Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 424
Perlen und Tränen
Originalroman von
W. v. Neuhof.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Nachdruck verboten. - Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. - Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
Seebad Zoppot. – Die Riviera des Ostens.
Die beiden Freunde und die überschlanke Frau Geraldine standen am Ende des Seestegs und beobachteten, wie der Tourendampfer aus Hela unten an der Anlegebrücke des Steges festmachte.
Frau Geraldine Raabner wandte sich jetzt an die beiden Herren.
„Bitte, wir wollen gehen. Mir wird der Lärm hier zu viel,“ sagte sie müde, und ihr blasses, mageres Gesicht mit den großen, so seltsam brennenden Augen verriet deutlich, wie abgespannt sie war.
Rolf Raabner meinte besorgt: „Dina, du hast dir heute auch zu viel zugemutet! Erst die Wanderung nach Olivia, und jetzt noch –“
Sie hatte mit einem matten Lächeln abgewinkt.
„Schließlich muß ich dann ja auf alles verzichten, Schatz!“
Holger Balting schritt voran und schaffte Platz für das junge Paar. Er tat es nicht gerade rücksichtsvoll. Manche ärgerliche Bemerkung fiel. Aber an Holger prallte das alles ab wie lächerliche Papierschneeballen. Wenn er jemand schärfer musterte, schloß sich jede Lippe. Von seiner Erscheinung ging ein überlegenes Kraftbewußtsein aus, dem niemand zu trotzen wagte.
Dann wandten sich die drei, Frau Dina ging in der Mitte, dem Kurgarten zu.
Die Kapelle spielte gerade Peer Gynt von Grieg. Dina hatte sich in ihres Gatten Arm eingehängt. Holger Balting lauschte den schwermütigen Melodien, warf hin und wieder einen scheuen Blick auf das zarte Antlitz der jungen Gattin seines Freundes.
Aus diesem Blick sprach mehr als Sorge, sprach eine mühsam verhehlte Angst und eine noch mühsamer verheimlichte Zärtlichkeit.
Frau Dina hüstelte. Auf ihren farblosen Wangen erschienen kreisrunde, rote Flecken. Ihre Augen wurden feucht. Tränen schwammen hinter den langen Wimpern. Es waren Tränen, die die übergroße Anstrengung, den Hustenanfall zu unterdrücken, hervorgelockt hatte.
Rolf Raabner preßte ihren Arm fester an sich.
„Ich bringe dich heim, Schatz. Du mußt ruhen,“ meinte er zärtlich. „Holger, du entschuldigst uns. – Wiedersehen!“
Holger küßte Dina die schmale Hand. Und sog den Duft ihrer Haut wie immer halb betäubt ein. –
Seine Stimme klang verändert, als er ihr nun mit ein paar teilnehmenden Worten lebewohl sagte.
Dann schaute er dem Paare nach. Und – wie so oft überkam ihn auch jetzt wieder dieses unklare Gefühl halb Eifersucht, halb Haß. Der Haß galt dem Manne, der ihm Geraldine geraubt hatte.
Nein – nicht geraubt! Als er im März aus Amerika zurückgekehrt, lernte er Dina ja bereits als Rolfs Gattin kennen. – Und dann waren die traulichen Stunden in dem bescheidenen Künstlerheim Rolf Raabners ihm nur zu bald eine süße Qual geworden; dann war diese Kraftnatur, dieser stets so ironische Lebensphilosoph, der Sklave einer sinnlosen Leidenschaft geworden.
*
Raabners wohnten im ersten Stockwerk einer weißen Villa am Südpark; zwei Zimmer mit großem Balkon, vor dem die hohen Kiefern des Parkes rauschten und ganz nahe die See brandete.
Er hatte Dina den Liegestuhl zurechtgerückt und sie dann sorgsam in Decken gehüllt, ihr weiche Kissen unter den Kopf geschoben und dabei einen Kuß auf ihr aschblondes Haar gedrückt.
Nun holte er einen Korbsessel für sich und nahm neben ihr Platz.
Der Balkon war so geräumig, daß auch noch ein Tisch neben dem Liegestuhl stehen konnte. Das Stubenmädchen der kleinen Pension hatte das Abendbrot bereits aufgetragen. – Dina aß mit halbem Widerwillen ein weiches Ei und ein Brötchen mit Schinken. Dann reichte sie Rolf den Teller und schaute ihn bittend an.
Er verstand. Und er zwang sich zu einem Lächeln, meinte:
„Aber nur einer wird bewilligt, Liebling!“
„Zwei – zwei, Schatz! Ich fühle mich so matt,“ flüsterte sie. „Und der Professor hat mir doch alten Kognak erlaubt. Ich soll sogar recht viel trinken.“
Er erhob sich und holte aus dem Zimmer die Karaffe und das Gläschen. Als er Dina den Rücken gekehrt hatte, entspannte sich sein Gesicht gleichsam. Vor Dina spielte er tagaus, tagein Komödie, tat so, als hielte er ihren Zustand für ganz unbedenklich. Und diese stete Verstellung machte ihn gleichfalls krank und fraß an seinen Nerven.
Bevor er auf den Balkon zurückkehrte, füllte er für sich selbst dreimal das Gläschen. Es war alter französischer Kognak, den Holger irgendwo im nahen Danzig aufgetrieben hatte – gleich drei Flaschen, die fraglos sehr, sehr teuer gewesen und die er Dina zum Geschenk gemacht hatte.
Als Dina dann ebenfalls den schweren Kognak getrunken, röteten sich ihre Wangen etwas.
„Der gute Holger!“ sagte sie leise und nachdenklich und blickte in den Park hinaus, wo soeben die elektrischen Bogenlampen aufgeflammt waren. „Er wird sich ohne uns heute sehr langweilen, Schatz,“ fügte sie etwas lebhafter hinzu.
Rolf Raabner hatte auf Dinas letzte Bemerkung hin den Kopf geschüttelt und erwiderte dann nach einer Weile:
„Da kennst du Holger schlecht, Schatz! Er langweilt sich nie. Nur die Menschen langweilen ihn. Wenigstens die, die er so verächtlich als Herdenvieh bezeichnet. Er wird in die Spielsäle gehen und Studien machen. Er meint, unter den Spielern gibt es doch noch hin und wieder einen ‚Charakter‘!“
Dina hatte sich im Liegestuhl aufgerichtet.
Stets, wenn das junge Ehepaar auf Holger Balting zu sprechen kam, wurde Dina lebhaft. – Sie unterbrach ihren Gatten jetzt:
„Schon gut, Schatz, – schon gut! Ich sehe das alles ja selbst! Holger ist ein Original. Und doch – zuweilen ist er mir unheimlich, – wirklich, Schatz! – ‚Unheimlich‘ klingt ja reichlich backfischmäßig. Eine Frau von fünfundzwanzig Jahren sollte solche Ausdrücke vermeiden. Aber – es ist so: er ist mir unheimlich! Er hat eine so unerklärliche Macht über die Menschen –“
„Weil er eine Persönlichkeit ist, Liebling. Man spricht von der Macht der Persönlichkeit – und mit Recht! – Ich lernte Holger vor acht Jahren in Italien kennen. Und – damals sah er genau so aus wie heute – genau! Er ist auch nicht um ein Fältchen älter geworden. – Damals in Monte Carlo war’s, als man ihn verhaftete –“
„ – Verhaftete?! Davon weiß ich ja noch gar nichts!“ rief Dina gespannt. „Weiter – weiter, Rolf! – Weswegen denn?“
„Er sollte im Atlantik-Hotel einem Russen Brillanten gestohlen haben –“
„Unglaublich! – Und dann?“
„Dann begleitete ich ihn zur Polizeiwache und wurde so Zeuge, wie er den Herrn Kommissar, der sich zuerst sehr großartig vorkam, mit eisiger Ruhe abkanzelte. – Dina, diese Szene war geradezu ein geistiger Genuß! – Holger ist geborener Däne, wie du weißt. Zufällig weilte auch der dänische Premierminister zur Erholung in nahen Nizza. Holger kannte ihn persönlich. Und als letzten Trumpf spielte er den Minister aus. – Na – jedenfalls entließ ihn der Kommissar mit vielen Entschuldigungen. Übrigens wurde ein Teil der gestohlenen Brillanten dann bei einem internationalen Hochstapler gefunden, der als Graf im Atlantik wohnte. Der Hochstapler war durch einen seiner Genossen an die Polizei durch eine anonyme Anzeige verraten worden. –
Damals wurden wir Freunde, Holger und ich. Er hat es nie vergessen, daß auch ich meinerseits alles getan hatte, diese unsinnige Verhaftung aufzuheben.“
„Und weshalb ist er so unstät?“ – Dina hatte sich noch weiter vorgebeugt.
„Weshalb?! – Lieber Schatz, ich habe da eine Vermutung, die –“ – er flüsterte jetzt – „die wohl zutreffen wird. Holger muß geheimer diplomatischer Agent sein, denke ich mir. Ich habe da so mancherlei beobachtet, was diese Annahme bestätigt.“
„Etwa ein russischer politischer Agent?“ meinte Dina sinnend und lehnte sich wieder zurück. „Weißt du, Schatz, – das enttäuscht mich eigentlich. Ein Geheimagent, selbst ein diplomatischer, ist doch schließlich auch nur eine Art Spion. Und – und eine solche Tätigkeit und Holger Balting – nein, das ist bei näherer Prüfung kaum zu vereinen!“
„Der Nichtstuer Holger wäre dir also lieber?!“ scherzte Rolf Raabner, indem er ihre Hand ergriff und küßte. „Uns kann es ja gleichgültig sein, was er treibt. – So, nun beurlaubst du mich wohl die gewohnte eine Stunde für meinen Abendspaziergang – auf Wiedersehen, Dina-Liebling, – auf Wiedersehen!“
2. Kapitel.
Der Kampf gegen den Tod.
Rolf hatte kaum die Straße erreicht, als Dina sich auch schon erhob, die Decken von sich warf und den Wohnsalon betrat. In der Linken hielt sie das Kognakglas; mit der Rechten drehte sie das elektrische Licht an.
Die Kognakkaraffe stand auf einem Tischchen neben der Flurtür. Dina füllte das Glas, trank, füllte es abermals.
Und – schrak zusammen.
Es hatte geklopft.
Hastig trank sie das Gläschen leer, stellte es auf den Tisch, fragte dann:
„Sind Sie’s, Anna?“ – Anna war das Zimmermädchen.
„Nein – Holger!“ erwiderte jetzt der draußen Stehende und öffnete gleichzeitig die Tür nur fingerbreit. „Darf ich eintreten, Frau Dina?“
„Aber gewiß!“ rief sie froh. „Gewiß!“ – Und sie streckte ihm die Hand hin und zog ihn fast übermütig ins Zimmer. „Das ist lieb von Ihnen, Holger, daß Sie mir Gesellschaft leisten wollen. Rolf macht seinen gewohnten Abendspaziergang. Sind Sie ihm nicht begegnet?“
Er hatte die Tür zugedrückt. Dann beugte er sich über ihre Hand. Und Dina fühlte, wie heiß dieser Kuß war – von heißen Lippen gegeben, die auf ihrer Haut förmlich brannten.
Er richtete sich wieder auf.
„Ob ich Rolf begegnet bin, Frau Dina?“ meinte er. „Ja und nein! Ich bin ihm begegnet, aber – trat in den Schatten und ließ Rolf vorüber. Er hätte aus Höflichkeit umkehren können. Und – das wollte ich nicht. Ich wollte mit Ihnen allein sein –“
„Sie – Sie sind heute so – so sonderbar, Holger!“ stammelte sie verwirrt. – Sie wußte kaum, was sie sprach.
„Ich bin stets – sonderbar, Frau Dina, stets!“ meinte er ruhig. „Im übrigen finde ich es sehr richtig, daß Sie mehr Kognak trinken, als Rolf Ihnen gestattet, – sehr richtig! So halb und halb bin ich auch des Kognaks wegen hergekommen –“
Dinas Verwirrung hielt an.
„Wollen wir doch Platz nehmen, Holger,“ sagte sie abermals errötend. „Bitte – auf dem Balkon ist es sehr schön –“
„Balkons sind nie der richtige Ort für vertraulichere Aussprachen. Balkons haben Ohren – nämlich die Neben- oder die oberen Balkons! Wenn Sie, Frau Dina, zum Beispiel vorhin auf Ihrem Balkon mit Rolf über mich gesprochen hätten, wäre es – ebenfalls vielleicht – doch sehr unangenehm, wenn, sagen wir, etwa ein Spion diese Unterhaltung mitangehört hätte –“ –
Er lächelte dabei ganz harmlos. „Sie beide hätten ja über Holger Balting recht scharf geurteilt haben können, und man hätte mir dann dies schleunigst –“ – er unterbrach sich. „Aber – das alles ist ja nur ein Scherz, liebe Frau Dina. Also – bleiben wir hier. Setzen wir uns dort in die Korbsesselecke. Ich werde Ihnen die Kissen vom Balkon holen –“
Er eilte schon hinaus.
Dina stand mit hängenden Armen regungslos da. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie.
Nur ein Gedanke war’s, der immer wieder jetzt in ihrem Hirn als scheue Frage aufsprang: ‚Waren diese Andeutungen, die Holger soeben über den Balkon gemacht hatte, wirklich nur ein Scherz?! Hatte er nicht von ‚Spion‘ und ‚scharfem Urteil über ihn‘ gesprochen?! Und – war nicht wirklich der Ausdruck ‚Spion‘ von ihrer Seite gefallen?! – Woher aber konnte er dies wissen – woher nur?!‘ –
Da kehrte Holger schon mit den Kissen zurück. –
„So,“ meinte er, „nun setzen Sie sich, Frau Dina. – Bitte – hier ist auch ein Fußkissen –“
„Nun ist es gemütlicher, Frau Dina –“ – Er nahm ihr gegenüber Platz, rückte den Korbsessel jedoch weit vom Tische ab, so daß sein Gesicht im Schatten lag und er selbst Dinas von rötlichem Licht überflutete Züge bequem beobachten konnte.
Holger Balting schwieg jetzt minutenlang. Dann fragte er unvermittelt:
„Lieben Sie Rolf, Frau Dina?“
Sie lehnte sich weiter zurück. – „Eine seltsame Frage,“ meinte sie und gab sich alle Mühe, etwas Spott in diese Worte zu legen.
„Sie mißverstehen mich vielleicht,“ sagte er eindringlich. „Diese meine Frage wäre ungehörig, wenn ich sie nicht in Ihrem Interesse stellen würde. – Redensarten mache ich nie, Frau Dina! Bei mir ist jedes Wort überlegt – stets! Nur Narren schwatzen darauf los und Betrunkene. Ich bin weder ein Narr noch betrunken. Ich meine es gut mit Ihnen, denn – ich liebe Sie, Dina, – so liebe ich Sie, wie ich noch nie geliebt habe!“
Dina war dem Weinen nahe. Sie hatte den Kopf tief gesenkt. Ihr kam es vor, als gäbe es für Holger Balting keine Geheimnisse, als läge ihre Seele völlig entblößt vor ihm. – Wie hätte er sonst wohl diese Frage zu stellen gewagt, wenn er eben nicht geahnt hätte, daß in dieser Ehe beide Teile entbehrten, beide Teile nur eine Zufriedenheit heuchelten und diese Lüge eines restlosen Glücks mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten suchten?!
„Frau Dina – seien Sie ehrlich!“ klang da seine Stimme bittend und mahnend zugleich aus der verschwommenen Dämmerung heraus. „Frau Dina – Sie wissen: Holger Balting fragt! Und Holger Balting ist nicht der Mann, der einem anderen das Weib raubt! Nein – er erobert sie sich, falls – doch, – antworten Sie mir!“
Dina hatte plötzlich die Hände vor das Gesicht gelegt und schluchzte.
„Sie – Sie sind grausam!“ stieß sie dann hervor. „Sie mißbrauchen Ihre Macht über die Menschen –“
Er stand auf und trat neben ihren Sessel, beugte sich tiefer.
„Frau Dina, antworten Sie!“ flehte er. „Ich weiß, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin. – Frau Dina, es wäre eine Torheit, wenn zwei Menschen, die vielleicht füreinander bestimmt sind, sich nicht ein Glück – ein ganzes Glück erkämpfen wollten!“
Dina ließ die Hände sinken. Ihre Augen blickten Holger fest an.
„Dieser Kampf würde sich kaum lohnen,“ sagte sie mit unnatürlicher Ruhe. „Oder – wollen auch Sie mich etwa glauben machen, daß ich noch lange zu leben habe?! Rolf versucht dies jeden Tag!“ –
Sie lachte bitter auf. „Ich hätte dieses Gespräch nicht fortgeführt, Holger,“ fügte sie fast wehmütig hinzu, „wenn ich eben nicht wüßte, daß ich den Herbst nicht überleben werde! Ich weiß es – weiß es ganz genau! Der gute Rolf ist ja so ungeschickt in seinen Versuchen, Zuversicht zu heucheln! Ich tue, als merke ich dies nicht. Oh – ich merke alles! Gerade wir Kranken haben ja ein so feines Empfinden für Wahrheit und Komödie. –
Da ich nun doch schon zu sprechen begonnen habe, Holger, sollen Sie auch alles wissen. Ich glaube nämlich, daß Sie’s ohnehin schon ahnen! –
Also: mein Interesse für Sie leugne ich nicht ab! Es ist vielleicht das neidvolle Interesse eines siechen Weibes, dessen Charakter dem Übermenschentum zuneigte, an einem Manne von Ihrer besonderen Eigenart. Vielleicht, Holger, vielleicht hätte ich Sie geliebt – lieben gelernt, wenn Sie mir vor drei, vier Jahren begegnet wären. Jetzt – bin ich sicher vor mir selbst! Der Tod steht neben mir. Und dies Bewußtsein hat das Weib in mir getötet. Was hier vor Ihnen sitzt, Holger, ist eine Frau, die lediglich noch in Ruhe zu sterben wünscht. –
So, das wäre das Eine. Und nun Rolf und ich! Der arme Rolf! Wie lange hat es gedauert, bis ich endlich spürte, daß ich ihm – als Weib lästig war! Lästig und – widerwärtig! – Ich habe ihn dann – und das sind jetzt zwei volle Monate bereits, nur noch – als Freund behandelt; ich habe eingesehen, daß das, was mich in seine Arme trieb, auch von meiner Seite nicht die Liebe war, die ich einst in Mädchenträumen erhofft hatte. Wäre es die wahre Liebe gewesen, dann hätte mich ja die Erkenntnis, daß Rolf nur – aus Mitleid mich zu seinem Weibe gemacht hat, innerlich zusammenbrechen lassen müssen. –
Nein – ich brach nicht zusammen! Ich war nur weiser und reifer geworden. Und diese Weisheit macht mich jetzt auch fähig, die Komödie dieser gegenseitigen Lüge stützen zu helfen; diese innerliche Reife wieder hat mir die Schrecken des Todes so weit abgeschwächt, daß ich dem – Ende gefaßt entgegenschaue. –
Rolfs und meine Liebe zueinander war wohl schon damals ein Irrtum, als wir uns verlobten. Wir waren miteinander aufgewachsen, und nichts führt so leicht zu einer Selbsttäuschung der gegenseitigen Gefühle, als eine Jugendfreundschaft. –
So, Holger, – jetzt gehen Sie bitte. Lassen Sie mich allein. Sie sind ein Mensch, der nicht gerade nervenberuhigend wirkt.“ –
Der letzte Satz sollte wieder scherzhaft klingen. Aber der Ton mißlang.
Holger setzte sich und sagte:
„Sie schicken mich fort, und ich – bleibe! Ich muß bleiben! – Frau Dina, Sie rechnen also ganz bestimmt mit Ihrem baldigen Tode; Sie glauben, es gäbe kein Mittel mehr, Sie zu heilen. Es gibt aber doch vielleicht eins! Vielleicht! Haben Sie schon davon gehört, daß Lungenkranke, die sich plötzlich dem Alkoholgenuß im Übermaß hingaben, geheilt worden sind? – Ich könnte Ihnen fünf mir persönlich bekannte Fälle dieser Art aufzählen. – Selbst Ärzte geben dies zu. –
Frau Dina, ich möchte diesen Kampf um Ihre Gesundheit aufnehmen! Rolf würde ja nie damit einverstanden sein. Wollte ich ihm diesen Vorschlag machen, – er würde entrüstet ablehnen, weil er fürchten würde, Ihnen zu schaden. – Ich fürchte dies nicht. Die fünf mir bekannten Fälle waren gleichfalls Frauen; und alle fünf haben gerade zu dem Mittel gegriffen, das sich bereits in Ihrem Besitz befindet, Frau Dina: ganz alter, echter französischer Kognak! –
Frau Dina, ich werde es Ihnen ermöglichen, daß Sie diese Kur ohne Wissen Rolfs vornehmen können, ich werde mir erlauben, Ihnen das Kurmittel zu beschaffen, damit der stärkere Verbrauch Rolf nicht auffällt. Trinken Sie stets überreichlich, sobald Sie sich matt fühlen – überreichlich! Sie können es getrost tun. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Kranke so alten Kognak leicht vertragen. – All das klingt häßlich und abgeschmackt, weil es sich um Alkohol handelt. Und trotzdem: es muß gesagt werden! –
Frau Dina, nun wissen Sie, wie ich Sie mir erobern will! Zunächst sollen Sie gesund werden! Und wenn Sie dann als gesundes Weib die Meine werden wollen, werden Sie mir den besten Lohn gewähren! Um Liebe bettelt ein Holger Balting nicht! Sie brauchen also keine – Aufdringlichkeit zu fürchten. Ich bin Mann – und ein Mann weiß sich zu beherrschen! – Nun, Frau Dina, – Ihre Antwort?“
Es war ganz still in dem dämmerigen Zimmer – so still, daß vom Kurgarten her die Walzerklänge durch die offene Balkontür so deutlich hereindrangen.
„Kennen Sie den Walzer, Holger?“ fragte Dina dann leise.
„Ja –“
„Auch den Text? – Der Text lautet – hören Sie – gerade diese Takte:
Einmal noch lieben, eh’ es vorbei,
Einmal noch lieben, küssen im Mai –
Holger – dieser Walzer ist wie ein Ruf des Lebens, ist die Sehnsucht nach Genuß, Frohsinn, Glück! – Holger, welche Frau in meiner Lage würde Ihren Vorschlag wohl ablehnen?! Keine – keine! Zumal Sie mir diesen Vorschlag als Ehrenmann gemacht haben, was – die Aussichten für später betrifft! – Ich danke Ihnen, Holger! Ich will ehrlich sein: Sie haben es fertig gebracht, in meiner Seele ein winziges Hoffnungspflänzchen zum Keimen zu bringen! – Hören Sie nur den Walzer, Holger! – Oh – ich möchte ja so – so gern wieder gesund werden!“
„Sie werden es, wenn Sie es wollen, Frau Dina! Das ist die Hauptsache: der Wille! – Vergessen Sie das nicht einen Augenblick! In uns schlummern Kräfte, von denen die wenigsten eine Ahnung haben! Wer stets nur sagt: ‚Ich will’s versuchen!‘ der hat stets verspielt! Wer sich selbst jeden Moment zuruft: ‚Ich will’s erreichen – ich will!‘ der ist dem Gelingen schon nahe!“
Er verbeugte sich.
„Gute Nacht, Frau Dina! – Ich freue mich, daß ich nun Rolf Raabner nicht mehr zu hassen brauche! Sie verstehen: eine Liebe wie die meine kann niemals frei von Eifersucht sein! – Auch Sie haben mich in dieser Stunde froh gemacht!“
Ehe sie noch etwas erwidern konnte, drückte er schon hinter sich die Tür ins Schloß. –
3. Kapitel.
Die Spielsäle.
An jenem Abend, als die eigenartig schöne Frau im Spielkasino Holger angesprochen hatte, war Rolf Raabner auf ein junges Mädchen aufmerksam geworden, die an der anderen Seite des Roulettetisches gestanden und das Spiel mit einem Gesichtsausdruck verfolgt hatte, als ob sie für all diese Menschen, die da voller Gier die hüpfende Kugel auf der Drehscheibe beobachteten, lediglich Bedauern empfände.
Diese elegante junge Dame war dann plötzlich verschwunden, nachdem Rolf Raabners Malerauge sich heimlich an dem besonderen Liebreiz dieser feinen Züge eine ganze Weile erfreut hatte.
Er hatte sie nicht vergessen können. Da war in ihrem Gesicht ein bestimmter Zug gewesen – so etwas Müdes, Trauriges, Verbittertes, der zu ihrer kostbaren Gesellschaftsrobe nicht recht paßte. – Er hätte zu gern gewußt, wer sie war. Und dieser Wunsch war heute abend so stark geworden, daß er nicht wie sonst die Strandpromenade entlangwanderte, sondern ins Kasino ging.
Die Säle waren angefüllt mit dem üblichen internationalen Publikum und all denen, die hier im neuen Freistaat Danzig dem Spielteufel bereits so fest verfallen waren, daß sie Abend für Abend wiederkehrten, bis sie sich entweder ruiniert hatten oder, falls es energische Naturen waren, wenigstens beim Zuschauen den prickelnden Reiz dieses höllischen Lasters durchkosten wollten.
Raabner schlenderte langsam umher.
Er suchte – und fand!
Da stand das dunkelhaarige Mädchen mit dem blaßlila Kleide hinter dem Stuhl derselben schönen Frau, die Raabner für eine Russin hielt und die irgend welche Beziehungen zu Holger hatte.
Raabner blieb an der anderen Seite des Tisches stehen und beobachtete die junge Dame, sah bald, daß sie sich wiederholt zu der Älteren hinabbeugte und ihr irgend etwas zuflüsterte, was stets mit unwilligem Blick und Achselzucken beantwortet wurde.
Er hatte den Eindruck, daß das Mädchen die Ältere vom Spiel zurückzuhalten suchte. –
Dann wurde er angesprochen. Vor ihm stand ein Herr mit grauem Spitzbart, groß, schlank, kluges Gesicht, nicht mehr ganz jung, tadellos angezogen.
„‘n Abend, Herr Raabner!“ hatte Konsul Doktor Merk ihm ins Ohr geflüstert.
Die Herren drückten sich die Hände.
Sie waren vom Roulettetisch zurückgetreten. Der Konsul erzählte, daß er erst mit dem Abendzuge eingetroffen sei.
„Ich bin nicht zum Vergnügen hier,“ fügte er hinzu. „Meine Schwägerin Sidonie hat mir das Leben jetzt derart verekelt, daß ich ihr kurzer Hand den Stuhl vor die Tür gesetzt habe. Sie kennen sie ja, Herr Raabner!“
„Leider!“ meinte Rolf ehrlich. „Als Sie mir vor einem Jahr als halbem Zwangsmieter die Mansarde Ihrer Villa einräumten, Herr Konsul, war es Fräulein von Pirwack, die mir –“
„Weiß schon, weiß schon, lieber Raabner! – Na – dies Schreckensregiment hat nun aufgehört. Ich will mir hier, in aller Stille erst mal, meine neue Hausdame ansehen. Das heißt: sie soll es erst werden, falls sie mir zusagt. Es ist eine Deutschrussin, die mit ihrer Tochter jetzt hier in Zoppot wohnt, nachdem sie in Kurland ihr ganzes Vermögen eingebüßt hat, – eine Witwe namens Obranow. Sie hatte sich auf eine Zeitungsannonce hin gemeldet und auch gleich durch ihren Brief – doch, das dürfte Sie kaum interessieren, Herr Raabner. –
Wie wär’s, wenn wir hier an diesem Tischchen Platz nehmen würden? Haben Sie noch eine Weile Zeit für mich?“
„Gewiß, Herr Konsul – gewiß –“
Doktor Merk bestellte eine Flasche Rotwein.
Der Konsul füllte die Gläser.
„Ihr Wohl, Herr Raabner, – Ihre Frau Gemahlin einbegriffen!“
„Danke verbindlichst. Prosit, Herr Konsul –“
Rolf Raabner trank. Und zufällig glitt sein Blick jetzt wieder nach dem Roulettetisch hinüber.
Dieser Blick wurde starr.
Da – da drüben beugte sich gerade Holger Balting zu der älteren Dame hinab.
Diese stand sofort auf. Ihr Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck von Bestürzung und verbissenem Ärger. Sie eilte rasch davon. Die Jüngere war bereits verschwunden.
Holger aber hatte das Monokel ins Auge gedrückt und musterte gelangweilt die Spieler.
Während der Konsul jetzt mit recht bissigen Bemerkungen über die Spielwut im allgemeinen und die einzelnen Spielertypen im besonderen herzog, beobachtete Raabner heimlich den Freund weiter, der noch immer dort drüben stand und mit einem verächtlichen Lächeln ein paar Kriegsschieber musterte, die hier in Zoppot einen Teil ihrer ergaunerten Millionen loszuwerden sich bemühten.
„Sie sind merkwürdig zerstreut,“ lachte der Konsul jetzt, der bereits das dritte Glas des schweren Rotweins trank.
Holger war soeben davongeschlendert.
Rolf Raabner entschuldigte sich etwas verwirrt bei Doktor Merk, konnte aber den Satz nicht zu Ende führen.
Am Roulettetisch hatte jemand laut gerufen:
„Ich bin bestohlen worden. – Hier – dies ist nicht meine Brieftasche! Dies Ding gleicht der meinen in Größe und Farbe. Aber es ist nur Zeitungspapier darin!“
Es war einer der drei Schieber, ein dicker, kleiner Mensch mit fahlem Gesicht.
Sehr bald hatte sich um den Tisch ein dichter Kreis von Neugierigen gebildet.
Der Schieber brüllte noch lauter: „Achtzig Tausendmarkscheine befanden sich in der Tasche! – Hier hinter mir hat ein junger Mensch gestanden! Die Türen müssen geschlossen werden! Der Dieb kann noch nicht weit weg sein!“
Merk und Raabner waren gleichfalls näher getreten.
Die brutale, krächzende Stimme des kleinen Dicken wurde jetzt durch ein helleres Organ abgelöst.
Derselbe Herr, den der Schieber soeben verdächtigt hatte, drängte sich durch die Menge und hatte einem der Beamten der Spielbank zugerufen:
„Nur ich kann von diesem Manne da gemeint worden sein! Mein Name ist Glynbar – Baron Edgar von Glynbar. Ich verlange, daß diese Sache sofort aufgeklärt wird. Ich habe die Spielsäle nicht verlassen, habe nur etwa drei Minuten dort an jenem Tischchen gesessen! Der Kellner, der mir den Likör brachte, wird dies bezeugen können.“
Der Kellner tauchte schon neben dem Beamten auf und bestätigte dies. Andere Spieler meldeten sich, die bezeugen konnten, daß der junge Baron tatsächlich erst vor wenigen Minuten den Roulettetisch verlassen und sich dort an jenes Tischchen gesetzt hatte.
Der Baron verlangte eine sofortige Durchsuchung seiner Person. Sein Deutsch war hart und verriet den Ausländer. Er leerte seine Taschen. Der Beamte befühlte mehr zum Schein seine Kleider.
„Stellen Sie den Namen dieses Mannes fest!“ sagte der Baron dann fast befehlend zu dem Beamten. „Ich werde ihn wegen Beleidigung anzeigen!“
„Plemert – Plemert heiße ich!“ schnaubte der Dicke. „Ich wohne im Metropol Hotel.“
Ein Kriminalbeamter war jetzt hinzugetreten, der nochmals sowohl den dicken Plemert, den Baron als auch die Zeugen ausfragte.
Plemert mußte zugeben, daß er seine Brieftasche vor einer Viertelstunde zum letzten Mal geöffnet hatte, bevor er den Austausch der Taschen bemerkte.
„Dann ist der Dieb längst aus den Sälen heraus,“ meinte der Kriminalbeamte. „Herr Baron – für alle Fälle: Wo wohnen Sie?“
„Pensionat Wernicke, Wäldchenstraße, – seit drei Wochen,“ erklärte der Baron gelangweilt. „Im übrigen standen neben mir noch mehr Leute, die an den Köpfen der sitzenden Spieler vorüberlangten –“
Außerhalb des dichten Kreises jetzt eine neue Stimme, die Holger Baltings:
„Hier – diese leere rote Brieftasche fand ich soeben in einer Ecke der Garderobe. Sie lag ganz offen da, war nur in Zeitungspapier eingewickelt!“
Es war Gustav Plemerts Tasche. Aber – die Tausendmarkscheine fehlten.
„Dieser Diebstahl ist natürlich vorbereitet gewesen,“ erklärte der Kriminalbeamte. „Der Dieb kannte Ihre rote Tasche und hat sich eine ähnliche besorgt.“
„Billige Weisheit!“ flüsterte Merk dem Maler zu. „Kehren wir an unseren Tisch zurück. – Herr Balting – hierhin!“
Balting kam näher. Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Er begrüßte den Konsul.
Rolf Raabner verabschiedete sich.
„Sie haben jetzt ja Gesellschaft, Herr Konsul. Und fraglos interessantere als die meine. – Auf Wiedersehen –“ –
Als er nach Hause kam, war Dina bereits zu Bett gegangen und schlief ganz fest. Er beugte sich über sie und lauschte den schweren rasselnden Atemzügen.
Sie hatte den Mund halb geöffnet. Und er spürte, daß ihr Atem so scharf nach Alkohol roch.
Sollte sie etwa leichtsinnigerweise allzu viel Kognak getrunken haben?! Sie hatte sonst doch einen so leisen Schlaf! Und heute erwachte sie nicht, obwohl er nicht einmal besonders leise das Zimmer betreten hatte?
Er ging in den Wohnsalon zurück. – Nein – die Kognakkaraffe war genau so weit gefüllt wie vorhin. Es konnte höchstens eine Kleinigkeit fehlen.
Er beruhigte sich wieder und legte sich dann ebenfalls zu Bett. Auch jetzt wurde Dina nicht munter. Daß sie eine der vollen Kognakflaschen entkorkt und die Karaffe nachgefüllt hatte, ahnte Rolf nicht.
Dina schlief bis neun Uhr morgens. Rolf war bereits aufgestanden. Dina war so schlaftrunken, daß sie nun aufrecht im Bett saß und sich nur ganz langsam auf die Vorgänge des verflossenen Abends besann.
Dann huschte ein Lächeln über ihr mageres Gesicht hin.
Nein – es war kein Traum! Holger Balting war gestern abend wirklich bei ihr gewesen! Und – seltsam! – in dieser Nacht war zum ersten Male seit vielen Wochen der so stark schwächende Nachtschweiß ausgeblieben! Sollte das die heimliche Kur bereits bewirkt haben?! – Sie konnte nicht recht daran glauben. Aber – sie erhob sich nun doch mit einem frohen Gesicht der Zuversicht, kleidete sich schnell an und ging auf den Balkon.
Dina setzte sich Rolf gegenüber. Das Stubenmädchen brachte das Frühstück. Er erzählte ihr von dem Vorfall im Kasino – von dem dicken Plemert und von der Russin, die vielleicht –
Da unterbrach Dina ihn. Ihr waren Holgers Worte über die Ungeeignetheit von Balkons zu intimeren Gesprächen eingefallen.
„Leise, Rolf!“ meinte sie. „Man kann hier ja nie wissen, ob man nicht belauscht wird.“
„Hm – eigentlich hast du recht –“
Die Unterhaltung wurde in halbem Flüsterton fortgesetzt.
Nachher bat sie ihn, er möchte fortan doch im Wohnsalon schlafen; sie sei so nervös; es störe sie, wenn er morgens früher als sie sich ankleide.
Rolf nickte eifrig. „Gern, Liebling, gern! Wir lassen gleich nachher das eine Bett in den Salon stellen.“ –
Er ging dann baden. Und als er den Park durchschritt, stand Dina vor dem Tischchen und füllte ein Becherglas mit dem würzig duftenden alten Kognak.
Eine Viertelstunde später kam Balting selbst mit einem länglichen Paket. Er küßte Dina die Hand.
„Ich habe es eilig, Frau Dina,“ sagte er. „Hier sind zwei Flaschen eines noch besseren Kognaks. Ich habe mich mit Konsul Merk im Familienbad verabredet. Wie haben Sie geschlafen?“
„Gut. – Ich danke Ihnen herzlich, H…“– Sie wollte Herr Balting sagen, überlegte sich aber schnell, daß sie diese förmliche Anrede vor Rolf doch nicht aufrechterhalten könne. Rolf würde natürlich fragen, weshalb sie plötzlich das freundschaftliche Holger aufgegeben hätte. Und – den wahren Grund hätte sie ihm nie nennen können. – Sie beließ es also bei ‚Holger‘ wie bisher.
„– herzlich, Holger. – Waren Sie gestern noch lange mit Merk zusammen? Und – hat er den Tod seiner Gattin nun völlig verwunden?“
„Vollständig! Das war wohl auch so eine Ehe, in der beide Teile sich nur einbildeten, restlos glücklich zu sein. Merk und ich waren bis zwei Uhr morgens in der Metropol Bar. Es ging dort außerordentlich fidel her. – Sie sollten jetzt an den Strand gehen, Frau Dina. Es ist ganz windstill. Legen Sie sich in die Sonne und versuchen Sie zu schlafen.“
Sie lächelte. „Ich werde sehr bald müde werden –“ – Sie deutete auf das Becherglas und errötete flüchtig. „Man schämt sich fast, daß man zu solchen Mitteln greift, um das fliehende Leben festzuhalten –“
Holger blickte sie jetzt mit einer so tiefen Zärtlichkeit an, daß es sie warm überrieselte.
In diesem Blick war nichts von Begehren, war nur sorgende Liebe und stille Freude.
Holger flüsterte denn auch innig: „Ich bin so froh, daß Sie gesund werden wollen, Frau Dina! Sie wissen: Der Wille muß dabei sein! Und ich merke: Sie wollen!“
Dann küßte er ihr wieder die Hand und schritt hinaus.
4. Kapitel.
Obranows.
Im zweiten Stockwerk der Villa, in deren erster Etage das Pensionat ‚Parkblick‘ sich befand, wohnte die alte Frau Oberstleutnant Sevelke, die von ihrer großen Wohnung vier Zimmer möbliert vermietet hatte.
Als Holger Balting Frau Dina lebewohl gesagt hatte, blieb er im Treppenflur ein paar Sekunden stehen und ging dann die Treppe empor, bog nach links ab und klopfte nun leise an eine Tür, an der eine Karte hing:
Doktor Hugo Winter
Privatgelehrter
Diese Tür gehörte zu dem einzigen Zimmer der Sevelkeschen Wohnung, das Flureingang hatte. – Doktor Winter hatte es vor vier Wochen als Kurgast gemietet. Er war ein sehr angenehmer Herr, außerordentlich anspruchslos und wortkarg. Er hatte beim Mieten auf jede Begegnung verzichtet, brachte sich sein Zimmer selbst in Ordnung und war fast nie zu Hause. Nur etwas ängstlich war er. Er hatte sich auf eigene Kosten eine Schloßsicherung in das Türschloß einnieten lassen. Er fürchtete, bestohlen zu werden. –
Holger Balting schaute sich jetzt um. Dann stellte er sich so, daß er das Türschloß verdeckte, führte schnell den kleinen Sicherheitsschlüsel ein und öffnete, trat in den Raum und schloß von innen ab.
Das Zimmer war einfenstrig. – Wenn man sich zum Fenster hinauslehnte, konnte man rechts unten bequem den Balkon des Ehepaares Raabner überblicken. –
Nach einer Viertelstunde verließ der alte, etwas hinkende Doktor Winter die Villa und schritt, sich schwer auf seinen Stock stützend, durch den Südpark der nahen Wäldchenstraße zu.
Hier gab es noch eine Menge blitzsauberer alter Fischerhäuschen, tiefe Höfe, in denen gleichfalls weißgetünchte Häuschen standen, und elende Stallbaracken, deren Wände mit Netzen bespannt waren.
In einen dieser Höfe nahe der See bog der alte Herr ein. Dann klopfte er recht kräftig gegen die Tür eines Häuschens, dessen Dach noch mit Stroh gedeckt war.
An der Tür war ein kleines Porzellanschild befestigt:
Helene Obranow
Sprachlehrerin
Die Tür tat sich nach innen auf. Winter nickte der stattlichen, pikanten Frau, die ihm geöffnet hatte, kurz zu.
In dem Stübchen linker Hand vom Flur herrschte peinliche Sauberkeit. Die Möbel waren recht einfach und zusammengewürfelt. An dem einzigen Fenster saß ein schlankes, junges Mädchen und stickte.
Winter schaute sich prüfend um, sagte dann kurz:
„Guten Morgen, Lexa –“
Das Mädchen erwiderte scheu: „Guten Morgen, Herr Doktor –“
Die pikante Frau hatte die Stubentür geschlossen und blickte Winter noch scheuer an, als dies Lexa getan hatte.
Winter trat auf sie zu.
„Hatte ich Ihnen nicht verboten, die Spielsäle zu betreten?“ sagte er kurz. „Wenn Sie nochmals ungehorsam sind, können Sie zusehen, wie Sie allein sich durchschlagen! Verstehen Sie mich!“ –
Seine Stimme schwoll etwas an. „Sie hätten alles verderben können! Ich rechnete damit, daß er zunächst hier an Ort und Stelle Erkundigungen einziehen würde. Wenn er Sie nun gestern gesehen und heute dann wiedererkannt hätte?!“
Die Obranow senkte nur den Kopf. Zu erwidern wagte sie nichts.
„Mit dem Aussehen der Stube hier bin ich zufrieden,“ fuhr Winter weniger scharfen Tones fort. „Nur – es muß gelüftet werden – sofort! Dieser Parfümgeruch erinnert zu sehr an Halbwelt. – Lexa, Sie werden ein paar Tannenzweige holen und räuchern – sofort!“
Alexandra Obranow legte die Stickerei weg.
Sie blickte Winter jetzt fast haßerfüllt an.
„Gut – ich hole Tannenzweige! Aber – mit nach Berlin fahre ich nicht – niemals!“ stieß sie hervor. „Sie können mich dazu nicht zwingen! Ich – habe dieses Leben satt! Ich will –“
„Lexa!“ warnte die Obranow ängstlich.
Winter zuckte die Achseln. „Lassen Sie Lexa doch erst mal aussprechen, Helene!“ meinte er und setzte sich in den verschossenen Plüschsessel. „Also, Lexa, weshalb – wollen Sie nicht mehr?!“
„Weil ich mir mein eigenes Leben aus eigener Kraft aufbauen möchte!“ rief sie fast schrill. „Weil ich anderes vom Leben ersehne als diese – diese – stete Angst vor dem Ende! Und das Ende wird kommen! Auch für Sie, Herr Doktor!“
„Und – was ersehnen Sie vom Leben?“ fragte Winter gelassen.
„Das – das ist meine Sache! Das geht Sie gar nichts an! Wenn Sie schon Mama und Jutta in – in Ihren Klauen haben – mich nicht – mich nicht! Ich kann mich jeden Moment freimachen, denn – ich scheue die Arbeit nicht, ich hänge nicht am Putz, Luxus und –“
„Das weiß ich, Lexa!“ sagte Winter milden Tones. „Das weiß ich! – Unsere Beziehungen werden ohnedies bald aufhören, Lexa. Es ist so. Warten Sie bis zum Herbst mit ihren Selbständigkeitsplänen. Dann werde ich Ihnen helfen, das neue Leben zu beginnen. Sie kennen mich, Lexa. Ich verspreche nichts, was ich nicht auch halte. –
Nach Berlin müssen Sie unbedingt mit. Wir brauchen Sie dort. Berlin ist aber auch – das Letzte! – Seien Sie verständig, Kind. Ich möchte gerade das bisher so gute Verhältnis zu Ihnen nicht trüben, möchte nicht drohen!“
„Drohen?!“ lachte das junge Mädchen. „Drohen?! Mir?!“
Doktor Winter deutete auf Helene Obranow.
„Zuchthaus!“ sagte er schneidend.
Lexa hatte die Fäuste geballt. Das Slawenblut in ihren Adern meldete sich. Sie schüttelte die kleinen Fäuste gegen Winter.
„Sie – Sie – Satan!“ zischte sie. „Sie – Sie werden dann ebenfalls ins Zuchthaus wandern.“
„Ich?!“ meinte er kühl. „Ich, Lexa?! – Wer bin ich denn, Kind?! Bin ich je zu fassen?! – Ich bin heute der, morgen der! – Nun seien Sie aber wirklich vernünftig, Mädchen! Was ist denn so plötzlich in Sie gefahren, he?!“
Er blickte sie prüfend an, erhob sich langsam, rief leise:
„Gehen Sie hinaus, Helene!“
Frau Obranow gehorchte sofort.
Winter hatte Lexas Hände ergriffen.
„Kind,“ flüsterte er, „nun mal beichten! Was ist geschehen? Was macht Sie so widerspenstig? – Hm – sollte Lexa Obranow plötzlich den Mann gefunden haben, der –“
Das Mädchen war blutrot geworden, schlug den Blick zu Boden.
„So – so!“ fuhr Winter herzlich fort. „Also so steht’s! – Lexa, auch dafür habe ich Verständnis. Sie sind verliebt, Kind!“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Wenn – wenn Sie nur nicht solche Macht über die Menschen hätten,“ preßte sie zwischen den bebenden Lippen hervor. „Der Haß selbst zerflattert, wenn Sie diesen Ton anschlagen! – Ach, fragen Sie mich nicht mehr – ich bitte Sie! Was geht Sie auch mein Herz an! Sie – Sie würden mich ja nie begreifen – nie!“
Sie wurde wieder erregter, wollte ihm ihre Hände entreißen. Aber er gab sie nicht frei.
„Nicht begreifen, Lexa? Weshalb nicht?“ sagte er warm. „Sie sind verliebt. Und weil Sie lieben ist Ihnen dieses Dasein plötzlich zum Ekel geworden. Sie möchten moralisch völlig rein dastehen, um – diese Liebe verwirklichen zu können.“
Sie blickte ihn jetzt so traurig an, daß er unwillkürlich sacht über ihr Haar hinstrich.
Diese zarte, väterliche Liebkosung machte das Mädchen verwirrt.
„Wenn man nur wüßte, wie Sie nun eigentlich sind!“ murmelten sie. „Bald sind Sie hart und brutal, bald wieder fast frauenhaft weich. – Ist das alles nur Komödie?!“
Er achtete nicht auf ihre Worte.
„Lexa – kann diese Ihre Liebe verwirklicht werden?“ fragte er. „Und – wer ist der Mann, der Ihr totes Herz geweckt hat?“
Sie schüttelte den Kopf, trat ans Fenster und erwiderte:
„Selbst eine hoffnungslose Neigung kann etwas Gutes an sich haben. Vielleicht ist dadurch mehr mein Gewissen als mein Herz wach geworden –“
„Ich verstehe!“ meinte Winter leise. „Und – weshalb aussichtslos, Lexa?“
„Das – das müßten Sie am besten wissen!“ stieß sie hervor. Dann eilte sie an ihm vorüber zur Tür hinaus.
Winter schaute ihr nach.
„Ich müßte es wissen – ich?!“ dachte er. „Warum gerade ich?!“
Helene Obranow trat durch die zweite Tür ein.
„Haben Sie noch Befehle, Doktor?“ fragte sie unterwürfig.
„Nur den einen, daß Sie meine Anordnungen künftig aufs genaueste befolgen! – Verstanden! – Vergessen Sie nie, Helene, daß ich Sie und Ihre Kinder vor vier Jahren vor dem Versinken bewahrt habe! Hätte ich mich Ihrer in jener Nacht nicht angenommen, als Sie bereits in dem Freudenhause der Madame Pamphile in Antwerpen ahnungslos angelangt waren, – dann – na, Sie wissen, daß Sie noch heute dort wären! – Das, was ich vorhin Lexa erklärte, ist übrigens keine bloße Redensart gewesen. Sobald wir die Perlen haben, trennen sich unsere Wege für immer. Nur Lexa werde ich noch im Auge behalten. Sie ist mir lieb wie eine Tochter geworden. – Jetzt werde ich draußen warten. Geben Sie sich nachher alle Mühe, recht solide zu wirken, Helene. Es steht heute viel auf dem Spiel, sehr viel –“
Er zog ein Päckchen Banknoten aus der Tasche und warf es auf den Tisch.
„Hier ist auch Euer Anteil – vierzigtausend Mark. Jutta hat sich etwas ungeschickt benommen. Sie hätte sofort an ihren Platz zurückkehren sollen, nachdem sie mir die Brieftasche zugesteckt hatte, und sich nicht an das Tischchen setzen und einen Likör trinken. Das war verkehrt. Ich habe die Sache nur dadurch eingerenkt, daß ich die Tasche in der Garderobe ‚fand‘. Ihr müßt jetzt sehr vorsichtig sein. Man weiß nie, ob dieser Bestohlene nicht doch irgendwen hinter dem jungen Baron dreinhetzt. Leute wie dieser Plemert sind häufig schlauer als die Polizei. – Auf Wiedersehen, Helene –“
Konsul Merk kam die Parkstraße entlang. Er wollte doch einmal sehen, wo und wie diese Obranow eigentlich wohnte.
‚Wäldchenstraße 3, Hof rechts,‘ hatte sie in ihrem Briefe angegeben. – Hof rechts! Hof –! Da schien es ihr ja wirklich recht kümmerlich zu gehen!
Er hatte jetzt die Querstraße erreicht.
Da stand ein älterer, altmodisch angezogener Herr mit würdiger goldener Brille und grauem Vollbart und rauchte jetzt gerade eine Zigarre an.
Der Konsul stutzte.
War das nicht Doktor Winter?! – Ja – natürlich war er’s! Der Gummikragen und die unglaublich großen Stiefel besagten genug!
Merk schritt auf Winter zu.
„Tag, Herr Doktor. Sie auch in Zoppot?“ begrüßte er ihn.
Winter kniff die Augen zu, hüstelte und lispelte:
„Verzeihung – mit wem habe ich die Ehre?“
Merk lachte. „Bester Doktor, wollen Sie mich etwa verleugnen? Sie haben mich doch im Mai fünfmal der alten Truhe wegen besucht, und wir haben stets stundenlang miteinander geplaudert.“
Winter lächelte jetzt kindlich verlegen.
„Stimmt, stimmt! Entschuldigen Sie nur, Herr Konsul. – Die Jahre melden sich! Das Gedächtnis wird schwach! – Freue mich sehr, Sie wiederzusehen. – Die Truhe stammt doch aus Nürnberg, Herr Konsul! Dabei bleibe ich. Ich habe in Danzig gestern eine ähnliche –“
Merk wehrte mit beiden Händen ab. „Begraben wir den Streit, Herr Doktor! – Sind Sie zur Erholung hier?“
„Erholung?! – Ich brauche keine Erholung. Ich studiere in Danzig die Sammlungen des Franziskaner Klosters. Nebenbei habe ich hier eine alte Bekanntschaft erneuert. Meinen alten Freund Obranow haben –“
„Wie – Obranow?!“ rief Merk.
„Ja! Kennen Sie ihn etwa? Er ist leider seit fünf Jahren tot – ermordet bei der Revolution –“
So kamen sie nun auf Frau Helene Obranow zu sprechen.
„Wollen Sie die Dame wirklich engagieren?!“ meinte Winter kopfschüttelnd. „Ja – eine bessere Hausdame könnten Sie kaum finden. Aber – Helene Obranow als Hausdame! Diese Zeiten – diese Zeiten! – Gewiß, besser als dort in jenem Häuschen hätte sie es ja bei Ihnen, Herr Konsul. Hm – und die Lexa, ihre Tochter?“
„Mag getrost mitkommen!“ lächelte Merk. „Im übrigen bin ich dem Zufall dankbar, der uns beide zusammenführte, Herr Doktor. Ich wollte nämlich insgeheim hier Erkundigungen über Frau Obranow einziehen. Davon sehe ich nun ab. Wenn Sie die Dame kennen, Herr Doktor, genügt mir das.“
„Oh – bitte! Das darf Ihnen nicht genügen, Herr Konsul. Mein Urteil ist doch nicht maßgebend.“
„Doch – doch, bester Doktor! – Ich will dann gleich mal nachsehen, ob sie zu Hause ist. – Wo wohnen Sie hier, Doktor?“
„Am Südpark Nummer 8, zweiter Stock. Ich bin aber meist in Danzig, will außerdem übermorgen abreisen. – Was die Truhe angeht, Herr Konsul, so möchte ich –“
Merk hielt sich die Ohren zu – rief:
„Auf Wiedersehen in Berlin!“ und eilte weiter.
*
Zu derselben Zeit stand Herr Gustav Plemert in der Telephonzelle des Zoppoter Postamts und sprach mit einem Herrn Direktor Röhl.
„Sie schicken dann also sofort jemand her, Direktorchen, – sofort! Dieser Baron-Jüngling is nich janz koscher, sag’ ich Ihnen! Der Fatzke krempelte zu bereitwillig seine Taschen um! Wer ‘n jutes Jewissen hat, der – Wie – Vorschuß? Aber jern! Und wenn Sie den Monokelfritzen ins Loch bringen, jibt’s tausend Märker extra!“
5. Kapitel.
Das graue Auto.
Doktor Winter humpelte weiter. Er steuerte im Südpark auf eine leere Bank zu, holte eine Zeitung hervor und schien bald eifrig zu lesen. Nach kurzer Zeit fiel ein Schatten auf die Zeitung. Winter schaute auf. Vor ihm stand der Baron Edgar von Glynbar.
Der junge Baron setzte sich dann ebenfalls auf die Bank. Sie kamen nun ins Gespräch.
Winter sagte jetzt dem jungen Menschen genau dasselbe, was er vorhin Frau Obranow gegenüber hinsichtlich Juttas gestrigem ungeschickten Verhalten geäußert hatte.
„Ich habe das bereits selbst eingesehen,“ meinte der Baron, der ebenso elegant wie hübsch war. „Ich habe nämlich soeben erkannt, daß Sie stets das Richtige treffen, Herr Baron. Sie befahlen mir, diesen Plemert im Auge zu behalten. Das war nicht schwer. Vorhin ging er zur Post. Er bestellte am Schalter ein Gespräch mit Berlin, Amt Lützow 1006. – Diese Nummer ist die der Auskunftei Röhl, wie ich dann feststellte. Ihre Annahme, Herr Doktor, hat sich also bestätigt. Dieser Plemert –“
Winter lachte leise auf.
„Ja – dieser Plemert wird sehr enttäuscht werden. Der Baron wird heute abend verschwinden. Nicht abreisen! Verstehen Sie mich! Sie lassen Ihre Koffer zurück – alles! Und sind punkt zehn in der Wäldchenstraße, wo Sie wieder Jutta werden –“ –
Er überlegte kurz. „Dann benutzen Sie einen Vorortzug nach Danzig und reisen morgen früh mit dem Tourendampfer nach Swinemünde. Einen Herrenpaletot und den einen Anzug nehmen Sie mit. Von Swinemünde fahren Sie nach Berlin. Konsul Merk wohnt Berlin, Ingelheimerstraße 12. – Der Villa liegt ein großes Mietshaus gegenüber. Dort nehmen Sie Wohnung als Student des Hochbaufaches, als Ausländer. Die Papiere für diese Rolle habe ich bereit. Sie werden dann dem Konsul, der sehr bald nach Berlin zurückkehrt, einen Besuch machen und ihn bitten, die Villa zeichnen zu dürfen. Versuchen Sie sich bei ihm einzuschmeicheln, Jutta. Ich werde auch Sie irgendwie brauchen. Von den vierzigtausend Mark gebühren Ihnen vierzehntausend. Ihre Mutter mag sie Ihnen geben. Und – seien Sie vorsichtig, Jutta. Wir arbeiten an dieser Sache nun schon monatelang. Es ist der größte Coup, an den ich mich je herangewagt habe. Die Perlensammlung des Konsuls ist heute ihre achthunderttausend Dollar wert. Wenn wir erst wissen, wo sie sich befindet, ist das weitere ein Kinderspiel.“
„Und die neue Sache hier?“ fragte Jutta Obranow etwas enttäuscht. „Wollen wir die schießen lassen?“
Winter schaute den hübschen Burschen spöttisch an.
„Wir – wir?! – Sie meinen wohl, ob ich diese Sache schießen lassen will, Jutta, – ich! Bisher hatte nur ich zu befehlen! Und das bleibt so. Ich danke für Ihre Selbstständigkeit, mein Söhnchen! Dann säßen wir alle längst im Gefängnis! – Hm – also die Witwe Maikowler! – Die Steine sind echt, Jutta?“
„Bestimmt echt! Und das Weib ist bereits so erpicht darauf, Baronin zu werden, daß ihr plebejerhaftes Mißtrauen gegen die Gebildeten gänzlich geschwunden ist –“
„Und der Wert?“
„Vielleicht eine Million Mark –“
„Eigentlich lohnt das nicht recht. Aber diese Vogelscheuche verdient eine kleine Anzapfung! – Laden Sie sie heute für acht Uhr abends zum Souper ein – ins Kurhaus. Wählen Sie einen Tisch nach dem Treppenausgang. Um drei Uhr nachmittags gebe ich Ihnen hier auf dieser Bank eine geringe Dosis Brechweinstein. Kaufen Sie Konfekt und füllen Sie das Zeug in ein Pralinee. Um neun muß der Maikowler schlecht werden. Ich werde dafür sorgen, daß ein Auto vor dem Nebenausgang hält. Dieses Auto benutzen Sie und bringen das Weib heim. Unterwegs – doch – das ergibt sich von selbst. –
Die Maikowler wird sich für das Souper mit ihrem ganzen Schmuck behängen. Darauf kommt es an. – So, – ist alles klar?“
„Gewiß, Herr Doktor.“
„Danke. – Wiedersehen, Jutta!“ – Winter erhob sich, faßte an den zerknitterten Filzhut und hinkte davon.
Er kehrte jetzt in sein Zimmer zurück. –
Kurz nach ein Uhr erschien dann Holger Balting neben dem Strandkorb Frau Dinas.
Dina lag im Sande und träumte vor sich hin. Rolf war vor einer Viertelstunde ohne Hut den Strand entlanggewandert und hatte sich noch nicht wieder eingefunden.
Holger blieb stehen und beobachtete die Kranke mit Blicken, aus denen ebensoviel Liebe wie bebende Angst sprach.
Dina sah heute frischer aus. Ihre wundervollen Augen waren wie verklärt. Spielend ließ sie den feinen Sand durch die Finger rinnen. –
Holgers Herz krampfte sich in plötzlicher Mutlosigkeit zusammen.
Wenn sie nun doch starb?! Aber sie durfte nicht sterben – durfte nicht! Und wenn er mit dem Tode um sie ringen sollte!
„Dina!“ flüsterte er halb unbewußt.
Wie ein Hauch nur erreichte der Name ihr Ohr, wie eine versteckte Liebkosung.
Sie wandte den Kopf.
„Mein Gott – wie haben Sie mich erschreckt, Holger!“ rief sie leise und richtete sich auf.
„Habe ich Sie wirklich erschreckt, Frau Dina,“ meinte er sanft und beugte sich über ihre Hand.
Sie spürte wieder diese sengenden Lippen.
„Wie fühlen Sie sich heute, Frau Dina?“
„Oh – unberufen – fast zu gut! – Wo steckten Sie denn den ganzen Vormittag über?“
„Ich – habe für uns ein Auto für nachmittag besorgt. Wie wär’s mit einer Fahrt nach Neufahrwasser und Besichtigung von Westerplatte, Leuchtturm und Hafen?“
Dina überlegte.
„Und – und die Kur?“ meinte sie zögernd.
„Oh – ich bringe das Nötige mit. Wir fahren hübsch langsam, fahren mit dem sichersten Chauffeur, den es gibt: mit mir! Die Chaussee ist vom gestrigen Morgengewitter noch staubfrei. – Ah – dort kommt Rolf – wahrscheinlich mit einem Bärenhunger! – Tag, alter Junge, – nachmittags geht’s per Auto nach Neufahrwasser –“
Dann begleitete er Raabners bis zum Pensionat Parkblick. –
*
Frau Lina Maikowler kam abends gegen halb zehn Uhr in einem kleinen Tannengehölz dicht an der Chaussee und keine tausend Meter von Zoppot entfernt wieder zu sich.
Nur allmählich wurde ihr klar, was eigentlich vorgefallen. Dann bemerkte sie, daß sie nichts – nichts mehr von ihren Brillanten besaß.
Und das machte sie schneller munter als eine eisige Dusche.
Sie kreischte auf – sprang empor, keuchte der Stadt zu. –
Auf der Polizeiwache im Rathaus konnte sie nur angeben, daß ihr bei dem Souper plötzlich übel geworden sei, daß der junge Baron von Glynbar sie die Treppe hinunter geleitet und sie in ein Auto gehoben, daß er ihr dann ein Riechfläschchen unter die Nase gehalten hätte und daß sie im übrigen weder über das Auto noch sonst etwas aussagen könnte. –
Als die Polizei den Baron suchte, war der nirgends zu finden. Am nächsten Morgen wurden seine beiden Koffer beschlagnahmt. Sie enthielten nicht das Geringste, was über diesen Gauner irgendwie hätte Aufschluß geben können.
Da Frau Maikowler sich nicht auf die Farbe und Bauart des Autos besann, mit dem man sie entführt hatte, wäre die Untersuchung gegen ‚Unbekannt wegen Raubes –‘ wohl völlig ins Stocken gekommen, wenn nicht aus Berlin ein kleiner, schmächtiger Herr von sehr geckenhaftem Aussehen am folgenden Tage mittags in Zoppot eingetroffen wäre und sich sofort ins Hotel Metropol zu Herrn Gustav Plemert begeben hätte.
Plemert ging mit dem Angestellten der Auskunftei Röhl sofort zur Polizei. – Der kleine, glattrasierte Herr, dem das Monokel wie festgemauert im Auge saß, wies sich hier als Aloysius Blaw aus. Der Polizei imponierte dieser Berliner jedoch in keiner Weise. – Man würde mit der Sache schon allein fertig werden, erklärte der Kommissar. Worauf Gustav Plemert einen Wutkoller bekam und brüllte:
„Herr Blaw ist eine Berühmtheit! Ich verlange, daß Sie ihm erlauben, die beiden von dem sogenannten Baron bewohnt gewesenen Zimmer zu durchsuchen. Wenn Sie das weiter verbieten, telephoniere ich an den Justizminister!“
„Bitte, Herr Plemert, – hier ist Freistaatsgebiet! Ihr Justizminister kann uns hier – und so weiter!“ meinte der Beamte eisig. „Trotzdem will ich Ihnen den Gefallen tun und mit Herrn Blaw nochmals nach der Wäldchenstraße ins Pensionat Wernicke gehen. – Bitte – ich bin bereit!“ –
Der Monokel-Blaw sah sich dann die beiden Zimmer auf seine Weise an.
Aloysius Blaw hatte mehr Geduld, als dem Kommissar lieb war. Volle zwei Stunden durchschnüffelte er die Zimmer. Dann meinte er in seiner blasierten Art:
„So, nun können wir wieder gehen! Ich danke Ihnen, Herr Kommissar.“ –
Nachmittags gegen fünf Uhr hatte der kleine Blaw bereits festgestellt, daß ein Herr Holger Balting gestern in Zoppot einen Kraftwagen für den Nachmittag gemietet, vierzigtausend Mark Sicherheit hinterlegt und das Auto gegen halb vier von dem Verleiher abgeholt und es gegen ein viertel zehn abends zurückgebracht hatte. – Der Herr habe tadellos sicher gefahren, erklärte der Verleiher, wohne im Kurhause seit drei Wochen und habe einen sehr vornehmen Eindruck gemacht.
Blaw schmunzelte, als er den Verleiher verließ. Dieser Kraftwagen war fraglos der, den die Gauner benutzt hatten! Dieser Balting hatte ja auf einen Chauffeur verzichtet! Das sagte genug!
Aber Aloysius Blaw erlebte dann im Kurhause eine bittere Enttäuschung. Er vertraute sich dem Direktor an. Doch der lächelte mitleidig.
„Wie – wollen Sie etwa Herrn Balting mit den beiden Spitzbubenstreichen in Verbindung bringen?“ meinte er. „Kommen Sie, ich will Ihnen Herrn Balting zeigen. Er sitzt gerade mit dem Konsul Doktor Merk aus Berlin und dem Ehepaar Raabner auf der Terrasse. Ich weiß genau, daß Herr Balting mit diesen Herrschaften gestern einen Ausflug nach Neufahrwasser gemacht hat.“
Blaws Gesicht wurde länger. – Doktor Merk war ihm von Ansehen als einer der reichsten Leute Berlins bekannt. – Trotzdem – brauchte denn Merk mit diesem Balting befreundet zu sein?! Vielleicht nur eine Badebekanntschaft! –
Aloysius Blaw beschloß, den Konsul noch heute dieserhalb zu befragen. –
Als Merk gegen sieben Uhr einmal den Tisch verließ, sprach Blaw ihn an, zeigte ihm seine Legitimation und fragte, ob der Konsul diesen Herrn Balting erst hier in Zoppot kennengelernt habe. –
Merk prustete los.
„Verehrtester Herr,“ sagte er gönnerhaft überlegen, „ich ahne, was Sie denken: nämlich, daß das Auto, mit dem wir gestern in Neufahrwasser waren, dasselbe sein könnte – und so weiter! Herr – das ist Blödsinn! Holger Balting kenne ich von Berlin her. Wir haben soeben an unserem Tisch über diesen Gaunerstreich gesprochen, und Balting hat dabei erwähnt, daß er sich genau auf einen grau gestrichenen Kraftwagen besinne, der am Seitenausgang des Kurhauses gegen neun Uhr hielt, als er mich dort absetzte und dann Raabners nach Hause brachte. Auch mir ist es so, als hätte dort ein solches Auto gestanden. Ich habe natürlich nicht darauf geachtet. Jedenfalls, Herr – Herr Blaw – richtig, Blaw, Sie täten klüger, diesem grauen Auto Ihre berufliche Aufmerksamkeit zuzuwenden!“
Der Konsul verbeugte sich und wollte weiter.
„Bitte – noch einen Augenblick,“ meinte der kleine Blaw etwas betreten. „Sie werden Herrn Balting doch hoffentlich nichts von diesem unserem Gespräch mitteilen, Herr Konsul? Ich sehe ja ein, daß ich mich geirrt habe. Ich möchte mir nicht gern Unannehmlichkeiten zuziehen. Sie verstehen, Herr Konsul –“
Doktor Merk schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich verstehe nichts, Herr Blaw, – wenigstens nichts von Ihrem Beruf, der mir auch außerordentlich unsympathisch ist. Sogenannte Privatdetektive pflegen bei Ermittlungen nach dem Grundsatz zu handeln: der Zweck heiligt die Mittel! – Um nun meinen Freund Balting –“ – er betonte das ‚Freund‘ sehr kräftig – „auf heimliche Belästigungen von Ihrer Seite rechtzeitig vorzubereiten, halte ich es für meine Pflicht, diese Unterredung ihm sofort mitzuteilen. Es wäre am besten, Sie kämen mit an unseren Tisch. Dann kämpfen Sie mit offenem Visier! Und dann wird Holger Balting Ihnen persönlich sagen, was er über das graue Auto weiß.“
Doktor Merk hatte angenommen, daß dieser geckenhafte Mensch diesen Vorschlag ablehnen würde – aus Feigheit!
Aber – da kannte er Aloysius Blaw schlecht. Der war kein Durchschnittsschnüffler; Aloysius war ein vielseitig gebildeter, hochintelligenter Mensch, war ein Schauspieler, wie es keinen besseren gab, und dazu nur aus Neigung Angestellter der Weltauskunftei Röhl. –
Gleich darauf sah Frau Dina den Konsul in Begleitung eines blonden, bartlosen Jünglings über die Terrasse daherkommen.
„Wen bringt Merk denn da mit?!“ meinte Dina zu dem heute recht schweigsamen Holger.
Der klemmte das Monokel ein und schaute den beiden Herren entgegen. –
Der Konsul stellte Aloysius Blaw mit einem Lächeln vor – einem ironischen Lächeln:
„Herr Blaw – ein Privatdetektiv – aus Berlin, den sich Herr Gustav Plemert telephonischen an diese Stätte ruchloser Gaunerschandtaten bestellt hat!“
Blaw zeigte sich als Weltmann. Mit selbstsicherer Ruhe nahm er Platz und wandte sich dann sofort an Balting, erzählte, daß er den Autoverleiher herausgefunden hätte und daß gestern in Danzig und Umgegend nur ein einziges Auto verliehen worden sei.
„Ich gebe zu, Herr Balting, daß gerade der Umstand, daß Sie auf den Chauffeur verzichtet hatten, mich stutzig machte,“ fügte er dann hinzu.
Holger nickte. „Sehr begreiflich, Herr Blaw. Sie haben also angenommen, daß das von mir gemietete Auto zur Ausraubung jener Witwe benutzt worden ist. Dieser Verdacht mußte in Ihnen aufsteigen. Und wahrscheinlich haben Sie den Herrn Konsul über mich ausgeforscht. Ich hätte an Ihrer Stelle genau so gehandelt. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Blaw.“
Er nahm das Monokel aus dem Augenwinkel und legte es vor sich auf den Tisch. Ein ganz eigenartiges Lächeln spielte dabei um seine Lippen.
„Wenn Sie so liebenswürdig sein würden, mir über das graue Auto Auskunft zu geben, Herr Balting, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar,“ sagte Blaw nun sehr höflich, aber auch absichtlich etwas verlegen. Er wollte seine Rolle ändern, wollte den Eindruck eines ungefährlichen Menschen machen.
Frau Dina hatte in ihrem Korbsessel weit zurückgelehnt dagesessen. Seit fünf Uhr befand sie sich in einem wohlligen, traumhaften Zustand von stillem Hoffen, den sie dem Genuß eines ganzen Becherglases des ‚Heilmittels‘ zu verdanken hatte, – ein Zustand, in dem sie nicht einmal der Unterhaltung der drei Herren an ihrem Tische gefolgt war.
Erst das merkwürdige Lächeln Holgers hatte sie etwas aufgemuntert.
Frau Dinas wohlige Trägheit war jetzt mit einem Ruck von ihr abgeglitten wie ein Umhang, den man von sich wirft, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben.
Etwas wie eine unbegreifliche Angst überkam sie.
Angst um Holger!
Doch – das war ja lächerlich! – Angst um Holger?! Weshalb Angst – weshalb?! –
Da hatte Holger dem kleinen blonden Menschen bereits erschöpfend Auskunft gegeben, hatte betont, daß ihm der graue Wagen deswegen aufgefallen sei, weil es offenbar ein englisches Fabrikat gewesen und weil auf dem Chauffeursitz ein Mann mit einer gelben Leinenmütze mit Autobrille und blondem Vollbart eine mächtige englische Zeitung gelesen hätte. –
Dina hatte sich jetzt vorgebeugt und hatte ihre Tasse Schokolade vom Tisch genommen, rührte nervös mit dem Löffel darin und schaute zu Holger hin, indem sie sich halb zur Seite wandte.
Dina wußte, daß ein solches Auto vor dem Kurhaus nicht gehalten hatte.
Bestimmt nicht! Denn sie hatte auf dem Rücksitz des Wagens gesessen, hatte im Gegensatz zu Rolf und Merk, die sich nach der Verabschiedung noch einiges zuriefen – Merk war ja am Kurhause als erster ausgestiegen –, alles ringsum ins Auge gefaßt, hatte die beiden Zeitungsverkäufer durch einen Wink fortgeschickt und nur zwei Autos gesehen, die soeben erst vorgefahren waren.
Dina fühlte, wie die Angst sich noch steigerte. Und – obwohl sie sich selbst abermals gleichsam verspottete, indem sie sich fragte, ob sie denn Holger etwa mit diesen Juwelenräubern in Verbindung bringen wollte, – obwohl sie die Lippen fest aufeinandergepreßte, um das in ihrer Kehle zu verschließen, was sich über diese Lippen drängen wollte: – sie unterlag jetzt doch diesem unklaren Gedanken, der sich in ihrem Hirn mit einem Male eingenistet hatte – dem Gedanken, Holger beispringen zu müssen, ihm helfen zu müssen, gegen den albernen blonden Menschen, der da so verlegen auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
„Ja,“ sagte sie jetzt mit einem erkünstelt gelangweilten Kopfnicken, „– das habe ich auch gesehen! Der Chauffeur hatte eine häßliche Mütze mit großem Schirm auf, eine Mütze in Khakifarbe –“
Holger drehte sich langsam um und blickte Frau Dina vorwurfsvoll an, drohte ihr dann scherzend mit dem Finger und meinte:
„Sie werden diese Worte bereuen! Damen haben stets eine heilige Scheu davor, Zeugin spielen zu müssen! Und Herr Blaw wird Sie fraglos als Zeugin noch brauchen, Frau Dina.“
Der kleine Blaw war bitter enttäuscht.
Frau Dina hatte diese erfundene Geschichte von der Khakimütze so gut gelungen im Ton vorgebracht, daß auch Blaw sich täuschen ließ.
Blaws Argwohn zerrann. – Es hatte also doch ein graues Auto dort gehalten – eins, das recht gut dieser Gaunerbande gehören konnte! –
Er erhob sich, murmelte eine Entschuldigung und ging.
6. Kapitel.
Um seine Seele.
Der Konsul lachte leise hinter ihm drein.
„Da zieht er ab, ein enttäuschter Mann,“ sagte er heiter. „Das fehlt auch noch, Balting, daß wir als Hochstapler von diesem Burschen beargwöhnt werden!“ fügte er plötzlich leicht erregt hinzu. „Ich habe diese Kerle im Magen, diese Privatschnüffler! – Verzeihen Sie, gnädige Frau, diese etwas allzu volkstümliche Redensart. Aber – Tatsache! – Diese Leute haben mich scheußlich geärgert. Sie kennen ja meine Schwägerin Sidonie, geborene von Pirwack! Es ist ein öffentliches Geheimnis, das Ihnen als meinen Hausgenossen mit allen Einzelheiten bekannt sein dürfte, das Sidonie nur zu gern meine zweite Frau geworden wäre. Ja – und Sidonie hat mich durch so einen gräßlichen Kerl von Privatdetektiv seit April heimlich beobachten lassen. –
Weshalb? Nun – sie wollte feststellen, was ich außerhalb des Hauses trieb, und ob ich nicht etwa Bekanntschaften unterhielte, die ihre eigenen Wünsche beeinträchtigen könnten. Bis ich Ende Mai den Burschen, der mir meist wie mein Schatten folgte, einmal stellte und er mir dann alles verriet. – Als Gentleman habe ich Sidonie zunächst nichts merken lassen, sie dann aber vor einer Woche höflich gebeten, meine Villa zu räumen – ohne Angabe von Gründen. Sie fiel aus allen Wolken, weinte, tobte und – behauptete –“ – er lachte vergnügt, – „daß Sie, gnädige Frau, dahinter steckten! Stellen Sie sich vor: Sie sollten mich beeinflußt haben – Sie! – Nun bin ich Sidonie los. Aber seitdem hasse ich diese Schnüffler geradezu. Dieser Mensch, der da dauernd sich an meine Fersen geheftet, war vielgestaltig wie ein Verwandlungskünstler! Ganz nervös hat er mich gemacht! Es ist ein scheußliches Gefühl, in jedem Menschen einen Spion zu sehen! Ja – sogar den braven meschuggenen Doktor Winter, den Sie ja bei mir auch mal flüchtig kennenlernten, gnädige Frau, beargwöhnte ich eine Weile, bis ich dann herausbrachte – durch persönliche Nachfragen! –, daß Winter seit fünf Jahren in derselben Wohnung in Berlin in der Kantstraße im Hinterhause wohnt. Übrigens ist Winter hier in Zoppot, gnädige Frau. Ich sprach ihn gestern mittag, als ich auf dem Wege zu meiner neuen Hausdame war. Ich muß mich jetzt auch sofort verabschieden. Ich habe Frau Obranow heute mit ihrer Tochter gebeten, mit mir im Metropol zu soupieren. Ich bin entzückt von diesen Damen. Es ist ein wahrer Glückszufall, daß ich nun für mein Heim eine Repräsentantin bekomme, die bei meinen großen gesellschaftlichen Verpflichtungen geradezu das Ideal einer Hausdame darstellt. Sie werden sie ja noch persönlich kennenlernen, gnädige Frau. –
Morgen reise ich ab und nehme Frau Obranow nebst Tochter sofort mit. – Jetzt darf ich mich wohl verabschieden. Auf Wiedersehen, lieber Balting. Wollen Sie heute abend nicht gleichfalls mein Gast sein? Und – Sie Gnädigste? Würde es Ihr Befinden Ihnen erlauben, mir die Ehre zu geben, um acht Uhr im –“
„Gern, gern“ nickte Dina lebhaft. „Ich habe heute meinen guten Tag!“
„Ich muß leider bedauern,“ meinte Balting. „Vielleicht komme ich jedoch später, Herr Konsul. Ich muß vier dringende Briefe schreiben.“ –
Dina hatte Holger etwas enttäuscht angeschaut. Nur deshalb hatte er dieses ‚Vielleicht später‘ hinzugefügt. –
Werk schritt davon.
Die beiden waren allein.
Dina klopfte das Herz plötzlich in banger Erwartung vor irgend etwas Besonderem, das nun erfolgen müsse. Sie hatte sich – halb gegen ihren Willen – in eine Angelegenheit eingemischt, die Holger allein etwas anging; sie hatte seine Lüge durch ihre Lüge bestätigt; und sein Blick hatte ihr gezeigt, daß er diese Einmischung als ungebührlich zurückwies.
Holger schwieg und starrte in die Ferne – über den Seesteg hinweg auf das Meer.
Zwei Dampfer zogen da ihren Kurs am Horizont – der eine aus dem Hafen, der andere zum Hafen. Von hier sah es aus, als müßten sie aneinander prallen.
Dina folgte der Richtung seiner Blicke.
Und da sagte er leise:
„Da draußen – jeder Dampfer hat seinen Kapitän. Und wenn sie sich begegnen, die Dampfer, grüßen sie sich durch ein Flaggensignal als Freunde. Aber wenn sie im Nebel, im tiefen, dicken Nebel sich rammen, sind sie wie Feinde. Und die Seele der Schiffe ist der Führer – der Kapitän. Derjenige Führer, der das Steuer am festesten in der Hand hat, wird im Nebel dem anderen Schiffe im letzten Augenblick den tödlichen Rammstoß versetzen und sich und sein Schiff retten –“
Dina verstand ihn nicht ganz. Sie merkte nur: es war ein Gleichnis! – Holger hatte wieder von der Seele gesprochen! – Es war ein Gleichnis mit gewalttätigem Schluß.
Ihr Herz pochte noch banger. Und trotzdem trieb ein gewisser Trotz ihr die Frage über die Lippen:
„Bezieht sich das Geheimnis auf uns beide?“
Er rückte mit seinem Sessel etwas von ihr ab, um sie bequemer ansehen zu können.
Ihre Augen wichen den seinen aus.
„Auf wen sonst?“ meinte er barsch. „Tun Sie doch nicht, als wüßten Sie nicht Bescheid! – Ich warne Sie, Dina: wagen Sie sich nicht in den Nebel!“
Sie blickte ihn jetzt an. Und sie konnte ihm selbst dieses häßlichen, fast rohen Tones wegen nicht zürnen. Sie konnte es – nicht mehr! Der Gedanke, daß und wie er sie liebte, schwächte sein Herrenmenschentum für sie ab, ließ es zu einem notwendigen Bestandteil dieser Kraftnatur werden. Nur – besiegen wollte sie sich nicht lassen!
In ihrem Blick lag ein weiches Flehen. Vielleicht war Holger so zu zähmen.
„Darf ich denn nicht einmal aus – Dankbarkeit lügen?“ flüsterte sie.
„Was sollte das eigentlich?!“ meinte er dann eisig. „Weshalb logen Sie diesem Narren von der Khakimütze etwas vor?! Wissen Sie auch, daß Sie mir dadurch insofern etwas verderben können, als ich nun vielleicht, falls Sie als Zeugin vernommen werden sollen, zugeben muß, diesen kleinen blonden Narren irregeführt zu haben?! Ich kann doch nicht dulden, daß Sie meinetwegen eine falsche Aussage machen, die Sie womöglich beeiden müssen! Das wäre ein Meineid, Frau Dina! Und Meineid wird mit Gefängnis oder sogar Zuchthaus geahndet! – Für diesen Schnüffler war es Strafe genug, daß ich ihn auf das graue Auto hetzte. Ich wußte, daß dieser Blaw hier bei uns erscheinen würde. Ich war gegen halb fünf nachmittags in der Seestraße. Da sah ich ihn mit jenem dicken Plebejer von Plemert zusammen. Und der dritte war der Kriminalbeamte, der vorgestern abend im Kasino sein Licht leuchten ließ, als der famose Baron die Brieftaschen so schlau ausgetauscht und als ich die leere Brieftasche in der Garderobe fand und den ‚Baron‘ dadurch gleichsam reinwusch. Frau Dina, – dies mag Ihnen zur Warnung dienen,“ sagte er so eindringlich, daß es beinahe wie eine Drohung klang. „Mischen Sie nie – nie Ihre Gedanken in Vorgänge, die Ihnen unklar erscheinen und die ich irgendwie herbeiführe; halten Sie Ihre Gedanken im Zaum; mich versteht man stets nur halb und stets – falsch!“ – Bei den letzten Worten blitzte es in seinen Augen auf wie von Stolz und Selbstbewußtsein. „Ein Mann, dessen Handlungen und Absichten stets offen vor aller Blicken liegen, ist ein jämmerlicher Stümper auf der Weltbühne; und ein Mann, der das, was er zu verbergen wünscht, dem Weibe seiner Liebe preisgibt, ist nicht mehr Mann! – Deshalb, Dina: das Weib, das liebt, begnüge sich mit dem Halben!“
Da war er wieder – dieser Ausspruch dieses Herrenmenschen, der selbst in der Liebe sich nie vergessen wollte!
Der frohe Glanz ihrer Augen erlosch schnell.
Eine tiefe Mutlosigkeit beschlich sie.
Ihre Mundwinkel hatten sich herabgezogen; sie sah plötzlich alt und verfallen aus, krank, siech. – Sie spürte, wie reizlos sie in diesem Moment war. Doch – es war ihr gleichgültig.
Sie drehte den Kopf etwas. Mochte er nur bemerken, daß sie nicht mehr begehrenswert war.
Holger hatte sich vorgebeugt.
„Frau Dina – fühlen Sie sich nicht wohl?“ flüsterte er.
Und diese Stimme war erfüllt von zärtlichster Liebe und Sorge.
„Ich bin müde, Holger,“ sagte sie langsam, ohne ihn anzusehen. „Ich – gebe es auf. Ich – kann nicht!“
„Was können Sie nicht?!“
„Hoffen!“
Er starrte in ihr schlaffes, mageres Gesicht.
„Und – weshalb nicht?“ fragte er angstvoll.
„Weil – ich Sie liebe, Holger. – Ja, ich liebe Sie! Ich liebe den Mann in Ihnen! Ich liebe Sie so, wie Sie sind. – Aber – ich bin aus ähnlichem Holz geschnitzt. Ich eigne mich nicht zum Spielzeug der Lust. Ich will den Mann, für den ich gegen den Tod kämpfe, ganz – ganz für mich haben! Und deshalb – will ich nicht mehr! – ‚Wollen ist alles!‘ sagten Sie damals abends zu mir. Mit dem Verzicht auf das Hoffen stirbt auch der Wille – sterbe ich selbst!“
Sie hatte die Lider aufgeschlagen.
Zwischen den langen Wimpern schimmerten Tränen.
„Mein Gott!“ entfuhr es Holger.
Und seine Hände umkrallten die Armlehnen des Korbsessels.
Sein Blick glitt gleichsam nach innen, prüfte das eigene Ich.
Ganz – ganz wollte sie ihn haben! Sie ließ nicht nach. Sie rang mit ihm um das, was er seine Seele nannte.
Und – gab er ihr diese Seele nicht preis, dann wollte sie lieber sterben.
Sterben! Lieber sterben!
Welch ein Weib – welch ein Charakter! Und – sie liebte ihn! –
Er sah, daß sie die Tränen heimlich wegtupfte. Sein Blick kehrte zurück; und dieser Blick hatte ihm in seinem Innern etwas wie eine lodernde Schrift gezeigt:
Niemals! Sonst gehst du zu Grunde!
„Dina – das darf nicht sein!“ flüsterte er jetzt heiser. Und sein Gesicht war wieder zur Maske brutalster Willensentfaltung erstarrt. „Das darf nicht sein! Ich brauche Sie zum Leben, Dina! Und deshalb – müssen Sie leben! Sie müssen! Verstehen Sie mich: müssen! Denn – ich will es! Ihr Wille mag zerflattert sein; der meine ballt sich nur um so stärker zusammen! Sie gehören sich selbst nicht mehr! Ein Weib, das liebt, ist nur noch wie der Ton der Saite, der sanft in die Ferne klingt – ist nicht die Saite selbst! – Dina, Sie müssen gesund werden! Und – wenn Sie es geworden sind, werden Sie diese Dinge anders beurteilen!“
„Niemals!“ sagte sie müde und trostlos. „Ihr Wille vermag nichts, Holger, – denn mein Wille ist ebenso stark!“
Er fühlte, daß sie ihm entglitt.
Sein Antlitz wurde weich, schmerzbewegt.
„Dina – werden Sie gesund! Und dann lassen Sie uns aufs neue dies alles erörtern,“ bat er jetzt. – Er bat – und Dina dachte: ‚Wie – wie muß er dich lieben!‘ – Und es überlief sie wie wohlige Wärme.
„Dina – wir beide haben uns dann vielleicht geändert,“ sprach er weiter, und seine Stimme war wie ein Schmeicheln. „Das Leben hat uns dann vielleicht geändert, Dina. – Sie sollen hoffen und wollen! – Versprechen Sie mir das?“
„Ja,“ hauchte sie. „Ja, Holger. Ich hoffe – auf die Liebe!“
Er verstand: auf ihren Sieg hoffte sie – den Sieg über ihn mit Hilfe der Liebe! –
Nun schwiegen sie. – Dann kam Rolf. Und Rolf Raabner hatte mit Lexa Obranow im Südpark auf einer Bank gesessen, hatte ihr vieles erzählt – von seiner Jugendgespielin, von einer Liebe, die nur Mitleid war.
Er hatte es ihr erzählen müssen; er hatte dieses so seltsam scheue, verschwiegene Mädchen, in dessen großen dunklen Augen es wie ein steter Glückshunger schimmerte, lieben gelernt. Es war wie ein Jugendrausch über ihn gekommen; sein Malerauge hatte die Schönheit, den pikanten Reiz dieses jungen Weibes bewundert; und sein Herz war wach geworden, als er kaum erst ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. –
Alexandra Obranow war ihm heute nur nach vielen Bitten bis zu der versteckten Parkbank gefolgt, hatte stets wiederholt:
„Ich will Ihre Gattin nicht bestehlen. Es ist Unrecht, daß ich mit Ihnen spreche –“
Und dann hatte sie doch nachgegeben.
Sie wußte ja: sie würde ihn wiedersehen – in Berlin! Sie würden Hausgenossen werden! Und – Er wollte ja, daß man sich mit allen Bewohnern der Villa Merk gut stelle! Er wollte es. Und Er war auch ihr Herr. –
Raabners gingen dann heim; gingen langsam durch den Park; nicht mehr Arm in Arm; das hatte aufgehört.
„Der Konsul hat uns ins Metropol eingeladen,“ sagte Dina. „Frau Obranow und Tochter sind dort. Ich habe die Einladung angenommen, Rolf, werde aber zu Hause bleiben. Du wirst – nicht zu Hause bleiben. Ich beurlaube dich gern, Rolf –“
„Ohne dich – nein!“ meinte er kurz. Er war rot und verlegen geworden.
Dina blieb stehen.
„Rolf, wozu –?!“ sagte sie freundlich. „Wozu Komödie spielen?! Haben wir beide das noch nötig? – Lieber Freund – wir sind doch innerlich frei! Vergiß das nicht!“
Sie schob ihren Arm in den seinen.
„Komm, Rolf! – Du hast es doch wahrlich nicht nötig, ein solches Armsündergesicht zu machen. Du kränkst mich ja nicht! Im Gegenteil, ich möchte dich recht glücklich sehen! – Mir ist jetzt, als wären wir noch Kinder – noch die Jugendgespielen von einst. Und damals war ich froh, wenn ich dich froh sah; damals war diese Freude über deine Freude selbstlos, – bis wir die Torheit begingen, uns zu verloben. Nun sind wir’s nicht mehr – Rolf; wir sind wieder gute Freunde!“
Er hielt den Kopf tief gesenkt.
„Wie bringst du es nur fertig, so zu sprechen, Dina?“ fragte er zaghaft.
„Vielleicht, weil – ich liebe!“ sagte sie fest und stolz.
„Holger?“ fragte er nach einer Weile scheu.
„Ja – Holger!“
„Und – er weiß es?“
„Ja. Er weiß es, Rolf. Und – er liebt mich gleichfalls. Und doch – sind wir Feinde.“
„Das verstehe ich nicht,“ flüsterte er verwirrt. „Das – das kann auch nicht sein, daß Holger dich liebt. Er – eine Kranke?! Er – dieser Kraftmensch, der nur –“
„Es mag dir genügen, Rolf,“ unterbrach sie ihn mild, „daß es so ist – und daß wir Gegner sind, daß ich dir nicht untreu bin und daß wir recht bald nach Berlin zurückkehren wollen, damit wir den Schritt tun, der jetzt für uns beide die volle Freiheit bringt: die Scheidung einleiten!“
Er vermochte eine Bewegung der Überraschung nicht zu unterdrücken.
„Ja – die Scheidung, Rolf!“ wiederholte sie ebenso mild. „Denn – vielleicht bleibe ich doch am Leben. Ich – will leben! Ich kämpfe gegen den Tod. Und – der Tod rückt weiter von mir ab, Rolf. Bisher saß er Nacht für Nacht an meinem Lager und trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Jetzt ist er weggeblieben. Und deshalb, Rolf: wir wollen uns trennen! – Ich werde in Berlin nur so lange noch bei dir bleiben, bis ich mir ein Zimmer gemietet habe – irgendwo außerhalb, wo die Bäume rauschen und Kiefernduft mich umgibt. – Ist es nicht gut, Rolf, daß wir beide so frei und offen über all das miteinander sprechen können? – Das ist die wahre Größe, Rolf –“
Er schwieg. – Sie stiegen die Treppe empor, betraten das Wohnzimmer.
7. Kapitel.
Winter und Holger.
Als Rolf dann gegangen war, setzte sich Dina an den gedeckten Abendbrottisch. Dann saß sie wieder im Liegestuhl und träumte vor sich hin. Erst gegen neun Uhr trank sie – heute das dritte – Becherglas des goldgelben, alten Kognaks.
Sie war noch nicht müde genug, um schlafen zu gehen. Es war windig geworden. Die See brandete kräftig; die hohen Kiefern des Parkes rauschten.
Ein plötzlicher Entschluß, und sie nahm einen Autoschleier, wand ihn um den Kopf und verließ die Villa.
Dort in einem Seitenwege stand eine Bank, von der sie den Haupteingang im Auge behalten konnte. Hier setzte sie sich nieder; hier wollte sie abwarten, ob Holger wirklich käme; hier würde sie dann mit ihm plaudern.
Dina dachte nur an Holger. Und langsam spürte sie die Wirkung des Trankes; langsam bemächtigte sich ihrer wieder jener Zustand wohliger Erschlaffung, in dem die Gedanken sacht wie von selbst auftauchten, weiterglitten und von neuen abgelöst wurden.
War Holger ein geheimer politischer Agent? sprang die Frage in ihrem Hirn auf. – Und – wollte er ihr diese Tatsache vielleicht verhehlen? Wollte er deshalb nicht, daß sie ganz von ihm Besitz ergriffe?!
Sie lächelte vor sich hin.
„Du wirst ja doch mein – ganz mein, Holger!“ dachte sie mit ruhiger Zuversicht. „Was wäre das für eine erbärmliche Liebe, die nur Halbes gibt! Du wirst das einsehen, Holger! Ich weiß es!“
Rechts auf dem Hauptwege tauchte jetzt Holgers schlanke, hohe Gestalt auf. Er schritt eilig auf die Villa zu, verschwand in der Haustür.
Dina erhob sich. Holger würde ja sehr bald das Haus wieder verlassen. Dann wollte sie ihn ansprechen. – Sie zog den Schleier halb über ihr Gesicht. Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte jetzt einen zweiten Herrn bemerkt, der langsam vorüberschlenderte: Blaw war’s – der kleine Blaw!
Und – sein Erscheinen hier konnte kein Zufall sein! Nein – niemals ein Zufall – niemals! Blaw war Holger nachgeschlichen.
Dina machte kehrt, bis der Baumschatten sie deckte, und beobachtete Blaw. –
Aloysius Blaw hatte sich eine Zigarette angezündet und schaute nach der Villa hin.
Dinas Augen glitten über die Fenster hinweg.
Da links über ihrem Balkon wurde in der zweiten Etage ein Fenster hell. – Es gehörte zu der Wohnung der Frau Oberstleutnant Sevelke, wie Dina wußte. Es war vermietet. An wen – darum hatte sie sich nie gekümmert.
Seltsam – Holger blieb ja im Hause?!
Wenn er sie etwa erwarten wollte, dann hätte er sich doch auf den Balkon gesetzt oder doch das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet.
Seltsam – wo war Holger nur?! –
Dina schaute nach Blaw aus. Der stand dort drüben jetzt vor der Tür der nächsten Villa.
Dina ging jetzt auf das Haus zu. Oben im ersten Stock traf sie das Stubenmädchen des Pensionats.
„War Herr Balting hier?“ fragte sie.
„Nein, gnädige Frau –“ –
Dina betrat das Wohnzimmer. – Sie war ganz verwirrt, mußte ihre Gedanken erst sammeln.
Das Mädchen brachte eine frisch gefüllte Wasserkaraffe.
„Sagen Sie, wer wohnt eigentlich dort links über uns?“ fragte Dina. „In dem einfenstrigen Zimmer, meine ich. Das Fenster wurde vorhin hell.“
„Der – der verrückte alte Doktor, gnädige Frau,“ lachte das Mädchen. „Winter heißt er – Doktor Winter. Ein Berliner ist’s – ein Gelehrter. Er studiert die – die alten Sachen in den Museen. Meist ist er in Danzig –“
Das Mädchen wünschte Dina gute Nacht und verschwand.
Dina fiel jetzt ein, daß der Konsul ja erwähnt hatte, daß Winter hier in Zoppot sei. Und – nun wohnte Winter sogar mit ihr im selben Hause.
Ob Holger etwa Winter gleichfalls kannte und zu ihm nach oben gegangen war?
Dina schaltete das Licht im Zimmer aus, öffnete die Tür, setzte sich und wartete. Sie mußte Holger ja unbedingt mitteilen, daß Blaw ihm nachspionierte.
Dann vernahm sie über sich Schritte.
Es kam jemand die Treppe herab – jemand, der mit dem einen Fuße härter auftrat. – Und Doktor Winter hinkte; das wußte sie.
Sie überlegte. – Es war am einfachsten, sie sprach Winter an; er würde sich schon auf sie besinnen und ihr sagen, ob Holger bei ihm sei.
Ein Griff nach dem Lichtschalter. Die elektrische Krone flammte auf, und Dina öffnete die Tür etwas weiter.
Die Lichtbahn der Krone fiel durch die Tür auf die plumpen Stiefel und zerknitterten Beinkleider Doktor Winters. Aber dessen bärtiges Gesicht lag im Schatten.
„Verzeihung, Herr Doktor,“ sagte Dina leise. „Sie werden sich auf mich kaum besinnen. Ich wurde Ihnen einmal bei Konsul Merk vorgestellt. Ich hätte eine Frage, Herr Doktor. – Ist Herr Balting oben bei Ihnen? Ich sah, daß er dieses Haus betrat –“
„Holger Balting – allerdings. Der ist bei mir oben. Wünschen Sie ihn zu sprechen? Er hat es sich freilich in meinem Zimmer etwas bequem gemacht, gnädige Frau –“
„So. – Dann sagen Sie ihm doch bitte nachher, daß Herr Blaw –“
„Wie war der Name?“
„Blaw – Blaw! – Also – daß Herr Blaw ihn vor dem Hause erwartet. Herr Balting wird dann schon wissen, was ich meine –“
„Gut, gut, gnädige Frau. Werde es ausrichten. Habe die Ehre, gnädige Frau –“
Und er stapfte weiter die Treppe hinab. –
Dina schloß die Tür. Sie hatte dann das Licht wieder ausgeschaltet und war auf den Balkon hinausgetreten, dessen rechte Seite vom Schein der Bogenlampen nicht getroffen wurde.
Sie wollte nach Blaw ausspähen. Und – sie beobachtete nun etwas, das ihrem Mißtrauen neue Nahrung gab.
Der kleine Blaw stand an der Seite des Parkweges halb in den Büschen und schaute zum zweiten Stockwerk der Villa hinauf – zu Doktor Winters Fenster.
Dann schritt Blaw plötzlich sehr eilig hinter Doktor Winter drein, der bereits ein Stück nach dem Kurhause zu sich entfernt hatte.
Frau Dina tat nun dasselbe, was Blaw getan hatte: sie blickte zu dem Fenster empor, indem sie sich weit über das Geländer beugte.
Und – das Fenster dort oben war nicht erleuchtet! –
Dina erfaßte im Moment die Bedeutung dieser Feststellung.
Holger sollte bei Winter sein?! Und – Holger saß dann im dunklen Zimmer –?!
Was sollte das?! Weshalb weilte er dort ohne Licht?!
Da fiel ihr ein, daß das Fenster erst hell geworden war, als Holger das Haus betreten gehabt hatte!
Dina starrte jetzt ganz geistesabwesend den beiden Männern nach.
Ihr Herz hatte sich plötzlich in wilder Angst zusammengekrampft.
Und sie handelte dann fast wie ein Automat, den irgend eine fremde Kraft vorwärtstreibt.
Sie ging langsam, lautlos die Treppe empor.
Sie schaltete das Nachtlicht nicht ein. Auch Winter war ja im Dunkeln die Treppe herabgekommen.
Sie stand vor Winters Tür; ein Zündholz flammte auf.
Sie las die Visitenkarte.
Und – klopfte – klopfte stärker – noch stärker.
Sie drückte auf die Klinke.
Verschlossen! Verschlossen!
Ein zweites Zündholz flackerte zischend auf.
Dina beleuchtete das Schlüsselloch. Es steckte kein Schlüssel darin! –
Sie machte kehrt.
‚Wo – wo ist Holger?‘ bestürmte dieselbe Frage sie ohne Unterlaß.
Sie hatte sich in einen der Korbsessel im dunklen Wohnsalon fallen lassen; saß wie eine Statue.
Wo – – wo ist Holger –?!
Ihre Finger schlangen sich fest ineinander. Sie fühlte, wie der kalte Schweiß ihr vor Erregung auf die Stirn trat.
Was – was bedeutete das alles – was nur?!
Und dann – dann ging es wie ein Ruck durch ihren Körper.
Sie preßte die Hände gegen die Schläfen.
Ein Verdacht – unsinnig scheinbar – und doch nicht mehr fortzuweisen:
Holger spielte hier Doktor Winter.
„Mein Gott!“ flüsterte sie. „Mein Gott – und dieser Blaw heftet sich an seine Fersen! Und – Holger hat heute nachmittag dich nur in Sicherheit wiegen wollen, als er dir erklärte, weshalb er das graue Auto erfunden hat! Er hat es aus einem ganz anderen Grunde erdichtet, dieses Auto mit dem Chauffeur mit der Khakimütze! Er wollte Blaws Argwohn zerstreuen! Das wollte er – das!“
Und als nun erst dieser Verdacht ihr förmlich das Hirn versengte, als nun Träne auf Träne ihr über die Wangen rollte und auf ihre eisig kalten Hände fiel, da erinnerte sie sich plötzlich auch an das, was Rolf ihr über den Beginn seiner Freundschaft mit Holger erzählt hatte, an jenes Erlebnis in Monte Carlo. Dort war Holger unter Diebstahlsverdacht verhaftet worden. Dort hatte er sich leicht wieder rein gewaschen. Und doch: man hatte gegen ihn Verdacht geschöpft gehabt! Und hier nun abermals ein ähnlicher Vorfall! Hier – hier hatte ja Holger die leere Brieftasche jenes Plemert gefunden und hatte so den Baron, den Hochstapler, vor weiteren Ungelegenheiten bewahrt! –
Frau Dina merkte gar nicht, wie fassungslos sie jetzt schluchzte.
Ein Dieb – ein Hochstapler! Ein vornehmer Gauner! –
Sie sank unter der Wucht dieser Erkenntnis in sich zusammen. Ihre Gedanken gehorchten ihr nicht mehr.
Sie erhob sich taumelnd, ging ins Nebenzimmer und – trank – trank –
Nur nicht denken jetzt! Nur nicht denken! – Es war ihr, als kröche der Wahnsinn wie ein scheußliches Gespenst auf sie zu.
Sie warf sich über ihr Bett. – Der Alkohol wirkte.
8. Kapitel.
Eifersucht.
Dina erwachte erst gegen neun Uhr. Sie richtete sich schlaftrunken auf, blinzelte in das Tageslicht hinein. Die Vorhänge waren nicht einmal zugezogen. Und – sie war ja völlig angekleidet.
Ulster – Autoschleier!
Da – wie ein Blitz stand das Gesamtbild des verflossenen Abends in ihrer Erinnerung wieder auf – alles – alles! Jede Einzelheit!
Holger – Holger ein – ein – ja, wie nannte man solche Leute doch: ein Gentlemangauner! –
Sie begann Toilette zu machen; ganz leise – ganz langsam. Sie wollte jetzt von Rolf nicht gestört werden.
Dann pochte er doch gegen die Tür, fragte nach ihrem Befinden.
„Danke – gut, Rolf! Geh’ nur getrost baden!“ Sie zwang sich zu einem übermütigen Ton. –
Nachher saß sie auf dem Balkon beim Frühstück. Das Stubenmädchen räumte die Zimmer auf und erzählte Dina dies und jenes; daß der Doktor Winter heute früh abgereist sei – ganz plötzlich; sehr reichliche Trinkgelder solle er gegeben haben. Und vor einer Stunde sei dann ein Herr oben bei der Frau Oberstleutnant gewesen und habe nach Doktor Winter sich erkundigt. Ja – so ein kleiner, blonder Herr mit Monokel. Die Auguste von oben habe so ein bißchen an der Tür gehorcht. Und dann ging der Herr mit Frau Sevelke in des Doktors Zimmer; und die Auguste hätte gehört, wie der kleine Blonde gesagt habe: ‚Gnädige Frau, mein Besuch hier darf nicht bekannt werden. Ich werde jetzt hier einziehen –‘ Und nun sei der Kleine mit seinem Handkoffer bereits erschienen. –
Dina hatte vorhin wieder das ‚verordnete Mittel‘ genommen – einen vollen Becher! – Ihre Nerven gehorchten ihr. Sie war ganz ruhig. – Sie glaubte nicht mehr daran, daß Holger ein Verbrecher sein könne. – Das war unmöglich! Ein Mann von seinen geistigen Fähigkeiten! Ein Mann von Gemüt wie er! Unmöglich! –
Dann brachte das Stubenmädchen ihr eine Visitenkarte:
Aloysius Blaw
Berlin
Dina ahnte, was Blaw fragen würde.
Und der kleine Blaw erschien, verbeugte sich tadellos.
„Bitte – nehmen Sie Platz,“ sagte Dina liebenswürdig. „Läßt Ihnen das graue Auto noch keine Ruhe, Herr Blaw?“
„Oh – doch, gnädige Frau. Ich möchte Sie nur bitten, mir einige Fragen zu beantworten, die den Herrn Doktor Winter angehen. Sie kennen ihn doch?“
„Flüchtig – von Berlin her. Er verkehrt bei Konsul Merk –“ –
Dina hatte jetzt nur einen Wunsch: diesen Blaw hinters Licht zu führen! Holger war kein Verbrecher, nur ein politischer Agent. Holger mußte geschützt werden.
Blaw schaute zu Boden. Nach ein paar Sekunden meinte er dann:
„Ich sah gestern abend zufällig, daß Herr Balting gegen zehn Uhr diese Villa betrat. War er vielleicht hier bei Ihnen, gnädige Frau?“
Dina lächelte spöttisch. „Mir scheint, Sie trauen Herrn Balting nicht. Holger ist seit Jahren mit meinem Männe befreundet. Trotzdem wäre zehn Uhr abends für ihn keine passende Besuchszeit gewesen. Er war bei Doktor Winter, Herr Blaw. Ich habe ihn nur flüchtig durch die Türspalte gesprochen. Winter ging noch nach der Post, und Holger stand oben auf dem Treppenabsatz. Wir begrüßten uns mit ein paar Worten –“
Dina sah, wie Blaws Gesicht den Ausdruck tiefer Enttäuschung annahm. Sie triumphierte. Und fügte hinzu:
„Sagen Sie mir doch ganz offen, was Sie gegen Holger haben, Herr Blaw. Ich nehme nichts übel und – ich kann schweigen. Ich möchte doch gern klar sehen –“
Blaw zuckte die Achseln. „Ich habe gegen Herrn Balting nichts, gnädige Frau. Ich vermutete nur, er könne sich den Scherz gemacht haben, hier auch die Rolle des Doktor Winter zu spielen. – Das ist ja nun hinfällig geworden –“
„Allerdings!“ meinte Frau Dina möglichst eisig. „Sie scheinen sehr viel Phantasie zu besitzen. Fragen Sie doch den Konsul. Der wird Ihnen bestätigen, daß –“
„Oh danke, gnädige Frau, danke! Man kann sich doch irren, nicht wahr?! – Ich will ehrlich sein – mir erschien Herr Balting deshalb etwas zweideutig, weil er die leere Brieftasche des Herrn Plemert gefunden hat und weil er so den Verdacht gegen das Weib zerstreute –“
Dina horchte auf. –
„Gegen ein Weib?“ fragte sie gedehnt.
„Im Vertrauen gnädige Frau, der Baron von Glynbar war ein Weib. Ich habe in den Zimmern, die er bewohnte, sichere Beweise dafür gefunden –“ und Blaw lächelte stolz. „Etwas bessere Augen als die hiesige Polizei habe ich doch! – Gewiß, – es wird ein Zufall gewesen sein, daß Herr Balting gerade die Brieftasche in der Garderobe entdeckte, – höchstwahrscheinlich ein Zufall. – Aber – hm ja – seltsam ist, daß Doktor Winter mit diesem ‚Baron‘ des öfteren hier im Südpark zusammen gesehen wurde. Eifersucht spioniert gern. Und Frau Maikowler war eifersüchtig. Noch vorgestern haben Winter und der ‚Baron‘ dort auf einer Bank gesessen – am Nachmittag desselben Tages also, an dem Frau Maikowler so raffiniert ausgeplündert wurde –“
Dina war’s, als senkte sich eine schwarze Wolke auf sie herab.
Ein Weib – ein Weib war mit Holger – Winter verbündet.
Ein Weib –!
„Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß die Hochstapler gern mit ihren Geliebten zusammenarbeiten,“ fuhr Blaw eifrig fort. „Dieser Baron muß ohne den falschen Schnurrbart bildhübsch gewesen sein – ohne Frage! Ich bin jetzt überzeugt, daß dieser Doktor Winter ein ganz großer Verbrecher ist, so einer, der mit Genialität stiehlt und nebenbei den simplen Gelehrten spielt. Ich werde ihn schon fangen! Aloysius Blaw ist Spezialist für diese geistvolle Sorte von Gaunern! – Eine Frage noch, gnädige Frau, seit wann mag Winter mit Konsul Merk verkehren?“
Dina erwiderte, während ihre Gedanken weit weg waren:
„Seit April dieses Jahres –“
„Aha!“ lachte Blaw. „Aha – ich merke was! Des Konsuls Perlensammlung dürfte dieses Pärchen reizen! Kein Wunder! Das wäre ein Millionen-Coup, wenn sie die Perlen stehlen könnten! – Verzeihung, gnädige Frau, – Sie sind plötzlich so bleich geworden?“
„Ich – ich bin schwer lungenleidend, Herr Blaw,“ quälte Dina mühsam hervor.
Ein Hustenanfall wurde jetzt durch die starke Erregung ausgelöst.
„Oh – sollte ich etwa daran schuld sein, daß Sie so –“
Sie hatte schon eine abwehrende Handbewegung gemacht.
„Nein – es geht mir wieder besser,“ keuchte sie. „Bitte, fragen Sie nur, falls Sie noch etwas wissen wollen, Herr Blaw. Ich helfe Ihnen gern, diesen Menschen zu entlarven, diesen – diesen elenden Heuchler, der mit seiner niedrigen Seele im Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit mit den Menschen ein freventliches Spiel treibt –“
Ihre Augen sprühten; das Blut sauste ihr in den Ohren.
Ein Weib – ein Weib! Seine Geliebte, seine Verbündete! Und – ihr hatte er von Liebe gesprochen – nur der Perlen des Konsuls wegen – nur! Sie hatte ihm unbewußt irgendwie helfen sollen, diese Perlen zu stehlen! Er hatte sie nur als Werkzeug für seine Pläne nötig gehabt! Das war’s – das! Sie sah jetzt klar – in allem! Rolf hatte ganz recht. Wie konnte ein Holger Balting eine Todgeweihte lieben?! –
Blaw starrte Frau Dina unsicher an.
Was – was nur war plötzlich in diese Frau gefahren?! Woher plötzlich dieser schlecht verhehlte Haß gegen Winter? Denn – das war nicht lediglich die Entrüstung einer moralisch untadeligen Frau gegen einen Verbrecher. Das war Haß! Und – diese Augen lohten in Haß und Eifersucht!
Ja – Eifersucht! – Blaw kannte die Weiber! Aber – war diese Kranke auf diesen Winter eifersüchtig? Stand sie mit Winter so vertraut? War er etwa ihr Liebhaber?
Unten vor der Villa eine Stimme – laut, klar:
„Guten Morgen, Frau Dina. Darf ich einen Moment Ihnen Gesellschaft leisten?“
Dinas Augen wurden noch größer. Das Blut schoß ihr zu Kopf. Dann ward sie ebenso unvermittelt leichenblaß. Ein Zittern lief über ihre Gestalt hin.
Blaw beobachtete scharf. Er hatte Baltings Stimme erkannt.
Also so stand die Sache – so! Balting besaß das Herz dieser kranken Frau! – Und Aloysius Blaws intelligentes Hirn reimte sich schnell noch manches andere zusammen. –
Dina hatte sich gefaßt, beugte sich über das Gitter.
„Kommen Sie, Holger! Sie kommen gerade zur rechten Zeit!“ rief sie, und um ihre Lippen lag ein rätselvolles Lächeln.
Sie setzte sich wieder.
„Bleiben Sie, Herr Blaw!“ sagte sie kurz. „Es wird Sie interessieren, Holger näher kennen zu lernen –“
Holger erschien. Küßte Dina die Hand.
Dann nickte er Blaw zu. „Ah – Sie sind ja schon früh auf dem Kampfplatz, Herr Blaw. Das ist recht! Wer Verbrecher fangen will, muß rührig sein –“
Dinas Augen waren jetzt fest auf sein schönes, männliches Gesicht gerichtet.
„Herr Blaw hat mir recht merkwürdige Dinge erzählt,“ sagte sie mit bebenden Lippen. „So von Doktor Winter, Ihrem – Bekannten! Winter stand im Bunde mit dem Baron von Glynbar. Und dieser Glynbar war – ein Weib, – ein hübsches, junges, gesundes Weib und natürlich Winters Geliebte!“
Ihre Augen sprühten Holger an.
Holger hatte sich bequem zurückgelehnt, meinte nun kühl: „Ich glaube, Herr Blaw überschaut die Sachlage doch nicht völlig. Ich kenne Winter persönlich so genau, daß ich ihn anders einschätzte –“ –
Sein Blick ruhte auf Dinas halb verzerrtem Gesicht. Aus diesem Blick sprach ein tiefer Schmerz.
„Im übrigen bin ich nicht zu Ihnen gekommen, Frau Dina,“ fügte er fast im Plauderton hinzu, „um mich durch Kriminalgeschichten von Herrn Blaws Seite langweilen zu lassen. Ich wollte Ihnen, Frau Dina, etwas erzählen, was nur Sie etwas angeht. Vielleicht ist Herr Blaw so liebenswürdig und nimmt für fünf Minuten im Wohnsalon Platz. – Herr Blaw, bitte! – Sie können ihr interessantes Gespräch mit Frau Raabner sofort weiterspinnen –“ –
Er hatte sich erhoben, um Blaw durchzulassen.
Aloysius Blaw zögerte. Dann sagte er, indem er Balting überlegen musterte:
„Gut – ich bleibe im Salon!“ – Das war eine Drohung. Das hieß: ‚Glaube nicht, daß du mir entwischen kannst!‘
Blaw verließ den Balkon, und Balting zog die Türen zu, rückte den Sessel dicht an das Kopfende des Liegestuhles und setzte sich.
„Dina, sehen Sie mich an!“ flüsterte er. – Das war wieder der herrische Ton; das war noch immer der Mann, der sich seiner Stärke bewußt ist.
Dina hatte sich aufgerichtet, wandte den Kopf. Ihre Augen waren dunkel von Haß und Verachtung.
„Der Ton verfängt nicht mehr!“ sagte sie leise. „Sie – Sie Elender haben –“
Vor seinem Lächeln erstarb ihr das Wort im Munde.
„Also Eifersucht, Dina,“ meinte er. „Also aus Eifersucht haben Sie mich verraten! – Und Sie – Sie wollten eine starke Seele sein?! Sie haben mir noch gestern gesagt: Ich liebe Sie, wie Sie sind, Holger! Sie hatten die Beweise, daß ich an Ihnen hing mit einer Liebe, wie sie selten gefunden wird! Und doch – eifersüchtig! Und doch die Zweifel an der Treue eines Holger Balting! –
Dina – wofür hältst du mich? Für einen Menschen, der heute um das Leben der geliebten Frau kämpft und der morgen eine andere küßt?! – Dina, ich bin groß in allem – als Verbrecher, als Liebhaber! Aber du warst kleinlich! Du hast heute zerstört, was du gestern aufrichtetest! – Du sollst verstehen, wie ich das meine. –
Dina, ich war Student, als ich, der ehrgeizige, hungernde Sohn armer Eltern, aus Not eine gefundene Börse nicht ablieferte. Aus Not, aus Hunger, Dina! –
Und so kam ich mit zweiundzwanzig Jahren ins Gefängnis. Meine Zukunft war vernichtet. Meine Eltern kannten mich nicht mehr. Ich stand allein da, ganz allein. Ich ging nach Amerika. –
Doch – wollte ich dir im einzelnen schildern, weshalb ich immer wieder vom schmalen Pfade der Ehrlichkeit hinabglitt in die dunkle Menge derer, die der landläufigen Moral den Rücken gekehrt kam, – ich würde viele Stunden dazu brauchen. –
Nur ein Schwächling wird nach dem Grundsatz handeln: ‚Wer sich entschuldigt, klagt sich an!‘ Der Starke wird stets versuchen, seine Handlungsweise im Notfalle anderen menschlich näherzubringen. Und deshalb sage ich auch dir, Dina: ich bin ohne meine Schuld Hochstapler geworden! –
Es war, als hätte mir das Schicksal schon bei meiner Geburt ins Gesicht gespien. Ich wollte ehrlich bleiben, und immer wieder geschah etwas, das mich hinabstieß in die Tiefen der Gesetzesverachtung. Schließlich gab ich diesen Kampf auf. Ich wurde das, was man Gentlemangauner nennt. Ich stahl dort, wo Überfluß vorhanden; wurde Wohltäter mit dem Gelde derer, die das Wohltun als Nebensache betrachteten und schlemmten, wo andere darbten. Ich lebte selbst dabei auf großem Fuße und bildete mich in allen Wissenszweigen weiter.
Dann traf ich mit einer Deutschrussin und ihren beiden Töchtern in Belgien zusammen. Die Frau war ein schwacher Charakter – verwöhnt, daseinsfremd, ohne jede Anpassungsfähigkeit. Die eine Tochter, die hier jetzt als Baron auftrat, gleicht der Mutter vollständig. Die andere ist aus gesünderem Holze geschnitzt. Ich rettete die drei vor einem Mädchenhändler. Sie schlossen sich mir an. Aber wir traten stets getrennt auf. Die Mutter und die ältere Tochter wünschten nichts, als angenehm, luxuriös zu leben. Drei Jahre haben wir die ganze Welt bereist. Mich verband mit diesen Frauen nur ein Interesse: das unseres fragwürdigen Gewerbes! –
Als wir im März aus New York nach Deutschland kamen, als ich bei euch, Dina, zu verkehren begann, entstand der Plan, die Perlensammlung des Konsuls zu stehlen. Ich mußte jedoch erst seine zänkische, unleidliche Schwägerin entfernen, damit Frau Helene Obranow dort Hausdame werden könnte. Ich spielte den Privatdetektiv, der angeblich im Auftrage Fräulein Sidonies den Konsul überwachen sollte. Merk trennte sich daraufhin von seiner heiratstollen Schwägerin. –
Der Millionenplan wäre fraglos auch geglückt – trotz dieses Blaw! Aber – gestern habe ich ihn freiwillig aufgegeben, Dina, – freiwillig – aus Liebe zu dir! Ich habe gestern abend als Doktor Winter einen Brief an die Obranow in den Kasten gesteckt. Der Brief war der Messerschnitt, der mich für immer von den drei Frauen scheidet, oder besser: sie von mir befreit! – Ich habe ihnen geraten, die Vergangenheit zu vergessen. Helene Obranow wird im Hause Merks eine neue Heimat finden. Lexa und Rolf wieder sind auf dem besten Wege, sich fürs Leben zu vereinen. Und Jutta, von deren Existenz Merk nun auch erfahren soll, wird durch ihn irgendwo untergebracht werden. –
Ich selbst kam heute in der Absicht zu dir, genau dieselbe Beichte abzulegen, die du soeben gehört hast, Dina. Freilich – ich ahnte nicht, daß Herr Blaw diesem deinem Siege dort nebenan beiwohnen würde. Du hast gesiegt, Dina. Du besitzt nun auch meine Seele mit all ihren Abgründen. Die Liebe war stärker als ich! Und du – hast mich verraten!“
„Noch nicht, Holger, – noch nicht!“ sagte Frau Dina scheinbar kühl und lehnte sich zurück. „Blaw beobachtet uns. Ich wünschte, ich könnte deine Hand nehmen, Holger, und dir ehrlich voller Zärtlichkeit in die Augen schaun! – Holger, noch ist nichts verloren, nichts. Ich werde nötigenfalls beschwören, daß ich gestern abend mit dir sprach, als Doktor Winter die Treppe hinabging –“
Holger schüttelte den Kopf. „Nein, Dina, – dieses Opfer würde ich nie annehmen – nie! – Dina versprich mir, daß du, auch wenn du mich nicht wiedersehen solltest, mit derselben Willenskraft gegen den Tod –“
„Was beabsichtigst du?!“ unterbrach sie ihn angstvoll. „Holger – was planst du?! – Sprich – oder, so wahr ich dich über alles liebe, – ich –“
Sie schwieg. – Blaw hatte die Balkontür geöffnet.
„Die fünf Minuten sind vorüber, Herr Balting,“ sagte er eisig.
Dina sprang auf. „Meine Herren – gehen wir ins Zimmer! Nur hier auf dem Balkon keine Szene.“
Blaw trat zurück. Dina verschwand im Schlafzimmer, war sofort wieder im Salon, eilte an die Flurtür, schloß ab.
Plötzlich fuhr Blaw zusammen. In Dinas erhobener Hand blinkte etwas, das wie ein vernickeltes Spielzeug aussah.
„Herr Blaw!“ sagte Dina mit unnatürlich wirkender Ruhe, während ihre feinen Nasenflügel zitterten. „Herr Blaw – ich erschieße erst Sie und dann mich, sobald Sie etwa um Hilfe rufen! – Holger, binde und –“
Holger war neben Blaw getreten. Er hatte gleichzeitig Dinas Arm mit der Waffe herabgedrückt.
„Bitte – keine Filmszenen, Dina!“ meinte er gleichmütig. „Du siehst ja, wie siegesgewiß Herr Blaw lächelt. Die Villa ist fraglos umstellt, das heißt, der Ausgang wird bewacht –“
„Allerdings!“ nickte Blaw ironisch.
„Danke sehr, Herr Blaw. Das wollte ich nur wissen –“ und Holger füllte aus der Wasserkaraffe das eine Glas bis zur Hälfte, zog ein Fläschchen aus der Tasche und schüttete den Inhalt in das Glas.
„Es ist Blausäure, Herr Blaw. Es reicht für Dina und mich,“ erklärte er mit ironischer Überlegenheit. Dann faßte er in die Brusttasche und warf zwei Päckchen auf den Tisch. „Da – die achtzigtausend Mark, die ich Herrn Plemert schuldig bin, und Frau Maikowlers Brillanten –“ –
Er wollte das Glas an den Mund führen.
Dina war neben ihn geeilt und hatte sich leicht an ihn gelehnt. In ihren Augen lag es wie ein Schimmer von Verklärung. Sie fürchtete den Tod nicht. Das dunkle Land der Toten hatte für sie keine Schrecken mehr. – Sie schaute Holgers stolzes, offenes Gesicht von der Seite an.
Da – mit einem blitzschnellen Satz hatte Blaw die Entfernung bis zu dem Paare hin durchmessen, wollte Holger das Glas aus der Hand schlagen.
Holgers Handgelenk zuckte nach oben. Der Inhalt des Glases flog Blaw ins Gesicht. Und Blaw hatte gerade rufen wollen: ‚Halt – ich will Sie lebend haben!‘
Blaw spürte das Brennen in den Augen, spürte in der Nase einen scharfen, beizenden Geruch – taumelte – wurde von Holger aufgefangen.
„Ich werde ihn auf dein Bett legen, Dina, und ihn einschließen. Der wird erst nach vier bis fünf Stunden wieder zu sich kommen!“ sagte Holger kurz. „Packe etwas Wäsche für dich zusammen – schnell! Die Villa hat einen zweiten Ausgang über den Hof.“
Fünf Minuten später verließen sie die Villa. Holger trug die Reisetasche. – Sie kamen ungehindert in die Südstraße.
„Zum Strande!“ meinte Holger. „Ich habe auf einen ähnlichen Ausgang gehofft, Dina; ich habe auf die Größe deiner Liebe gerechnet! Ein Passagierflugzeug liegt bereit. Ich mietete es schon gestern abend für den heutigen Tag zu einem Ausflug nach Schweden. Mein kleiner Koffer befindet sich auf dem Zweidecker.“ –
Das Flugzeug glitt über das Meer hin, schwebte empor.
Dina warf noch einen Blick zurück auf das Panorama von Zoppot; ihre Hand ruhte in der Holgers.
Dann mußte sie sich auf den Boden der Gondel setzen, um dem Zugwind zu entgehen.
Der Zweidecker stieg höher und höher.
Das Land tauchte in Dunstschleiern unter.
*
Im Herbst desselben Jahres heirateten Lexa und Rolf. Frau Obranow war noch immer Hausdame bei Konsul Merk, und Merk war sehr zufrieden mit ihr. Jutta hatte sich inzwischen mit einem Bekannten des Konsuls verlobt. Die Vergangenheit der drei Frauen war tot – für immer. – Sie hatten aus den Abgründen des Lebens den Weg in die Welt der Alltagsmenschen zurückgefunden. –
Lexa und Rolf machten ihre Hochzeitsreise nach München, fuhren auch für einen Tag an den Starnberger See, verließen in Tutzing den Dampfer und schlenderten durch den idyllisch gelegenen Ort, kamen so auch an einem bescheidenen Häuschen vorüber, das mitten in einem Obstgarten lag.
Ein Mann mit dunklem Spitzbart harkte die Wege; eine schlanke Frau tollte mit einem Hunde umher. –
Rolf Raabner blieb plötzlich stehen. Ein heller Freudenschein flog über sein Gesicht.
Dann nahm er Lexas Arm und machte kehrt. –
Erst abends in München sagte er zu ihr:
„Nun erst kann ich ganz froh sein. Nun weiß ich, daß es Dina, meiner Jugendgespielin, gut geht, daß sie gesund geworden ist!“
Auch Dina hatte dem Paare nachgeschaut, rief dann leise:
„Holger, – sie waren’s! Dort – die beiden Touristen!“
Sie hängte sich in seinen Arm ein.
„Holger, wenn sie doch so glücklich würden wie wir! – Auch sie sind durch die Perlen des Konsuls zusammengeführt worden. Und Perlen sind die versteinerten Tränen der Seele. Mögen ihnen Tränen erspart bleiben!“
Holger Balting zog Dina an sich.
„Ohne Tränen kein wahres Glück, mein Liebling. Glück will erkämpft werden. Wem das Glück in den Schoß fällt, weiß es nicht zu schätzen! Wir beide wissen es, Dina, denn – wir beide haben es uns erkämpft, dieses gemeinsame, stille Leben voller Sonnenschein –“
Er küßte sie.
* *
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