Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 420
Der Rattenkönig
Originalroman von
Walther Kabel.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Nachdruck verboten. - Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. - Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
1. Kapitel.
Heinz Staff langweilte sich heute bei Frau Helma. Zum ersten Male eigentlich, seit sie Freunde waren. – Daran trug nur dieser Schwätzer von Regierungsrat die Schuld, dieser Vetter fünften Grades der jungen Witwe. Staff belächelte Leute von der Art des monokelbewaffneten Herrn Petrich, die sich offenbar so sehr gern reden hören und die daraus weiter kein Hehl machen, daß ein Mann ohne Titel für sie ein Mensch zweiter Güte ist, den man getrost mit herablassender Freundlichkeit behandeln darf.
Staff verstummte immer mehr, schob seinen Klubsessel unmerklich noch weiter von dem niedrigen japanischen Teetischchen ab, um sich in den Schatten zu retten und um ungestört vor sich hin träumen zu können. Er hörte nicht mehr auf dieses geistreich sein sollende Wortgeklingel, dachte vielmehr nur daran, daß dieser Vetter Helma Horstens nun wohl des öfteren die bisher so gemütlichen, intimen Teeabende ihm vergrämen würde. Petrich war erst vor acht Tagen in Danzig aufgetaucht. Er war Regierungsrat beim Polizeipräsidium, hatte bisher in Berlin gewirkt und kehrte den Reichshauptstädter bei jeder Gelegenheit hervor.
Die hohe elektrische Ständerlampe neben dem Teetisch mit ihrem gelbseidenen Schirm verlieh dem kleinen Salon ein warmes, angenehm träumerisches Licht. Staff liebte diesen Raum, in dem er jeden Gegenstand längst kannte. Er liebte alles Eigenartige. Jede Schablone war ihm verhaßt. Deshalb auch hatte er, als er vor einem halben Jahre kurz vor Ostern aus dem Orient heimkehrte und dann sehr bald Frau Helma bei Bekannten kennen lernte, sich so schnell zu der jungen Witwe des Oberstabsarztes Horsten hingezogen gefühlt. Sie waren bald Freunde geworden. Nur Freunde. Gewiß – Staff zählte erst dreiunddreißig und Helma war etwa acht Jahre jünger, und nicht nur äußerlich, sondern auch ihren Neigungen und Anschauungen nach hätten sie vorzüglich zueinander gepaßt. Aber – beide hatten sich schon am ersten Abend ihrer Bekanntschaft als großzügige Naturen ganz offen gesagt, wie sie über die Liebe dächten. So konnte denn auch dieser rege Verkehr zwischen ihnen, der sich bald ganz von selbst ergab, in keiner Weise für sie gefährlich werden. Sie wußten eben, daß jeder von ihnen außerhalb des Kreises derer stand, die vom Leben noch ein sogenanntes Liebesglück erhofften. –
Die junge Witwe grübelte gerade abermals darüber nach, weshalb Heinz Staff wohl so vollständig verändert von seiner zweijährigen Weltreise zurückgekehrt sein könnte. Sie selbst hatte ihn vordem nicht gekannt. Aber überall erzählte man ihr, und alle schüttelten dabei bedauernd und vieldeutig die Köpfe, daß Staff früher ein sehr lebenslustiger und keineswegs irgendwie zu Besonderheiten neigender Mensch gewesen sei.
Helma hatte ihn, obwohl sie sich jetzt doch recht nahe standen, nie über die Ursache dieser so stark auffallenden Verwandlung befragen mögen, zumal er selbst nicht einmal die leiseste Andeutung darüber machte. Sie ahnte nur, daß er in der Fremde irgend etwas erlebt haben müsse, wodurch seine Seele aufs schwerste aus dem Gleichgewicht gebracht worden war. Denn jetzt konnte man ihn ja mit gutem Recht als einen Sonderling bezeichnen. Und diese seltsamen Neigungen nahmen bei ihm beständig noch zu. Er mied jene Kreise, in die er als einziger Erbe einer der ältesten Patriziernamen der Stadt hineingehörte, schloß sich bereits förmlich von aller Welt ab und hauste in dem uralten Hause der Staffs, das dicht am Mottlau-Ufer neben einem riesigen, schmalen Getreidespeicher lag, wie ein Einsiedler. Er zeigte es auch jedem ganz offen, daß er allein sein wollte, konnte zu Leuten, die ihn durchaus wieder in den früheren Heinz Staff zurückmodeln wollten, sehr unliebenswürdig werden und hatte Frau Helma verschiedentlich erklärt, ihm genüge vollauf, zwei Freunde zu haben: sie und Berthold Graachten. Die übrige Menschheit sei ihm gänzlich gleichgültig. Nur seinen alten Bürstel wolle er noch ausnehmen. Damit sei die Zahl derer aber auch erschöpft, die ihm naheständen und je nahestehen würden.
Über all dies sann Hella Horsten nun zum soundsovielten Male nach. Da hob Heinz Staff den gesenkten Kopf. Seine und Helmas Augen begegneten sich.
Der Regierungsrat hatte Staffs leicht verzogene Lippen bemerkt. Er wurde stutzig. Dieser Staff, der hier bei Frau Helma offenbar wie zu Hause war, behagte ihm plötzlich nicht. Dieser so tadellos angezogene Mensch schien doch keine ausgesprochene Null zu sein.
Der Regierungsrat ließ sich nicht merken, daß er in Staff einen Mitbewerber um die drei Millionen der Frau Helma Horsten, geborene de Castaldria zu wittern und sehr ‚daneben zu schätzen‘ begann.
Staff erhob sich jetzt und verabschiedete sich von Helma.
„Sie wissen, ich muß Graachten noch von der Bahn abholen, verehrteste Freundin. Seine Depesche hat mich etwas beunruhigt. Bert telegraphiert nicht, wenn’s nicht gerade durchaus nötig ist –“
2. Kapitel.
Schreckgespenster.
An demselben Abend löste sich von einem am linken Ufer des Kielgrabens festgemachten Dreimaster ein kleines Boot los und wurde zunächst mit leisen Ruderschlägen im Schatten des Bollwerks in die nahe Mottlau hineingetrieben, die den Innenhafen Danzigs bildet.
In dem Boot saßen zwei Leute in schmierigen Leinenanzügen mit ebenso schmutzigen breitrandigen Strohhüten auf dem Kopf. An dem altehrwürdigen Krahntor, an hochragenden Speichern vorbei, unter nicht minder ehrwürdigen Brücken hindurch gelangten sie in einen kurzen Seitenarm der Mottlau, der linker Hand von einer hohen Steinmauer begrenzt war.
An dieser Mauer befand sich ein kleiner Anlegesteg. Die beiden Matrosen befestigten ihren Nachen an dem Stege und schlichen auf eine Pforte zu. Dann warfen sie ein Tau mit einem eisernen Doppelhaken über die Mauer hinweg und versuchten so lange durch ruckweises Anziehen und Nachgeben, bis der Haken sich unter einem Vorsprung verfing. Der kleinere der beiden Seeleute schwang sich sofort gewandt wie eine Katze empor, verschwand jenseits der Mauer und huschte dann den Hauptweg entlang auf das Wohnhaus zu, das mit seiner Rückseite sich an den riesigen Speicher lehnte.
Der Matrose duckte sich in den Schatten der Büsche und Bäume und gelangte so bis an den kiesbestreuten Vorplatz, von dem eine bogenförmige Steintreppe, deren Geländer aus marmornen Tierfiguren bestand, mit fünf flachen Stufen zu der reichverzierten Flügeltür des Hauses emporlief.
Der Eindringling ließ seine Augen prüfend über die kleinen Kellerfenster und über die Fenster des Erdgeschosses hingleiten. Überall bemerkte er starke, schmiedeeiserne, zum Teil bronzierte Ziergitter. Er murmelte daher auch etwas wie eine Verwünschung vor sich hin.
Dann glaubte er aus der Tiefe des Gartens, der nach der Mottlau zu spitzt auslief, ein Geräusch zu hören. Sofort warf er sich lang in das Gras und kroch in den schwarzen Schatten einer Gruppe von verschiedenartig geschnittenen Lebensbäumen hinein.
Gleich darauf tauchte aus einem Seitenweg ein Mann auf, dessen Bewegungen erkennen ließen, daß irgend etwas seinen Argwohn erregt hatte. Hinter dem graubärtigen Alten, der eine Art Livree trug, trottete eine mächtige Bulldogge her.
Am Rande des Kiesplatzes blieb der Alte stehen und schaute sich mißtrauisch nach allen Seiten um.
„Such, Ajax, – such!“ befahl der Alte leise, indem er gleichzeitig in die Tasche seiner verschnürten Jacke langte.
Die Bulldogge hob den unförmigen Kopf und sog windend die Luft ein. Und dann schoß Ajax mit einer Schnelligkeit, die niemand ihm zugetraut hätte, auf die Lebensbäume zu.
Doch – nicht minder gewandt setzte jetzt in hohem Sprung über ihn der fremde Eindringling hinweg, stürmte auf den Alten zu. Dieser sah in der Rechten des Matrosen das verdächtige Blinken einer langen, gebogenen Klinge, sprang zurück, rief dem Angreifer ein paar englische Worte als ernstgemeinte Warnung entgegen, hob rasch den Arm, drückte ab.
Der dünne Schall eines Revolverschusses durchdrang die nächtliche Stille.
Dann das Aufheulen der Bulldogge.
Und in demselben Augenblick öffnete sich der eine Flügel der Eingangstür. Eine dunkle Gestalt wurde undeutlich sichtbar.
*
Die blonde Anna, Frau Helmas Zofe und halbe Vertraute, sah noch, wie Heinz Staff plötzlich nach links abbog und eine Taxameterdroschke anrief. Dann verschloß sie die Haustür wieder und kehrte in den ersten Stock zurück, dessen sechs Zimmer Helma Horsten allein bewohnte.
Anna ging in die Küche. Dort saß Maria-Brigitta, die farbige Köchin, die für Danzig noch immer eine Merkwürdigkeit mit ihrem gelbbraunen, von grauen Haarsträhnen umrahmten Gesicht und ihrer stets recht farbenfrohen Kleidung darstellte, am weißgescheuerten Tisch und las in einem kleinen dicken Gebetbuch.
Maria-Brigitta war Chilenin, genau so wie Helma, die aus dem südamerikanischen Küstenlande westlich der Kordilleren stammte. Sie hatte von Kindheit an zum Haushalt des Haziendabesitzers de Castaldria gehört, hatte Helma auf ihren Knien geschaukelt und war der angebeteten Sennorita dann auch über den Ozean in das kalte Deutschland gefolgt, als der als Instrukteur zur chilenischen Armee kommandierte Stabsarzt die vielumworbene reiche Erbin als sein Weib mit in die Heimat genommen hatte. –
Die Ehe hatte nur drei Jahre gewährt. Dann starb Doktor Horsten kurz nach seiner Versetzung nach Danzig an einer Blutvergiftung. Der Tod wurde ihm nicht schwer. Nach der Hochzeit hatte es sich ja nur zu bald herausgestellt, daß Horsten bei dieser Vernunftheirat nichts gewonnen, im Gegenteil sich nur eine ihm recht unbequeme Bürde auferlegt hatte. Helma war ihm geistig weit überlegen. Von ihrer Mutter, einer Deutschen, hatte sie die Vorliebe für ernste, anregende geistige Beschäftigung geerbt; von ihrem Vater wieder, der zu dem uralten spanischen Grafengeschlecht der Castaldrias gehörte, jene anmutige, zwanglose Liebenswürdigkeit und jenen Stolz, die nur zu bald in den Kreisen, in denen das junge Paar verkehren mußte, infolge kurzsichtiger Bewertung Anstoß erregte. Helma machte drei Kommißbälle und drei Abfütterungen mit. Dann erklärte sie ihrem Gatten, sie würde nie wieder derlei Veranstaltungen besuchen. Und dabei blieb’s. Er tobte, bat. Aber gegen Helmas überlegene Ruhe und sichere Selbständigkeit kam er nicht auf. Das war der erste Riß. –
Der zweite ergab sich daraus, daß Helma ihre Mitgift selbst verwaltete und ihren Mann, der ganze Nächte am Spieltisch zubrachte, sehr knapp hielt. Nach einem halben Jahr bereits hatten sich diese beiden Menschen gänzlich auseinandergelebt. Horsten gewöhnte sich das Trinken an. Im Kasino sprach er von Mitternacht an nur von ‚seiner verrückten Schraube‘. Bis der Sensenmann dann ein Einsehen hatte und ihn von der Last dieses verfehlten Daseins befreite. Und dies war genau ein halbes Jahr vor Heinz Staffs Heimkehr gewesen. –
Maria-Brigitta schaute von ihrem Gebetbuch auf.
„War’s Herr Staff, der wegging?“ fragte sie die blonde Anna.
„Ja. Leider.“ Anna setzte sich der Köchin gegenüber. „Der Regierungsrat nennt unsere Frau Helma ‚teuerste Kusine‘. Wie findest du das, Brigitt?“
Das faltige Gesicht der Alten verzog sich. Ganz finster sah sie aus, und fast drohend murmelte sie: „Der soll nur auch nach dem Gelde kommen! Ich werde aufpassen!“
Anna nickte. „Den Staff wird er weggraulen, Brigitt. Der ist ihm unbequem. Man merkte schon an ihrer Verabschiedung, was los ist –“
Die alte Chilenin blätterte in ihrem Büchlein. Dann blickte sie wieder auf. „Wenn ich nur einmal seine Hand sehen könnte,“ meinte sie bedächtig. „Dann wüßte ich Bescheid.“
Anna beugte sich weit über den Tisch. „Brigitt,“ flüsterte sie, „frag’ ihn doch geradezu, ob du ihm nicht wahrsagen sollst. Du versteht’s doch besser als eine Zigeunerin.“
Die elektrische Glocke des an der Wand hängenden Haustelegraphen schlug an, und das Schildchen mit ‚Salon‘ fiel leise klappend vor das Fensterchen.
Anna stand schnell auf und eilte hinaus, klopfte an die Salontür und mußte dann den Regierungsrat hinuntergeleiten.
Helma kam zu Brigitt in die Küche, strich ihr über den grauen Scheitel hin und meinte: „Wieder fromm, Margitta?“ – Margitta – das war ihr Kosename für Maria-Brigitta.
Die Alte schaute zu ihr empor. Dann wanderte ihr Blick nach der Glühbirne hin. „Sei vorsichtig,“ murmelte sie wie geistesabwesend. „Ich habe das Gesicht des Neuen gesehen und seine Stimme gehört. Beide gefallen mir nicht. Heirate den Staff, Kind –“
Helma musterte die jetzt wie versteinerten Züge der Alten mit einer gewissen Unruhe. Dann rüttelte sie Brigitt leicht an der Schulter. „Wach’ auf, Margitta. Wach’ auf! Du hast wieder deine Zeit. Es ist Neumond –“
Die Chilenin schüttelte wie ungeduldig den Kopf.
„Stör’ mich nicht, Kind. – Du wirst schwere Tage durchmachen,“ flüsterte sie noch undeutlicher, wobei ihre Augen sich immer mehr öffneten, sodaß das Weiße der Augäpfel entstellend aufleuchtete. „Schwere Tage. – Du hättest auf mich hören sollen. Wären wir nur nach Chile zurückgekehrt. Hier bleiben wir stets die Fremden, Kind. Gewiß, deine Eltern sind inzwischen verstorben. Aber – hier wird –“ Ihr Gemurmel wurde ganz undeutlich.
Helma hörte die Flurtür klappen. Anna kehrte zurück.
Nachdenklich kehrte Helma in den kleinen Salon zurück, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das eine Fenster ganz weit, um die raucherfüllte Luft zu erneuern. Sie blieb dann stehen und schaute über den Holzmarkt hinweg.
Helma dachte ganz unvermittelt an Heinz Staff.
War er der Magnet, der sie hier an den Osten Deutschlands bannte? – Sie antwortete sich selbst mit einem ehrlichen ‚Ja‘. – Weshalb auch nicht?! Er war ihr Freund – weiter nichts! Ein Freund, ein Bruder. Andere Gedanken, heimliche Wünsche, hatte sie mit seiner Person noch nie verknüpft – nie – in keiner Sekunde – nicht einmal in ihren Träumen. Ihr Herz, ihre Sinne waren tot. Doktor Horsten hatte das Weib in ihr gemordet. Sie hatte sich zugeschworen: Nie wieder soll ein Mann die Gewalt über dich gewinnen – nie mehr! Nie läßt du dich nochmals so erniedrigen! –
Dann sprangen ihre Gedanken zu Margitta zurück.
Was bedeuteten wohl deren Warnungen?! Was nur?! – Die Alte hatte des öfteren bei Neumond solche hellseherischen Anwandlungen, wie sie ja überhaupt über seltsame Gaben verfügte.
Schwere Tage sollten für sie kommen?! Wodurch wohl?! – Sie grübelte und grübelte, schloß dann die Fenster, schloß auch die Vorhänge und setzte sich in den Sessel, den Heinz Staff vorhin innegehabt hatte.
3. Kapitel.
Freund Graachten.
Bert Graachten stand im Gange des D-Wagens. Er freute sich auf die Heimkehr. Er sehnte sich nach Heinz Staff. Sie waren schon Freunde von der Quarta her, hatten zusammen das Städtische Gymnasium bis zur Reifeprüfung, zusammen die Universitäten München und Heidelberg besucht und waren wie Brüder.
Bert Graachten war Schriftsteller. Er war es halb aus Not geworden. Die Stipendien, auf die hin er als Sohn eines Postunterbeamten sich bis zum Oberlehrer durchzuhungern versucht hatte, waren denn doch zu gering gewesen. Dies hatte Graachten bereits nach drei Semestern eingesehen und als praktisch veranlagter Mensch sofort angefangen, aus seiner Durchschnittsbegabung für flüssigen Stil und Romanentwürfe Kapital zu schlagen, zumal zu derselben Zeit sein Vater starb und er nun auch noch als einziges Kind für die kränkliche Mutter zu sorgen hatte. So ließ er sich denn in Danzig in dem winzigen Häuschen nieder, das seinen Eltern in einer engen Gasse der Altstadt gehörte, bestellte ein Emaileschild mit der schwarzen Aufschrift:
Berthold Graachten, Schriftsteller
Festgedichte, Festreden, schriftl. Arbeiten aller Art
Und begann frohgemut den Kampf ums Dasein, trug den Kopf nie schüchtern gesenkt und – siegte auch. –
Drei Jahre später verschwand das Emaileschild. Dafür erschien ein kleineres: ‚Dr. phil. Bert Graachten, Schriftsteller‘, – denn er hatte inzwischen auf Grund einer historischen Arbeit über die älteste Geschichte Danzigs in Königsberg zum Doktor promoviert und sich in Verlegerkreisen als Verfasser literarisch wertvollerer Kriminal- und Abenteuerromane einen Namen gemacht. Seine Mutter war inzwischen gestorben. Er wohnte nun allein in dem kleinen Häuschen, hielt sich eine Aufwärterin, die ihm gleichzeitig das Mittagessen zubereitete, und mied nach wie vor jeden größeren Verkehr. Nur am Stammtisch der Dreizehn im ‚Toten Lachs‘ am Holzmarkt erschien er des öfteren. –
Der Zug lief in den Danziger Hauptbahnhof ein.
Graachten nahm seine beiden Koffer und die Handtasche, reichte sie durch das Fenster einem Gepäckträger zu und schaute sich gleichzeitig nach Staff um.
Die Menge verlief sich. Von Staff noch immer keine Spur. Graachten beunruhigte dies ein wenig. Er hatte Heinz doch eine Depesche geschickt, die diesen spätestens am Nachmittag erreicht haben mußte. –
Der Gepäckträger war längst verschwunden. Graachten schlenderte nun der Treppe des Tunnels zu, stellte durch einen Blick auf die große Uhr fest, daß der Zug sogar zehn Minuten Verspätung gehabt hatte, und sagte sich mit einem Gefühl leiser Sorge, Staffs Ausbleiben sei desto unerklärlicher, da dieses sich kaum auf ein Nachgehen der Uhr des Freundes zurückführen ließe.
Gerade als er dann seine Fahrkarte oben an der Sperre abgab, bemerkte er Staff, der durch die Halle auf ihn zu hastete. Graachten sah sofort, daß Staff auffallend blaß und ganz verstört war. Sie begrüßten sich nur kurz.
„Frage nichts,“ meinte Staff, der des Freundes prüfenden Blick fühlte. „Nachher im Wagen. Ich habe einen Taxameter bereit –“
Der Gepäckträger reichte die Koffer dem Kutscher, und der Wagen ratterte davon dem Kassubischen Markt zu.
Staff ließ beide Türfenster des Taxameters herab, lehnte sich in die Ecke und überlegte abermals, ob das, was er Graachten als Grund für seine Verstörtheit zu erzählen beabsichtigte, vor dessen kritischem Geiste wohl bestehen würde. Noch nie hatte er den Freund belogen. Heute mußte er’s. Es ließ sich nicht umgehen. – Gewiß: verheimlicht hatte er ihm allerlei, als er vor einem halben Jahre von der Weltreise zurückkehrte. Aber – eine glatte Lüge hatte sich bisher vermeiden lassen.
Graachten wieder merkte sehr bald, daß seinem Heinz irgend etwas zugestoßen sein müsse, das über alltägliche Geschehnisse weit hinausging. Er hatte erwartet, Staff würde von selbst zu sprechen beginnen. Doch der Wagen bog bereits in die enge Jungferngasse ein, und Heinz schwieg noch immer. –
Ein Wiedersehen wie dieses hatten die beiden Unzertrennlichen noch nie gefeiert. Graachten fühlte geradezu, daß etwas Fremdes sich zwischen ihnen aufzurichten begann. Er wehrte diese Empfindung, als könnte während seiner Abwesenheit ihr gegenseitiges Verhältnis eine Abkühlung erfahren haben, mit Nachdruck von sich ab, tastete schnell nach Staffs Hand, rückte ganz dicht an ihn heran und meinte:
„Hör’ mal, Alterchen, – was gibt’s denn eigentlich?! Dir ist doch fraglos etwas Unangenehmes begegnet.“ Er schlug dabei absichtlich einen ebenso herzlichen wie ungezwungenen Ton an.
„Ganz recht, Bert,“ nickte Staff. „Ganz recht. – Hier mag dir die Andeutung genügen: Helma Horsten –“
Doktor Graachten stutzte. – Merkwürdig: Gerade diese Frau, die in den letzten Wochen dort auf Rügen für ihn auch eine gewisse rätselhafte Rolle gespielt hatte! –
Der Wagen hielt vor Jungferngasse Nr. 21. Es war ein engbrüstiges, einstöckiges Haus mit hohem Spitzdach.
Als Staff den Kutscher bezahlt hatte, ergriff der den noch auf dem Bürgersteig stehenden Koffer und folgte dem Freunde, der in dem engen Flur bereits das Licht eingeschaltet und die erste Tür rechts weit geöffnet hatte. Dahinter lag Graachtens Speisezimmer, ein niedriger, langer Raum mit einer billigen, wenn auch geschmackvollen Eicheneinrichtung. Auch hier flammte jetzt die Deckenlampe mit den vier Tröpfen auf und beleuchtete den für zwei Personen zierlich gedeckten Mitteltisch.
„Ah – die brave Klauken hat alles tadellos besorgt,“ meinte Graachten und warf den Reiseulster über die Lehne des Paneelsofas. „Heinz – mach’s dir bequem. Ich habe einen Mordshunger –“
Staff streckte dem Freunde jetzt beide Hände hin.
„Willkommen daheim, Bert!“ Das klang leicht gerührt. „Siehst im übrigen prächtig aus – tatsächlich! Braun gebrannt wie ein Seefischer und dicke Backen wie ein Posaunenengel.“ Er versuchte zu scherzen. Aber der Ton gelang ihm nicht recht.
Graachten blieb auch völlig ernst. „Alterchen, – bitte, keine Komödie!“ sagte er warm. „Ich vergesse nicht so schnell, wie verstört du mir in der Bahnhofshalle gegenübertratest. – Nimm Platz. – So, und nun lange zu.“
Er entkorkte eine Flasche Rotwein, füllte die Gläser, setzte sich Staff gegenüber und prostete ihm zu. „Auf unser Wohl, Heinz. – Die ganze übrige Welt kann uns nach wie vor gestohlen bleiben –“
Staff nickte nur, stellte dann das Glas zerstreut hin. Graachten beobachtete ihn unauffällig. Er merkte, Heinz war mit seinen Gedanken bereits wieder irgend anderswo. Er ließ eine Weile verstreichen und fragte dann:
„Darf ich jetzt mal den Namen Helma erwähnen, Alterchen? – Was hat’s denn nur zwischen euch dicken Freunden gegeben? Hoffentlich nicht einen unheilbaren Riß in den kameradschaftlichen Beziehungen infolge der Erkenntnis, daß diese Kameradschaft nur ein mit allerlei guten Vorsätzen und ebenso ernstgemeinten Grundsätzen behängter – Amor gewesen –“
„Du hast wieder mal das richtige herausgefunden, Bert,“ meinte Staff zögernd. „Ich – ich lernte heute abend bei Helma einen Herrn kennen, einen entfernten Verwandten ihrer Mutter, und dieser Regierungsrat Petrich machte aus seinen Absichten so wenig ein Hehl, daß – daß die Eifersucht bei mir jäh die Erkenntnis weckte: Du liebst Helma!“
„Hm – und das – das hat dich so stark aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht, mein Alter?“
„Ja. Und mit Recht!“ Staff nahm das Rotweinglas und führte es halb zum Munde. „Helma ist keine Frau, die geliebt sein will. Sie ist – ein Neutrum, steht über dem Weibchen-Empfinden. Würde sie herausfühlen, wie es um mich bestellt ist, hätte ich bei ihr als Mann und Freund verspielt. Sie würde mich belächeln und würde – Danzig verlassen. Ich kenne sie.“
„Na na!“ lächelte Graachten. – Staff hatte einen Schluck genommen. Über den Rand des Glases hinweg begegneten seine Augen jetzt denen des Schriftstellers.
„Na na!“ wiederholte Graachten mit demselben Lächeln. „Von uns beiden bin noch immer ich der bessere Menschenkenner. – Doch – ich mag mich in diese Dinge nicht mischen. Da ist schwer raten. Weiber sind ja meist schwerer zu verstehen als der berüchtigte Faust II. Teil. Für diesen Satz habe auch ich auf Rügen soeben wieder den besten Beweis erhalten.“ Er gab absichtlich dem Gespräch diese etwas gewaltsame Wendung. Er fühlte deutlich: Nie und nimmer war Helma Horsten allein an Staffs Blässe und Verstörtheit schuld! Heinz suchte ihn zu täuschen! – Nun – er war ja nicht umsonst Berd Graachten, der die ganze Umwelt seit Jahren nur als Studienobjekt betrachtete und als Prüfstein für seine Fähigkeit, durch die feinsten Gedankengänge bis in den Kernpunkt noch so sorgfältig verhüllter, für andere unklarer oder aber sehr harmlos ausschauender Geschehnisse vorzudringen.
„Ich habe da in Saßnitz eine Bekanntschaft gemacht, die vielleicht das seltsamste Erlebnis meines bisher freilich recht eintönigen Daseins darstellt, – eintönig insofern, als ich selbst bisher kaum in Vorkommnisse hineinverstrickt war, die auch nur die Bezeichnung ‚merkwürdig‘ verdienen, wenn ich auch vieles als Fernstehender beobachtet und für mich entschleiert habe, was der Allgemeinheit noch heute ein Rätsel. Doch ich will bei meinem Rügen-Abenteuer bleiben. Es hätte nie diese Bezeichnung verdient, wenn nicht auch die Person meines besten Freundes dabei eine sehr eigentümliche Rolle gespielt hätte.“
„Ich – ich?!“ fuhr Staff auf.
„Du – allerdings! – Sobald wir der braven Klauken Delikatessen genügend zugesprochen haben, will ich nebenan im Schlafzimmer meine Koffer auspacken. Inzwischen kannst du dann mein Saßnitzer Tagebuch lesen. Es ist im Depeschenstil geschrieben. Aber du findest darin alles weit besser vermerkt, was diese rätselhafte Miß Dorring anbetrifft, als ich’s dir erzählen könnte.“
„Miß Dorring? – Ganz unbekannter Name. Eine Engländerin? Und – ich soll dabei irgendwie –“
„Ellen Dorring –“
Staff zuckte leicht zusammen, was Graachten nicht entging.
„– eine Amerikanerin anscheinend,“ fügte dieser hinzu und füllte die Gläser von neuem. „Dein Wohl, mein Alter! Ich sehe dir an, du grübelst darüber nach, ob sich vielleicht hinter dem Namen Dorring irgend ein schönes Gespenst aus deiner Vergangenheit verbirgt –“ –
Der Schuß hatte gesessen. Staff erbleichte, senkte schnell den Kopf, aß hastig einige Bissen, zuckte dabei die Achseln und meinte schließlich: „Ich kenne keine schönen Gespenster, Bert. Falls sich nicht gerade Helma dazu entwickelt.“
„So?! Na – dann kennt dieses Gespenst dich aber fraglos sehr genau! – Ich bin satt. Mahlzeit. Laß dich nicht stören –“ Er erhob sich, öffnete seine Reisehandtasche und entnahm ihr ein paar zusammengefaltete Bogen. „Da, bitte, Heinz. – Ich stelle dir noch Zigarren und Zigaretten dort vor deiner gewohnten Sofaecke auf das Rauchtischchen –“
4. Kapitel.
Rügenträume.
Kaum war Staff allein, als er nach den eng beschriebenen Blättern griff und sich damit in die Sofaecke setzte. Sein mageres Gesicht war jetzt gerötet. Seine Augen fraßen förmlich die Zeilen. Und einer, der ihn hierbei beobachtet hätte, würde unschwer recht vieldeutige Schlüsse auf die Beziehungen zwischen dem Lesenden und dem Lesestoff haben ziehen können. –
„Saßnitz, den 26. Juli 19..
Eine außerordentlich angenehme Sache, von einer Filmgesellschaft, die einem einen Abenteuerroman zur Verfilmung abgekauft hat, höflichst eingeladen zu werden, als Berater den Aufnahmen für diesen Millionenfilm beizuwohnen. Die Leute müssen doch ein unheimliches Geld mit den nachher fertigen zehntausend Meter Lichtband verdienen! Sonst könnten sie nicht noch den Dichter gratis und franko im besten Fremdenheim in Saßnitz in zwei Zimmern einmieten und ihm noch täglich Tischwein ‚nach Wahl‘ zubilligen.
Gestern war die ganze Bande in Stubbenkammer, wo an den schmutzigen, berühmten Kreidefelsen der große Schiffbruch gemimt wurde. Ich schaute mir die Sache von oben, vom Königsstuhl aus, an. Wir waren recht früh von Saßnitz aufgebrochen, um nicht durch Ausflügler gestört zu werden. Eine halbe Stunde blieb ich denn auch auf dem Königsstuhl allein. Dann erschien eine junge Dame in hellem Flanellkostüm. Sie stellte sich neben mich. Schnell kamen wir ins Gespräch. Ihr Deutsch war miserabel. Leider geht’s meinem Englisch ebenso. Also mußten wir schon beim Deutschen bleiben.
Wir behandelten anfänglich das Filmthema. Sie wußte, daß ich der ‚Dichter‘ des hier in der Entstehung begriffenen Filmschauspiels war, kannte auch meinen Namen. Schließlich nannte sie auch den ihrigen: Ellen Dorring! –
Aber – obwohl nun seit jenem Morgen auf dem Königsstuhl vier Tage verstrichen sind und obwohl ich mit Ellen Dorring eigentlich vom Morgen bis zum Abend zusammen gewesen bin, weiß ich von ihr weiter nichts, als daß sie Waise ist und zuletzt in Berlin gewohnt hat, um Malstudien zu treiben.
Eine Woche später. Die Sphinx Ellen Dorring ist ein recht raffiniertes Weibchen. Bisher ahne ich noch immer nicht, was sie von mir will oder was sie im Schilde führt. Am ärgerlichsten dabei ist, daß sie für mich täglich mehr den rein sachlichen Wert als Studienobjekt verliert und daß sie sich in mein Empfindungsleben mehr als mir bekömmlich eindrängt. Sie hat ja tatsächlich so wundervolle dunkelbraune Gazellenaugen und so prachtvolles aschblondes Haar, daß man schon geradezu der Ehegatte einer fleischgewordenen Venus sein müßte, wollte man diesem Liebreiz ihrer Erscheinung gegenüber kalt bleiben.
Also, Bert Graachten – Vorsicht! Doppelte Vorsicht, weil dieses Mädchen ja ohne Zweifel irgend einen geheimen Zweck verfolgt! –
Drei Tage sind wieder dahingegangen. Ellen hat gestern von Danzig gesprochen, von meinen dortigen Bekannten.
Ich horchte sehr genau hin. Und ich müßte mich sehr irren, wenn’s nicht Ellens sehr behutsames Bestreben gewesen wäre, die Rede auf Heinz Staff zu bringen. –
Ohne Frage: Ellen kennt Staff! Gestern hat sie sich verraten. Durch eine Kleinigkeit. Ich tat, als merkte ich nichts.
Und ich?! Ich bin auch auf dem allerbesten Wege, eine Riesendummheit zu machen! – Bert Graachten, Doktor Berthold Graachten, – laß dich warnen! Reise schleunigst ab! –
Wieder eine Woche weiter. Natürlich bin ich alter Esel nicht abgereist. Und diese acht Regen- und Sturmtage haben mir die Gewißheit gegeben, daß ich leider – leider in Ellen bis über beide Ohren verliebt bin.
Inzwischen habe ich an Freund Sternbeck nach Berlin geschrieben. Seine Antwort: Hier hat nie eine Ellen Dorring gewohnt. – Und Sternbeck ist doch Kriminalkommissar von Weltruf!
Wer ist Ellen also? Und – weshalb hat sie meine Bekanntschaft gesucht? Etwa, um mich über Staffs Beziehungen zu Helma Horsten auszuholen?! Ich möchte fast antworten: Ja – nur deshalb! –
Anderthalb Wochen später. Und die letzte halbe Woche davon wie ein Frühlingstraum, geträumt in den alten, prächtigen Wäldern Rügens.
Mein Schicksal hat sich entschieden. Eines Abends war ich mit Ellen in Binz. Wir fuhren mit dem letzten Motorboot zurück. Wir waren die einzigen Fahrgäste an Bord, dann ganz plötzlich kam ein orkanartiger Sturm auf, der den Motorkutter mehr als einmal in Gefahr brachte, mit dem Kiel nach oben eine Reise auf den Grund der Ostsee anzutreten.
Wir hatten uns vor den Spritzern in die kleine Heckkajüte zurückgezogen. Ellen, die bereits in den letzten Tagen weit lebhafter und angeregter gewesen, merkte, daß mein seeuntüchtiger Magen rebellieren wollte. Sie selbst schien gegen die Seekrankheit gefeit. Sie holte mir von dem Steuermann eine Flasche Kognak und zwang mir eine solche Dosis des durchaus nicht erstklassigen Getränks ein, daß ich zwar den Magen wieder zur Vernunft brachte, in Saßnitz aber mit einem gehörigen Räuschlein ausstieg; und dieses wurde dann der Ansporn zu dem kühnen Wagnis, meiner Sphinx in den stillen bergigen Straßen, umheult von den Windstößen eines Sturmes wie ihn die Ostsee nicht oft erlebt, meine – Liebe zu erklären. –
Ellen erleichtere mir das Geständnis sehr – sehr! Und der Glücksschimmer in ihren Augen war echt. Sie liebt mich ebenfalls. Das habe ich auch in den folgenden Tagen, auch heute, so deutlich gespürt.
Heute nun entschlüpfte ihr ein Satz, der mir sehr zu denken gab.
„Ich bin ja so selig, daß ich auf den Gedanken gekommen bin, dir hier nach –“ –
Da verstummte sie. Und so sehr ich auch bat: den Schluß des letzten Satzes erfuhr ich nicht! –
Nun sitze ich hier in meinem Wohnzimmer und grübele und grübele.
Wer ist Ellen Dorring?! – Ich weiß es nicht. Ich weiß auch jetzt nichts über ihre Eltern, ihre Heimat. – Zuweilen möchte ich fast annehmen, sie ist eine Landsmännin von mir und keine Amerikanerin; eine Deutsche, die nur in England oder Amerika aufgewachsen. –
Soll ich mir durch solche Gedanken das Glück dieser Tage vergrämen?! Nein – nein! Ich liebe Ellen. Sie liebt mich wieder. Das muß mir genügen. –
Zehn Tage später. –
Ich bin beim Kofferpacken. Habe soeben an Heinz depeschiert. Denn – Ellen ist seit gestern abend verschwunden, – das heißt: abgereist, ohne mir vorher auch nur angedeutet zu haben, daß sie mich verlassen wolle.
Nichts – nichts ließ sie mir zurück! Keine Zeile des Abschieds – nichts! Nur die Strandaufnahme von uns beiden besitze ich als Andenken, auf deren Rückseite sie geschrieben hat – und was das bedeutet, wollte sie mir nicht erklären!:
Wenn Tapayan Sampit heimgekehrt ist, wird Balian Tschawa Dein für immer werden.
Ellen v. Dr.
– Ich reise heim. Ich werde Ellen vergessen. Andere könnten’s vielleicht nicht nach diesem Frühlingstraum in deutschen Buchenwäldern. Ich kann’s! Ich habe schon mehr durchgesetzt, Schwereres als dies.
Der Traum ist aus.
Aber Heinz soll diese Zeilen lesen. Und wenn er mein Freund ist, wird er mir ehrlich darüber Auskunft geben, was er über Ellen Dorring weiß. Tut er es nicht, so – ist er niemals mein Freund gewesen –“ –
Staff ließ die Hand mit den Blättern sinken, starrte vor sich hin.
Dann nahm er seinen Taschenbleistift, schrieb unter des Freundes letzte Worte auf dasselbe Blatt:
‚Er weiß. Aber er kann nicht sprechen, darf es nicht. – Deshalb – geht er!‘
Ganz leise erhob er sich nun, nahm Hut, Stock und den leichten Gummimantel, öffnete ebenso leise die Tür, schlich durch den Flur und warf dann die Außentür recht laut ins Schloß, eilte die enge Jungferngasse hinab der nächsten größeren Verkehrsstraße, dem Altstädtischen Graben, zu. –
Graachten hatte aufgehorcht. Dann war er mit ein paar schnellen Schritten im Eßzimmer. –
Heinz nicht mehr da! Und dort auf dem Mitteltisch glatt ausgebreitet das Saßnitzer Tagebuch, – dort eine Bleistiftzeile!
Er überflog sie. Schüttelte den Kopf.
„Was – was in aller Welt bedeutet das nur?!“ murmelte er vor sich hin. „Er gibt lieber unsere alte Freundschaft auf, als daß er –“
Da – draußen im Flur schrillte die Glocke.
‚Wie – jetzt um ein Uhr noch Besuch?‘ – Graachten war schon an der Haustür, drückte den altmodischen, schmiedeeisernen Drücker herab und – sah sich zwei ihm von Ansehen bekannten Danziger Kriminalbeamten gegenüber, ließ sie ein, fragte nach ihrem Begehr.
„Ist Herr Staff vielleicht bei Ihnen, Herr Doktor?“ meinte der eine.
„Nein. Staff hat mich vor wenigen Minuten verlassen.“
„So, so. – Danke, Herr Doktor. Entschuldigen Sie die Störung.“
„Oh – bitte sehr. – Dürfte ich vielleicht erfahren –“
Der Beamte nickte bereitwillig. „Eine böse Sache, Herr Doktor. Der Blitz hat in den Staffschen Speicher eingeschlagen –“
„Wie – ist etwa alles niedergebrannt – auch das Wohnhaus?“
„Nein. Der Schaden – der Sachschaden ist gleich Null. Aber – aber die Feuerwehr hat in dem Speicher – etwas gefunden. – Hm – ich darf nicht mehr sagen. Jedenfalls – sollten wir Herrn Staff nach dem Präsidium bringen –“
„Ver – haften?!“ Graachten war so bestürzt, daß er kaum sprechen konnte.
„Hm – verhaften – vielleicht. – Guten Abend, Herr Doktor.“
Bert Graachten stand noch eine ganze Weile regungslos da.
Dann griff er nach Mantel und Hut und eilte den Beamten nach. Er fand sie nicht mehr. Er hörte nur noch in der Ferne das Rattern eines Autos. Als er den Schutzmann an der Ecke Jungfern- und Burggrafengasse fragte, ob der Kraftwagen vielleicht eines der Polizeiautos gewesen, bejahte der und fügte hinzu:
„Die machen wohl auf irgend jemand Jagd. Brenner und Lörke saßen drin. Das sind scharfe Brüder.“
5. Kapitel.
Weil der Blitz einschlug.
Regierungsrat Petrich wohnte vorläufig noch in einem Fremdenheim am Karrenwall unweit des Polizeipräsidiums. Nicht gerade in allerbester Stimmung wanderte er jetzt nach dem Besuche bei Frau Helma seinem Quartier zu.
Daheim angelangt, zündete er sich eine Zigarre an, schaltete die Schreibtischlampe ein, setzte sich in den Schreibsessel, schloß die eine Schieblade auf und entnahm ihr ein Aktenstück. Es enthielt die Dienstanweisung für die Kriminalabteilung des Polizeipräsidiums und eine Liste der zu ihr gehörigen Beamten. Die Abteilung war ihm seit gestern mit unterstellt. Er wollte sich recht rasch hier einarbeiten.
Das Tischtelephon schlug leise an. Der Regierungsrat ahnte sofort: da lag etwas Dienstliches vor! – Er hatte befohlen, ihn sofort, und sei es mitten in der Nacht, von jedem wichtigeren Vorkommnis zu benachrichtigen.
Er meldete sich, lauschte dann. Kriminalinspektor Würckler war am Apparat, sprach vom Präsidium aus.
Petrichs Mienen nahmen einen gespannten Ausdruck an. Einmal entschlüpfte ihm ein „Unglaublich!“
Dann gab er dem Inspektor Bescheid. „Ich komme sofort hinüber. Ich werde den Mann selbst vernehmen. Staff wollte heute einen Freund, den Schriftsteller Graachten, von der Bahn abholen. Dieser muß ebenfalls sofort verhört werden. Das Mädchen bleibt im Präsidium – vorläufig.“
In wenigen Minuten war der Regierungsrat in seinem Dienstzimmer. Der Inspektor hatte ihn in der Vorhalle des Präsidiums erwartet. Sie besprachen kurz die seltsame Entdeckung, die man lediglich dem Gewitter zu verdanken hatte. Dann ließ Würckler den alten Diener Heinz Staffs vorführen.
Petrich hatte die dreiarmige elektrische Krone eingeschaltet, saß an dem mit Aktenstücken bedeckten Seitentisch und rauchte absichtlich eine Zigarette. Er vermied es stets, die Leute durch eine streng dienstliche Aufmachung einzuschüchtern.
Er nickte dem alten graubärtigen Manne zwanglos zu. „Bitte, nehmen Sie dort Platz.“ Er wies auf einen Stuhl an der Schmalseite des Tisches.
„So, nun erzählen Sie mal, Herr Bürstel,“ wandte Petrich sich jetzt, weit zurückgelehnt dasitzend, an den bleichen Mann, dem dicke Schweißperlen auf der Stirn standen. Sie heißen Karl Bürstel, sind Diener bei dem Rentier Heinz Staff und gleichzeitig Koch. – Was waren Sie früher?“
„Schiffskoch auf einem der Staffschen Dampfer. Die Firma besaß damals drei.“
„So. Schiffskoch. Sie standen wohl sehr lange im Dienste der Firma.“
„Einunddreißig Jahre. Vor vier Jahren wurde ich dann des jungen Herrn Hausmeister, wie er meine Stellung stets bezeichnet. Das war gleich nach dem Tode des alten Herrn Staff. Frau Staff starb bereits vor zehn Jahren.“
„Sind noch mehr Dienstboten im Hause?“
„Nein. Meine verheiratete Schwester besorgt vormittags als Aufwartefrau die größeren Arbeiten.“
„Sie haben Herrn Staff auf seiner mehrjährigen Reise begleitet, nicht wahr?“
Petrich entging es nicht, daß der Alte verlegen wurde und daß das ‚Ja‘ dann sehr zögernd herauskam.
„So, nun mal heraus mit der Wahrheit, Herr Bürstel,“ meinte er gemütlich. „Der Blitz hat heute also in den leeren Speicher eingeschlagen. Die Feuerwehr hatte zum Glück gerade ganz in der Nähe einen brennenden Holzstapel abgelöscht. Sie war schnell zur Stelle. In zehn Minuten waren die glimmenden Balken unter Wasser. Aber dann – nun – jetzt reden Sie mal, mein Lieber –“
Der Alte knetete die Hände im Schoß. Seine von dicken grauen Brauen überwölbten Augen zeigten denselben Ausdruck qualvoller, schlecht verhehlter Angst wie das ganze verwitterte, lederartige Gesicht.
„Was soll ich da reden, Herr,“ brachte er mühsam hervor. „Ich weiß doch von nichts. Man hat mich herausgeklopft. Und ich – ich kann nur wiederholen: Ich kenne das Mädchen nicht –“
„So?! Das erscheint sehr wenig glaubhaft, Herr Bürstel. Wir haben festgestellt, daß der alte Speicher im ersten Stock nach der Mottlau zu zwei Kontorräume enthält, die offenbar seit einiger Zeit von einem weiblichen Wesen bewohnt worden sind. In dem einen Raum fand die Feuerwehr ein bewußtloses, gefesseltes junges Weib, – der Kleidung nach eine Dame –“
Von Bürstels Stirn perlten schon wieder die Schweißtropfen herab. Aber seine Züge hatten jetzt etwas verbissen Trotziges angenommen.
Er nickte kurz. „Ja – das hat mir der Kriminalinspektor bereits vorgehalten, hat mir dann auch die Frau gezeigt. Ich kenne sie nicht.“
„Aber vielleicht kennt sie Ihr Herr?“
„Das – das glaube ich nicht. Er hat keine Geheimnisse vor mir!“
„So – so! Merkwürdig, daß in den beiden Kontorräumen so vieles darauf hindeutet, daß dort eine weibliche Person unangemeldet gehaust haben muß oder aber verborgen gehalten wurde. Und das soll ohne Herrn Staffs Wissen geschehen sein?! – Mein Lieber – weshalb halten Sie mit der Wahrheit hinterm Berge?! Es liegt doch in Ihrem eigenen Interesse, nicht mit in eine Untersuchung oder gar ein Strafverfahren hineingezogen zu werden, die vielleicht –“
Karl Bürstels faltiges Gesicht war jetzt so störrisch, und in seinen tiefliegenden Augen funkelte eine so stille Feindseligkeit, daß der Regierungsrat unwillkürlich schwieg und dann nach kurzer Pause merklich schärfer hinzufügte:
„Ganz wie Sie wollen! Wir bekommen die Wahrheit doch heraus. Jedenfalls – Sie sind hiermit verhaftet.“
Bürstel hatte jetzt auch den letzten Rest Angst abgestreift. Er lächelte ingrimmig.
„Verhaftet?! Auch gut! Damit ist aber weder Ihnen noch mir geholfen –“
Petrich hatte schon eine heftige Entgegnung auf der Zunge, unterdrückte sie aber und winkte dem Inspektor zu, der Bürstel dann wieder abführen ließ.
Der Regierungsrat ging jetzt hastig im Zimmer auf und ab, blieb dann vor Würckler stehen. „Was halten Sie eigentlich von dieser Geschichte?“ fragte er kurz.
„Schwer zu sagen, Herr Regierungsrat. Ich bin mit meinem Urteil stets vorsichtig. Vielleicht läßt Herr Staff sich zu einem Geständnis herbei. – Ich glaube, die Sache sieht einfacher aus, als sie ist.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun – wenn die Frau dort verborgen gehalten wurde – längere Zeit! – dann kann dies doch wohl nur mit ihrer Zustimmung geschehen sein. Ich fand in dem Wohnraum eine ganze Menge Romane und wissenschaftliche Werke, die aus der Bibliothek Staffs stammen. Das Mädchen hat dort also Lektüre getrieben in ihrem Versteck. Sie kann unmöglich dauernd beaufsichtigt oder gar gefesselt gewesen sein –“
Petrich nickte: „Ganz recht!“ Und begann wieder seine Promenade durch das große Zimmer. Nach einer Weile fragte er: „Ist der Medizinalrat noch bei dem Mädchen?“
„Ja. Er zweifelt daran, daß es sich lediglich um eine Ohnmacht handelt. An dem Kinn der Frau hing noch ein Tropfen einer bräunlichen, sehr scharf riechenden Flüssigkeit.“
Petrich stutzte. „Etwa Gift?“
„Bisher ließ sich dies nicht feststellen. Der Puls geht schwach, aber ruhig. Besorgniserregende Erscheinungen sind nicht vorhanden. Nur das Bewußtsein will nicht zurückkehren.“
Der Regierungsrat griff nach einer frischen Zigarette. „Dieser Fall verspricht ja allerlei, Herr Inspektor. Wir wollen nichts versäumen, wollen nachher auch das Staffsche Wohnhaus nochmals durchsuchen, sobald wir ihn selbst erst –“
Es hatte geklopft. Ein Kriminalbeamter erschien und reichte Petrich eine elegante rotlederne Handtasche. „Sie lag hinter Gerümpel vor den beiden Kontorräumen des Speichers und dürfte Eigentum des Mädchens sein,“ erklärte er. „Ihre Kleider rochen nach demselben Parfüm wie das Taschentuch da drinnen.“
Petrich öffnete das Handtäschchen, schüttete den Inhalt auf seinen Schreibtisch. Eine kleine silberne Börse, ein Spitzentaschentuch, eine Nagelfeile, ein silbernes Puderbüchschen, ein rundes Spiegelchen und zwei eng gefaltete Zettel fielen heraus.
Der eine Zettel war ein Gepäckaufbewahrungsschein, ausgestellt über ein Stück am gestrigen Tage; der andere eine Wochenrechnung eines Saßnitzer Fremdenheims namens ‚Seeblick‘ für Fräulein Ellen Dorring.
„Ah,“ rief Petrich und reichte beide Zettel dem Inspektor. „Die Sache klärt sich etwas. – Sofort eine Depesche nach Saßnitz an die dortige Polizei. Wir lassen uns genaueste Angaben über ein – na – Sie wissen Bescheid.“ Dies galt dem Kriminalbeamten.
„Sehr wohl, Herr Regierungsrat,“ erklärte dieser und verschwand, riß aber von draußen sofort die Tür wieder auf und meldete:
„Herr Staff kommt –“
6. Kapitel.
Der Kampf um die Wahrheit.
Heinz Staff hatte das Auto nicht weiter beachtet, das hinter ihm drein kam. Erst als es kurz vor ihm auf dem Altstädtischen Graben hielt, und zwei Männer heraussprangen, die nun auf ihn zukamen, wurde er argwöhnisch, blieb unter der Laterne stehen und tat, als würde er nach der Uhr sehen.
Wachtmeister Brenner, der mit seiner Brille und seinem rötlichen Schnurrbart wie ein Schulmeister aussah, trat dicht an Staff heran.
„Herr Heinz Staff, nicht wahr?“ – Die Frage hätte er sich schenken können. Staff war eine stadtbekannte Persönlichkeit. „Ich muß Sie bitten, mir zu folgen. – Kriminalwachtmeister Brenner. Hier ist meine Marke.“
„Bitte,“ sagte Staff, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend. „Was gibt’s denn, Herr Wachtmeister?“
„Es ist da eine Kleinigkeit aufzuklären. – Bitte – steigen Sie ein.“
Staff lehnte sich ganz tief in die Ecke zurück. Schweigend wurde der Weg bis zum Präsidium zurückgelegt. Staff hatte sich eine Zigarre angeraucht. Jetzt warf er sie weg, bevor er das Portal betrat. –
Petrich ging Staff ein paar Schritte entgegen.
„Es tut mir leid, daß ich Sie habe herbitten müssen, Herr Staff,“ sagte er mit leichter Verbeugung. „Wollen Sie dort Platz nehmen. – Haben Sie bereits gehört, daß der Speicher neben Ihrem Wohnhaus durch Blitzschlag leicht gelitten hat?“
Staff verriet nur gerade so viel Überraschung, als die Nachricht von einem Brande bei jedem Grundstücksbesitzer hervorgerufen hätte.
„Nein, ich weiß bisher nichts davon. Ist wirklich nur geringer Schaden entstanden?“ erwiderte er lebhaft.
„Ganz minimal. Kaum der Rede wert. – Eine andere Frage, Herr Staff. Kennen Sie ein Fräulein Dorring vielleicht?“
Der junge Millionär war von vornherein auf einen Angriff gefaßt gewesen, als ihn die Beamten nach dem Präsidium gebracht hatten. Daß es sich hier nicht lediglich um den Brand des Speichers handelte, hatte er sich jetzt ebenfalls sofort gesagt, aber er hatte doch mit der Erörterung einer anderen Angelegenheit gerechnet, nicht gerade mit dieser, auf die des Regierungsrates Frage hindeutete. Trotzdem blieb er Herr über seine Nerven. Er wußte, was für ihn auf dem Spiele stand.
„Dorring?“ meinte er daher nachdenklich. „Dorring? Gehört habe ich den Namen bereits. Sogar unlängst muß es gewesen sein.“
„Persönlich kennen Sie also Fräulein Dorring nicht?“ fragte Petrich jetzt, ebenso den Unbefangenen spielend.
„Meines Wissens nicht.“
„In dem alten Speicher befinden sich zwei bewohnbare Räume, Herr Staff,“ begann Petrich nach kurzer Pause wieder. „Hatten Sie diese in letzter Zeit vermietet?“
Staff merkte, daß das Verhängnis näher und näher rückte. Er sah jetzt ganz klar: der Blitzschlag hatte ohne Zweifel dazu geführt, daß die Polizei das Innere des Speichers etwas genauer in Augenschein genommen hatte. Dabei war sie eben auf Anzeichen gestoßen, die erkennen ließen, die beiden Räume müßten noch unlängst bewohnt gewesen sein. – Das, was in Wirklichkeit hier als Gegenstand der Untersuchung vorlag, konnte er ja nicht ahnen, ebenso wenig wie Karl Bürstel dies geahnt hatte.
Er wollte nicht gerade die Unwahrheit sagen. Dies widerstrebte ihm. Eine geringe Hoffnung hegte er noch immer, durch scheinbar gleichmütige Gelassenheit die Gefahr abzuwenden.
„Ich habe die Räume zuweilen selbst benutzt,“ entgegnete er leichthin. „Ich hänge an dem alten Kontor, in dem meine Väter ihr Leben zugebracht haben.“
„Hm – Ihr Diener Bürstel hatten die Sache etwas anders dargestellt, Herr Staff,“ meinte Petrich in gereiztem Tone. „Seine Aussage geht dahin, daß Fräulein Dorring die Räume bewohnt hat.“
Staff mußte jetzt seine Taktik notwendig ändern. Er durfte nicht mehr den völlig Harmlosen, Gewissensruhigen spielen. Das hätte gegenüber dieser letzten Äußerung des Regierungsrats nur unnatürlich gewirkt. Er richtete sich in seinem Stuhl höher auf und beugte sich etwas vor.
„Stellt diese Unterredung ein Verhör dar, Herr Regierungsrat?“ fragte er förmlich. „Fast scheint es so. – Nun – jedenfalls kann mein Diener hier nichts ausgesagt haben, was sich auf dieses Fräulein Dorring bezieht. Er kennt sie wahrscheinlich genau so wenig wie ich. Ich bitte, mir Bürstels Angaben zu wiederholen. Ich bin recht gespannt darauf.“
Staff konnte sich diese leicht ironische Entgegnung schon erlauben, denn daß Bürstel, sein alter, treuer Karl, etwas verraten haben sollte, war ganz ausgeschlossen. Eher hätte der Alte sich rädern lassen.
Petrich bekam einen roten Kopf. Aber er wußte sich recht geschickt aus dieser immerhin etwas peinlichen Lage herauszuwinden. Es half jetzt nichts mehr: Er mußte das grobe Geschütz auffahren! Und so sagte er denn sehr dienstlich und sehr scharf, indem er die Worte so wählte, daß es scheinen konnte, als handele es sich hier um Bürstels Aussage:
„Das junge Mädchen, das heute Nacht bewußtlos und gefesselt in dem Speicher aufgebunden wurde, hat die beiden früheren Kontorräume längere Zeit bewohnt und ist dort von Ihnen absichtlich verborgen gehalten worden. – Ich hoffe, Herr Staff, daß Sie mich nicht zwingen werden, Sie, um eine Verschleierung des Tatbestandes zu verhüten, sofort zu verhaften. Also bitte – wie verhält es sich mit dieser Frau?“
Heinz Staff glaubte zunächst, der Regierungsrat versuche es hier mit einem noch plumperen Trick als dem, Bürstel ein Geständnis anzudichten. Dann aber erinnerte er sich an mancherlei, was er heute erfahren hatte und was die Vorhaltungen Petrichs glaubwürdig erscheinen ließ. Der jäh aufgestobene Wirbel seiner Gedanken beruhigte sich schnell wieder. Langes Überlegen gab’s hier ja nicht; hier war nur eine Art der Verteidigung möglich: Alles ableugnen!
Er lehnte sich bequemer in seinem Stuhl zurück und erwiderte, ganz geschickt den hochmütig Verschlossenen herauskehrend: „Ich bedaure, dabei bleiben zu müssen: Ich kenne ein Fräulein Dorring nicht und habe sie auch nicht in dem alten Speicher versteckt gehalten, habe sie weder gefesselt noch irgendwie in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt. Wenn mein Diener Bürstel wirklich hier etwas anderes bekundet haben sollte, so hat er gelogen. Ich bitte, mich ihm gegenüberzustellen. Er wird seine Aussage dann kaum aufrecht erhalten.“
Petrich biß sich auf die Lippen. In diesem Augenblick war er tatsächlich völlig ratlos.
Da räusperte sich Inspektor Würckler leise. Er kannte Staff persönlich. Aber in dienstlichen Angelegenheiten machte er keine Unterschiede.
„Wollten Sie etwas bemerken, Herr Inspektor?“ wandte Petrich sich schnell an seinen Untergebenen.
„Jawohl, Herr Regierungsrat. Ich möchte Herrn Staff mal fragen, ob er denn eine andere Frauensperson, nicht gerade die Dorring, in dem Speicher untergebracht gehabt hat –“
Sekunden Totenstille. Heinz Staff hob langsam die rechte Hand, betrachtete seine spitzgeschnittenen Fingernägel, zuckte leicht die Achseln und erklärte dann:
„Meine Privatangelegenheiten gehen niemand etwas an. Ich wiederhole nochmals: Die Dorring habe ich weder gefesselt noch bewußtlos gemacht! – Hiermit müssen die Herren sich schon begnügen. Wenn Sie meinem, ich hätte mich irgendwie gegen die Gesetze vergangen, so beweisen Sie mir das bitte! Es wird Ihnen schwerfallen. – Sollten Sie es für notwendig halten, mich zu verhaften, so werde ich durch meinen Anwalt hiergegen sofort Beschwerde einlegen. Einen bis jetzt unbescholtenen Bürger dieser Stadt wird man nicht ungestraft lediglich auf Grund von Geschehnissen, an denen er keine Schuld trägt, festnehmen.“
Er sprach dies mehr zu dem Inspektor. Doch auf Würckler machte dieses Selbstbewußtsein nicht den geringsten Eindruck.
„Wir verhaften niemand, Herr Staff, gegen den nicht genügend Belastungsmaterial vorliegt,“ sagte er in seiner bedächtigen Art. „Wann sind Sie heute abend von zu Hause fortgegangen? Wo und wie haben Sie die Stunden seit etwa acht Uhr zugebracht? – Sie hätten kaum einen Grund, hierauf die Antwort zu verweigern, denk’ ich –“
„Ganz recht, Herr Inspektor. Den habe ich auch nicht. Ich bin bis halb neun daheim geblieben, dann zu Frau Doktor Horsten gegangen, wo ich die Ehre hatte, Herrn Regierungsrat Petrich kennen zu lernen, verließ die genannte Dame etwa um halb elf und –“ – ein ganz unmerkliches Zögern – „begab mich nach dem Hauptbahnhof, um meinen Freund Graachten abzuholen, der mit dem Nachtzuge von Stettin eintreffen wollte.“
Würckler schüttelte den Kopf. „Herr Staff, wozu verschweigen Sie uns etwas? – Ihr Diener hat mir gesagt, Sie seien gegen dreiviertel elf Uhr mit einem Taxameter nach Hause gekommen, hätten sich Ihren Gummimantel des drohenden Gewitters wegen geholt und wären dann in demselben Taxameter wieder davon gefahren – nach dem Hauptbahnhof.“
Staff verwünschte bereits diese Torheit, die Fahrt nach Hause unterschlagen zu haben, erklärte nun hastig:
„Ich hielt dies in der Tat für zu unwichtig, um –“
Da fiel ihm Würckler ins Wort. „Unwichtig?! – Herr Staff, bereits diese eine Ausrede genügt, Sie verdächtig zu machen, – abgesehen von allem anderen, so zum Beispiel auch davon, daß bei uns die polizeiliche Anmeldepflicht besteht, die Sie umgangen haben. Gewohnt hat dort in den Kontorräumen ohne Zweifel eine weibliche Person, der Sie sogar Bücher aus Ihrer Bibliothek in Menge zur Verfügung gestellt haben. – Hier liegt Verdunklungsgefahr vor, und deshalb kann ich dem Herrn Regierungsrat nur beipflichten: Ihre Verhaftung erscheint den ganzen Umständen nach erforderlich.“
Staff gab den Kampf auf. Er fühlte, daß die Aufregungen dieses Abends die Widerstandskraft seiner Nerven bereits erschöpft hatten. Vielleicht war es auch am besten, erst einmal Zeit zu gewinnen.
Er erhob sich. „Ich stehe den Herren zur Verfügung. – Mein ständiger Anwalt ist Doktor Wilde. Bitte ihn sofort von meiner Verhaftung zu benachrichtigen.“
7. Kapitel.
Die beiden Boote.
Bert Graachten war, nachdem der Schutzmann ihm bestätigt hatte, daß es sich um ein Polizeiauto gehandelt hätte, im Sturmschritt dem Altstädtischen Graben zugeeilt, wurde so auch von fern noch Zeuge, wie man seinen Heinz in einem Kraftwagen davonschleppte.
Sein erster Gedanke war: hin nach dem Präsidium und den Inspektor Würckler aufsuchen! – Dieser war ihm in vielem zu Dank verpflichtet, hatte sich bei ihm schon des öfteren Rat geholt, wenn es sich um einen Kriminalfall handelte, dem lediglich mit dem praktischen Verstande nicht beizukommen war.
Er hastete also weiter den Altstädtischen Graben entlang dem Holzmarkt zu. Es lag so nahe, daß er jetzt, als er den großen Platz überschritt, an dem ja auch Frau Helma wohnte, an diese und weiter daran dachte, daß der neue Dezernent der Kriminalpolizei, eben jener Regierungsrat, ein entfernter Verwandter von ihr sei. Ebenso war es nicht weiter wunderbar, daß er sich in die Anlagen einbiegend, umdrehte und einen Blick nach dem Hause Helma Horstens hinüberwarf.
Der Himmel war jetzt wieder sternenklar. Das Licht eines der großen Kandelaber fiel gerade hell genug bis zum ersten Stockwerk hinauf, um dort am offenen Fenster eine Gestalt erkennen zu lassen, die nur Helma selbst sein konnte.
Graachten machte plötzlich kehrt. Er, der bei der jungen Witwe fast genau so zwanglos wie Heinz Staff ein und ausging, durfte es sich schon erlauben, trotz der Nachtzeit Helma anzurufen und ihr mitzuteilen, was geschehen. Mehr noch: er hielt dies sogar für seine Pflicht.
Frau Helma erkannte den Schriftsteller sofort.
Graachten rief ihr leise zu: „Staff ist soeben im Auto nach dem Polizeipräsidium geschafft worden. Es muß irgend etwas –“
Da winkte sie schon. „Einen Augenblick, lieber Graachten. Ich hole Sie herauf.“ –
Schweigend stiegen sie dann die Treppen empor. Oben im Salon ergriff Helma des Schriftstellers Hand.
„Mein Gott, – was ist denn eigentlich passiert?!“
„Wenn ich das wüßte, Frau Helma –“ Er berichtete kurz, daß Staff heute so seltsam verstört gewesen sei. Von dem Saßnitzer Tagebuch schwieg er jedoch.
„Als Heinz mich dann kaum verlassen hatte, trieb mich eine unbestimmte Unruhe hinter ihm drein,“ modelte er die Tatsachen ein wenig um. „Ich war kaum vor meiner Haustür, da fuhr auch schon das Auto mit zwei Kriminalbeamten vor –“
Helma war in den nächsten Sessel gesunken. Ihre Augen starrten angstvoll zu Graachten empor.
Er suchte sie zu beruhigen. „Ich hoffe Inspektor Würckler sprechen zu können, Frau Helma. Ich bringe Ihnen Bescheid. Geben Sie mir Ihren Hausschlüssel mit, damit Sie nicht –“
Sie drückte ihm den Schlüsselring schon in die Hand.
„Beeilen Sie sich, Graachten! Ich ängstige mich ja so furchtbar.“ –
Bert Graachten fand den Eingang des Präsidiums unverschlossen, traf in der Vorhalle die beiden Beamten, die Heinz im Auto geholt hatten, und bat sie, ihn bei Inspektor Würckler zu melden.
Würckler jedoch ließ ihm sagen, er habe jetzt leider keine Zeit; Herr Staff sei verhaftet worden; er möge vormittags zu ihm kommen.
Mehr erfuhr Graachten nicht. – Als er die Flurtür bei Frau Helma leise aufschloß, eilte diese ihm schon entgegen. Des Schriftstellers ernstes Gesicht verriet ihr sofort, daß er schlechte Nachricht brachte. –
„Verhaftet – also tatsächlich verhaftet?!“ – Sie wollte es nicht glauben. Dann eilte sie ans Telephon, ließ sich mit dem Polizeipräsidium verbinden, bekam auch Petrich an den Apparat.
Der Regierungsrat war wie versteinert, als sie sich meldete und von ihm darüber Auskunft erbat, weshalb Heinz Staff verhaftet worden sei.
„Ja – woher wissen Sie denn davon bereits, gnädigste Kusine?“ fragte er mit einer Regung des Neides auf Staff, der dieser schönen, reichen Frau so viel galt, daß sie selbst zu dieser Stunde ihr Interesse für ihn nicht weiter verheimlichte.
„Ich weiß es. Das genügt. – Der Grund seiner Verhaftung?“
„So leid es mir tut: dienstliche Schweigepflicht.“
Helma legte ärgerlich und schwer enttäuscht den Hörer auf die Stützen zurück.
„Pedanten!“ rief sie Graachten zu und stampfte mit dem Fuße leicht auf. „Was nun, – was nun?! Ich muß – muß herausbringen, was vorgefallen ist, – sofort – jetzt gleich! Und Sie müssen mir dabei helfen, lieber Graachten –“ –
Eine Viertelstunde später rumpelte eine Taxameterdroschke, in der eine tief verschleierte Dame und ein Herr saßen, die menschenleere Langgasse hinunter, bog dann auf der Speicherinsel in die Hopfengasse ein und hielt an der Ecke der Kiebitzgasse.
Graachten drückte dem verschlafenen Kutscher ein Geldstück in die Hand. „Warten Sie hier!“
Dann schritten die beiden zu Fuß weiter, bis sie vor dem Staffschen Speicher standen, an den sich die hohe, bis zu dem Mottlauarm hinlaufende Gartenmauer anlehnte.
Aus dem Schatten des tiefen Speichertores löste sich eine Gestalt heraus, offenbar ein Kriminalbeamter. Graachten zog Helma schnell weiter. Nun kamen sie an der eisernen Flügeltür vorüber, die hier in die Mauer eingefügt war.
Hinter ihnen ein schwerer Schritt. Der Beamte war ihnen gefolgt, sprach sie jetzt an.
„Die Gasse hier hat keine Fortsetzung. Dort ist Wasser,“ meinte er, indem er das Paar mißtrauisch musterte. Dann erkannte er Bert Graachten.
Graachten wollte hier nun abermals sein Heil versuchen.
„Ich muß meinen Freund Staff unbedingt sofort sprechen,“ meinte er, indem er den völlig Unwissenden spielte. „Der alte Bürstel wird nett fluchen, wenn ich ihn jetzt herausläute. Aber – es hilft nichts –“
„Hm – Herr Doktor, – das wird nicht gehen. Das Haus ist nämlich leer. Hier – hier ist was vorgefallen –“
„So?! Was denn?“
„Bedauere wirklich, Herr Doktor: Dienstgeheimnis!“
„So?! – Na – ich will Sie zu keiner Pflichtwidrigkeit verleiten, Herr Schneider. – Guten Abend.“
Helma hatte sich zwanglos in Graachtens Arm eingehängt, stützte sich schwer auf ihn. Sie, die Willensstarke, vermochte kaum das erneute trockene Schluchzen zu unterdrücken, fühlte sich zum Umsinken matt.
Graachten preßte ihren Arm leicht an sich. „Mut, Frau Helma. Wir werden den Herrschaften ein Schnippchen schlagen. Ich habe eine Idee, die uns –“ Er flüsterte lebhaft auf sie ein.
Als sie gerade den Taxameter wieder bestiegen hatten, rollte das Polizeiauto an ihnen vorüber.
Sie fuhren über die Kuhbrücke und dann in die enge Ankerschmiedegasse hinein, in der sich der uralte Ankerschmiedeturm verwittert und rauchgeschwärzt trotzig in die Höhe reckt. Auf dem Winterplatz stiegen sie aus. Graachten lohnte den Kutscher ab. Er wußte als Klubmitglied, daß an dem schwimmenden Bootssteg ein paar einfache Ruderboote lagen. Er fand auch eins heraus, in dem sich zwei schmale Ruder befanden, die das Stehlen nicht mehr verlohnten.
Das Boot stieß ab, trieb in die Mottlau hinaus, hinüber in den tiefen Schatten des hohen Bollwerks.
Graachten ruderte langsam mit kurzen, lautlosen Schlägen. Helma saß ihm gegenüber auf der zweiten Ruderbank. Er entwickelte ihr seinen Plan. Die Wasserpforte des Staffschen Grundstücks habe ein Schloß, das sich Eingeweihten auch ohne Schlüssel öffne. „Wir werden in den Garten schleichen, Frau Helma. Die Bulldogge, die dort nachts frei umherläuft, kennt mich zu gut, um uns etwa anzufallen –“
Er schwieg plötzlich, drückte das Boot an einen teerduftenden Prahm heran, zog die Ruder ein, beugte sich ganz dicht zu Helma hin und flüsterte:
„Da – links geht’s in den Seitenarm hinein. Sehen Sie dort das Boot am anderen Ufer neben den Pfählen? – Zwei Leute darin. Der eine steht aufrecht und schaut nach dem Staffschen Garten hinüber. – Wir haben kein Glück heute, Frau Helma. Die Polizei wacht überall –“
Abermals entfuhr der schönen Witwe ein verzweifeltes: „Mein Gott! Was – was mag nur geschehen sein?“
„Still! Das Boot entfernt sich.“ – Graachten duckte sich ganz tief zusammen. Auch Helma tat ein gleiches.
Das Boot mit den beiden Männern näherte sich schnell. Graachten beobachtete es scharf. Jetzt fing er ein paar Worte auf. Er stutzte. Noch einen halben Satz vernahm er. Dann war das Boot vorüber.
„Die Leute sprachen ja holländisch,“ flüsterte Helma. „Es können kaum Kriminalbeamte gewesen sein –“
„Ich habe mich geirrt. Es waren tatsächlich keine,“ erklärte Graachten hastig und trieb das Boot von dem Prahm ab. „Wir müssen ihnen nach, Frau Helma. Sie haben vorzügliche Augen. Verlieren Sie es ja nicht aus dem Gesicht. Wir dürfen uns aber nicht bemerken lassen –“
Das fremde Boot hielt sich bis zum Krahntor in der Mitte des Flusses, bog dann nach rechts in den Kielgraben ein und machte hier an einem Dreimaster fest.
„So – nun können wir nach Hause, Frau Helma,“ sagte Graachten hochbefriedigt. „Wir haben viel erreicht. Ich hoffe jetzt so manches aufklären zu können –“
„Wie – meinen Sie das?“ fragte Helma erstaunt. „Aufklären?! Was denn?! – Hängt denn dieses Boot mit den beiden Matrosen darin irgendwie mit dem zusammen, was heute zu Staffs Verhaftung geführt hat? – Bitte – bitte, verschweigen Sie mir nichts, Graachten. Sie scheinen doch bereits zu wissen, was vorgefallen ist. Wie können Sie sonst sagen, Sie hoffen manches –“
„Ich weiß wirklich nichts, Frau Helma. Sie können mir das glauben. Ich bin nur durch einen Zufall einem – kleinen Geheimnis auf die Spur gekommen.“
„Oh – immer nur halbe Andeutungen! Damit lasse ich mich nicht abspeisen – niemals! Sie entgehen mir so nicht, Graachten, wirklich nicht! Sie müssen mir alles mitteilen – alles!“
„Vielleicht ist es auch besser, daß ich Sie vorbereite, Frau Helma, als wenn ein anderer, etwa der Regierungsrat, Ihnen diese Dinge – da ist schon das Klubhaus. Steigen wir aus –“
8. Kapitel.
Speichergeheimnisse.
Das Polizeiauto hielt vor der Gartenpforte des Staffschen Grundstücks, Wachtmeister Schneider sprang zu, öffnete die Tür und meldete dem zuerst aussteigenden Regierungsrat stramm dienstlich: „Nichts Neues inzwischen. Nur der Freund des Herrn Staff, der Schriftsteller Doktor Graachten, war soeben mit einer verschleierten Dame hier und wollte Staff besuchen.“
Petrich schaute den Wachtmeister überrascht an. „Wirklich – mit einer verschleierten Dame?! – Sehr merkwürdig – in der Tat!“
Die beiden Wachtmeister Brenner und Lörke, die ihre Vorgesetzten hatten begleiten müssen, trennten sich jetzt und durchsuchten einzeln beim Lichte der mitgebrachten Karbidlaternen das ganze Grundstück, während Würckler den Regierungsrat durch das Wohnhaus und die Verbindungstür in den Speicher führte.
Petrich nahm die beiden Kontorräume sehr genau in Augenschein. Jeder besaß zwei mittelgroße, quadratische Fenster, deren schwere Innenläden verschlossen waren. Außerdem hingen vor diesen Läden auch noch dicke, doppelte Leinenvorhänge.
„Ich habe schon festgestellt, daß die Läden seit langer Zeit nicht geöffnet worden sind,“ erklärte der Inspektor. „Die Person, die hier gehaust hat, mußte sich stets mit künstlicher Beleuchtung begnügen.“ Er deutete auf die elektrischen Lampen.
Petrich betrat das Schlafgemach, in dem außer einem modernen, eisernen, reich bronzierten Bett noch andere, nicht unbedingt notwendige Einrichtungsgegenstände sich befanden. Schränke, Waschtisch, ein Frisiertisch mit zwei beweglichen Spiegeln, Nachtschränkchen und Stühle waren offenbar neu und wenig benutzt. Das Bett war mit einer Spitzendecke bedeckt. Der Regierungsrat schlug sie und auch das Oberbett zurück. Auf dem Kopfkissen lag ein seidenes Damennachthemd. Ein starker Parfümgeruch entquoll den Kissen.
„Dasselbe Parfüm wie das des Taschentuches der Handtasche,“ meinte Petrich.
Er hob auch das Kopfkissen auf, legte so eine kleine Ledermappe frei, deren Inhalt er sofort unter der Deckenlampe prüfte. Er fand darin zu seiner Enttäuschung jedoch nur zwei zusammengefaltete Nummern der in Batavia auf Java erscheinenden holländischen Zeitung ‚Batavia Aftenposten‘. Die Zeitungen waren bereits vier Jahre alt.
Kopfschüttelnd reichte er sie dem Inspektor. „Was bedeutet das nun wieder, Würckler?“ fragte er unsicher.
Würckler hob die Schultern. „Ich habe so eine Ahnung, Herr Regierungsrat, als ob wir hier einem sehr verzwickten Rätsel gegenüberstehen. Ein Mann wie Staff leugnet zuweilen aus Gründen, die schwerer zu durchschauen sind, als wenn uns ein Mensch in anderer Lebensstellung die Wahrheit zu verheimlichen suchen würde. Mir fällt da gerade ein: Staff ist erst vor einigen Monaten von einer Weltreise zurückgekehrt –“ Er blickte Petrich dabei vielsagend an. „Vielleicht hängt all dies Unerklärliche hier mit –“
In diesem Augenblick draußen schwere Schritte. Die beiden Wachtmeister Lörke und Brenner erschienen in der Tür.
Lörke, ein Mann, der vor niemand und vor nichts Respekt hatte als vor der eigenen, oft erprobten Schlauheit, rief sofort:
„Die Geschichte hier wird ernst, verflucht ernst. Wir haben im Pavillion, der da in der Mauerecke nach der Mottlau zu steht, unten in einer Art Keller eine Leiche mit einer Schußwunde in der Stirn gefunden. Und der Tote hat noch nicht einmal die Körperwärme ganz verloren, kann also erst vor kurzem niedergeschossen worden sein.“
Die Ereignisse häuften sich jetzt geradezu.
Kaum hatte Lörke das letzte Wort ausgesprochen, als Wachtmeister Schneider den Kriminalkommissar von Salbitz herbeiführte.
Salbitz war noch jung und eben erst zum Kommissar ernannt worden. Er hatte auf dem Hauptbahnhof auf Grund des in dem Handtäschchen gefundenen Gepäckscheins die Herausgabe des dort zur Aufbewahrung abgegebenen Koffers erwirken sollen.
Er platzte jetzt gerade in das lautlose Schweigen hinein, das der Meldung Lörkes gefolgt war.
„Herr Regierungsrat,“ berichtete er sofort übereifrig, „der Koffer der Dorring enthielt außer Wäsche und Kleidern noch ein paar Reiseandenken an Rügen und dann diese vier Lichtbildpostkarten, die sämtlich die Dorring zusammen mit einem Herrn vor einem Strandkorb im Sande sitzend darstellen.“
Petrich winkte etwas ärgerlich ab. Die Leiche war jetzt wichtiger.
„Vorwärts – sehen wir uns den Toten an, meine Herren.“
Er ging mit Lörke voraus. Dieser teilte ihm mit, daß es sich merkwürdigerweise um einen Farbigen, offenbar um einen Matrosen handele.
Hinter ihnen her schritten Würckler und Salbitz.
„Zeigen Sie mir mal die Bilder, Kollege,“ meinte der Inspektor und schaltete seine Taschenlampe ein.
Kaum hatte er dann einen flüchtigen Blick auf die Photographien geworfen, als er leise ein: „Donnerwetter – Doktor Graachten!“ vor sich hin murmelte.
Salbitz, der erst seit einem Monat hier in Danzig beschäftigt war, hatte den Namen Graachten recht gut verstanden.
„Graachten, der Schriftsteller?“ fragte er. „Vorgestern las ich in den ‚Neuen Nachrichten‘, daß sein Abenteuerroman ‚Die neue Gottheit‘ jetzt verfilmt wird und daß er selbst auf Rügen die Aufnahmen zu dem Riesenfilm leiten soll –“
„Ganz recht,“ meinte Würckler zerstreut. „Eine ganz verworrene Geschichte. Nun auch noch Graachten?! Das versteh’ ein anderer!“ –
*
Helma Horsten und Bert Graachten überschritten den Winterplatz und bogen in den Altstädtischen Graben ein.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter, lieber Freund,“ flehte Helma und hängte sich wieder zwanglos in seinen Arm ein, schlug den Schleier hoch und fügte hinzu: „Begreifen Sie doch, daß ich gerade für Heinz Staff –“ Sie schwieg plötzlich. Graachten schaute sie von der Seite prüfend an. Sie hatte den Kopf gesenkt.
„Weshalb sprechen Sie nicht weiter, Frau Helma?“ fragte er leise. „Halten Sie mich für einen so schlechten Menschenkenner, daß ich dieses gewagte Freundschaftsspiel zwischen Ihnen und Heinz nicht längst durchschaut haben sollte?!“
Sie hob den Kopf, blickte ihn voll an. „Dieses Thema wollen wir nicht berühren, Graachten. – Staff ist nur mein Freund. – Bitte, nun quälen Sie mich nicht länger –“
„Gut denn. Machen Sie sich aber auf Dinge gefaßt, Frau Helma, die – einen scharfen Stachel in Ihrem Herzen zurücklassen werden –“
Er fühlte, daß sie zusammenzuckte.
„Sie wurden mit Heinz auf der Gesellschaft bei Justizrat Rötler bekannt,“ fuhr er fort und schlug eine ganz langsame Gangart ein. „Das war genau vier Tage nach Staffs Rückkehr von der Weltreise. Ich hatte Heinz damals von der Bahn abgeholt. Er kam morgens an. Er war zerstreut, fahrig und durchaus nicht so frisch, wie ich es gehofft hatte. Ich gewann sofort den Eindruck, daß ihn etwas bedrücken müsse. Wir fiel weiter auf, daß sein alter Karl nicht bei ihm war. –
‚Er kommt morgen nach, ist noch in Berlin geblieben,‘ erklärte er so nebenbei. – Ich fühlte geradezu, daß mir hier etwas verheimlicht wurde. Ich kenne Staff so genau. Das Lügen wird ihm schwer. – Was sollte der alte Bürstel wohl allein in Berlin?! Heinz ist ja an seinen Karl so gewöhnt, daß er sich ohne ihn gar nicht behelfen kann. –
Das war also unser Wiedersehen. In den folgenden zwei Wochen merkte ich dann keine wesentliche Veränderung an ihm, nur daß er plötzlich stark für eine Ihnen nicht ganz unbekannte Dame zu schwärmen begann – für Sie, Frau Helma. Und dann wieder mußte ich feststellen, daß er plötzlich menschenscheu zu werden anfing, daß er jeden gesellschaftlichen Verkehr mied, daß er Leute, die früher bei ihm aus und ein gegangen waren, fast mit schroffer Kälte von sich fernzuhalten suchte und das uralte Familienhaus der Staffs in eine Einsiedelei zu verwandeln trachtete. Selbst in unseren Beziehungen – und wir sind doch mehr als Brüder, sind eben erprobte Freunde – änderten sich Kleinigkeiten, die, so belanglos sie auch waren, meine rege Phantasie beschäftigten.
In diesen Tagen, fast um dieselbe Zeit etwa traf ich vor der Toreinfahrt eines Vormittags den Wagen eines Möbelgeschäfts. Es wurden allerlei Sachen abgeladen. Heinz erklärte, er wolle das Zimmer Bürstels behaglicher ausstatten. Nun – das hätte er nicht gerade mir aufbinden sollen, Frau Helma. Denn unter den Möbeln hatte ich auch einen mit Leinwand umhüllten – Frisiertisch bemerkt. Und – in aller Stille überzeugte ich mich, daß die alten Möbel nach wie vor in Bürstels Zimmer verblieben waren.“
Helma unterbrach Graachten hier. „Frisiertisch?“ fragte sie mit schwerer Zunge. „Frisiertisch?! – Woran dachten Sie, als Sie diesen –“
„Hören Sie erst weiter, Frau Helma. – Als dritten Punkt will ich noch folgendes erwähnen. Eines Tages vor etwa vier Wochen kam ich noch spät abends zu Heinz. Als ich sein sogenanntes Studierzimmer betrat, standen beide Fenster weit offen. Ich spürte in dem Zimmer sofort einen eigenartigen Duft, irgend ein hier in Europa unbekanntes Parfüm. Es hatte Ähnlichkeit mit jenen wertvollen japanischen Wohlgerüchen, die in winzigen Achatflakons in den Handel kommen und die so stark durften, daß schon das winzigste Tröpfchen – –“
„Oh – ich kenne diese Parfüms sehr gut, Graachten –“
„Ich hatte nun den Eindruck, als ob Heinz die Fenster nur offenhielt, um dieses Parfüm zu entfernen –“
„Ein – eine Frau?!“ flüsterte Helma da ganz leise.
Graachten beachtete diese halbe Frage nicht. „Wir können jetzt den Schauplatz nach Rügen verlegen,“ fuhr er fort und begann ganz eingehend zu schildern, wie er dort Ellen Dorring kennen und lieben gelernt hatte, erwähnte auch, daß er das deutlichste Empfinden gehabt hätte, Ellen habe sich nur deshalb an ihn herangeschlängelt, um ihn über Heinz Staff ganz genau auszuhorchen, schloß dann seine Mitteilungen mit den Sätzen:
„Heinz hat mich heute abend also ohne Abschied zu nehmen hastig verlassen. Nur seine Bleistiftzeilen klärten mich darüber auf, weshalb er in dieser Weise von mir ging, – diese Zeilen, in denen er mir mitteilte, er dürfe wir darüber nicht Auskunft geben, was er über Ellen Dorring wisse. – Also dieser Frau wegen verzichtete er auf das, was uns beiden so viele Jahre heilig gewesen: auf unsere Freundschaft.“
Helma Horsten blieb stehen. Der Laternenschein traf ihr blasses, umdüstertes Gesicht. Ihre Lippen bebten leicht, als sie jetzt Graachtens Arm mit ihrer Rechten umkrallte und mit einer ganz fremd klingenden Stimme fragte:
„Was – was halten Sie nun von alledem?“
Graachten seufzte. „Was ich davon halte?! – Ich glaube, Staff kennt Ellen Dorring sehr – sehr genau! Sie wird bei ihm – gewohnt haben. Das Staffsche Haus ist ja so geräumig. Die Zimmer im ersten Stock zum Beispiel werden nie benutzt. Und dann noch der Speicher. – Wozu wohl sonst der Frisiertisch, wozu die neue Schlafzimmereinrichtung?!“
„Weiter – weiter!“ hauchte Frau Helma wieder mit zuckenden Lippen.
„Weiter?! – Ja, liebe Frau Helma, – was mich angeht, so habe ich eines bestimmt verloren: die Hoffnung, daß mein Saßnitzer Liebestraum je die Fortsetzung haben könnte, die ich ersehnte. – Ich – habe Ellen Dorring ehrlich geliebt. Dieses Mädchen umgab ein ganz eigener Reiz. – Genug davon! Ein dicker Strich durch diese Erinnerungen, das ist das beste, nachdem Heinz mir jede Auskunft über Ellen verweigert und mir dadurch angedeutet hat, ich täte besser, sie zu vergessen. Mithin: Ellen verlor ich bereits; der Traum ist ausgeträumt. – Und – vielleicht verliere ich jetzt auch Heinz noch dazu! – Das, Frau Helma, geht mich an –“
Sie schaute an ihm vorüber. In ihren Blicken lag jetzt ein grüblerischer Ausdruck.
„Graachten,“ sagte sie nun stoßweise, und er merkte, wie es in ihrer Seele aussah, „Graachten, Sie – werden wohl recht haben. Er – er kam eines Vormittags, und das wird etwa fünf Wochen her sein, geradezu verstört zu mir, forschte mich erregt aus, ob ich etwa am Abend vorher Damenbesuch gehabt hätte. Vielleicht – vielleicht war ihm Ellen Dorring damals – endflohen und Ihnen nach Rügen nachgereist. Und er fürchtete, sie könnte mich aufgesucht und mir –“ Ein Aufschluchzen erstickte das Weitere.
„Sie dürften richtig vermuten, Frau Helma,“ meinte er ernst. „Daß die heutige Verhaftung Staffs mit diesen Dingen, mit Ellen Dorring irgendwie zusammenhängt, erscheint mir gleichfalls ziemlich sicher. Was geschehen, wissen wir nicht. Aber – in einem Punkte sind wir der Polizei überlegen. Nur wir wissen, daß zwei Männer in Seemannstracht ein sehr auffälliges Interesse für das Staffsche Grundstück hatten! – Und hier will ich mit meinen Ermittlungen beginnen, Frau Helma! Staff schweigt! Nun gut! Dann werden andere reden müssen, – die Leute, die sich auf jenem Dreimaster befinden, der am Heck die holländische Handelsflagge führt und im Kielgraben jetzt seine Ladung löscht oder bereits neue einnimmt.“
Helma streckte ihm die Hand hin. „Versprechen Sie mir, daß Sie mir stets sofort Nachricht geben wollen, sobald Sie irgend etwas Wichtiges erfahren haben.“
Er sagte es ihr bereitwilligst zu. Dann verschwand Helma in ihrem Hause. Graachten blickte ihr nach, dachte: ‚Armes Weib! Eifersucht ist ein böses Ding!‘ Er seufzte tief auf, schritt dann dem Altstädtischen Graden zu, um auf dem kürzesten Wege heimzukommen. –
Helma saß im kleinen Salon neben dem Teetisch im Klubsessel. Das Spitzentüchlein in ihrer Hand war feucht von Tränen. Immer wieder zuckte in ihrem müden Hirn derselbe Gedanke auf: ‚Wärest du nur nicht hier in Danzig geblieben! Monatelang hast du dich selbst belogen. Und heute, wo die Angst um ihn dir deine wahren Gefühle jäh enthüllte, da – da tauchte Ellen Dorring auf!‘
Lautlos öffnete sich die Tür nach dem Flur und Margitta schob sich ins Zimmer. – Helma gewahrte die Chilenin erst, als sie dicht vor ihr stand. Die Alte hatte sich in ein großes Tuch gehüllt, ihr braungelbes, mageres Gesicht zeigte wieder jenen leeren Ausdruck, der zumeist einen ihrer Anfälle anzukündigen pflegte. Ihre Augen waren starr auf Helma gerichtet.
„Ich – ich habe geträumt,“ murmelte sie undeutlich. „Wir werden – wieder mit einem großen Schiff über das Wasser fahren –“ Mehr verstand Helma nicht.
Margitta blieb noch ein paar Minuten regungslos stehen und schlurfte dann wieder auf ihren Filzschuhen ebenso leise hinaus, wie sie gekommen war.
Helma griff mechanisch nach einer Zigarette. – Über das Meer fahren! Abreisen! – Sofort abreisen, – das wäre am besten! Was sollte sie noch hier in Danzig?! – Graachten hatte vielleicht seinen Freund verloren; sie – hatte mehr eingebüßt in dieser Nacht – weit mehr!
9. Kapitel.
Opium.
Um dieselbe Zeit saß Bert Graachten in seinem Arbeitszimmer und hielt das Postkartenbild in der im Schoße ruhenden Rechten. Soeben hatte er nochmals die seltsame Widmung gelesen, die Ellen ihm auf die Rückseite mit ihrer so wenig Übung verratenden Schrift gesetzt hatte – nicht als Ellen Dorring, sondern als Ellen v. Dr –!
Was nur bedeuteten diese seltsamen Zeilen?! Was bedeuteten die beiden merkwürdigen Namen Tapayan Sampit und Balian Tschawa?! – Waren es wirklich Namen für Personen? – Bei dem zweiten, Balian Tschawa, war dies ja wohl selbstverständlich. Es konnte nur eine fremdsprachliche Bezeichnung für Ellen Dorring sein. Denn da stand ja: ‚– wird Balian Tschawa Dein für immer werden.‘ – Wie verheißungsvoll klang dieser Satz! Doch – er hing von einer Bedingung ab: ‚Wenn Tapayan Sampit heimgekehrt ist –‘ – Wer – was war dieser oder diese Tapayan Sampit?! Ein Mensch, ein Mann, ein Weib?!
Bert Graachten stand plötzlich auf und ging an den hohen, breiten Bücherständer, der fast die eine Wand allein einnahm, schlug den grünen Vorhang zurück und suchte den Band des Konversationslexikons mit dem Buchstaben ‚B‘ heraus. Er wollte feststellen, ob Balian Tschawa vielleicht doch kein Personenname, sondern eine besondere Art von Bezeichnung sei.
‚Baal – Balance – ah – Balian‘, wirklich, – da stand Balian, und dahinter: ‚Vergl. den Art. über Dajak.‘
Er stutzte, schüttelte den Kopf. – Dajak?! Jene Menschenfresser und Kopfjäger auf Borneo?! Was in aller Welt hatten die mit Ellen Dorring zu tun?!
Immerhin: Graachten begann zu hoffen. Er fühlte geradezu, daß er der Lösung des Rätsels nahe war.
Also nun den Band mit ‚D‘. – Da war schon der Artikel ‚Dajak‘, zwei Spalten lang. Stehend überflog er die Zeilen. Erst zum Schluß stieß er sowohl auf das Wort ‚Balian‘ als auch auf das andere, auf ‚Tapayan‘.
Er las nochmals die betreffenden Sätze. – Er sah sich enttäuscht. Das Rätsel schien dunkler denn je.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, begann diesen seltsamen Dingen jetzt mit seinem scharfen Verstande nachzuspüren.
Die Minuten enteilten, reihten sich zu einer Stunde und mehr zusammen.
Draußen zog der neue Tag herauf. Durch die Fenstervorhänge drang der erste helle Schimmer in den stillen Raum, diese Stätte emsiger Geistesarbeit. –
Endlich erhob Bert Graachten sich. Sein Gesicht strahlte unternehmungslustig. Eiligst nahm er in dem kleinen Baderaum seine gewohnte Morgendusche, machte sich zum Ausgehen fertig, aß währenddessen noch eine Kleinigkeit, steckte für alle Fälle einen Revolver zu sich und verließ sein Häuschen.
Zwanzig Minuten später war er am Kielgraben, schlenderte nun scheinbar müßig am Bollwerk entlang, beobachtete aber scharf den Dreimaster, der einen etwas verwahrlosten Eindruck machte. Zu beiden Seiten des Bugs trug das blaugrau gestrichene Vollschiff den Namen ‚Pieter van Droopen‘.
Graachten bemerkte einen Steueraufseher, der gemächlich, die Zigarre im Mundwinkel, daherkam. Er sprach ihn an, stellte sich vor. Er war in Danzig vielleicht ebenso stadtbekannt wie Heinz Staff, und der Beamte erteilte ihm gern jede gewünschte Auskunft.
„Ein Zufall, Herr Doktor. Gerade der Kielgraben gehört zu meinem Revier. Ich kann Ihnen über das Vollschiff da genau Bescheid sagen –“
Sie gingen nebeneinander weiter. Was Graachten nun hörte, bestätigte nur das, was er ungefähr vermutet hatte. Er verabschiedete sich von dem Steueraufseher und kehrte über die Grüne Brücke nach seinem Häuschen zurück.
Ein etwas korpulenter Herr mit Schmissen auf der Backe und am Kinn kam ihm jetzt in der Jungferngasse sehr eilig entgegen.
„Morgen, Graachten!“ rief der Rechtsanwalt Wilde schon von weitem. „War gerade bei Ihnen. Ein Glück, daß ich Sie treffe. – Unglaubliche Geschichte! Sie wissen natürlich schon Bescheid. Staff hat mich rufen lassen –“
In Graachtens Arbeitszimmer berichtete der Anwalt, der hauptsächlich als Strafverteidiger einen Namen hatte, alles ganz eingehend.
„Die Sache mit der unbekannten Frau, die da gefesselt und bewußtlos im Speicher aufgefunden worden ist, ist ja leider nicht das schlimmste,“ meinte er nun. „Jetzt kommt noch ein Toter hinzu, ein Farbiger –“
Graachten ließ Wilde ruhig sprechen.
„Der alte Bürstel hat über diesen Toten zunächst so jede Auskunft verweigert oder besser den Ahnungslosen gespielt wie in Bezug auf die Frau. Staff jedoch war in diesem Punkte offener. Der braune Matrose hatte sich in dem Staffschen Garten gegen dreiviertel elf abends eingeschlichen und dann den Alten angegriffen, der in der Notwehr den Kerl niederschoß. – So behauptete Staff. Inspektor Würckler hat hierauf Bürstel und Staff einander gegenübergestellt. Und da erst sagte der Alte Wort für Wort dasselbe aus. – Die Polizei, besonders Regierungsrat Petrich, glaubt nicht an einen Akt der Notwehr. Und – faul sieht die Sache ja in der Tat aus. Auf Petrichs Frage, weshalb denn Staff, der gerade hinzukam, als der Farbige mit Kopfschuß umknickte, nicht sofort den Vorfall gemeldet habe, gebrauchte Staff die wenig geschickte Ausrede, er hätte erst mit seinem Freunde Graachten, mit Ihnen, die Angelegenheit durchsprechen wollen. Hat er dies getan, Graachten?“
„Nein – leider nein!“
„Da haben wir’s. – Was nun – was nun?! Der Staff und der Alte sitzen da in einer netten Patsche. Von Haftentlassung natürlich keine Rede! Das habe ich Staff sofort klar gemacht. Wenn er nur mir gegenüber offen sein wollte! Aber – er spielt, was die Frau angeht, genau so zu mir den Unwissenden wie zu den Herren von der Polizei. – Graachten, Mensch, – Sie sind doch nicht auf den Kopf gefallen! Helfen Sie! Oder – sind Sie vielleicht irgendwie in diese Dinge eingeweiht?“
„Mir kommt das alles genau so überraschend wie Ihnen. – Ich werde natürlich vernommen werden. Wie gesagt: ich kann nur angeben, daß Staff den Toten nicht erwähnt hat.“
„Und die Frau – dieses Mädchen, das jetzt endlich wieder Lebenszeichen von sich gibt, nachdem der Medizinalrat ihr den Magen ausgepumpt und ihr allerlei Gegengifte eingeflößt hat?! Er ist sehr stolz, daß er sie gerettet hat. Man hatte ihr ein sehr starkes Opiumpräparat beigebracht, das genügt hätte, sie ins Jenseits hinüberschlummern zu lassen. Beinahe hätte der Doktor das zu spät erkannt. – Wie steht’s also mit dem Mädchen, Graachten?“
„Hm – einen Moment, Wilde.“ Graachten suchte das Postkartenbild heraus und reichte es dem alten Schulkameraden. „Das da ist meine Braut,“ sagte er, und jetzt zum ersten Male in dieser Nacht zitterte auch die Stimme dieses willensstarken Mannes etwas. „Meine Braut, – Ellen Dorring, die in jenen Kontorräumen versteckt gehalten worden sein soll. Und auf Grund dieses Bildes werde ich jetzt verlangen, daß man mich zu der Kranken läßt.“
Der Rechtsanwalt war so überrascht, daß er erst nach Sekunden ausrufen konnte: „Himmel – das ist ja ein ganzer Rattenkönig von Verwicklungen! – Graachten – Ihre Braut?! Mensch, – Sie, Sie abgestempelter Unterrockfeind wollen nun auch Bräutigam und Ehemann spielen?! Die Welt stürzt ein! – Na – meinen Glückwunsch, herzlichsten Glückw–“
„Lassen Sie!“ wehrte Graachten ab. „Ob Sie mir Glück wünschen können, wird sich erst herausstellen,“ fügte er sehr ernst hinzu.
10. Kapitel
Ich bin rein.
Es war halb acht Uhr morgens. Der Inspektor hatte nur in seinem Dienstzimmer auf dem Sofa ein paar Stunden geschlafen. Frau Mielke, die Pförtnersgattin, brachte ihm jetzt das Frühstück und weckte ihn zugleich.
„Unten wartet seit einer Stunde der Schriftsteller Doktor Graachten,“ erklärte sie.
„Ah – sehr gut. Soll heraufkommen, der schöne Bert.“
Graachten trat gleich darauf ein. Sie begrüßten sich durch Handschlag. Bevor Würckler noch etwas über den Fall Staff äußern konnte, sagte Graachten, indem er dem Inspektor das Bild reichte:
„Fräulein Dorring ist meine Verlobte. Ich verlange sofort zu ihr geführt zu werden –“
Der Inspektor machte einen Moment ein nicht gerade geistreiches Gesicht. Nun hatte er sich wieder gefaßt, wollte gerade einen Ausruf ungläubigen Erstaunens sich erlauben, als es klopfte und Regierungsrat Petrich die Tür öffnete.
„Sie gestatten – Regierungsrat Petrich, Dezernent der hiesigen Kriminalpolizei.“
„Doktor Graachten,“ stellte sich der Schriftsteller vor und fuhr dann sogleich fort: „Ich hätte eine Bitte, Herr Regierungsrat. Fräulein Dorring ist meine Braut. Diese Karte mit Ellens eigenhändiger Widmung genügt wohl als Ausweis. Ich möchte meine Braut recht bald ohne Zeugen sprechen. – Ich bemerke hierzu, daß ich, außer Staff, Bürstel und Ellen, der einzige sein dürfte, der diesen ‚Rattenkönig‘ von Rätseln zur Entwirrung bringen kann. Weiter bemerke ich aber auch – und dies versichere ich auf mein Wort! –, daß ich erst durch Rechtsanwalt Wilde vor wenigen Stunden sowohl von Ellens Auffindung in dem Staffschen Speicher als auch von der des erschossenen Matrosen etwas erfahren habe. Ich habe ebensowenig gewußt, daß Ellen anscheinend längere Zeit bei meinem Freunde Staff gastliche Aufnahme gefunden hatte. –
Dies mag Ihnen vorläufig genügen, Herr Regierungsrat. Ich wiederhole: nur ich kann die drei Beteiligten, Ellen, Staff und den alten Diener zum Reden bringen. –
Rechtsanwalt Wilde hat für die geheimnisvollen Geschehnisse dieser Nacht die Bezeichnung ‚Ein Rattenkönig von Rätseln‘ gebraucht. Der Ausdruck trifft zu. Wie man unter ‚Rattenkönig‘ das seltsame Phänomen in der Tierwelt versteht, wenn eine Anzahl Ratten mit den Schwänzen zusammengewachsen sind, so daß sie einen lebenden Stern bilden, der aus vielen einzelnen – man hat bis zu achtzehn Ratten beobachtet, Tieren sich zusammensetzt, genau so dürften sowohl die Ereignisse dieser Nacht und frühere Geschehnisse, an denen ich ebenfalls beteiligt bin und die bis nach Ostindien hinüberspielen, an einem Punkte eng miteinander verwunden sein. Haben wir diesen Punkt bloßgestellt, so läßt sich das Ganze fraglos unschwer überschauen.“
Petrich blickte unschlüssig vor sich hin. Er hegte ein gewisses Mißtrauen gegen den Schriftsteller, der ihm zudem recht unsympathisch war wie alle Leute, die ihn nicht genügend respektierten. Ferner kam bei ihm noch der große Ehrgeiz hinzu, diesen ‚Fall‘ allein und ohne fremde Hilfe zu erledigen.
Graachten bemerkte seine Unschlüssigkeit. – „Sie scheinen Bedenken zu tragen, meinem Wunsche stattzugeben,“ sagte er jetzt sehr kurz und kühl. „Nun – unter diesen Umständen verlange ich – wohlverstanden, ich verlange! –, daß meine Braut sofort von hier nach einer Privatklinik geschafft wird – sofort! Sie haben kein Recht, Ellen hier festzuhalten. Sollten Sie mir Schwierigkeiten machen, gehe ich sofort zum Polizeipräsidenten und lege außerdem telegraphisch Beschwerde beim Minister des Inneren ein.“
Petrich nagte mit den Zähnen nervös die Unterlippe. Wenn er gekonnt hätte, würde er diesen Schriftsteller ganz gehörig angefaucht haben. Aber – er hatte Angst vor ihm; mit dem Menschen war nicht zu spaßen; der wußte, was er wollte; der hatte so harte, drohende Augen, wie sie nur Vollmenschen besitzen.
„Oh – Schwierigkeiten?! Durchaus nicht, Herr Graachten,“ meinte er zögernd. „Es fragt sich nur, ob Ihre Braut nicht durch Ihren Besuch vielleicht gesundheitlich –“
„Das lassen Sie meine Sorge sein,“ unterbrach Graachten ihn ungeduldig. „Ich wünsche, daß Inspektor Würckler mich jetzt zu Ellen führt –“
„Auf Ihre Verantwortung hin – meinetwegen.“
Die beiden Herren verließen das Zimmer. –
Ellen Dorring war wach gewesen. Sehr bleich und matt lag sie in den Kissen. Als Frau Mielke ihr mitgeteilt hatte, wer draußen warte, errötete sie jäh, nickte dann aber zustimmend.
Die Pförtnerfrau ging hinaus und ließ Graachten ein. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Bett.
„Öffne die Vorhänge erst, Bert,“ flüsterte die Kranke ihm entgegen. – Er tat’s. Nun sah er sie ganz deutlich. Wie blaß sie war; wie eingefallen die Wangen! Sein Herz trieb ihn, vor ihrem Lager in die Knie zu sinken, ihre Hände zu nehmen, sie zu streicheln. Erst jetzt fühlte er so recht, wie sehr er sie liebte.
Aber sein Verstand warnte ihn. Und – die Eifersucht raunte ihm zu: ‚Weißt du denn, was zwischen ihr und Staff bestanden hat, – ob sie deiner überhaupt würdig?‘
Sie schaute ihn offen an mit ihren wundervollen, dunklen Augen. Sie hob matt den rechten Arm, streckte ihm die Hand hin. Er beugte sich über sie, streichelte ihr Haar; seine Kehle war wie zugeschnürt.
Sie drückte ihn sanft auf den Bettrand nieder. „Setz’ dich, Bert. – Es geht mir schon wieder besser. Ich danke dir, daß du gekommen bist. Aber – wie – wie nur hast du erfahren, daß deine Saßnitzer Freundin jetzt hier –“
„Still, Liebes, – strenge dich nicht unnötig an,“ unterbrach er sie und schaute an ihr vorbei. „Ich will dir alles kurz erklären.“ – Er verschwieg ihr nichts, was in der verflossenen Nacht vorgefallen war. Nicht die geringste Kleinigkeit ließ er aus. Dann fügte er hinzu: „Du weißt nun alles. – Ellen, und jetzt: sei ehrlich! – Hast du wirklich in den beiden Kontorräumen gewohnt? Und wer hatte dich gefesselt, wer hatten dich zu ermorden gesucht durch das Opiumpräparat?“
Sie hatte seine Rechte jetzt in ihren beiden kühlen, kraftlosen Hän–den, drückte sie leise.
„Sieh mich an, Bert,“ meinte sie fest, wenn auch mit schwacher Stimme. „Ich darf über all diese Dinge nicht sprechen. Nur das eine versichere ich bei der Liebe, die ich für dich empfinde und die gerade noch zur rechten Zeit in mein Herz eingezogen ist: Ich bin deiner wert, bin rein; zwischen Staff und mir bestehen lediglich Beziehungen, die die ganze Welt kennen lernen dürfte, falls er – reden wollte. Ich weiß, weshalb er selbst diese Verhaftung auf sich genommen hat: einer anderen Frau wegen!“
Ein paar Tränen rollten über ihre blassen Wangen.
Da neigte Bert Graachten sich tiefer, küßte ihre Lippen, bat dann:
„Ellen – nur eine Frage beantworte mir noch. Du heißt nicht Ellen Dorring, nicht wahr? – Du heißt Ellen van Droopen –“
„Ja,“ hauchte sie.
Er stand auf. „Mir ist nun alles klar – alles, mein Liebling,“ sagte er zärtlich. „Jetzt werde ich dafür sorgen, daß Heinz Staff redet! Und er wird reden! – Leb’ wohl – auf Wiedersehen!“ – Nochmals küßte er sie und ging dann hinaus zu Inspektor Würckler, der im Flur wartend auf und ab schritt.
„Lieber Würckler – noch zwei Stunden spätestens, – dann liegt ‚Der Rattenkönig‘ entschleiert vor uns,“ meinte er siegesgewiß. „Bleiben Sie bitte hier im Präsidium. Ich bringe eine Dame mit. Und in Gegenwart dieser Dame will ich Heinz Staff überzeugen, daß er nicht länger zu schweigen braucht.“
11. Kapitel.
Alles Helmas wegen.
Helma Horsten hatte sich den Hauswirt, Herrn Perlheimer, kommen lassen. – „Ich reise noch heute ab – mit dem Mittagszuge. Ich kehre nicht mehr nach Danzig zurück. Sie sind Agent für alles Mögliche. Sie sollen meine Möbel verkaufen.“ So gab sie Perlheimer weiter ganz genaue Anweisungen. Er dienerte unablässig, lächelte überhöflich und machte schnell einen Überschlag, was sich bei diesem Geschäft verdienen ließe.
Dann war Helma wieder allein. Sie hörte nicht, daß draußen die Flurglocke anschlug, daß Anna den Doktor Graachten einließ. Sie hatte ja dem Mädchen erklärt, für Graachten sei sie jederzeit zu sprechen.
Es klopfte. Da erst fuhr sie aus ihrem trüben Sinnen hoch, glaubte, es könne nur Margitta oder Anna sein und rief etwas ungeduldig: „Herein!“
Als sie nun Graachten erblickte, schrak sie zusammen, erhob sich schnell, reichte ihm verwirrt die Hand. Er sah die Koffer auf dem Fußboden, die herausgezogenen leeren Schiebladen.
Er lächelte ein wenig, behielt ihre Hand in der seinen. – „Also Flucht, Frau Helma, – nicht wahr? Flucht vor der Erkenntnis, daß die harmlose Freundschaft doch – Liebe war!“
Sie senkte den Kopf. „Quälen Sie mich nicht, Graachten. – Bringen Sie Neues?“
„Ich muß Sie quälen, Frau Helma, – quälen, um zwei Menschen glücklich zu machen. – Beantworten Sie mir eine Frage – aber ohne Rückhalt: Lieben Sie Heinz Staff?“
Sie wollte ihre Hand aus der seinen reißen, wollte die Empörte spielen.
„Frau Helma, haben Sie doch Vertrauen zu mir! Nur Ihretwegen sitzt Heinz Staff jetzt im Polizeigefängnis!“ sagte er eindringlich.
„Meinetwegen?“ Sie schaute ihn unsicher an.
„Ja – so ist’s. – Lieben Sie ihn – ja oder nein?“
„Ja – ja, – ich liebe ihn –“ Ein Tränenstrom schnitt ihr das weitere ab.
„Nicht weinen – nicht weinen!“ bat er zart. „Sie müssen mich nach dem Präsidium begleiten, Frau Helma. Wir müssen Heinz Staff befreien –“
„Niemals – niemals! Ich will ihn nicht wiedersehen! Er – er hat –“
„Nichts hat er!“ Graachten lächelte die Erregte, deren Tränen plötzlich wieder versiegt waren, so herzgewinnend an. „Kommen Sie, – Staff ist’s wert, daß Sie sich so ein wenig bloßstellen –“
Sie wollte noch etwas fragen. Doch Graachten schüttelte den Kopf. „Sie hören ja doch sofort alles, was Sie wissen wollen,“ meinte er fast heiter.
Helma wurde es mit einem Male so leicht ums Herz. –
*
Aus des Inspektors Dienstzimmer führte eine zweite Tür in eine kleine, dunkle Aktenkammer. In dieser mußte Frau Helma sich auf Graachtens Bitte verbergen. Sie saß hier auf einem Stuhl dicht an der einen Handbreit geöffneten Tür.
In Würcklers Büro befanden sich jetzt drei Personen: Petrich, Graachten und der Inspektor. Den vierten erwartete man. Und er erschien sehr bald in Begleitung eines Beamten, den Petrich dann sofort wieder hinausschickte.
Graachten war dem Freunde entgegengeeilt, hatte ihm herzlich die Hand gedrückt, wies nun auf einen Stuhl und sagte: „Setz’ dich, mein Alter. – Ich bin hergekommen, um dir ein wenig Vernunft zu predigen.“
Staff schaute finster drein. „Weshalb mischt du dich in Dinge, die –“
„Stopp, Heinz, stopp, – nicht diesen Ton,“ fiel ihm Graachten ins Wort. „Hier habe nur ich jetzt zu reden. – Meine Herren,“ wandte er sich an die beiden Beamten, „bevor ich mit meinen Eröffnungen beginne, muß ich Sie bitten, mir ehrenwörtlich zu geloben, daß von den Privatangelegenheiten Staffs, die mit den Vorgängen der verflossenen Nacht, mit dem ‚Rattenkönig‘ an Rätseln, unmittelbar nichts zu tun haben, nichts in die Öffentlichkeit dringt.“
Petrich und Würckler nickten zustimmend.
„So – dann darf ich also die Schleier ein wenig lüften. Ganz kann ich’s nicht. Über Einzelheiten wird Staff uns nachher gern Auskunft geben. –
Mein Freund Staff hat während seiner Weltreise auch die Insel Borneo besucht und dort ohne Zweifel einer jungen Europäerin, unterstützt von seinem treuen Bürstel, das Leben gerettet. Mehr noch: Er muß gewußt haben, daß dieses Mädchen auch später noch in Lebensgefahr schwebte, daß es Leute gab, die sie als unerbittliche und geduldige Feinde weiter verfolgen würden. Er brachte das Mädchen daher mit nach Deutschland, mit nach seiner Vaterstadt und verbarg sie hier in dem alten Speicher. Nur Bürstel war miteingeweiht, der einen Tag nach Staff mit der Fremden hier eintraf. –
Verschiedene Beobachtungen ließen mich vermuten, daß Staff insgeheim einen weiblichen Gast bei sich beherbergte. Doch – da er sich mir nicht anvertraute, schwieg ich. –
Mein Freund lernte dann sehr bald nach seiner Rückkehr hier eine Dame kennen. Es mag ein Zufall gewesen sein, daß diese Dame und er sich, kaum daß sie sich kannten, gegenseitig anvertrauten, wie sie über Liebe und Liebesglück dächten. Beide spielten sich – die inneren Beweggründe hierzu ließen sich unschwer nachweisen – als abgeklärte, hoch über jedem Liebesgetändel stehende Geister auf und glaubten auch ein gutes halbes Jahr lang, daß der andere Teil in der Tat für leidenschaftliche Empfindungen unzugänglich sei. Sie spielten sich mit vielen schönen Phrasen eine Freundschaftskomödie vor, während sie doch in Wahrheit einander längst liebten. –
Staff hätte nun vielleicht seinerseits dieser Komödie ein Ende gemacht, wenn nicht jenes Mädchen, dem er bei sich Zuflucht gewährt hatte, sich ebenfalls in ihn verliebt gehabt und ihm dieswahrscheinlich – auch gezeigt, vielleicht sogar irgendwie gedroht hatte, sich ein Leid anzutun, falls er sich einer anderen Frau zuwende. Intime Beziehungen zwischen ihr und Staff hat es jedoch nie gegeben. Er sah eben in ihr nur seine Schutzbefohlene. –
Das Mädchen muß dann erfahren haben, daß ich nach Rügen gereist war, folgte mir alsbald, ohne Staff von ihren Absichten zu verständigen, suchte meine Bekanntschaft und wollte mich darüber aushorchen, wie Staffs Verhältnis zu jener anderen Dame sei. Eifersucht hatte also Ellen Dorring nach Rügen getrieben. Es – kam ganz anders. – Ellen verliebte sich in mich, sah ein, daß ihre scheinbare Neigung für Staff lediglich aus Dankbarkeit, Bewunderung und etwas auch aus Langeweile entstanden war, verließ Rügen plötzlich und kehrte nach Danzig zurück, um sich mit Staff auszusprechen, das heißt, ihm zu erklären, daß sie in mir das wahre Glück gefunden hätte und daß er ihr beistehen möchte, eine Heirat mit mir trotz der sie umlauernden Gefahren zu ermöglichen.
Daß diese Gefahren weit näher waren, als die Beteiligten ahnten, stellte sich dann in der verflossenen Nacht heraus. –
Staff weilte abends bei Frau Helma Horsten. Von ihr fuhr er mit einem Taxameter heim, um seinen Regenmantel zu holen. Gerade als er durch die Haustür den Garten betrat, schoß der alte Bürstel, der wie immer, so vermute ich, in Begleitung der Bulldogge den Garten abgesucht hatte, jenen farbigen Seemann tatsächlich in Notwehr nieder. Und hiermit setzte nun die dramatische Verwicklung ein. –
Staff und Bürstel wußten sofort, als sie den Toten sich näher ansahen, daß der zu den Verfolgern Ellens gehörte. In ihrer ersten Bestürzung werden sie, um Zeit zu gewinnen, die Leiche in den Pavillion geschafft haben; Staff in der Befürchtung, daß durch diesen Toten das sorgsam behütete Geheimnis, eben Ellens Unterbringung in dem Speicher, enthüllt werden und so auch zur Kenntnis jener anderen Dame, nämlich Frau Helma Horstens, gelangen könnte, wodurch er, wie er weiter fürchtete, jede Aussicht verlieren würde, sie je für sich zu erringen, da sie ja notwendig annehmen müßte, zwischen ihm und der bei ihm heimlich wohnenden Ellen hätten vertrauteste Beziehungen bestanden. –
Kurz, mein Freund Heinz vermochte in seinem furchtbaren Schreck den in seinem Garten geschehenen Totschlag aus Notwehr die Sachlage so wenig klar zu überschauen, daß er nun geradezu Dummheit auf Dummheit beging. –
Bei mir daheim hätte er die beste Gelegenheit gehabt, mir sein Herz auszuschütten. Ich gab ihm mein Saßnitzer Tagebuch zu lesen. Was tat er?! –
Wohl immer nur aus Angst, Frau Horsten zu verlieren, wenn die Wahrheit an den Tag käme, lief er mir davon und – den Beamten in die Arme, die ihn dann nach dem Präsidium brachten.
Dann wird der Tote gefunden. Auch jetzt ist Staff so blind verrannt in sein Bestreben, die Wahrheit weiter zu verschleiern, daß er die Hälfte zugibt, die andere Hälfte – Ellens Aufenthalt in dem Speicher – verschweigt, ableugnet.“
Graachten machte eine kurze Pause, begann dann zu berichten, wie er in Begleitung Helmas jenes Boot verfolgt und nachher festgestellt habe, daß der Dreimaster ein Holländer sei, einem Herrn van Droopen gehöre und aus Batavia mit einer Ladung Bananen vor einer Woche hier eingetroffen sei.
„Also ein Schiff aus Niederländisch Indien,“ fuhr er fort, „aus der Nähe der Insel Borneo, meine Herren. Und das Boot mit den beiden Männern hatte an diesem Dreimaster angelegt! Mithin waren an Bord des ‚Pieter van Droopen‘ die Feinde Ellens zu suchen. Das stand für mich fest.“
Er griff jetzt in die Tasche und holte das Postkartenbild hervor. „Ellen hatte mir nun weiter als Widmung hier auf die Rückseite geschrieben:
Wenn Tapayan Sampit heimgekehrt ist, wird Balian Tschawa Dein für immer werden.
Ellen v. Dr.
– Ellen v. Dr. – Natürlich Ellen van Droopen! Sie hat mir schon eingestanden, daß dies ihr richtiger Name ist. – Tapayan nennt man nun uralte Gefäße, die die Dajak auf Borneo als heilig verehren und denen sie besondere Fähigkeiten zuschreiben. Sampit wieder ist ein Distrikt im Dajakgebiet. Tapayan Sampit mithin ein heiliges Gefäß aus diesem Distrikt. Balian aber ist die Bezeichnung für die Zauberinnen der Dajak, die gleichzeitig Priesterinnen und als solche Bewahrerinnen der heiligen Tapayan sind. Tschawa muß Ellens Name unter den Dajak gewesen sein. –
Die Widmung besagte also für mich: Staff hat damals in Borneo nicht nur Ellen befreit, sondern auch gleichzeitig eines der heiligen Gefäße mitgenommen.
Meine Herren, nun noch das Letzte – der Überfall auf Ellen. Sie wird einen Schlüssel zu einer der Speichertüren gehabt haben, hat sich gestern abend in den Speicher und ihre Wohnräume heimlich einschleichen wollen, stieß dabei auf einen ihrer Feinde, der dort schon eingedrungen war und der dann wohl durch den Blitzstrahl, der das Gebäude traf, verscheucht worden sein dürfte, sonst hätte er die Gefesselte vermutlich mitgenommen. Hätte er sie nur töten wollen, würde ein Messerstich genügt haben.
So – ich bin zu Ende. – Mein lieber Heinz, nun ist es an dir, uns den Rest aufzuklären. – Bitte! – Ich möchte dir vorher nur noch sagen, daß die bewußte Dame deine Gefühle genau so innig erwidert und dich sehnsüchtig hier in der Nähe erwartet –“
Staff war aufgesprungen. „Bert – ist das wahr?“ rief er.
„Natürlich ist’s wahr! Alterchen, wenn du nicht deine ruhige Überlegung so vollständig verloren gehabt hättest, wäre Frau Helma ohne all diese Aufregungen dein geworden. – Setz’ dich wieder. Wir sind verteufelt neugierig auf dein Borneo-Abenteuer.“
Staff blieb stehen. „Was gibt’s da viel zu erzählen?! – Bürstel, ein malaiischer Führer und ich waren tief in den Bezirk Sampit eingedrungen trotz der Warnung des letzten holländischen Militärpostens. Eines Abends beobachteten wir von einem Versteck aus ein Dajakdorf in einem felsigen Tale und wurden Zeugen, wie die braune Bande ein Weib nach einer Felsplatte schleppte, in der sich eine Öffnung befand. Sie stießen die Frau in das Loch hinein, vollführten noch allerlei wilde Tänze und anderen Hokuspokus auf der Felsplatte und zogen wieder ab, ließen aber neben der Öffnung ein hohes Tongefäß und die noch zuckenden Leiber dreier Affen zurück, denen sie die Kehlen durchschnitten hatten, so daß das Blut in das Felsloch hineinfloß.
Ich kletterte an einem schnell geflochtenen Lianenstrick in die Höhle hinab und holte das Mädchen gerade noch zur rechten Zeit heraus, denn in dieser natürlichen Grotte hauste eine ganze Anzahl der giftigsten Schlangen, die auf Borneo vorkommen. Das Mädchen war durch einen Trank bewußtlos gemacht worden, bevor die braune Gesellschaft sie zu den Schlangen hinabgeschickt hatte.
Wir nahmen die Gerettete mit, aber auch das Tongefäß, das ich als ein sehr reich verziertes Tapayan erkannt hatte. Die Dajak verfolgten uns, büßten durch unsere Gewehre gut ein Dutzend ihrer Leute ein und schienen uns dann in Ruhe lassen zu wollen.
Das Mädchen erlangte erst am dritten Tage das Bewußtsein wieder, erzählte mir dann, daß sie Waise und von ihrem Onkel Pieter van Droopen als Sklavin den Dajak verkauft worden sei, da dieser sich ihr Vermögen habe aneignen wollen. Es war ihr dann jedoch gelungen, die Freundschaft einer der Balian, der Zauberinnen, zu erringen, und bald wurde sie selbst Priesterin bei den Dajaken.
Erst als ihre braune Freundin starb, setzte ihr Onkel Pieter es durch, daß sie zu Ehren der in der Höhle hausenden Geister feierlich geopfert wurde. –
Ellen warnte mich, den holländischen Behörden Anzeige zu erstatten. Ihr Onkel hätte überall gute Freunde, und es könnte leicht geschehen, daß ich heimlich beseitigt würde. Außerdem riet sie aber auch deshalb zu allergrößter Vorsicht, weil die Dajak alles daransetzen würden, das heilige Gefäß, dessen Verlust für ihr Dorf dauerndes Unheil bedeutete, zurückzuerlangen.
Die jetzigen Ereignisse haben ja auch gezeigt, daß die Dajak tatsächlich keine Mühe gescheut haben, dieses Tapayan sich wieder zu verschaffen. Pieter van Droopen aber mußte daran liegen, seine Nichte erneut in seine Gewalt zu bekommen, die, so lange sie frei war, jederzeit bei den holländischen Behörden gegen ihn die schwersten Anschuldigungen vorbringen konnte. –
Ich hätte das heilige Gefäß am liebsten irgendwo zurückgelassen. Dagegen hatte Ellen jedoch auf Grund ihrer genauen Kenntnis der Dajaksitten einzuwenden, daß wir drei – Ellen, Bürstel und ich – dann nie mehr unseres Lebens sicher sein würden. Den Verlust des Tapayan würden die Dajak furchtbar rächen. Wir mußten die heilige Urne also notwendig mit nach Deutschland nehmen, wohin wir nun unter allen nur irgend erdenklichen Vorsichtsmaßregeln reisten.
Hier in Danzig wollte ich Ellen etwa ein halbes Jahr verborgen halten. Dann, so hoffte ich, würden wir irgend welche Verfolger nicht mehr zu fürchten haben, vor denen gerade Ellen in ständiger, nervenaufreibender Angst lebte, so daß sie in den ersten vier Monaten tatsächlich nur abends tief verschleiert sich in meinen Garten wagte. Ellens sehnlichster Wunsch war es, daß wir uns, falls wir hier etwas von einer Verfolgung durch die Dajak gewahr würden, mit diesen gütlich einigten, das heißt, ihnen das Tapayan freiwillig aushändigten. Sie meinte stets, wenn das heilige Gefäß erst wieder im Besitze der rechtmäßigen Eigentümer wäre, dann dürfte sie frei aufatmen. Ihren Onkel Pieter fürchtete sie weit weniger als die braunen Kopfjäger und deren vergiftete Blasrohrpfeile. Deshalb auch wohl der Satz in ihrer Widmung auf dem Bilde: ‚Wenn Tapayan Sampit heimgekehrt ist –‘ –
Alles weitere hast du ganz richtig kombiniert, lieber Bert. – Meine Angaben wird der treue Bürstel Wort für Wort bestätigen, ebenso Ellen, die sich tatsächlich in mich verliebt hatte und die – ihre Nerven waren stark überreizt – sich zu töten drohte, falls ich etwa Frau Helma meine Liebe gestehen würde.“
Petrich trat jetzt auf Staff zu. „Mein lieber Herr Staff, Sie hätten uns allen viel Unangenehmes erspart, wenn –“
„Nachher, Herr Regierungsrat, nachher!“ rief Graachten dazwischen. „Bitte kommen Sie jetzt mit zu Ellen –“
Im Nu war Staff allein. – Nicht lange. Hinter der Tür der Aktenkammer regte es sich. Frau Helma trat heraus, ging auf Staff zu.
Der begriff alles – alles! Und – wortlos riß er sie nun an seine Brust, bedeckte ihr Gesicht, ihren Mund mit heißen Küssen, ließ sie nicht mehr los, küßte sie wie ein Verschmachtender, bis sie ihn lächelnd von sich drängte und sagte:
„Also so – so sieht unsere Freundschaft aus?!“
„Ja, so!“ Und abermals zog er sie an sich, suchte ihre weichen Lippen. –
In Ellens Krankenzimmer hörten Petrich und Würckler noch mehr Einzelheiten über die Errettung der Balian Tschawa durch Heinz Staff, hörten nun auch, daß es Pieter van Droopen selbst gewesen, der sich in den Speicher eingeschlichen gehabt hatte und der mit Hilfe eines seiner braunen Matrosen, eines Dajak, Ellen gefesselt und ihr den Opiumtrank gewaltsam eingeflößt hatte. Das heilige Gefäß war in Ellens Wohngemach aufgestellt gewesen. Die beiden hatten es dann mitgenommen. –
Hiernach war es klar, daß sich in dem Boote, das nachher von Frau Helma und Graachten beobachtet worden war, sich zwei Leute befunden hatten, die sich nach dem erschossenen Dajak hatten umsehen sollen. –
Sofort begab sich nun der Inspektor mit vier Beamten nach dem Dreimaster. Dieser hatte bereits einen Schlepper neben sich und wollte gerade in See gehen. Als die Beamten an Deck kamen, flüchteten Droopen und die drei an Bord befindlichen Dajak – die übrige Besatzung bestand aus Weißen, die nichts von alledem wußten – in die Deckkajüte, verschanzten sich hier und begannen auf den Inspektor und seine Leute zu feuern. Würckler machte kurzen Prozeß, ließ Militär herbeiholen und die Kajüte durch Gewehrkugeln wie ein Sieb durchlöchern, da die Eingeschlossenen sich nicht ergeben wollten. Sie wurden dann auch nur als Leichen herausgeholt. –
Das Ende des ‚Rattenkönigs‘ war mithin einerseits recht blutig, anderseits aber auch ein sehr erfreuliches, denn es schuf zwei glückliche Paare, deren Liebesgeschichte nicht gerade alltägliche war.
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