Postanweisung kam als unbestellbar zurück, auf der Papa zum ersten Male seinen richtigen Namen als Absender angegeben hatte.”
„Ach nee. ’ne scheene Geschichte. Armer Hubert!”
„Mama hat – hat getobt –”
„Glaub ich – glaub’ ich –”
„Und hat Papa vorgeworfen, daß er von ihrem Gelde eine – eine Dirne unterstützt hätte –”
„Pfui!”
„Tantchen, es war schrecklich! Ich habe an der Tür gelauscht. Und Mama schrie unter anderem: „Es ist eine Dirne!" – Und Papa blieb wie immer vornehm und ruhig, sagte nur recht laut und scharf, daß er das Geld von seinem Gehalt genommen hätte. – Seit dem Tage, Tantchen, schläft der Papa in seinem Arbeitszimmer. Und – es ist hier bei uns noch eisiger geworden. Du verstehst, Tantchen – gemütlich war es ja nie bei uns! Wie sollte das auch! Bei Mamas Reinmachewut und – und engem Horizont.”
„Stimmt, stimmt – enger Horizont," murmelte Tante Jette. „Bei uns sagen sie: Brett vorm Kopp. Der Oberstadtsekretär war ihr nicht gut genug. Nun muß der Hubert dort in Liebland sich ihretwegen vergraben. – Frau Bürgermeister! Das klingt! – Nein zum Lachen: in so ’n Nest von 2100 Einwohners – zum Lachen! – Christachen, nu aber rin in die Kleedasche! Ich werd’ für was zu prepeln sorjen. Katlettens gibt's zu Mittag mit so ’ne Fettschicht dran –”
Tante Jette watschelte hinaus.
Christa seufzte wieder. Sie war jetzt nicht nur mit ihrem Äußeren unzufrieden. Nein – sie hätte nicht so – so häßlich über die Mama sprechen sollen – so unkindlich! Die Mama hatte doch auch ihre guten Seiten, war so fleißig und so sparsam.
Christa grübelte darüber nach, welche Vоrzügе die Mama sonst wohl noch besäße. Aber – sie entdeckte keine. Höchstens, daß die Mama sich so jung erhalten hatte: fast zu jung für eine nach sechs Monaten bereits achtzehnjährige Tochter und für eine – Großmutter! Denn das war die Mama ja, wenn sie auch nichts von ihrer Schwiegertochter und ihrem Enkelkinde wissen wollte. –
Christa trat an den Schrank, wählte eine weiße Batistbluse und schlüpfte hinein.
Der Spiegel war ihr jedoch auch in dieser Bluse nicht wohlgesinnt.
„Scheußlich sehe ich aus – scheußlich!” dachte sie. „Wenn ich nur eine Bluse mit Stehkragen hätte.”
Stehkragen! – Dort in dem anderen Schranke wurden ja noch Willys Sachen aufbewahrt. Willy war schmächtig und mittelgroß gewesen. – Sie mußte doch mal probieren, wie sie mit einem Herrenkragen ausschaute. –
Zehn Minuten drauf öffnete Christa die Küchentür nur fingerbreit und rief der Tante, die am Fenster saß und Kartoffeln schälte, zu:
„Auf Wiedersehen. Ich bin punkt eins wieder daheim!”
2. Kapitel.
Frühlingslüge.
An demselben Vormittag saßen in der Gerold-Likörstube Ecke Friedrich- und Leipziger Straße an einem Fenstertischchen zwei Herren, von denen der eine der Typ eines eleganten Lebemannes war während der andere, in Kleidung und Haltung etwas nachlässig, den Schauspieler, Künstler oder Gelehrten verriet.
Vor ihnen standen Gläschen mit Kognak. Daneben lag auf der Tischplatte ein silbernes, offenes Zigarettenetui.
„Du meinst also, die Sache hat in allen Punkten ihre Richtigkeit, Benno?”
fragte der Elegante flüsternd und putzte dabei sein Monokel mit dem buntseidenen Taschentuche.
„Ja. Um die alte Schwarte hat sich noch kein Mensch gekümmert. Nur, wie gesagt –”
„Sprich leiser!" warnte der andere.
„Wie gesagt, das eine Hindernis ist dabei, falls man nicht gerade die Öffentlichkeit –”
„Unsinn!” fiel der mit dem Monokel ihm ins Wort. „Nur das nicht! Dann hättest Du das Nachsehen.”
„Hm – mag sein, lieber Brandtner. Es widerstrebt mir jedoch eigentlich, von dieser –”
„Unsinn!” sagte Hans Brandtner schroff. „Unsinn! Ich werde mir die Geschichte überlegen. Dann arbeiten wir Hand in Hand auf Halbpart!”
Benno Schütz nickte zögernd und schaute vor sich hin.
Brandtner fixierte ihn scharf. Ueber sein regelmäßiges Gesicht, das recht vornehm wirkte, huschte ein ironisches Lächeln hin. Dann sagte er ebenso leise wie vorhin:
„Hand her, Benno. Also Halbpart!”
Doktor Schütz wehrte verlegen ab.
„Ich – ich – muß mich erst entschließen, was ich tue. Du kennst mich ja. Ich handele nie vorschnell.”
Brandtner trank sein Gläschen leer und setzte es hart auf die Tischplatte auf.
„Und wann ist dieses „vorschnell” erledigt? Wann wirst Du Dich entschließen?”
„Die Sache eilt ja nicht. Ich habe zu arbeiten. Wenn wir uns nach zwei Wochen hier wieder treffen wollen, dann könnte ich Dir wohl Bescheid geben.”
„Zwei Wochen! Alter Käfer-Benno, Du bist köstlich! Zwei Wochen braucht der Mensch, um – na, meinetwegen. – Gehen wir. Ich habe zu tun, genau wie Du!”
Brandtner hatte sich schon erhoben. Sie traten auf die Friedrichstraße hinaus.
Sie drückten sich die Hände und trennten sich. Brandtner aber machte nach kurzer Zeit wieder kehrt, ging in die Likörstube zurück und setzte sich zu einem kleinen, dicken Herrn an den Tisch, der ihn mit den Worten begrüßte:
„Was war denn das für ein Gewächs, Brandtner? Und weswegen winktest Du mir zu, Dich nicht zu beachten?”
„Dies Gewächs war der Doktor der Philosophie und Privatgelehrte Benno Schütz, auf der Schule schon Käfer-Benno genannt, da er bereits damals nichts Schöneres kannte als Insekten zu sammeln. Jetzt schreibt er ein dickes Werk über die Familie der Mistkäfer und hat im übrigen einen Spleen und wenig Geld. – Was Deine zweite Frage betrifft, so muß ich Dir leider eingestehen, daß Dein Gesicht nicht gerade vertrauenerweckend wirkt – im Gegenteil, lieber Möbius! Du darfst mir diese Offenheit nicht verargen, zumal ich –”
Er schwieg und schaute sich um. Hinter ihnen hatte ein blasser junger Mensch Platz genommen, der heftig nieste und das Taschentuch vor das Gesicht hielt.
Brandtner wandte sich wieder Möbius zu. Er war beruhigt. Dieses blasse Jüngelchen schien ein „höherer” Pennäler zu sein, der mal bei Gerold den Lebemann spielen wollte.
„– also – zumal dieser Käfer-Benno ein Musterknäbchen ohnegleichen ist und fraglos stutzig geworden wäre, wenn er bemerkt hätte, daß Hans Brandtner jetzt Bekanntschaften hat, die nicht ganz prima prima sind –”
Der Dicke lächelte zynisch.
So wenig prima prima wie dieser Brandtner selbst!" sagte er mit einer schleimigen Stimme, die vortrefflich zu seinem aufgedunsenen Gesicht paßte, das von einem blonden Spitzbart umrahmt war und auf dessen dicker Knollennase ein goldener Kneifer mit grauen Gläsern ein Paar schwarze kleine Augen mit einem stets lauernden Ausdruck gut verbarg.
Brandtner hatte zu Möbius frecher Bemerkung ärgerlich die Stirn gekraust und war rot geworden. Trotzdem fuhr er in demselben halb kameradschaftlichen, halb ironisch-überlegenen Tone fort:
„Dieser Käfer-Benno hätte mir kaum das anvertraut, was er jetzt als Geheimnis in seiner Brust herumwälzt, wenn er uns als Bekannte durchschaut hätte. – Möbius – die Sache ist ein feines Ding! Nur etwas Betriebskapital gehört dazu!”
„Aha – und das soll der nicht prima – prima – Möbius hergeben!”
„Nur wenn er will! Und er wird wollen. Hör’ zu –” –
Der blasse Jüngling hatte jetzt eine Zeitung in den Händen und las. Wenigstens schien es so. In Wahrheit fing er begierig jeden Brocken des Gesprächs der beiden Herren vor ihm auf. Vieles von dem, was Brandtner erzählte, entging ihm ganz. Aber dennoch verstand er genug, um sich darüber klar zu werden, daß die beiden nichts Geringeres beabsichtigten, als einen gewissen Benno Schütz bei diesem seltsamen Geschäft ganz auszuschalten. –
Vier Uhr nachmittags.
Christa steht vor dem Spiegel und betrachtet sich sehr eingehend. Sie hat aus Mamas Frisiertisch eine Anleihe in rosa Puder gemacht und findet, daß sie jetzt „leidlich” ausschaut.
„Vormittags war ich aber fraglos hübsсhеr,” denkt sie und lächelt spitzbübisch. Dann wird ihr Gesicht wieder ernst. Sie seufzt. Dann geht sie sich von Tante Jette verabschieden, fährt mit der Straßenbahn bis zum Tiergarten und bummelt die Linden entlang. –
Brandtner sitzt vor der Tür der Kranzler-Konditorei, das Monokel eingeklemmt, und mustert die Passanten. Zwischen vier und fünf nachmittags ist er bei warmem Wetter hier stets zu finden. Mit einem Male stutzt er, grüßt.
Donnerwetter – die wiedererstandene Christa!
Er zahlt schnell, holt sie bald ein.
„’n Tag, Gnädigste. Zunächst meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur Genesung –”
Er streckt ihr die Hand hin. – Christa zögert. Dann gönnt sie ihm den Händedruck. –
Brandtner kann bezaubernd liebenswürdig sein. Er bietet seine ganze Überredungskunst auf, sie zu einer Wagenfahrt nach dem Grunewald zu überreden. Sie bleibt seltsam kühl.
Längst sind sie im Tiergarten auf einsamen Wegen.
Brandtner bleibt stehen.
„Christa, was haben Sie plötzlich gegen mich?” fragt er schroff und packt ihre Hand. – Er weiß, wie man diese kleinen Täubchen zahm macht.
Christa atmet schwer.
Brandtner schaut sich um. Kein Mensch ist in der Nähe. Er legt den Arm um die zarte Gestalt, zieht sie an sich.
„Nicht doch!” – In Christas Augen flackert plötzlich etwas wie Abscheu, wie Angst.
Sie biegt den Kopf zur Seite, will seinen Lippen entgehen.
Und – unterliegt dem Zauber des Frühlings, fühlt die körperliche Berührung des Mannes, fühlt das Blut wie siedend zum Herzen schießen.
Er küßt sie. – Sie hält die Augen geschlossen; ihre Lippen bleiben tot.
Zum ersten Male küßt er sie; zum ersten Male erlebt Christa das Wunder dieser zarten Vertraulichkeit zwischen Mann und Weib.
Und – sie erlebt es nicht wie eine, die dem Geliebten in diesem Augenblick alles – alles hingeben möchte, – nein, sie lauscht nur gleichsam in sich hinein, beobachtet sich selbst, prüft ihre Gefühle –
Dann öffnet sie die Augen, schluchzt auf.
„Das – das war gemein!” stammelt sie.
„Kleine süße Christa, ich habe Dich doch lieb.” sagt er und hält sie an beiden Händen. – Er kann ja so strahlend glücklich aussehen, wenn er will.
Christa schaut ihn an. Und über diesem hübschen Gesicht, diesem frohen Lächeln vergißt sie abermals, daß es heute Stunden gab, wo sie diesen Menschen verachtete.
„Du – Du – hast mich wirklich lieb?” fragt sie zaghaft.
„Ja – unendlich lieb, süße Christa. Komm’, setzen wir uns dorthin –”
Er umschlingt sie wieder, führt sie zu der Bank, dann setzt er sich neben sie, plaudert, läßt sie gar nicht zu Worte kommen.
Bis eine Wendung des Gesprächs es mit sich bringt, daß Christa den Umzug nасh Liebland еrwähnt, der in der nächsten Woche bevorsteht, weil doch der Papa die Stellung als Bürgermeister dann doch antreten müsse.
Hans Brandtner starrt einen Augenblick vor sich hin. Er ist es gewöhnt, sich schnell zu entschließen.
Liebland! Das ist ein Wink des Schicksals! Und – Bürgermeister –! –
Er nimmt Christas Hand.
Christa lauscht wie betäubt. – Sie kann es gar nicht glauben, daß dies – dies Wahrheit sein sollte.
Siebzehn Jahre erst – und verlobt! Wie würde man sie beneiden! Verlobt mit Hans Brandtner, dem Sohne des reichen Kommerzienrats!
Sie kann es kaum fassen! – Sie ist noch so jung. Sie versteht es noch nicht, Eitelkeit und wahres Liebesempfinden zu unterscheiden. Im Augenblick vergißt sie alles andere, denkt nur an diese sie scheinbar so beseligende Tatsache: daß sie Braut ist – Braut!
Brandtner erzählt ihr jetzt von der Entzweiung mit seinen Eltern; spielt den Reuigen, den das ganze bisherige Leben anekele.
„Du hast mir gefehlt, meine Christa, Du! Ein so reines, holdes Geschöpf mußte kommen wie Du und mich erlösen. Gleich nachher gehe ich zu meinem Vater und söhne mich mit ihm aus. Meine Mutter ist weit nachsichtiger als er. Sie leidet unter diesem Zerwürfnis: sie wird mich mit offenen Armen aufnehmen –”
Dann gehen sie dem Brandenburger Tor zu. In Christas Herzen klingt es wie weihevolle Glocken. Die Welt scheint ihr verändert. Jedem möchte sie es zurufen – jedem: „Ich bin Braut!”
Dann küßt Hans Brandtner ihr die Hand zum Abschied.
„Auf Wiedersehen, mein Liebling. Übermorgen komme ich zu Deinen Eltern –”
3. Kapitel.
Schnelle Reue.
Brandtner besitzt Energie. Es ist die Energie der Verzweiflung. – Nicht einen Moment wird ihm das Bewußtsein dieser ungeheuren Schurkerei irgendwie lästig. – Ah bah – so ein kleines Dummchen! Vermögen ist ja bei den Schmiedts vorhanden, wenn auch nicht viel. Sollte es also nachher gar nicht anders gehen, – na, dann heiratet man die Christa eben wirklich! –
Das Geschäftshaus der Firma Brandtner liegt dicht am Potsdamer Platz in einer Seitenstraße.
Seit zwei Monaten hat der einzige Sohn und Erbe des Chefs es nicht mehr betreten.
Der Pförtner macht ein sehr erstauntes Gesicht, als er den jungen Herrn erblickt. Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß der Kommerzienrat sich von seinem Sohne völlig losgesagt hat. –
„’n Abend, Mielke. – Ist Papa noch hier?” fragt Brandtner vertraulich.
„Jawohl – jawohl. Auch die gnädige Frau ist oben.” –
Das trifft sich gut; ist eine gute Vorbedeutung. Und Hans Brandtner steigt die Seitentreppe empor, steht vor der Tür mit dem Porzellanschild „Eintritt verboten”.
Er klopft. Von drinnen ein kurzes, herrisches „Herein!”
Die Kommerzienrätin fährt mit einem Schrei hoch, als sie den Sohn auf der Schwelle erblickt.
Er zieht die Tür hinter sich zu. Leute seines Schlages sind Komödianten. Das bringt Leben so mit sich. – Er bleibt an der Tür – ganz bescheiden.
„Papa, verzeih', wenn ich es wage, dir nochmals vor die Augen zu treten,” beginnt er. Und Haltung, Ton und Miene sind fein berechnet, – nicht zu demütig, nicht zu weinerlich.
„Papa, ich möchte Dich herzlich bitten, mir zu verzeihen. Ich – ich habe mich heute verlobt. Ich – will anders werden –”
Die stattliche Kommerzienrätin eilt schon mit ausgebreiteten Armen auf ihren Liebling zu.
„Anna!" – Ihres Mannes Stimme scheucht sie zurück.
Albert Brandtner schaut den Sohn mit scharfen, klaren Augen lange an.
„Setz Dich. – Mit wem hast Du Dich verlobt?” sagt er dann ein wenig freundlicher.
Frau Anna weint ein paar Tränen. Ihr Hans – ihr Hans verlobt! Das – das muß ja die Einkehr, die Umkehr bedeuten! –
„Mit Christa Schmiedt, der einzigen Tochter des Bürgermeisters Schmiedt aus Liebland, Papa. – Ich kenne sie bereits seit vier Monaten. Jetzt war sie sechs Wochen schwer krank – an Typhus. Und – und die Angst um ihr Leben hat mich erkennen lassen, wie – wie – tief ich gesunken war. – Papa, ich verlange nichts von Dir als Deine Einwilligung zu diesem Verlöbnis. Ich werde arbeiten – Papa, versuch’s noch einmal mit mir –"
Der Kommerzienrat streicht mit altgewohnter Bewegung seinen grauen Spitzbart. Dann erwidert er kurz:
„Ich möchte dieses Mädchen erst kennen lernen.”
„Die Eltern wohnen zur Zeit noch hier – in der Heimdahlstraße 32, Berlin O
–”
Albert Brandiner nickt. „Gut. Dann läßt sich das ja sofort erledigen. Ich erwarte Dich um neun Uhr abends bei uns. Geh’ jetzt, Hans. Ich – habe zu vieles zu vergessen. Das weißt Du. Wenn Deine Wahl auf ein Mädchen gefallen ist, das meinen Erwartungen entspricht, dann werde ich vergessen. – Geh'! – –
Tante Jette kommt ganz außer Atem.
„Marjellchen, – Du – erstickst mich ja!” stöhnt sie.
Und Christa gibt ihr noch einen Kuß, ruft:
„Tante – verlobt hab ich mich – verlobt!”
Christa berichtet. Ihre Wangen glühen.
Jettchen Schmiedt überkommt die Rührung.
Eine kleine Braut – nee, so was! Die Christa Braut! Und vielleicht bald selbst Mutter – vielleicht.
„Marjellchen, Marjellchen, – was wird sich nur Deine Mama freuen! So eine stadtbekannte Familie. Und so reich!” – Jettchen steht auf und drückt Christa an sich. „Weißt Du, wir telegraphieren sofort an die Eltern. Das sind wir ihnen schuldig, wenn sie auch schon morgen abend zurückkehren. Die Post ist ja so nahe. Schreibe nur gleich die Depesche und bringe sie hin. Und telegraphier’ man, daß es der Sohn von dem „großen” Brandtner is. Den nimmt ja jeder zum Schwiegersohn –”
Die Depesche geht ab. Als Christa kaum wieder daheim ist, läutet es.
Trällernd eilt Christa zur Flurtür. Es kann ja nur der Postbote sein.
Und – vor ihr steht ein eleganter, älterer, schlanker Herr.
„Mein Name ist Brandtner. Nicht wahr – Fräulein Christa Schmiedt?”
„Ja –” – Christa wird plötzlich so bang. In ihrer Verwirrung vergißt sie ganz, den Kommerzienrat zu bitten einzutreten.
„Ich möchte Sie gern allein sprechen,” sagt Albert Brandtner freundlich. – Ja, dieses Mädel gefällt ihm. Das ist keine der überkultivierten modernen jungen Damen. Da ist so etwas Frisches, Unverdorbenes, das ihn beruhigt.
Christa wird sehr rot, stottert:
„Entschuldigen, Sie, Herr Kommerzienrat. – Bitte – hier hinein –”
Sie öffnet die Salontür.
Albert Brandtner umfängt die geschmackvolle Einrichtung mit einem einzigen Blick. – Diese Schmiedts müssen wohlhabend sein. Da – ein echter Perser – die Marmorbüsten, – und alles so peinlich sauber. –
Er nimmt in dem Sessel Platz. – Christa zwingt sich, unbefangen zu erscheinen. Nochmals entschuldigt sie sich, weil sie den Kommerzienrat nicht sofort zum Nähertreten aufgefordert hat.
„Liebes Kind, das hat mir sogar gefallen,” meint er gütig. „Sie gestatten doch, daß ich jede förmliche Anrede weglasse. Ich weiß, daß Sie sich heute mit Hans verlobt haben. Deshalb kam ich auch zu Ihnen.” – Seine Stimme wird ernster. „Ich möchte Sie einiges fragen, Christa, was Hans betrifft. Er teilte mir mit, daß Sie ihn seit dem Herbst kennen. Stehen Sie schon längere Zeit auf vertrauterem Fuße miteinander?”
Christa wird wieder rot. „Ja. Wir – wir sind zuweilen spazieren gegangen. Und einmal war ich mit Hans in der Konditorei von Josin. Ich – ich habe aber natürlich für mich bezahlt,” fügt sie schnell hinzu.”
„Briefe haben Sie nicht gewechselt?”
„Nein. Meine – meine Eltern wußten ja nicht, daß Hans und ich – befreundet waren.”
„Befreundet? Da haben Sie sich wohl auch schon lange Du genannt?”
„Nein, nein!” Sie blickt ihn ehrlich an. „Nein, das – das ging doch nicht. Ich – würde sowas nie getan haben, schon – Papas wegen, der mich stets vor Herrenbekanntschaften gewarnt hat. Papa und ich haben uns sehr lieb –”
„Und den Grund unserer Entzweiung hat er Ihnen ebenfalls offenbart?” fragt der Kommerzienrat nach kurzer Pause.
„Nein. Er deutete nur an, daß er Schulden gemacht hätte –”
„Schulden?! – Kind, er hat gespielt, hat unsinnig verschwendet, hat wie ein Unsinniger das Geld verschleudert – “ – Sein Groll kommt wieder zum Durchbruch. „Kind, Sie sollen nicht blind in Ihren jungen Jahren in eine Ehe hineintappen. Sie ahnen nicht, wie schwer es ist, den richtigen Lebensgefährten zu finden, wie schwer sich dann ein unüberlegter Schritt rächt, wenn man sich erst aneinander gekettet hat –”
Christa nickt unwillkürlich. Die Ehe der Eltern ist ihr eingefallen.
„Nein, Kind, Sie können noch gar nicht abwägen, was die Ehe bedeutet,” fährt der alte Herr fort. „Der Rausch der Liebe verfliegt so schnell! Ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen. Hans hat durch sein bisheriges Leben lediglich den Beweis erbracht, daß er ein ganz ungefestigter Charakter ist – milde ausgedrückt! – Er ist unser einziges Kind. Da können Sie sich wohl denken, was alles geschehen sein muß, bevor ich mich gezwungen sah, ihm die Tür zu weisen –”
„Hans – wird sich – ändern,” haucht Christa.
Und mit einem Schlage ist alle Seligkeit in ihrem Herzen erstorben. So weit es überhaupt echte Seligkeit des ersten Liebesglücks war.
Christas Wangen verlieren die Farbe. In ihren Blicken drückt sich ihre ganze Herzensangst aus.
Der Kommerzienrat sieht, daß sie leidet. Er hat noch mehr hinzufügen wollen. – Nein – das hieße dieses holde Kind unnötig quälen! Und – könnte es nicht wirklich zu des Sohnes Bestem sein, wenn er Christa heiratete wenn der Einfluß dieses lieben Geschöpfchens die Vergangenheit allmählich auslöschte?
Er steht auf, beugt sich über Christa, drückt einen Kuß auf ihre Stirn.
„Mein Kind! Meine Tochter!” sagt er innig.
„Du wirst mit meiner Hilfe glücklich werden und glücklich machen! – Auf Wiedersehen – recht bald.”
Christa bat die Flurtür hinter ihm geschlossen, steht regungslos da, die Hand noch auf dem Drücker.
„Mein Gott – was – was habe ich getan!”
4. Kapitel.
Purzelchen.
Die Bürgermeisterfamilie saß am Frühstückstisch auf der Veranda.
Frau Therese in einem koketten Spizenmorgenrock wetteiferte mit der noch immer recht blassen Christa in jugendlichem Aussehen.
Sie war ohne Zweifel noch immer eine schöne Frau, die geborene von Hundius. Niemand hätte ihr eine erwachsene Tochter zugetraut. Und obwohl Schmiedts nun erst zwölf Tage in Liebland wohnten, nannten die braven Liebländer sie doch bereits stolz, neidisch oder mit begehrlicher Bewunderung „unsere schöne Frau Bürgermeister”.
Hinzu kam noch, daß Frau Therese berückend Liebenswürdig sein konnte, – wenn sie wollte! Und – in dieser Beziehung „wollte” sie außerhalb ihrer Wohnung stets. Sie verstand es, diese Liebenswürdigkeit sehr fein abzutōnen. Sie konnte gönnerhaft-herablassend tun, wenn sie mit Damen zusammenkam, die sie nicht ganz für voll ansahen, weil ihr Gatte doch „nur” Oberstadtsekretär gewesen. Andererseits schlug sie einfachen Leuten gegenüber gern einen burschikos-vertraulichen Ton an. Dabei war sie anders. Daheim rächte sie sich an Mann und Kind für die große Enttäuschung ihres Lebens. Als sie den damaligen Stadtsekretär Schmiedt geheiratet hatte, besaß ihr Vater nichts als seine Pension, und sie selbst war Tippfräulein beim Magistrat. Da war ihr Schmiedt als Freier der Erlöser aus recht ärmlichen Verhältnissen geworden. Er hatte sie aus Liebe geheiratet; sie ihn aus kühler Berechnung. Und diese Ehe war vom ersten Tage an dazu bestimmt, in zwei Menschen das Gefühl gegenseitiger Abneigung langsam, aber unaufhaltsam hervorzurufen und beinahe bis zu mühsam verhehlter Feindseligkeit zu steigern.
Hubert Schmiedt merkte eben sehr bald, daß er sich lediglich hatte „einfangen” lassen. Sein Weib war schön. Aber diese Schönheit war die eines Marmorbildes.
Und Frau Therese wieder kam nicht darüber hinweg, daß sie nun die Frau eines „Subalternbeamten”, daß sie für die Verwandtschaft nicht mehr recht salonfähig war. Zu allem Unheil erbte ihr Vater dann noch das große Vermögen seines Bruders, gab davon sofort seiner Tochter die Hälfte ab und ließ es so die „reiche” Frau Obersekretär doppelt schmerzlich empfinden, daß sie „deklassiert” worden war.
Ein liebeleeres, unzufriedenes Eheleben lag hinter ihr. Ein kleiner Lichtblick für die Zukunft war die Wahl ihres Mannes zum Bürgermeister in Liebland, ein zweiter die Verlobung Christas. Seit dieser Verlobung hatte sie auch ihr Benehmen Christa gegenüber geändert und war auch zu ihrem Manne etwas freundlicher und zuweilen sogar herzlich.
Doch diese Versuche ihrerseits, das eheliche Verhältnis zu bessern, fanden bei Hubert Schmiedt keinerlei Entgegenkommen mehr. Sein Herz, sein Gefühlsleben waren in diesen 24 Jahren erfrohren. Wаs in ihm noch an weichen Empfindungen lebte, gehörte Christa ausschließlich. –
Der neue Bürgermeister von Liebland war ohne Frage das, was man einen interessanten Mann nennt. Sein Gesicht mit dem blonden Spitzbart war schmal und regelmäßig. Was diesem Männerantlitz seinen Reiz verlieh, waren die großen, weichen Augen und ein Zug von Melancholie um den vollen, etwas sinnlichen Mund.
Auch jetzt ruhten Schmiedts Augen mit stiller, sorgender Zärtlichkeit auf seiner Tochter.
Frau Therese hatte soeben die Postkarte gelesen, die heute früh von Hans Brandtner für Christa eingetroffen war. – Sie legte die Karte auf den Tisch zurück und meinte ein wenig gereizt zu dem sinnend ins Weite starrenden jungen Mädchen:
„Allzusehr scheinst Du Dich darüber nicht zu freuen, daß Hans in acht Tagen für einige Zeit uns besuchen will!”
„Doch, Mama –”
Frau Therese zuckte die Achseln.
„Du bist ein komisches Kind. Aus Dir wird niemand klug – “
Hubert Schmiedt hatte seine Frau mit einem ernsten Blick gemustert und erwiderte nun anstelle seines Kindes:
„Niemand klug?! – Da irrst Du, Therese. Ich werde aus Christa klug. Diese Verlobung ist ein Unglück für sie –”
„So?!” meinte Frau Therese spitz. „Mit einem Male?! Und – gleich ein Unglück! Möchtest Du mir das vielleicht näher auseinandersetzen?”
„Da gibt es nichts auseinanderzusetzen. Ich glaube Christa zu kennen. Sie liebt Brandtner nicht. Und – das ist insofern ein Unglück, als diese Ehe, falls es dazu kommt, nur eine Gemeinschaft werden kann, durch die Christa seelisch – gemordet wird.”
Sie wurde etwas rot. Sagte dann hastig:
„Das hätte Christa sich vor der Verlobung überlegen müssen, ob sie Hans liebt oder nicht. Im übrigen sind das bei ihr wohl nur Stimmungen, die man nicht ernst nehmen kann. Jedenfalls wäre es von Dir als Vater richtiger, diese kindlichen Anwandlungen von Ehescheu bei Christa zu unterdrücken, als sie noch zu fördern. Wenn Hans erst hier ist, wird der Hochzeitstag festgesetzt.”
„Das bleibt abzuwarten,” sagte Hubert Schmiedt ruhig. „Wer von uns beiden um Christas Wohl mehr besorgt ist, darüber ließe sich streiten”. Er hatte die Stimme etwas erhoben und sich aufrechter gesetzt. „Ich habe bisher des lieben Friedens wegen zu vielem geschwiegen. Was jedoch diese Verlobung angeht, Therese, – da werde ich meinem Willen Geltung verschaffen! Und mein Wille ist, daß Christa glücklich wird. Sie wird ihre Gefühle prüfen, und wenn sie –”
Frau Therese war rasch aufgestanden. Der Korbsessel hinter ihr fiel um. Mit schneidender Kälte unterbrach sie ihren Mann:
„Gefühle prüfen?! Lächerlich! Christa wird Hans Brandtner heiraten! Für die Blamage, eine entlobte Tochter im Hause zu haben, bedanke ich mich!”
Sie verließ die Veranda durch die in den Saal führende Flügeltür.
Ihr Gatte schaute ihr mit eigentümlichem Blicke nach. Ein ähnlicher Blick traf dann Christa, nur daß jetzt um des Bürgermeisters vollen Mund der Anflug eines zärtlichen Lächelns sich zeigte.
„Und Du, Christel?" fragte er langsam. „Wie sind Deine Gedanken?”
„Würdest Du es ebenfalls als Blamage empfinden, Papa, wenn diese Verlobung auseinanderginge?”
„Ich?!” Er lachte schneidend auf. Und in diesem Lachen enthüllte sich für Christa die ganze Bitterkeit seines liebeleeren Daseins. „Ich, mein Mädel, würde es Deinerseits für ebenso unklug wie feige halten, wolltest Du nur „der Leute wegen” eine Verbindung bestehen lassen, die –"
Christa hatte ihr Gesicht ihm plötzlich zugewandt und sich weiter über den Tisch gebeugt.
Er schwieg. In seines Kindes durch die Krankheit noch immer so verändertem Antlitz lag jetzt ein entschlossener Ausdruck, daß er den begonnenen Satz nicht beendete und schnell fragte: „Nun? Was hast Du, Christa?”
„Ein – ein Geheimnis, Papa! Ein Geheimnis, das in meiner Brust bewahrt werden soll, bis – die Umstände es aufdecken.”
Er schüttelte wie ungläubig den Kopf. „Ein Geheimnis?! Und – was hat es mit Hans Brandtner zu tun?”
„Sehr – sehr viel. –Doch das, was ich soeben gesprochen habe, Papa, bleibt unter uns, – genau so, wie Du Dich nicht wundern mußt, daß ich noch Brandtners Braut bleibe – vorläufig!”
Der Bürgermeister strich sich sinnend den Spitzbart glatt.
„Diese Andeutungen beunruhigen mich, Christa. Sehr sogar!” sagte er dann. „Mit Geheimnissen irgend welcher Art soll ein so junges Mädchen wie Du sich die Seele nicht belasten.”
„Es ist für mich ganz ungefährlich, Papa. Ich möchte nur herausbringen, wie weit die – die niedrige Denkungsart eines Mannes eigentlich geht.”
Hubert Schmiedt lächelte ein wenig. „Meinetwegen, Kind. Du weißt nun ja, daß Du an mir in allem einen Verbündeten hast und –
Vom Hofe heraus erscholl ein feines Kinderstimmchen, das heiter und recht falsch das Lied „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle – in den prachtvollen Junimorgen hinausschmetterte.
Christa sprang sofort auf. Der Bürgermeister verstummte und blickte zärtlich auf seine Tochter, die sich nun über die Steinbrüstung gebeugt hatte und eifrig hinunterrief:
„Purzel – ich komme sofort! Guten Morgen, Purzelchen!”
Das Kinderstimmchen brach mitten in einem Takt ab und krähte dann vergnügt:
„Duten Moggen, Tante Tristel. Duten Moggen!”
„Aha – Dein männlicher Schutz auf Deinen Spaziergängen.” meinte der Bürgermeister.
„Dann bin ich ja überflüssig, Kind. Außerdem habe ich zu arbeiten –”
Er ging zu ihr hin, küßte sie auf die Stirn und verließ die Veranda.
Unten auf dem Hofe wartete der kleine, zweijährige Friedel Helming, stets Purzel genannt, mit sehnenden Augen auf die gute Tante und die leckere Gabe, die ihm in irgend einer Gestalt jeden Morgen beschert wurde.
„Purzelchen,” meinte Christa und kniete vor ihm nieder, „jetzt gehen wir erst zum Bäcker. Dort darfst Du Dir ein großes, großes Stück Kuchen kaufen – von meinem Taschengeld!”
Purzelchen strahlte, und Hand in Hand gingen die beiden den Berg hinab der Stadt zu. –
Eine halbe Stunde später näherten sie sich der Ruine des Schlosses Liebland.
Viel war von dem Schlosse nicht mehr übrig. Nur ein Stück Turm und ein Schuttberg, der mit wilden Brombeeren, Disteln und ein paar Haselnussträuchern bewachsen war.
Purzel rannte jetzt ein Stück voraus.
„Tante Tristel fang' mich,” jubelte er.
„Vorsicht, Purzelchen!” rief Christa warnend. „Vorsicht! Nicht zu weit!”
Purzel war schon verschwunden.
Christa rief nochmals und hastete hinter dem Bübchen drein.
Dann – ein gellender, heller Schrei.
Christas Herzschlag setzte vor Schreck aus. Wie gelähmt blieb sie stehen.
Dann jagte sie weiter, sprang über Mauerreste, dachte mit Entsetzen an die Löcher der Decke der früheren Schloßgewölbe, die stellenweise durch eine trügerische Schicht von Dornen und Farnkräutern verborgen waren.
Ein Haselnußstrauch versperrte ihr den Weg. Hier hatte sie Purzel zuletzt erblickt.
Sie rief schrill und angstvoll:
„Purzel – Purzel!”
Sie fühlte, wie sie zitterte. Mein Gott, – wenn das Kind verunglückt wäre –!
„Purzel – Purzel!” schrillte ihre Stimme wieder über diese unübersichtliche Wildnis hin.
Da – eine Antwort.
Dumpf schallte es zu ihr empor:
„Die Sache ist noch gut abgelaufen. Ich komme.”
Das war ein Mann, der ihr diese beruhigenden Worte aus der Tiefe zuschickte.
Und nun gewahrte Christa auch dort rechts in einer kleinen Einbuchtung der Brombeerbüsche im Boden ein unregelmäßiges Loch, darüber ein paar geknickte Farnstauden und daneben Purzels Mützchen.
Das junge Mädchen näherte sich, jede Vorsicht außer acht lassend, dem Loche und beugte sich darüber.
„Was ist dem Kleinen geschehen?” fragte sie in das Dunkel hinab.
„Keine Sorge!” klang es dumpf wie vorhin empor.
„Nur der Schreck hat das Kind etwas aufgeregt. Ich komme –”
Christa bemerkte unten einen Lichtschein, der allmählich schwächer wurde.
Nach gut fünf Minuten, die ihr schier endlos dünkten, gewahrte sie unten am Fuße der Ruine einen Herrn, der mit Purzel an der Hand hinter ein paar Tannen soeben hervortrat.
Sie war erstaunt. – Wie war der Fremde aus den Gewölben hinausgelangt, – und wie kam es, daß er dort gerade auftauchte, wo es doch keinerlei Ausgang aus den teilweise verschütteten Kellern gab?
Christa eilte den beiden entgegen. Purzel riß sich los und stürmte in ihre ausgebreiteten Arme.
„Purzelchen, Du Unart!” sagte sie mehr scherzend als wirklich ärgerlich. „Du hast der Tante einen bösen Schreck eingejagt!”
Purzel öffnete die rechte Faust.
„Da – fünf Mark, Tante Tristel, – fünf Mark! Der Onkel hat ihm mich jeschonken, dem Papiergeld. Tante –”
Er hatte das Abenteuer, das so leicht hätte recht gefährlich ablaufen können, schon vergessen.
„Gestatten – Doktor Schütz,” sagte da der Fremde neben ihnen. „Ich preise mich glücklich, daß ein Zufall mich gerade unter das Loch geführt hatte, so daß ich den Kleinen auffangen konnte –”
Christa schaute in ein bartloses, freundliches Gesicht und in ein Paar dunkle, kluge Augen.
Der Fremde setzte den Strohhut wieder auf.
„Wenn ich mich nicht irre, habe ich das Vergnügen, der Tochter des hiesigen Bürgermeisters gegenüberzustehen,” fügte er hinzu. „Ich sah Sie letztens auf dem Altan der Bürgermeisterei, gnädiges Fräulein. Vorgestern war's, als ich Ihrem Herrn Vater einen Besuch abstattete.”
Christa nickte zwanglos. „Ja, ich bin Christine Schmiedt, Herr Doktor. Ich danke Ihnen herzlich, daß sie den kleinen Wildfang vor ernstem Schaden bewahrt, haben –”
Der Doktor hatte eine Botanisiertrommel umgehängt, klopfte jetzt mit dem Finger auf den Deckel und meinte harmlos:
„Ich bin Privatgelehrter, gnädiges Fräulein, suche Käfer und allerlei sonstiges Gewürm an den unmöglichsten Stellen und gelangte aus Gelehrteneifer auch dort in die Gewölbe. Man sieht: das Käfersammeln ist zuweilen sogar ein lebenrettender Sport. – Aber – wollen wir hier in der prallen Sonne stehen bleiben? Dort hinter den Tannen ist es viel schöner. Und wir müssen uns doch noch darüber einig werden, ob es nicht besser ist, Purzelchens tiefen Fall” – er lachte leise auf – „zu verschweigen.”
Dann saßen Christa und der Käfer-Benno im Schatten der Tannen, und Purzel spielte vergnügt mit des Doktors Fernglas. –
Von Purzelchens „tiefem Fall” erzählten die drei Beteiligten nachher niemandem auch nur eine Silbe. Christa war mit dem Kleinen erst mittags nach der Bürgermeisterei zurückgekehrt, deren beide Seitenflügel für je drei Familien als Notwohnungen hergerichtet waren.
Frau Helming, die Näherin wohnte im linken Flügel im Erdgeschoß in zwei Stübchen. Als Christa ihren kleinen Schutzbefohlenen dort ablieferte und Purzelchen seiner Mammi jauchzend den Fünfmarkschein zeigte, wurde das junge Mädchen doch etwas verlegen.
„Onkel Benno schenken tun, Mammi,” rief Purzel überselig.
„Es ist ein Doktor Schütz, dieser Onkel Benno, liebe Frau Helming," erklärte Christa schnell und schuldbewußt. „Wir lernten ihn bei der Ruine kennen –”.
Frau Helming war Christa gegenüber auch jetzt noch stets etwas unsicher. Anfangs hatte sie sich sogar recht kühl und ablehnend gezeigt, war dann erst allmählich zugänglicher geworden.
Sie war schlank und hübsch, diese stille, bescheidene Frau, die von ihrem Manne getrennt lebte, der, wie Christa von der Köchin erfahren hatte, ein – „allzu lockerer Vogel” sein sollte.
Der glatte Scheitel kleidete Frau Helming sehr gut und paßte so recht zu ihren weichen, braunen Augen und dem zarten, runden Gesicht.
Christa hatte sich neben die am Fenster stehende Nähmaschine gesetzt. Frau Helming arbeitete weiter. Sie ernährte sich durch Wäschenähen und Hausschneiderei.
Die beiden Frauen unterhielten sich über dies und jenes. – Purzel war in die Schlafstube gelaufen, um den Fünfmarkschein dort in seine Sparbüchse zu stecken. Als das Geld in dem Spalt der Tonbüchse verschwunden war, kam dem kleinen Manne ein besonderer Gedanke. Auf Mammis Nachttisch stand eine Photographie. Purzel langte sie herab und er schien nun mit dem Bilde im Nebenzimmer, krähte sofort:
„Tante Tristel, dies mein Pappi sein –”
Frau Helming fuhr empor. Sie war bleich geworden, riß dem Kinde das Bild aus der Hand und ging schnell in die Schlafstube – wortlos, jetzt mit hochrotem Kopf.
Purzel starrte ihr nach. Sein Gesicht verzog sich weinerlich.
Christa wußte nicht, was sie von diesem Benehmen Frau Helmings halten sollte. Sie wartete noch eine Weile. Dann sagte sie Purzel etwas betreten lebewohl und verließ die kleine Wohnung.
5. Kapitel.
Der Strom des Lebens.
Eine Stunde vorher hatte der Bürgermeister Schmiedt in seinem Dienstzimmer abermals, Herrn Theo Kastner, den ersten Regisseur der Berliner Filmfabrik Phönix empfangen.
Kastner leitete hier seit fünf Tagen die Aufnahmen zu einem großen, in allen Erdteilen spielenden Film, zu dem eine Menge Szenen in einem alten Städtchen „gedreht” werden mußte.
„Sie haben also nichts dagegen, Herr Bürgermeister,” hatte der flotte, elegante Theo gesagt, „daß wir das der Stadt gehörige Stück Heide hinter der Ruine zu einer mexikanischen Landschaft umfrisieren. – Dja – Sie wundern sich, Herr Bürgermeister! Der ganze Filmzauber ist ja purer Schwindel. Fünf künstliche Kakteenbüsche, zwei Palmen – und die mexikanische Steppe ist fertig! – So – will nicht länger stören. Wiedersehen, Herr Bürgermeister.” –
Dann war Theo Kastner jedoch nicht den Hauptweg nach der Stadt hinabgegangen, sondern in den großen Park der Bürgermeisterei eingebogen. Er schien hier sehr gut Bescheid zu wissen, obwohl man sich bei den vielen Treppen, Terrassen und Zickzackwegen leicht verirren konnte.
Frau Therese spielte nur sehr wenig die Überraschte, als Kastner in dem kleinen, offenen Pavillon auftauchte, wo sie lesend auf der Bank gesessen hatte.
„Morgen, Gnädigste, Morgen!” Er küßte ihr die Hand.
„Nicht doch!” meinte Frau Therese verrwirrt und entzog ihm die Hand. „Wenn Sie weiter mir alten Frau gegenüber in dieser Weise –”
Er fiel ihr ins Wort. „Alte Frau?! Oh, Gnädigste, wie kann man sich selbst so herabsetzen?! Was heißt alt?! Glauben Sie, daß ich mich mit meinen einundvierzig Jahren alt fühle?! Nein – im Herzen bin ich ein Zwanziger! Das Herz macht's, Gnädigste. Der Lebenshunger! Wer an der Tafel des Lebens noch nicht satt geworden, der bleibt jung! Nur die Satten sind Greise! Die Hungrigen niemals. Und Sie” – er flüsterte jetzt „Sie sind – hungrig. Thea! Meinen Sie, das merke ich nicht?! Meinen Sie, mir genügt es nicht, mit einem Ehepaar nur wenige Stunden zusammen zu sein, um mir ein Bild des Ehelebens zu konstruieren? – Thea, Sie haben mir Ihre Wohnung gezeigt. Ich durfte auf dem Altan zwei Szenen aufnehmen. Mein weiblicher „Star” durfte sich in Ihrem Schlafzimmer umkleiden; mein männlicher Star in dem Ihres Gatten. Und – diese beiden Gemächer waren durch drei Räume voneinander getrennt –”
„Herr Kastner, ich verbitte mir diesen –”
Er lächelte weiter. Seine Augen redeten jetzt eine Sprache, die jedes verheiratete Weib verstanden hätte.
Therese, geborene von Hundius, vollendete den Satz nicht, sprang auf und lief – davon.
Kastner blickte ihr nach. Er lächelte nicht mehr. Sein leicht gebräuntes Gesicht war nachdenklich geworden. Er setzte sich auf die Bank. Da lag noch der Roman, in dem sie gelesen – sie, diese Frau, die unter dem Panzer kühler Vornehmheit die Enttäuschung und die Leere eines nicht befriedigenden Ehebundes verbarg.
Er nahm den Roman und blätterte darin. Er selbst hatte ihn Frau Therese geliehen. Es war die Geschichte einer Leidenschaft, ein Buch, das an den Nerven zerrte, das Flammen auflodern ließ, wo auch nur etwas Glut vorhanden. –
Kastner war unzufrieden mit sich. – Was sollte dieser beginnende Flirt?! – Er kannte Frau Thereses Lebensgeschichte. Sie hatte ihm das meiste nuг angedeutet, hatte nicht berücksichtigt, daß Theo Kastner die Weiber aller Schattierungen studiert und daß er daher ohne Mühe das nicht Gesagte sich leicht ergänzen konnte. – Was sollte dieser Flirt?! Was zog ihn zu dieser Frau hin? Etwa nur der Wunsch, festzustellen, wie hoch die Flammen in dem Herzen der alternden Frau noch aufflakern konnten?! –
Er legte das Buch wieder hin. – Oder, war’s nicht besser, er nahm es mit und mied fernerhin dieses Haus?!
Liebland – Liebland hieß dieses Nest! Ausgerechnet Liebland – Land der Liebe! Eine Mahnung fast war dieser Name. Und das alte, verträumte Städtchen rief nur zu sehr allerlei romantische, sentimentale Anwandlungen wach: in diesen Mauern überkam es gerade den Weltstadtmenschen wie ein Sehnen nach einem stillen Glück.
„Blödsinn!” sagte Kastner plötzlich ganz laut, griff nach dem Roman und verließ den Pavillon.
Nach wenigen Schritten blieb er stehen. – Dort vor ihm auf einer vorspringendem Terrasse stand eine einzelne Bank; dort saß eine Frau mit kastanienbraunem Scheitel, hatte den linken Arm auf die Lehne gestützt und schaute hinüber nach der Schloßruine.
Kastner stand regungslos. Das war ja die bescheidene Schneiderin, die mit so viel Geschmack der Resi gestern das altdeutsche Kostüm geändert hatte.
Theo Kastner ging weiter. Der Gartenweg lief auf die Terrasse zu. So kam es, daß er hier nun Frau Helming begrüßte und sehr bald sich zwischen ihnen eine angeregte Unterhaltung entspann, aus der Kastner zu seiner Überraschung ersah, wie so ganz anders diese stille Frau sein konnte, wenn sie etwas warmherziges Eingehen auf ihre schlichten Interessen fand. Mehr noch stellte er fest: ihre bescheidene Zurückhaltung war nicht etwa auf Mangel an Bildung zurückzuführen! – Nein, diese Frau war weit über ihre engen Verhältnisse geistig hinausgewachsen. Sie besaß soviel klare Beobachtungsgabe, daß Theo Kastner, dieser vielseitig gebildete, hochintelligente Mensch, schließlich in aufrichtigem Mitgefühl und schlecht verhehltem Staunen leise zu ihr sagte:
„Sie müssen sehr viel im Leben gelitten haben, Frau Helming. Zu dieser Reise der Anschauungen kommt man nur durch eigenes Erleben.”
Sie nickte. „Das ist richtig, Herr Kastner. Ich habe alles kennen gelernt – alles! Am meisten die Schattenseiten menschlicher Charaktere. Aber ich habe alles überwunden, auch den Schmerz um ein kurzes Glück. Ich habe mein Kind und habe liebe Erinnerungen und – meine Arbeit. Das genügt mir. Daß ich nun auch noch hier fern dem Treiben der Welt in dieser wunderschönen Umgebung wohnen darf, macht mich doppelt zufrieden.”
„Ich beneide Sie!” meinte er noch leiser. „Sie haben so recht: Das Treiben der Welt, dieser vielfarbige Strom, in dem die meisten Menschen genußhungrig mitschwimmen, saugt einem allmählich das Beste aus der Seele heraus. Diese Schwimmer fühlen alle – alle, wie sie im Innern immer mehr abkühlen; alle haben Augenblicke, wo sie an einer stillen Uferstelle unter grünen Bäumen an Land steigen und sich an der reinen Sonne wieder durchwärmen lassen möchten. Aber sie sind schon zu matt, seelisch zu schlaff, dieses Land ihrer geheimen Sehnsucht zu erklimmen, treiben weiter und bilden sich schließlich ein, daß sie nie nach Wärme verlangt haben –”
Er schwieg und schaute gleich Frau Helming verträumt hinweg über das verträumte Städtchen, über. die rauchenden Schornsteine, die braunroten, wunderlich geformten Ziegeldächer.
Mit einem Male wandte sie den Kopf.
„Daß man die Menschen zunächst doch sämtlich falsch einschätzt.” sagte sie mit einem Anflug von Lächeln, das in den Wangen zwei reizende Grübchen entstehen ließ.
„Ah so!” lächelte er zurück. „Das heißt also, Sie haben mich für einen waschechten Gefühlsbanausen gehalten, für einen Schwimmer, der die sonnige Uferstelle längst passiert hat.”
„Ja. – Man freut sich aber, wenn man merkt, daß man sich geirrt hat. Man freut sich doppelt, wenn einem eine solche halbe Stunde wie diese beschert wird. Man findet so sehr wenig Männer, – Menschen überhaupt, die imstande sind, die Näherin über der Persönlichkeit zu vergessen. Was erlebe ich in dieser Beziehung alles als Hausschneiderin! Ich habe zum Glück sehr viel zu tun und komme in die verschiedenartigsten Familien, auch in die sogenannten feinen Kreise. Letztens war ich bei einem studierten Herrn. Die Dame des Hauses unterhielt sich mit mir. Am Tage darauf erzählte mir eine andere Kundin, jene Dame hätte geäußert, sie würde mich nicht mehr beschäftigen; es wäre unangenehm, eine Schneiderin im Hause zu haben, die alles besser wissen wolle und so gescheit tue. – Sehen Sie, Herr Kastner, so lernt man zu! Ich werde mich notwendig dumm anstellen müssen, sonst verliere ich alle Kundschaft, zumal ich hier noch eine geheime Gegnerin seit kurzer Zeit habe, die – Doch – lassen wir das. Weshalb den angenehmen Nachhall unserer Unterhaltung durch solche – Kleinlichkeiten zerstören?! – So, nun werde ich Ihnen die Nordpforte des Parkes zeigen –”
Sie verließen die Terrasse.
„Gegnerin?” meinte Kastner dann. „Und – erst kurze Zeit? – Hm – etwa die Frau Bürgermeister? Die – schöne Frau Schmiedt?”
„Die Antwort ersparen Sie mir. – Bitte, hier immer geradeaus. Dort sehen Sie die Pforte schon. – Leben Sie wohl, Herr Kastner.”
Sie neigte etwas den Kopf, schritt davon.
Kastner öffnete die Pforte. Vor ihm lag nun eine winklige, schmale Gasse deren eine Seite in grelles Sonnenlicht getaucht war und all die Häuserfronten mit ihren blanken Fenstern, weißen Gardinen und teilweise geschlossenen Sonnenvorhängen in ihrer ganzen Beschaulichkeit und Behaglichkeit enthüllte.
Theo Kastner hatte dieses Städtchen in diesen fünf Tagen lieben gelernt. Und wie er jetzt die enge Gasse entlangblickte, da dachte er an seine eigenen Worte an die stille Uferstelle mit den grünen Bäumen und an die Lebensschwimmer. Wenn er ganz ehrlich war: was hatte ihm das Leben bisher gegeben?! – Er war von Hause aus vermögend gewesen, hatte mehr zum Vergnügen Literatur und Kunstgeschichte studiert, hatte mühelos eine Redakteurstelle erhalten, schriftstellerte nebenbei und ging schließlich zum Film über. Und nebenbei?! Ja – da hatte er so gelebt, wie man so in Künstlerkreisen einer Weltstadt wie Berlin lebt, hatte Frauen anzubeten geglaubt, als er noch nicht die dreißig erreicht hatte, war mit fünfunddreißig Jahren ein alles belächelnder Philosoph geworden und heute mit einundvierzig trotz seines jugendlichen Aussehens ein im Grunde unzufriedener Mensch. –
„’n Tag, Kastner!”
Da schrak er zusammen. Vor ihm stand Herr Otto Möbius in einem übermodernen, taillierten, lächerlich wirkenden hellen Anzug, braunen Halbschuhen, über denen die lilaseidenen Strümpfe zu sehen kamen, und einem Monokel vor dem rechten, etwas schielenden Auge.
Möbius streckte ihm die Hand hin, in die Kastner nur sehr zögernd seine Fingerspitzen legte. – Ihm war dieser dicke kleine Mensch, der sich in Berlin an alle bekannten Persönlichkeiten der Theater und Filmwelt mit seiner wohlgespickten Banknotentasche frech herandrängte, recht widerwärtig.
„He, he – feine Überraschung, was?!” krähte Möbius.
„Jedenfalls eine Überraschung. – Was machen Sie denn hier?! Hier gibt es doch kaum was zu schieben –”
„Ihre Grobheit ist rührend," meinte Möbius abgebrüht. „Ich bin zur Erholung hier. Meine Nerven vertragen Berlin nicht länger –"
„Ach was –!”
„Tatsache – Tatsache! Der Arzt hat mir Höhenluft verschrieben, so zwischen 500 und 800 Meter; empfahl mir Liebland; und – da bin ich! Suche gerade ein Zimmer. Möchte nun gern da oben wohnen –” – Er zeigte auf die Bürgermeisterei. „Eine Frau Helming soll dort an Sommergäste ein Zimmer vermieten. – He – he, lieber Kastner, ich liebe eben die Romantik. Die olle Raubritterburg da oben wird wohl kein WC haben – und das is schon ‘n Stück Romantik –”
Kastner hatte blitzschnell überlegt.
„Diese Romantik werden Sie wohl anderswo suchen müssen,” sagte er kurz und recht kühl. „Ich komme nämlich gerade von Frau Helming und habe das Zimmer für drei Monate gemietet –”
Otto Möbius hatte sich schlecht in der Gewalt.
„Teufel noch mal, das – das –” – Er besann sich, nahm sich zusammen, grinste: „Das heißt Pech haben! Na, lieber Kastner, was bezahlen Sie denn der Helming?”
„Dreihundert Mark mit Morgenkaffee pro Monat,” log Kastner kaltblütig.
„Gut, dann zahle ich Ihnen tausend Mark Abstand, wenn Sie mir das Zimmer überlassen –”
Kastner horchte auf. Tausend Mark Abstand?! – Oh – das hatte etwas zu bedeuten! In der Stadt gab es ja übergenug möblierte Zimmer.
„Bedauere,” meinte er sehr bestimmt. „Davon kann gar keine Rede sein.”
„Zweitausend –”
„Ich lasse nicht mit mir handeln,” rief er scheinbar ärgerlich. Er wollte doch einmal sehen, wie hoch dieser „romantische” Möbius gehen würde.
„Viertausend! Verdammt – ich habe mir mal in den Kopf gesetzt, gerade dort zu wohnen und –”
„– werden darauf verzichten müssen,” vollendete Kastner, den Arglosen spielend. „Kommen Sie. Es hat keinen Zweck, daß Sie noch länger das Gebot höher treiben.”
Möbius schwieg und tänzelte neben Kastner her. Dieser wurde ihn dann sehr bald unauffällig los, machte einen Umweg und war kurz vor ein Uhr oben in der Bürgermeisterei, wo er Frau Helming und Purzel gerade bei der bescheidenen Mittagsmahlzeit antraf.
Purzel wurde hinausgeschickt. –
„Frau Helming,” erklärte Kastner zum Schluß, „es ist ganz klar, daß dieser Möbius hier irgend etwas vorhat. Der Mensch hat stets etwas „vor”, nämlich dunkle Geschäfte. Ich bin jetzt also Ihr Mieter und ziehe abends ein. Bevor wir hier mit allen Aufnahmen fertig sind, vergehen noch drei Wochen. Inzwischen werde ich ich Möbius noch so etwas auf den Zahn fühlen. Vielleicht bekommen wir heraus, was ihn veranlaßte, 4000 Mark Abstand zu bieten.”
Adda Helming war eine viel zu ehrliche Natur, um ihre Freude über diesen guten Nebenverdienst zu verhehlen. Sie führte Kastner nebenan in das Schlafzimmer, das noch einen besonderen Ausgang nach dem Park hatte.
„Bis zum Abend ist alles hergerichtet, Herr Kastner,” meinte sie froh. „Ich will es Ihnen schon behaglich machen. Von meiner Nähmaschine sollen Sie nicht gestört werden. Ich bringe dicke Vorhänge an, und die alten Türen hier sind ja aus Eichenholz urd sehr stark.”
„Da ist ja noch ein Türchen?” fragte Kastner und deutete auf eine tiefe Mauernische, die durch eine kleine, oben gewölbte Holztür abgeschlossen wurde.
„Nur eine schmale, dunkle Kammer liegt dahinter,” erklärte Frau Adda. „Sie dient mir als Aufbewahrungsort für Koffer, Kisten und dergleichen.”
Dann verabschiedete Kastner sich wieder, reichte Frau Helming die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen. Nun wird es vielleicht häufiger ein Plauderstündchen geben wie das vorhin auf der Terrasse –”
„Das wäre schön,” nickte sie ohne Ziererei. „Auf Wiedersehen!” –
6. Kapitel.
Frau Tilde Menk.
Bürgermeister Hubert Schmiedt saß zu derselben Zeit in seinem Amtszimmer und hörte die bewegten Klagen der Frau Apotheker Menk voll Teilnahme mit an, die für ihre beiden minderjährigen Söhne jetzt nach dem plötzlichen Tode des Justizrats Neubert einen anderen Vormund brauchte, ohne einen solchen finden zu können.
Sie war schon einmal dieserhalb bei dem Bürgermeister gewesen, hatte ihm die ganzen Verhältnisse klar gelegt und fein angedeutet, daß sie es sehr gern sehen würde, wenn er dieses Ehrenamt übernähme.
„Die Jungen sind in Gotha in Pension,” sagte sie jetzt. „Die
Vermögensverwaltung würde Ihnen ebenfalls keine große Arbeit machen, lieber Herr Bürgermeisier. Hier in der Stadt bin ich, wie man so sagt, unten durch, weil ich meine Jungen, obwohl es furchtbare Rangen sind, liebhabe, außerdem mich gern nett kleide im Sommer verreise und den Kaffee- und Lesekränzchen absolut keinen Geschmack abgewinnen kann.”
Sie sprang auf und lief im Zimmer hin und her. Sie war ein quecksilbriges Wesen mit blassem, durchgeistigtem Gesicht, hatte eine überschlanke Figur, war sehr schick angezogen und besaß ein Paar unruhig flackernde Augen, hinter denen Abgründe von Leidenschaft zu liegen schienen.
„Und das schlimmste, Herr Bürgermeister: ich schriftstellere! Ich dichte! – Das verzeiht man mir hier nicht, zumal ich meine Arbeiten sämtlich los werde und der Name Tilde Menk längst sein großstädtisches Lesepublikum hat. Ja, wenn ich noch Romane schriebe, in denen es stets hochanständig hergeht!” – Sie war jetzt vor ihm stehen geblieben und schaute ihn wie prüfend an. „Wo geht es überhaupt im Leben „anständig” her?! Wo?! Ist nicht überall etwas Fäulnis?! Sind wir Menschen nicht alle mit einem kleinen moralischen Knacks behaftet?!”
„Sie schweigen, Herr Bürgermeister?!” meinte sie leise. „Halten Sie sich für erhaben über menschliche Schwächen?! Dann bilden Sie sich dies nur ein! Ich bin zweimal mit Ihrer Gattin und Ihnen zusammengewesen. Ihnen geht es wie mir. Das weiß ich. Ich war acht Jahre an einen kranken, morphiumsüchtigen Mann gekettet, der das Weib in mir weckte und mich nachher dürsten ließ. Ich habe dann nur in Gedanken – gesündigt! Und – das haben Sie auch getan! Leugnen Sie es nicht! Ich verstehe mich auf den Blick von Männeraugen! So, wie Sie Ihre Gattin zuweilen ansahen, – das war der heimliche Haß, geboren aus unbefriedigter Sehnsucht nach der Liebe heißestem Rausch! – Sie werden jetzt denken: „Ein schreckliches Weib, diese dreiunddreißigjährige Witwe! Wie kann sie nur so etwas aussprechen! Das mag man alles denken! Aber in Worte kleiden darf man es nicht!” – Sicherlich sind
dies Ihre Gedanken.”
Sie hatte sich neben ihn an den Schreibtisch gelehnt.
Er lächelte ein wenig schmerzlich. „Nein, gnädige Frau, – das habe ich nicht gedacht. Ich habe mich nur gewundert, eine wie gute Menschenkennerin Sie sind. In dieses Städtchen passen Sie allerdings kaum hinein. Die Leute hier werden Sie nie verstehen. Liebland und seine Liebländer sind eng! So eng, wie alles wird – eng an Anschauungen, bescheiden an Ansprüchen –, was von einer so alten, hohen Stadtmauer eingeschlossen ist. Sie kamen aus reichem, geselligem, geistig anregendem Hause. Da konnte Ihnen die stille Verträumtheit dieser Menschen nicht genügen. Das verstehe ich sehr wohl. Es wäre auch in Ihnen und mit Ihnen alles anders geworden, wenn Sie nicht hätten als Weib – darben müssen. Auch das verstehe ich. Gerade ich! – Was die Vormundschaft angeht: gut, ich übernehme sie!”
Frau Tilde streckte ihm beide Hände hin.
„Ich danke Ihnen!”
Sie hatte so schmale, zarte Kinderhändchen; sie waren genau so nervös wie die ganze Frau, zuckten in den seinen.
In demselben Moment öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand Frau Therese.
Ihr Gesicht erstarrte förmlich. Dann sagte sie mit unnachahmlichen Hochmut:
„Ich störe wohl –”
Hubert Schmiedt zog seine Hände schnell aus denen der „lustigen Witwe”, wie Frau Menk allgemein in Liebland genannt wurde. Er war sehr rot und sehr verlegen geworden. Desto selbstsicherer blieb Frau Tilde.
„Stören?! Durchaus nicht, verehrteste Frau Bürgermeister,” sagte sie und schritt auf Therese zu. „Wie geht es Ihnen? Gut natürlich. Sie sehen glänzend aus. Ich werde nach zehn Jahren bei meiner Nervosität eine Greisin sein. – Denken Sie, Ihr Gatte hat die Vormundschaft übernommen. Ich hatte mich gerade bei ihm bedankt, als Sie eintraten –”
Frau Therese reichte der „lustigen Witwe” nicht die Hand, blieb eisig-höflich und warf dann nur die Bemerkung hin, daß ihr Mann hier sehr viel Arbeit vorgefunden hätte.
Tilde Menk verstand den Hieb. „Desto weniger Arbeit hat er mit der Vormundschaft,” sagte sie harmlos. „Ich glaube auch, er braucht etwas Anregung. Ich werde Ihnen zwei von meinen Romanen schicken, lieber Herr Bürgermeister. Wenn des Alltags Einerlei Sie dann einmal allzu sehr anödet, lesen Sie nur diese lebensfrohen Künstlergeschichten, die den Vorzug haben, größtenteils wahr zu sein.”
Sie gab Hubert Schmiedt die Hand. Vor Frau Therese neigte sie nur mit einem rätselvollen Lächeln den Kopf.
Die Tür schlug hinter ihr zu. –
Therese schaute ihren Mann mit ironischem Ausdruck an und sagte ebenso ironisch:
„Man darf Dir gratulieren! Frau Menk als Freundin zu haben, ist eine Ehre. Hier verkehrt niemand mit ihr. Nur der Amtsrichter Döbbler, der Zahnarzt Doktor Funk und ihr Provisor – alles Junggesellen –”
„Und – Großstädter,” fügte Hubert Schmiedt ohne jede Erregung hinzu. „Im übrigen ist „Freundin” eine Bezeichnung, die durch nichts gerechtfertigt ist. – Wünschest Du sonst noch etwas?”
„Du bist ja außerordentlich liebenswürdig! – Ja, ich wünsche noch etwas. Christa hat heute mir gegenüber einen so unkindlichen Ton anzuschlagen gewagt, daß ich dies nur als Folge Deines Benehmens heute am Frühstückstisch ansehen kann. Ich möchte Dich dringend bitten, Dein Verhalten so einzurichten, daß Christa –”
Er hatte eine kurze Handbewegung gemacht.
„Therese,” meinte er barsch, „es ist dies derselbe Ton, durch den Du mich nun etwa achtzehn Jahre lang – unmündig gemacht hast.” – Er stand auf. „Dieser Ton verfängt bei mir nicht mehr. Ich bin erwacht – durch die Sorge um Christas Seelenheil. In meinem Hause kommandiere ich fernerhin! Hier geschieht mein Wille. Das merke Dir bitte. Ich möchte vom Leben auch noch etwas Sonnenschein haben. Ließe ich Dir Deinen Willen, bliebe mein Haus ein Eiskeller. – So, ich habe noch zu arbeiten –”
Er setzte sich an den Schreibtisch, wandte ihr den Rücken.
Frau Therese rührte sich nicht, blieb mit hängenden Armen stehen. Ihr Gesicht hatte jede Spur von Farbe verloren. Eine maßlose Wut quoll in ihr hoch, benebelte ihr die Sinne.
Noch nie hatte er so zu ihr gesprochen! Was – was nur war plötzlich in ihn gefahren? Woher kam bei ihm der Mut zu solchem Auftreten?
Es kostete sie unglaubliche Mühe, sich zu beherrschen. Aber die Klugheit siegte; sie sah ein, daß sie verspielt hatte; jene Szene tauchte in ihrer Erinnerung auf, als sie ihm damals vor nunmehr drei Jahren vorgeworfen hatte, seine Schwiegertochter mit ihrem Gelde unterstützt zu haben.
Von dem Tage an gab es keine Gemeinschaft mehr zwischen ihnen; von da an, fühlte sie jetzt, hatte seine Umwandlung, sein Erwachen begonnen.
Und jetzt drängte sich noch etwas Neues ihr auf, – eine Erkenntnis, die sie vergebens abzuwehren suchte: er imponierte ihr! Er war nicht mehr der bescheidene Stadtsekretär, der um die Liebe der geborenen von Hundius gebettelt hatte; er war der Bürgermeister einer kleinen, aber sehr reichen Stadt geworden.
Ja – er imponierte ihr! Er war ja immer ein hübscher, stattlicher Mann gewesen. Und jetzt, wo er sie so finster und drohend angeschaut hatte, war all das Weichliche aus seinem Gesicht wie weggewischt gewesen. –
Ihre Gedanken wurden ruhiger, zielbewußt. – Sie schritt zur Tür, ging still hinaus. –
7. Kapitel.
Sehnsucht.
Elf Uhr abends. – Hubert Schmiedt sitzt in seinem Herrenzimmer in der Ecke des Klubsofas und liest, – liest Frau Tilde Menks Künstlerroman „Der Moralfatzke”–
Neben ihm brennt die moderne Ständerlampe mit dem bunten Batik-Schirm. Er hat es sich bequem gemacht, hat Morgenschuhe und die Hausjoppe mit den Schnüren und den lila Ausfschlägen angezogen. – Vor ihm auf dem Rauchtischchen qualmt in der Aschenschale die Zigarette. Sie glimmt von alIein weiter. Ihr Rauchfaden steigt unbeachtet in Spiralen in die Höhe. Der Bürgermeister hat völlig vergessen, daß er die Zigarette soeben angezündet hatte.
Das Buch reißt und zerrt an seinen Nerven. Es ist die Geschichte einer Leidenschaft; es ist ein jubelnder Hymnus der Liebe. –
Es klopft.
Hubert Schmiedt ist so in Anspruch genommen durch das Buch, daß er das Geräusch wohl vernimmt, ohne sich bewußt zu werden, jemand begehre gerade hier Einlaß.
Und – es klopft stärker, und die Tür öffnet sich. Er beugt sich weit vor.
Das Zimmer liegt im behaglichen Dämmerschein des matten Lichtes der einen Lampe.
Dann hat er die Gestalt erkannt: Therese in dem seidenen Kimono, den sie in der ersten Zeit ihrer Ehe als Morgenrock getragen.
„Ich möchte etwas mit Dir besprechen, Hubert,” sagt sie leise, fast bittend.
Er legt das Buch weg.
„Hätte das nicht bis morgen früh Zeit?” meint er kalt. „Aber – wenn es durchaus sein muß – bitte –”
Er deutet auf den Klubsessel rechts von seiner Sofaecke.
Frau Therese nimmt Platz, lehnt sich zurück und stützt den linken Arm auf die Sessellehne.
Der Ärmel fällt zurück. Ihr weißer, voller Arm hebt sich scharf gegen das Leder ab.
„Bitte – beginne!”
„Hubert, soll dies nun wirklich das Ende unserer Ehe sein?” fragte sie langsam.
„Wie meinst Du das?” fragt er ebenso langsam, und er muß sich bemühen, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
„So wie eine Frau, die zur Einsicht gekommen ist,” erwidert sie sanft.
Er begreift: sie versucht jetzt das eine Mittel, die verloren gegangene Gewalt über ihn zurückzugewinnen, von dem sie sich den meisten Erfolg verspricht.
„Diese Einsicht kommt leider zu spät,” erklärt er unversöhnlich. „Das sagte ich Dir schon einmal. Was ich für Dich empfand, ist tot – durch Deine Schuld! Ich habe Dich einst unendlich geliebt – unendlich! Und Du – Du – Aber – weshalb all das nochmals erörtern!”
„Liebe stirbt nicht, Hubert,” sagt sie noch leiser und tastet nach seiner linken Hand.
„Sie stirbt – sie ist gestorben!” ruft er hart und entreißt ihr seine Hand. „Ich werde mich nie mehr Deinem Willen beugen, Therese, nie mehr! Ich bin – gewappnet!”
Sie ist leichenblaß geworden.
Ihre Lippen beben.
Jetzt – jetzt endet die wohlberechnete Szene; jetzt spielt das wahre Empfinden weiter.
Sie steht auf, schiebt den Sessel zurück, gleitet vor ihrem Manne in die Knie, packt seine Hand.
„Hubert – rette mich – vor mir selbst!” fleht sie, und in ihren Augen flackert die Angst.
„Vor – Dir selbst? Was heißt das?!”
„Hubert – man kann wieder jung werden. Man kann einsehen, daß – daß man –”
Und in diesem Augenblick verkennt der enttäuschte, jahrelang enttäuschte Gatte die Echtheit dieses Flehens. In diesem Augenblick verläßt ihn das bißchen Menschenkenntnis.
„Ich denke, wir beenden diese Szene,” sagt er finster. „Wenn Du – Du von Einsicht sprichst, höre ich als unausgesprochenen Nachsatz stets die Worte „für heute – Einsicht für heute!”
Sie duckt sich zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
Sie war in diesem Moment nicht Komödiantin, nicht berechnend gewesen. Und deshalb mußte sie auch diese fast höhnische Verzerrung dessen, was sie gesagt, in tiefster Seele treffen.
Mit einem Ruck erhebt sie sich. Noch ein eisiges: „Entschuldige,” und die Tür fällt ins Schloß.
Hubert Schmiedt streicht sich mit den Fingern über die Stirn hin. War das soeben richtig gehandelt?
Ihn packt etwas wie Reue.
Soll er ihr nacheilen –?
Er stöhnt fast qualvoll auf.
„Wenn mir nur jemand raten könnte!” denkt er.
Starrt vor sich hin und schaut in sein Inneres hinein, prüft seine Gefühle, prüft sie mit der Ruhe und Gerechtigkeit eines Mannes, der soeben nicht so gehandelt hat, wie er hätte handeln müssen. Niemals hätte er Therese so fortweisen dürfen! Sie bleibt die Mutter seiner Kinder; noch ist sie sein Weib, wenn auch nur dem Namen nach.
Er lauscht in sich hinein. – Regt sich noch etwas in seinem Herzen für Therese?
Nichts – nichts! Was sich regt, ist daß geringe Gefühl der Schuld, allzu hart und lieblos gewesen zu sein.
Als er am nächsten Morgen dann Frau Therese auf der Veranda noch allein vorfindet, als er von den Vorgängen der verschlossenen Spätabendstunde zu sprechen beginnt, sagt sie nur ohne jede Schärfe: „Wir sind quitt, Hubert. – Ich möchte dieses Thema nicht mehr berührt wissen.”
– – – – – – – –
Jeden Tag treffen sich jetzt Christa und Purzelchen draußen an der Ruine mit Doktor Benno Schütz; jeden Tag sucht Frau Therese ein Alleinsein mit dem neuen Hausgenossen Theo Kastner herbeizuführen. Es gelingt ihr nicht. Kastner ist jetzt so sehr beschäftigt. Der Film scheint alle seine Gedanken zu beanspruchen.
Zwischen Doktor Schütz und Christa herrscht jetzt bereits jene Vertraulichkeit, die sich zwischen gleichgesinnten Seelen so schnell einstellt.
Sie merken’s beide nicht, daß sie mit dieser Vertraulichkeit ein gewagtes Spiel versuchen, – wie Kinder, die in einem düsteren Walde tollen und nicht ahnen, daß sie nur wenige Schritte von einer sonnigen, köstlichen Wiese mit duftenden Blumen entfernt sind.
Wenn sie so nebeneinander hinter der Tannenkulisse sitzen, Schulter an Schulter, wenn Doktor Schütz Christa den feinen Bau der Käfer und den wunderbaren Organismus der Schmetterlingsaugen erklärt, dann hat Christa für nichts – nichts anderes Gedanken: für Hans Brandtner am allerwenigsten.
Heute jedoch ist sie so seltsam bedrückt; heute schaut sie geistesabwesend vor sich hin, bis Schüz vorwurfsvoll fragt:
„Hören Sie auch zu?”
„Ja – ja – gewiß!”
Purzelchen steht vor ihnen.
„Is ja dar nich wahr, Onkel,” kräht er jetzt. „Tante Tristel hat deweint, wie wir hier zu Dir gingen, Onkel. Tante Tristels Mann tommt heut abend. Er hat ein Zettel auf ’n Stangendraht herdeschickt, Onkel, den der Briefträger debracht hat. –”
Benno Schütz weiß ja längst, daß Christa mit Brandtner verlobt ist – längst! – Er weiß es. Aber er erwähnt Brandtner jetzt nie mehr, seit Christa eines Tages ihn wie gequält unterbrochen und gerufen hat: „Nein – sprechen Sie von allem, nur nicht von ihm!” –
Also Brandtner trifft heute abend ein. – Christa ahnt nicht, daß Möbius ihm depeschiert hat: „Sofort kommen. Dringend nötig.” –
Und Schütz schaut Christa jetzt von der Seite an, sagt nur leise: „So – so! Schade!”
Christa hat die Augen geschlossen; ihre Wangen brennen in heißem Rot, entfärben sich ebenso schnell wieder. –
Benno Schütz begreift dieses Mädchen nicht. – Weshalb hält Christa eine Verlobung aufrecht, die ihr doch offenbar zuwider ist? –
Christa schickt Purzelchen weg. – „Such’ mir einen Strauß Vergissmeinnicht, Purzel, – einen recht großen!”
Und er läuft hinunter zu dem schmalen Wiesenstreifen.
Die beiden sind allein.
Christa rückt etwas von Doktor Schütz ab, wendet sich ihm zu:
„Ich möchte Sie etwas fragen, Herr Doktor.”
„Tun Sie es, Fräulein Christa. Wir sind ja gute Freunde geworden –”
„Ja, das sind wir!” – Sie streckt ihm die Hand hin.
Und wie er so ihre Hand in der seinen hält, flüstert er: „Leider sind wir es geworden, Christa! Leider!”
Seine klugen Augen strahlen jetzt seine wahren Empfindungen aus.
Christas Gesicht überfliegt zarte Röte. Doch – sie läßt ihm ihre Hand, erwidert fest:
„Sagen Sie nicht „leider”! Wir sind so schnell vertraute Kameraden geworden. Das darf uns beiden nicht leidtun. Weshalb auch? Wir – haben doch vor der Welt nichts zu verbergen!”
„Sie vielleicht nicht!” – Er zieht seine Hand zurück. „Aber ich. Christa! Ich –” – und plötzlich ist er nicht mehr Herr seiner selbst – „ich bin an den Frauen bisher achtlos vorübergegangen; ich kannte nur mein bißchen Gelehrtentum; und habe nun ein Mädchen kennen gelernt, das so vollständig meine Interessen teilt, das eine Ergänzung meines eigenen Ichs und für mich ein restloses Glück werden könnte.
Aber – sie gehört einem anderen! Sie –”
Da hat Christa ihm schon die kleine Hand sanft auf den Arm gelegt. ruft beklommen und doch mit unmerklicher Zärtlichkeit:
„Sie gehört keinem andern – noch nicht – und nie! – Ich war ein Kind,” fügt sie leiser hinzu, ein törichtes Kind, als ich mich verlobte. Ich bin in den letzten Wochen weit reifer geworden, als andere es in Jahrzehnten werden. Brandtner gilt mir nicht mehr als ein Wildfremder; meine spärlichen Briefe an ihn enthalten kein zärtliches Wort. Und wenn er heute eintrifft, wird er wohl noch mehr enttäuscht – oder vielleicht auch nicht enttäuscht sein. – So, Herr Doktor, nun beantworten Sie mir eine Frage: waren Sie am 25. Mai vormittags mit Brandtner in der Gerold-Likörstube Ecke Friedrich- und Leipziger Straße zusammen?”
Benno Schütz blickt sie forschend an. „Hat Brandtner Ihnen etwas von unserer damaligen Unterredung erzählt?”
„Nein.– Also Sie waren mit ihm zusammen – gut. – Kennen Sie einen Herrn Otto Möbius?”
Schütz wird ganz verwirrt. „Nein, wirklich nicht –”
„Und Sie sind nur deshalb hier nach Liebland gekommen, um Käfer zu sammeln.”
„Noch aus einem anderen Grunde, Fräulein Christa. Ich will nur erst feststellen, ob das, was ich suche, wirklich vorhanden ist. Dann erfährt die Öffentlichkeit davon; dann werde ich vielleicht – berühmt werden, – wenn nicht als Botaniker, so doch als – etwas anderes.”
Christa scheint aufzuatmen. Ihr ist auch in Wahrheit eine schwere Last von der Seele gefallen.
Sie steht auf. „Ich muß jetzt heim, Herr Doktor. Auf Wiedersehen –” – Sie gibt ihm die Hand und eilt davon. Kopfschüttelnd schaut er ihr nach.
8. Kapitel.
Die Chronik von Liebland.
Es ist erst elf Uhr vormittags, als Christa in die Bürgermeisterei zurückkehrt. Purzel ist voraus gelaufen, damit die Mammi den Vergißmeinnicht-Strauß ja recht bald erhielte.
Christa betritt den Park wie immer durch die Nordpforte, geht langsam aufs Geratewohl durch die Wege, über Treppen und Terrassen, nähert sich, immer mit den Gedanken bei dem noch ungeklärten Geheimnis, dem Pavillon, hört Stimmen und stutzt, will nicht die Lauscherin spielen, möchte umkehren, – und bleibt doch stehen.
Das ist der Mutter volles Organ. Nur – es klingt jetzt so ganz anders, wie von Schmerz und Leidenschaft verändert.
„Nichts also ist mir geblieben – nichts!” ruft Frau Therese. „Alles habe ich verloren – alles – auch Sie!”
Ein Aufschluchzen folgt.
Dann Theo Kastners tiefere Stimme, bewegt und zart:
„Frau Therese, Sie sind ungerecht! Sie haben mich nicht verloren! Sie haben mich nie besessen. Wenn ich Ihnen als dem schönen Weibe huldigte, wenn diese Huldigungen anfänglich das zulässige Maß ein wenig überschritten haben, so – bekenne ich mich in dieser Hinsicht schuldig. – Seien Sie gerecht: Sie haben die Verzeihung Ihres Mannes angefleht! Sie haben ihn sozusagen gewarnt. Sie hatten dabei jedoch bereits, wie Sie mir selbst soeben eingestanden haben, den Hintergedanken, daß ich Ihnen geben würde, was Ihnen vielleicht verweigert werden könnte. Zwischen unserem letzten Beisammensein hier und dieser Aussprache liegen viele Tage, liegt für mich ein inneres Erleben, über das ich nicht sprechen möchte. – Frau Thea, was Sie mir vorwerfen, trifft mich mit dieser Schwere niemals: nicht ich bin schuld daran, daß Ihr Gatte Ihnen verloren ging – nur Sie selbst! – Nein – wir wollen heute hier lieber in Frieden scheiden! Sie, Frau Thea, haben Jahr für Jahr in Ihrer langen Ehe die Gelegenheit gehabt, zur Einsicht zu kommen. Und wenn diese Einsicht jetzt scheinbar kam, so geschah es eben um – drei Jahre zu spät! Sie – sind ein unglückseliger Frauencharakter. Sie – würden mit niemandem glücklich werden. Das Geheimnis des Eheglücks beruht auf gegenseitigem Nachgeben, gegenseitiger Rücksichtnahme und – ehrlicher Zuneigung. Diese Vorbedingungen konnten Sie nie erfüllen – nie! Man kommt nirgends mit dem Kopf durch die Wand. Am wenigsten in der Ehe.”
Wieder nur die schluchzenden Laute, die sich aus Frau Thereses Brust losrangen.
Christa klang dieses Weinen wie das Eingeständnis, daß die Mutter den ernsten, eindringlichen Worten Kastners recht gäbe.
Das junge Mädchen schlich leise, verstört davon. In ihrem Herzen fühlte sie unendliches Mitleid mit dieser durch sich selbst um jedes Glück betrogenen Frau, obwohl ihre Mutter sich ein Anrecht auf die Liebe ihres jetzt einzigen Kindes längst verscherzt hatte.
Noch anderes glomm in Christas Herzen auf: ein Sehnen nach dem armen Vater, der wohl am meisten in dieser Ehe gelitten hatte.
Sie eilte weiter dem alten Rathause zu. Sie wollte den Vater begrüßen, den sie heute noch nicht gesehen hatte; er sollte merken, wie unendlich lieb sie ihn hatte.
Dann kehrten ihre Gedanken zu Theo Kastner und zu der Mutter zurück. Kastner hatte von einem inneren Erleben gesprochen. Christa konnte sich unschwer zusammenreimen, was er damit meinte. Sie hatte ihn in den letzten Tagen häufiger in Frau Helmings Arbeitsstube getroffen, neben der surrenden Nähmaschine auf dem Stuhl sitzend. Und Frau Helming war jetzt so verändert, hatte so frohe, blanke Augen bekommen, so etwas Mädchenhaftes, Jugendfrisches in ihrem ganzen Wesen.
Christa dachte an Benno Schütz’ Worte: „Liebland – Land der Liebe! Das ist die ganze Welt!”
Ja – Liebland –! Überall spannen sich hier zarte Fäden – von Herzen zu Herzen! – Daß Frau Helmings frohe Augen Theo Kastner galten, das Stand für Christa genau so fest, wie sie auch in ihrem eigenen Herzen Bescheid wußte. Daß Kastner der Mutter zuerst ein wenig den Hof gemacht hatte, konnte sie ihm nicht verargen. Die Mutter war schön und stattlich, und ganz gewiß war sie Theo Kastner so etwas entgegengekommen. –
Christa betrat des Vaters Dienstzimmer, nachdem sie dreimal stark geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten.
Das Zimmer war leer. Sie ging in die Kanzlei hinüber. Der alte Schreiber Grundt sagte ihr, der Herr Bürgermeister sei im Archiv.
Christa schritt die Kellertreppe hinab. Das Archiv war ein großes Gewölbe mit uralten Eichenschränken, in denen außer Urkunden, Büchern und wertvollen Pergamenten auch Ritterrüstungen, Waffen aus alter Zeit und eine der Stadt gehörige Münzensammlung aufbewahrt wurden. In der Mitte stand ein schwerer, alter Eichentisch. Die drei elektrischen Deckenlampen brannten.
Als Christa die Tür geöffnet hatte, stutzte sie sofort.
Der Vater war nicht allein. – Dort saß Herr Otto Möbius und hatte vor sich ein dickes, großes Buch liegen, während der Bürgermeister mit dem Rücken nach ihm hin vor einem der Schränke stand und eine Urkunde mit daran hängenden großen Siegeln las.
Christa hatte den Schloßgriff der schweren Tür ganz leise herabgedrückt gehabt, hatte den Papa Überraschen wollen.
Keiner der beiden Herren war auf sie aufmerksam geworden, zumal das Gewölbe sehr lang war und die Tür sich in der linken, vom Tische am weitesten entfernten Seitenwand befand.
Christa beobachtete, wie Möbius jetzt mit einem Taschenmesser eine der vergilbten, wurmstichigen Seiten des Folianten herausschnitt, nachdem er sich scheu nach dem Bürgermeister umgedreht hatte.
Dann ließ Möbius ebenso gewandt das Blatt in seiner Brusttasche verschwinden.
Christa kannte das Buch mit den kunstvollen Kupferbeschlägen auf dem Deckel. Sie hatte selbst schon verschiedentlich darin geblättert. Aber das wunderliche Deutsch und die verschnörkelten Buchstaben erschwerten das Lesen so sehr, daß man zu einer halben Seite Stunden gebrauchte. Diese Lektüre war das reine Rätselraten. –
Und doch hatte Christa noch nie daran gedacht, die Stadtchronik von Liebland zu jenem Geheimnis in Beziehung zu bringen, von dem ein Zufall, eine übermütige Stunde, ihr Kenntnis gegeben hatte.
Nicht alles hatte sie damals von dem leisen Gespräch Brandtners und des anderen Herrn erlauschen können, als sie in einem der Anzüge des gefallenen Bruders die Gerold-Likörstube betreten hatte, weil sie sich plötzlich so schwach fühlte, daß sie sich eine Weile irgendwo ausruhen wollte. Nur eins war ihr damals klar geworden: daß diese beiden einen dritten um irgend etwas Wertvolles betrügen wollten und daß dieses Wertvolle in irgend einem Gewölbe ruhte und nur mit Hilfe eines alten Folianten zu finden sei.
Inzwischen hatte sie dann erkannt, daß dieser Dritte nur Benno Schütz sein könne, hatte hier auch Otto Möbius wiedergesehen und außerdem vorgestern bei Frau Helming eine Bemerkung aus Theo Kastners Munde aufgefangen, aus der hervorging, daß Möbius um jeden Preis hätte Frau Helmings Mieter werden wollen und daß Kastner ihm mißtraute und ihn heimlich beobachtete.
Nun sah sie in allem klar – in allem! Möbius war nur nach Liebland dieser Sache wegen gekommen. Und – Frau Helmings kleine Wohnung mußte mit dieser Angelegenheit irgendwie eng verknüpft sein – irgendwie! Nur deshalb hatte Möbius sich dort einmieten wollen!
Und weiter besann Christa sich in diesem Moment auch auf jene Szene im Berliner Tiergarten, als sie Hans Brandtner auf dem einsamen Wege mitgeteilt hatte, daß ihr Vater zum Bürgermeister von Liebland gewählt sei und jetzt mit der Mutter dort weile. Da war Brandtner für Sekunden so nachdenklich geworden, daß ihr dies geradezu auffiel. Und dann war so überraschend seine Werbung gekommen dann hatte sie unter seinen Küssen das Abenteuer in der Likörstube für eine Weile völlig vergessen gehabt.
Sie wußte jetzt: er hatte sich mit ihr nur verlobt, weil ihre Eltern gerade nach Liebland verzogen – nur deshalb! Er hatte in kalter Berechnung sich gesagt, daß er als Schwiegersohn des Bürgermeister am leichtesten Gelegenheit haben würde, den Schatz heimlich zu heben!
Es konnte sich hier nur um einen Schatz handeln – um nichts anderes! Und die Seite aus der Stadtchronik, die Möbius soeben gestohlen hatte, enthielt fraglos die näheren Angaben über den Ort, wo der Schatz zu suchen war. –
Diese Gedankenjagd hatte nur Sekunden gedauert. Und ebenso schnell kam Christa auch zu einem Entschluß. Sie zog die Tür mit aller Behutsamkeit wieder zu und wollte Doktor Schütz aufsuchen, der wahrscheinlich noch in den Gewölben der Schloßruine wieder herumstöberte, und ihm mitteilen, was sie damals erlauscht und heute beobachtet hatte. Zu Benno Schütz hatte sie volles Vertrauen.
Als sie dann den Schuttberg emporklomm, der von dem Turmrest überragt wurde, fiel ihr etwas ein, worüber sie von Benno Schütz so gern Aufschluß bekommen hätte. Sie hatte jedoch immer wieder vergessen, diese Frage an ihn zu richten. Er war doch damals, als er Purzelchen durch einen glücklichen Zufall unten in den Gewölben aufgefangen hatte, dort von Osten her mit dem Kinde wiederaufgetaucht. Und die Gewölbe sollten sich lediglich nach Westen hin erstrecken, wie längst von Neugierigen festgestellt worden war. –
Christa kannte jetzt genau alle gefährlichen Stellen, wo die Decke der Gewölbe Löcher aufwies. Die nächste dieser Öffnungen war auch die größte.
Vorsichtig trat sie näher, wollte gerade hinabrufen, als irgendwoher aus der Tiefe, aber wie aus weiter Ferne, etwas wie ein Schrei an ihr Ohr drang – ganz schwach nur.
Christa verfärbte sich.
Dann beugte sie sich noch tiefer, lauschte mit jagendem Herzen.
Wenn Doktor Schütz etwas zugestoßen wäre! Wenn er vielleicht verunglückt war! – Die Gewölbe lagen ja streckenweise in drei Etagen übereinander! Und es sollte da unten viele Risse und Spalten geben, in die man leicht hineingeraten konnte. –
Drüben auf der Heide hatte Theo Kasiner heute die für einige Filmszenen nötige mexikanische Steppenlandschaft, dazu auch – aus Kulissen – eine ganze Hazienda hervorgezaubert. Morgen sollten die Aufnahmen stattfinden. Das Heer von Statisten, daß er gebrauchte, hatte er unter der Einwohnerschaft geworben. Ganz Liebland sprach jetzt von nichts anderem als von Cowboys, Sennoritas, Lassos und so weiter. Einen Teil der Kostüme lieferte die Filmfabrik. Der Rest der Statisten wollte sich aus eigenen Mitteln als Mexikaner herausstaffieren.
Kastner hatte soeben nochmals alles besichtigt. Lustig pfeifend schlug er jetzt den kürzesten Weg nach der Bürgermeisterei ein. Er mußte an der Ruine vorüber, sah auch, daß Christa sich dieser von Süden her näherte und dann verschwand.
„Hm – diese kleine Christa!” dachte er lächelnd. „Ist verlobt und verdreht hier dem armen braven Doktor Schütz den bisher so weiberfeindlichen Gelehrtenkopf! Und die Christa wird jetzt natürlich dort an der Ruine wieder mit dem Doktor zusammenhocken und sich Käfer erklären lassen, was immerhin etwas bedenklich ist, wenn man selbst ein so reizender Käfer ist! – Hallo!” rief er zurück, denn plötzlich hatte er seinen Namen von oben aus den Büschen vernommen.
Da stand Christa und winkte erregt. – Theo Kastner setzt sich in Trab. Keuchend langte er neben ihr an. „Was gibt’s, gnädiges Fräulein?”
Er streckte ihr die Hand hin. Er fühlte wie eiskalt die Finger waren. – Christa konnte vor Erregung kaum sprechen.
„Ich habe in den Gewölben einen Schrei gehört, Herr Kastner, – dann ein Lachen – so ein höhnisches Auflachen, – beides aus weiter Ferne und ziemlich undeutlich. Doktor Schütz pflegt in den Gewölben Käfer und andere Tiere zu sammeln. Erst glaubte ich, er wäre abgestürzt. Aber – dann das häßliche Lachen –”
Kastner suchte sie zu beruhigen. Doch Christas Angst ließ sich nicht beschwichtigen. – „Ich fühle, daß – daß gerade Doktor Schütz etwas zugestoßen ist!” schluchzte sie. Und in ihrer Sorge um ihn fügte sie hastig hinzu: „Herr Kastner, ich weiß, daß Ihnen dieser Herr Möbius sehr unsympathisch ist –”
Theo Kastner horchte auf. – Ob etwa Christa Schmiedt irgendwie erfahren hatte, was Möbius mit seinem Aufenthalt hier in Liebland bezweckte?
„Sie hegen Mißtrauen gegen ihn,” fuhr Christa schon fort. „Ich will Ihnen etwas anvertrauen. Frau Helming hält so große Stücke auf Sie, und –”
„Tut Sie das?” fragte Kastner freudig.
„Ja – ja, natürlich! Das werden Sie doch selbst schon gemerkt haben. Und auch ich glaube, daß man auf Ihre Verschwiegenheit rechnen kann.” – Sie errötete leicht, als sie nun erzählte, wie sie in Männerkleidung damals die Likörstube besucht hatte.
Kastner hörte atemlos zu. Dann meinte er nachdenklich:
„Sie fürchten nun, Möbius könnte den ihm als Mitwisser des Schatz-Geheimnisses unbequemen Doktor Schütz ein Leid zugefügt haben, Fräulein Christa? –
Nein, da kann ich Sie beruhigen. Möbius war bis vor zehn Minuten drüben in „Mexiko” und wanderte dann mit Resi Satschewa nach der Stadt zurück. Er war nur ganz kurze Zeit in „Mexiko”, holte eigentlich die Satschewa nur ab. Er kann also unmöglich Doktor Schütz einen heimtückischen Streich gespielt haben. Immerhin, wir wollen die Sache nachprüfen. Jetzt ist dies unmöglich. Wir können ohne Laternen und Stricke in die Gewölbe nicht hinab. Außerdem bleibt ja abzuwarten, ob Doktor Schütz nicht vielleicht ganz behaglich in seinem Hotel sitzt. Er wohnt im Schwarzen Adler. Ich werde sofort einmal hingehen und feststellen, ob er dort ist. – Wirklich, Fräulein Christa, Ihre Angst wird ganz überflüssig sein –”
9. Kapitel.
Das Geheimnis des Theodorius Fabrinus.
Abends acht Uhr. – Frau Adda Helming und Theo Kastner sitzen in des Filmregisseurs Zimmer und warten auf Christa, die zu einer Besprechung sich hier hatte einfinden wollen.
Frau Adda ist in alles eingeweiht worden. Kastner hat nachmittags zwei Stunden lang die ausgedehnten Gewölbe durchsucht, hat nichts gefunden – nichts.
Aber Doktor Schütz ist weder zum Mittagessen noch zum Nachmittagskaffee im Schwarzen Adler erschienen!
Kein Wunder, daß Christas Angst jetzt ins ungemessene gestiegen ist. Auch Kastner macht kein Hehl aus seiner Sorge um ihn. Trotzdem hat er Christa geraten, die Polizei vorläufig noch nicht zu benachrichtigen. –
Theo Kastner ist schweigsam, raucht versonnen seine Zigarre. Frau Adda stopft Purzelchens Strümpfe.
„Was haben Sie eigentlich vor, Herr Kastner?” fragt Frau Adda plötzlich. „Mir tut Christa so sehr Leid. Sie liebt Doktor Schütz. Sie verheimlicht es auch gar nicht. Wenn ihm etwas Ernstliches zugestoßen wäre, dann – dann würde sie darüber kaum hinwegkommen.”
Kastner nickt.
„Sie liebt. – Hier in diesem Städtchen liegt die Liebe geradezu in der Luft. – Nicht wahr. Frau Adda?”
Sie wird sehr rot, beugt den Kopf tiefer über ihre Arbeit und stichelt noch emsiger als bisher.
„Sie sind mir noch immer die Aufklärung über die schnelle Scheidung Ihrer zweiten Ehe schuldig, Frau Adda,” meint er dann bittend.
Eine Weile schweigt sie, sagt dann leise: „Ich bin Ihnen noch eine andere Aufklärung schuldig. Sie werden weder Christa noch sonst jemandem etwas davon verraten. – Der Name Schmiedt, der meines ersten Gatten, ist so häufig. Hier kennt man mich nur als Frau Helming. Man soll mich auch nicht kennen – nicht als – Schwiegertochter des Bürgermeisters von Liebland!”
Kastner greift nach ihrer Hand. „Sie – Sie sind wirklich mit Schmiedts verwandt?! Und weshalb sind Sie sich doch fremd?”
Frau Adda erzählt. Wie sie als junge Buchhalterin Willy Schmiedt kennen gelernt hätte; wie sie sich hatten kriegstrauen lassen. – Alles berichtet sie: von den Geldsendungen Hubert Schmiedts und Christas, von vielem anderen.
„Und als ich dann mit dem Kinde allein dastand, als mir auch mein guter Vater durch den Tod genommen worden war, da lernte ich Waldemar Helming kennen. Er war um dreißig Jahre älter als ich, war Beamter bei einer Versicherungsgesellschaft. Ich sollte bei ihm Wirtschafterin werden. Alles in allem war er ein braver Mensch. Nur als Junggеselle so etwas Sonderling geworden. Von Liebe meinerseits war natürlich keine Rede. Das sagte ich ihm auch ehrlich, als er um mich anhielt. Drei Tage vor der Hochzeit erkrankte er an Grippe. Wir wurden notgetraut. Zwölf Stunden später starb er. Er hinterließ mir ein bescheidenes Vermögen, dessen Zinsen es mir ermöglichen, hier sorgenfrei zu leben. In Berlin mochte ich nicht bleiben. Ich sehnte mich hinaus aus der Großstadt. Ich konnte die Wohnung in Berlin gegen diese zwei Stuben eintauschen, und ich habe es nicht bereut, hierher gezogen zu sein –”
Kastner hielt noch immer ihre Hand. Sie wollte sie ihm entziehen.
„Nicht doch, Frau Adda,” meinte er leise und stand auf. „Weshalb wollen wir beide uns nicht sagen, wie es um uns steht?” – Er strich ihr sanft über den braunen Scheitel. – „Adda, nicht wahr, wir beide würden für Purzelchen vortreffliche Eltern abgeben. Ich habe jetzt am Strome des Lebens die sonnige Uferstelle gefunden, den stillen Hafen des Glücks; ich habe die große Welt satt, möchte wieder Schriftsteller werden, möchte für das Volk harmlose Romane schreiben, die die große Menge versteht: volIer Gemüt, ohne gekünsteltes Drum und Dran! – Adda, wie wär’s, wenn Sie ja sagten? Muß ich noch lange bitten? Oder – bin ich Ihnen zu alt?”
Sie blickte ohne Scheu, ohne jede Ziererei zu ihm auf. – „Wenn – wenn Du’s nur nie bereust, Theo, wenn nur nicht einmal die Stunde kommt, wo Du Dich zurücksehnst nach dem Getriebe der Welt –”
Er hatte den Arm um sie gelegt, beugte sich zu ihr herab.
„Und – wenn diese Stunde käme, Adda, dann – dann können wir ja gemeinsam für eine Weile die Großstadt auskosten und dann doppelt froh in unsere Einsamkeit nach Liebland, in das Land der Liebe, zurückkehren –” – Er lächelte dazu so glücklich.
Und dann küßten sie sich, hielten sich umschlungen.
Gleich darauf erschien Christa – sehr aufgeregt, mit verweinten Augen.
„Ich mußte bei Papa bleiben, konnte ihn nicht allein lassen," sagt sie hastig. „Meine Mutter – ist heute abend in aller Stille abgereist, hat für Papa nur einen Brief mit wenigen Worten hinterlassen, – daß sie niemals mehr zurückkehren würde, daß sie Krankenschwester werden wolle. – Papa macht sich nun so schwere Selbstvorwürfe. Ich weiß ja nicht, was zwischen den Eltern vorgefallen ist. Aber Papa glaubt, er hätte sie nun aus dem Hause getrieben durch allzu große Härte –” –
Christa weinte. Und mit tränenerstickter Stimme fügte sie hinzu: „Dann noch für mich die Angst um Doktor Schütz! Ach, Herr Kastner, wäre es nicht doch richtiger gewesen, das Verschwinden des Doktors –”
Kastner unterbrach sie schon: „Nein, Fräulein Christa! – Hören Sie mich an. Sie wollen Ihre Verlobung mit Brandtner lösen. Sie wollen aber einen recht schwerwiegenden Grund dazu haben – schon der Welt gegenüber. Diesen Grund sollte Ihnen diese geheimnisvolle Schatzgeschichte geben: wenn Brandtner als Genosse eines so üblen Gauners und als Mitwisser oder besser Urheber dieser dunklen Pläne entlarvt war, konnte niemand Ihnen den Vorwurf machen, sich leichtfertig von Brandtner losgesagt zu haben. – Kurz: wir müssen in Ihrem Interesse die Dinge treiben lassen, müssen Möbius und Brandtner derart bloßstellen, daß dem gerissenen Hänschen keine Möglichkeit bleibt, sich irgendwie reinzuwaschen. – Sie wissen ja, daß Möbius durchaus dieses Zimmer mieten wollte. Ich denke, ich kenne jetzt auch den Grund, weshalb er so viel Geld hergeben wollte, meiner – hm – meiner Braut Mieter zu werden –”
Christa blickte überrascht von Kastner zu Frau Adda hinüber. Und Frau Adda lächelte verschämt.
„Ja, ja, Fräulein Christa,” nickte Theo Kastner, wir haben uns vor fünf Minuten verlobt. Sie dürfen gratulieren –”
Christa sprang auf und gab Adda einen langen Kuß.
„Wie mich das freut!” rief sie. „Allerdings – geahnt habe ich es –”
„Nicht wahr – hier in Liebland?!” lächelte Kastner. „Hier geht die Liebe um wie der Weihnachtsmann. – Doch, um aus Otto Möbius zurückzukommen, Fräulein Christa: ich glaube, er hatte es lediglich auf jene Kammer da abgesehen – auf Addas Rumpelkammer. Dort gibt es in den Dielen des Fußbodens eine Falltür, wie ich vorhin festgestellt habe. Ich bin auch die Steinstufen hinabgestiegen und so in einen uralten gemauerten Gang gelangt, der jedoch nach kaum dreißig Meter in einem leeren Gewölbe endet. Ich nehme an, daß diese Falltür in der Stadtchronik mit erwähnt ist und daß –”
Er schwieg plötzlich.
Die beiden Frauen waren gleichzeitig mit leisem Schrei hochgefahren.
Da – abermals ein dumpfes Pochen.
Kastner stand auf. „Es kommt aus der Kammer. Vielleicht ist es gar der Gesuchte!” flüsterte er erregt.
Er hatte vom Nachttischchen eine elektrische Taschenlampe genommen, schritt schon auf die kleine Tür zu. Und jetzt, gerade als Kastner sich bückte, um den Riegel zurückzuschieben, der ein Hochheben der Falltür unmöglich machte, wurde von unten abermals kräftig gegen die Bretter geklopft.
Der Riegel glitt zurück. Kastner griff in den eisernen Ring hinein und hob die schwere Tür an.
Christa hatte jetzt die Taschenlampe in der Hand. „Doktor Schütz!” rief sie dann jubelnd, „Doktor Schütz!”
Unten auf der Steintreppe stand Benno Schütz, – das Gesicht voll Staub und Spinngeweben.
„Guten Abend allerseits,” sagte er vergnügt. „Aha – alles gute Freunde: Frau Helming, Fräulein Christa und der berühmte Theo! Meine Herrschaften, kommen Sie mit. Ich werde Ihnen etwas zeigen! Sie werden staunen!”
Er lachte jetzt Christa glückselig an.
„Fräulein Christa, ich habe es nämlich gefunden – endlich! Das große Geheimnis ist kein Geheimnis mehr! – Ja, folgen Sie mir nur, meine Herrschaften! Der Weg ist weit, jedoch lohnend – sehr lohnend!”
Schütz ging mit seiner kleinen Öllaterne voran. Dann kam Christa, dann das neugebackene Brautpaar.
Benno Schütz führte die drei in den entferntesten Winkel der unterirdischen Halle, deren Fliesenboden mit einer handhohen Lage Staub bedeckt war. – In dieser Ecke gab es eine zweite hölzerne Falltür und darunter eine gemauerte Treppe von sechzig Stufen, sodann einen Gang, der nach Norden zu verlief.
„Wir befinden uns jetzt unter der Stadt.” erklärte Schütz triumphierend. „Dieser Gang endet in der Nähe der Gewölbe des Liebland-Schlosses, war also seiner Zeit – im sechzehnten Jahrhundert – ein Rettungsweg für die Liebländer in der Stunde der Gefahr.”
Nach einer Viertelstunde erweiterte sich der Gang zu einem runden Gewölbe, an dessen Westseite wieder eine Steintreppe zu sehen war.
Am Fuße dieser Treppe blieb Benno Schütz stehen, deutete nach oben und sagte:
„Erst heute vormittag entdeckte ich in dem untersten Gewölbe des Schlosses unter Geröll die Falltür dort. Ich wußte, daß diese Falltür mich an das Ziel meiner Wünsche führen würde. Mit einem Male erhielt ich von hinten einen Stoß, schrie vor Schreck auf, rutschte die Treppe hinab und hörte noch, wie jemand höhnisch auflachte und die Falltür zuflog. Ich lag hier unten in Staub und Spinngeweben. Aber meine Laterne war mit mir herabgepurzelt, war heil geblieben und brannte. – Ich rappelte mich auf und schaute mir dies Lokal genauer an. Ich bemerkte auch sofort in der dicken Staubschicht des Bodens verschiedene Spuren, die nicht meine, sondern die Stiefel anderer Leute hier vor kurzem hervorgerufen hatten. Die Spuren führten mich auch sehr bald an den Ort, wo der eiserne Kasten hinter ein paar losen Mauersteinen in einer Aushöhlung sich befand. – Bitte – dort hinüber!” – Und er führte die drei an die Ostseite des Gewölbes, nahm hier vier der bröckligen Steine heraus und zog einen verrosteten, langen, schmalen Kasten ans Licht der elektrischen Taschenlampe.
„Da ist er! Und er ist bis oben gefüllt – gewesen!” Benno Schütz lachte. „Das heißt – er ist auch noch gefüllt, nur nicht mit Münzen, sondern mit Steinen!”
„Aha – famos!” rief Kastner.
„Ja – die Münzen liegen jetzt anderswo! – Brandtner und dieser Möbius wollten mich betrügen. Nun habe ich den Spieß umgedreht!”
„Ist Brandtner denn hier?” fragte Christa scheu.
„Allerdings – er ist hier. Und er war es, der mir so heimtückisch den Stoß versetzte. – Ich blieb nämlich absichtlich in diesem Gewölbe. Ich wollte feststellen, was diese beiden Ehrenmänner weiter tun würden. Nachmittags gegen sechs, also vor drei Stunden, begannen die beiden Herren von dort oben durch die Falltür mit mir zu verhandeln. Sie versprachen mir, mich zu schonen, wenn ich ihnen die Münzensammlung überließe und schwören würde, sie nicht anzuzeigen. – Ich merkte, daß sie hofften, ich hätte den zweiten Ausgang nach der Bürgermeisterei nicht gefunden. – Ich bat mir Bedenkzeit bis morgen mittag aus. Sie häuften dann wieder Steine auf jene Falltür dort und entfernten sich. Nun wußte ich, woran ich war. – Wir können kehrt machen. Ich habe Hunger. Übrigens liegen die Münzen dort unter den Mauersteinen, mit denen der Boden ausgelegt ist. Die beiden Ehrenmänner werden sie dort nicht finden; sie werden eben mit dem Kasten voll Steinen abziehen –”
Man trat den Rückweg an.
Eine halbe Stunde später saß Benno Schütz sauber gewaschen am Sofatisch in Kastners Zimmer vor einem reichlichen Abendbrot, und das Brautpaar und Christa sahen zu, wie gut es ihm schmeckte.
Kastner hatte sowohl Schütz als auch Christa für den folgenden Tag noch allerlei mitzuteilen, sagte unter anderem:
„Möbius will morgen als Statist im Cowboy-Kostüm die Filmaufnahme mitmachen und hat mir erklärt, daß ein Bekannter von ihm gleichfalls sehr gern den Cowboy spielen möchte. Der betreffende Herr würde sich im eigenen Kostüm rechtzeitig einfinden und auch zwei Pferde mitbringen.”
Das, was Theo Kastner weiter ausführte und was er dann Christa vorschlug, schien dieser nicht recht zu behagen. Schließlich willigte sie aber doch ein.
„Endlich!” meinte Kastner aufatmend. „Endlich!”
Und er winkte seiner Adda heimlich zu, worauf sie ins Nebenzimmer gingen.
Christa und Benno Schütz waren allein.
Christa füllte ihm das Teeglas. – Er schob den Teller beiseite, lehnte sich zurück und sagte ernst:
„Sie können sich denken, wie schwer es mir fiel, Ihnen nicht Aufschluß über Brandtners wahren Charakter geben zu können, liebe Freundin. Ich hatte nämlich in Berlin sehr viel Ungünstiges gehört. Jetzt, wo ich offen reden kann –”
Christa hatte plötzlich den Verlobungsring vom Finger gezogen und warf ihn in die Ofenecke, meinte leise: „Ganz offen können Sie reden –”
Benno Schütz’ Gesicht rötete sich.
„Christa, Hans Brantner betrügt Sie,” sagte er zögernd.
„Oh – das ist mir ja gleichgültig. Nein – kein Wort mehr von diesem Menschen!”
„Aber –aber von mir darf ich doch wohl sprechen, Christa –”
Christa wollte schnell aufstehen.
„Bitte – nicht fliehen, Christa,” meinte der Käfer-Benno etwas verlegen. „Ehrlich gesagt: ich – ich – habe keine Ahnung, wie man so – so – eine Werbung – abschließt, Christa; ich war noch nie irgendwie – keck einer Frau gegenüber. Nein – Sie müssen schon –”
Christa hatte ihm ihr Gesicht zugewandt.
Und dies Gesicht näherte sich langsam dem seinen.
Und mit einem Male wurde auch Benno Schütz jetzt keck, umschlang Christa, küßte sie. –
Nach einer geraumen Weile meinte er dann Strahlend:
„Christa, das Verloben ist ja gar nicht so schwer. Aber – es muß geübt werden!”
Und er nahm sie auf den Schoß und küßte sie abermals. –
Adda und Theo hatten die Tür leise geöffnet. Und Theo rief leise:
„Wir gratulieren! – Liebland’ – Land der Liebe –! Das reine Zauberstädtchen!”
10. Kapitel.
Das Land der Verheißung.
Die Filmaufnahme war in vollem Gange.
Theo Kastner dirigierte die Massen.
Wildbewegte Reiterszenen.
Das Tor der Hofmauer wird gesprengt.
Zwei Reiter haben sich abgesondert, halten jetzt auf die ferne Schloßruine zu, verbergen ihre Pferde dann in den Büschen.
Weit und breit ist kein Mensch zu sehen; alles ist drüben in „Mexiko”. –
„Der Gaul wird den anderthalb Zentner schweren Kasten spielend leicht wegschleppen,” lacht Otto Möbius. „Eine gute Idee war’s von mir, da ja dieser dämliche Doktor und auch der Kastner uns nachts zu leicht hätten überraschen können. Beide trauen mir nicht. – So, nun hinab in die Gewölbe. Und dann vergraben wir den Schatz zunächst irgendwo drüben im Walde. Der Doktor wird schon schwören, daß er das Maul halten wird –”
Hans Brandtner klettert hinter Möbius den Schuttberg hinan.
Gleich darauf sind sie unten an der Falltür, räumen das Geröll weg, steigen die Treppe mit ihren Laternen hinab.
Auf der untersten Stufe hockt eine zusammengesunkene Gestalt: Benno Schütz! –
„Na, Benno,” meint Brandtner zynisch, „wie ist’s mit dem Schwur?”
Doktor Schütz spielt seine Rolle vorzüglich, spielt den völlig Erschöpften.
„Ich werde schweigen. Nehmt den Kasten nur. Ihr mögt ihn behalten –”
„Sehr vernünftig, mein Junge!” lacht Brandtner. „Zehn Minuten nach uns darfst Du die Gewölbe verlassen.” –
Die beiden holen den schweren Eisenkasten, tragen ihn fort. Und als sie den Ruinenberg langsam hinabgehen und an die Stelle kommen, wo sie ihre gemieteten Pferde angebunden haben, ist – der Platz leer.
Sie setzen den Kasten ab.
Möbius flucht; Brandtner wird bleich. Er ahnt Böses.
Und – da tritt auch schon Christa aus den Büschen hervor, ruft Brandtner zu:
„Da haben Sie Ihren Ring zurück!” Sie wirft ihm den goldenen Reif vor die Füße. „Der Kasten enthält im übrigen nur Steine, und –”
Möbius springt schon auf sie zu.
„Wart’, ich will Dir die Maskerade anstreichen, verdammtes Weib!” brüllt er, sinnlos vor Wut und Enttäuschung.,
Christa in ihrem Cowboykostüm flüchtet. Sie weiß, daß ihr nichts geschehen kann.
Und hinter ihr stürmen Brandtner und Möbius drein – und noch ein dritter, ebenfalls im Cowboyanzug: Theo Kastner!
Christa eilt weiter.
Bis Benno Schütz ganz programmäßig auftaucht, bis sie ihm in die Arme fliegt, bis Kastner hinter den beiden drohend ruft:
„Stehen bleiben! Das Spiel ist aus!”
Die Büsche ringsum werden lebendig.
Die Schar der Statisten umringt die fünf Menschen. Und aus dem Keise der „Mexikaner” stapft würdig der dicke Stadtwachtmeister Dreher auf die blassen Schatzsucher zu.
Das Spiel ist wirklich aus.
Brandtner und Möbius können sich nicht genügend legitimieren, müssen mit zur Polizeiwache. Niemand kennt sie jetzt – niemand.
So müssen sie denn vor Dreher hergehen, blamiert, gedemütigt.
– – – – – – – –
Frau Tilde Menk kommt ganz aufgeregt in die Bürgermeisterei. Als sie Hubert Schmiedts Dienstzimmer betritt, sieht sie den Bürgermeister im Schreibsessel sitzen, und auf seinen Knien reitet Purzelchen.
„Wissen Sie schon?” fragt Frau Tilde und reicht ihm die Hand. „Dieser Brandtner –”
Er macht eine müde Handbewegung, reicht ihr einen Brief.
„Von meiner Frau. Soeben erhalten. Lesen Sie, liebe Frau Menk –”
Und Purzelchen kräht plötzlich: Dies is mein Ohpapa. Mein lieber Ohpapa!”
Tilde überfliegt die Zeilen.
„– sehe alles ein und bin damit einverstanden, daß wir uns scheiden lassen. Vielleicht verschönt Dir eine andere Frau den Rest Deines Lebens, Hubert, – vielleicht Frau Menk! Ich wünsche Dir, da ich vieles bereue, aufrichtig alles Gute. – Frau Adda Helming ist Deine Schwiegertochter, und Purzelchen Dein Enkelkind. Es ist mir eine Genugtuung, daß ich Dir dies mitteilen kann.”
Frau Tilde reicht dem Bürgermeister den Brief zurück.
Beider Augen ruhen ineinander; diese Augen reden eine stumme, verheißungsvolle Sprache.
Genau so verheißungsvoll wie der Name Liebland –
Liebland – das Land der Liebe – auch für dieses Paar. Zunächst nur das Land der Verheißung.
Ende.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S 14.
Ein allgemein verständliches, übersichtliches Nachschlagewerk über alle Fragen des guten Tones, ein den modernen Verhältnissen angepaßtes Lehrbuch für jedermann, der sich in jeder Gesellschaft sicher bewegen möchte
von W. v. Neuhof
Preis 3 Mark und Porto.
Inhaltsangabe Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Kõгрегpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreben. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Berlin S0 26, Elisabethufer 44