Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 340
Fremdenheim „Sonnenstrahl“
Roman von
W. Lersa.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin S. 14, Dresdener Straße 88-89
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag mod. Lektüre G.m.b.H., Berlin.
1. Kapitel
Frau Elfriede von Sonnenstrahl weinte herzzerbrechend. Der Papagei in seinem großen Käfig am Fenster begleitete das Schluchzen durch mißtönendes Kreischen, pfiff auch zuweilen einige Takte von ‚So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage…‘. Das Lied hatte ihm Kurt von Sonnenstrahl beigebracht. Es paßte so gut zu dem daseinsfrohen, stattlichen Mann, in dem eine so unbezähmbare Genußsucht und ein solcher Hang zu leichtester Auffassung aller Pflichten, die selbst dem Reichen obliegen, steckten.
Kurt von Sonnenstrahl würde Lorchen keine Lieder mehr geduldig vorpfeifen und sich an des Papageis schneller Auffassungsgabe nicht mehr erfreuen. Heute hatte Frau Elfriede auf ihre vor zwei Monaten an das Kriegsministerium eingereichte Anfrage den Bescheid erhalten, daß ihr Ehemann, Oberleutnant der Reserve und Kompanieführer im Gardelandwehrregiment Nr. 5, nach den neuesten Ermittlungen tatsächlich bei Tucholka gefallen war.
Die endlos lange Zeit quälender Ungewißheit über das Schicksal ihres Gatten hatte dem feingeschnittenen, wenn auch nicht gerade schönen Gesicht der jungen Frau, die ihr Eheglück kaum zwei Jahre ungetrübt genießen durfte, einen besonderen Zug eingeprägt, der ihm jedoch, wie manche Bekannte der einst vielbeneideten Lebensgefährtin des millionenschweren Rentiers behaupteten, nur zugute kam. Dieser Hauch von nachdenklichem Ernst, der jetzt stets auf dem bisher etwas herausfordernd kecken Antlitz wie ein schwacher Wolkenschatten lag, enthüllte eigentlich erst die Reize des wohlgeformten frischen Lippenpaares, der schmalen, rassigen Nase und der großen grauen Augen, über denen auffallend starke Brauen eine hohe, für Kenner Klugheit und Willensstärke verratende Stirn begrenzte.
Frau Elfriedens Tränen versiegten langsam. Eigentlich war dieses fassungslose Schluchzen und Wimmern nur der letzte Ausklang eines großen, seit langem mutig ertragenen Schmerzes; denn die Hoffnung, Kurt könnte noch am Leben sein, hatte sie bereits an dem Tage aufgegeben, als das Regiment ihr aus dem Felde schrieb, ihr Gatte würde seit den letzten Rückzugsgefechten vermißt und es wäre leider nur zu wahrscheinlich, daß er gefallen sei. Und das war nun bereits ein Jahr her.
Sie trocknete die Tränenspuren, erhob sich und klingelte nach ihrer Zofe. Es dauerte sehr lange, ehe die schlanke Anna erschien, die zu Lebzeiten des Herrn von dessen zahlreichen Freunden so lohnende Trinkgelder eingeheimst hatte. Sonnenstrahls waren ja nie allein, konnten ohne großen Verkehr sich das Dasein kaum vorstellen, langweilten sich, wenn sie in ihrer Achtzimmerwohnung nicht ständig Gäste um sich hatten.
„Wo bleiben Sie denn nur, Anna!“ sagte Frau Elfriede ungeduldig. „Legen Sie mir das Schwarzseidene und den Regenmantel zurecht. Ich will nach Bernstadt zu meinen Eltern fahren.“
Anna wollte wortlos wieder hinausgehen.
„Haben Sie verstanden?!“ rief Frau Elfriede gereizt. „Es ist ganz ungehörig, keinerlei Antwort zu geben.“
„Ja doch, ich hab’ verstanden.“ Sie drehte sich in der Tür langsam um, fügte hinzu: „Der von der Bank ist auch wieder da.“
Frau von Sonnenstrahl wollte aufbrausen. Der Ton, den Anna seit einigen Tagen ihr gegenüber anzuschlagen wagte, war geradezu herausfordernd frech. Aber die Erwähnung des Beamten der Ostbank wirkte wie ein Guß eiskaltes Wasser.
„Bestellen Sie dem Herrn, ich käme sofort.“
Frau Elfriede war wieder allein. Sie fühlte, wie ihr eine ungewisse Angst zum Herzen kroch. Was würde sie von dem Beamten hören müssen? Sollte tatsächlich Kurts ganzes Vermögen verloren sein? Das – das war doch einfach undenkbar…! – –
Der Vorortzug rollte gen Bernstadt. Frau von Sonnenstrahl saß in der Ecke eines leeren Abteils zweiter wie ein scheues Vögelchen. Sie hatte den schwarzen Schleier tief über das Gesicht gezogen. Auf dem Bahnhof in Lottow war sie allen Bekannten ängstlich ausgewichen. Und jetzt schien ihr aus dem gleichmäßigen Geräusch des dahinjagenden Zuges nur immer ein Wort entgegen zu tönen: ‚Arm – arm – arm…!‘ –
Der Rechnungsrat Sommer war gerade aus dem Dienst heimgekehrt, als er seiner Ältesten vor dem Hause begegnete.
„Und – ganz in Schwarz? Trauerhut…?“ rief er erschreckt. „Hast du etwa endlich…“
Sie nickte, unterbrach ihn. „Ich war ja darauf vorbereitet. Meine Trauergarderobe hatte ich mir schon vor vier Monaten bei der Gundler…“ Sie wollte noch hinzufügen, daß die Gundler, die erste Schneiderin in Bernstadt, jetzt geradezu unverschämte Preise fordere, besann sich aber noch zur rechten Zeit auf das wenig Passende einer solchen Bemerkung gleich im Anschluß an diese Bestätigung, daß sie sich von heute ab nun tatsächlich als Witwe betrachten müßte.
Der Rechnungsrat, ein langer, hagerer Mann mit einem faltigen Totenkopfgesicht, das stets einen halb ängstlichen, halb unterwürfig-freundlichen Ausdruck zeigte, drückte Elfriede mit mühsam zusammengesuchten Worten – den guten Kurt hatte er für seine Person längst aus der Liste der Lebenden gestrichen – sein Mitleid aus.
„Laß nur, Papa…“, meinte sie. „Wir hatten uns ja eigentlich bereits mit dieser traurigen Tatsache abgefunden gehabt. Leider bleibt es nicht bei der einen – leider… Doch das will ich Mama und dir oben erzählen. Es ist … furchtbar…“
Sie stieg ihm voran die drei Treppen empor.
Im Eßzimmer bei Sommers stand die Suppe bereits auf dem Tisch; eine dünne Kartoffelsuppe… Schrieb man doch das Jahr 1917, und hatte doch für das vermögenslose Beamtentum da bereits jene schwere Zeit eingesetzt, wo in den Haushaltungen die Frage nach der Beschaffung der notwendigen Lebensmittel alle anderen Sorgen in den Hintergrund drängte.
Die Rechnungsrätin umarmte ihre Älteste auch heute wie stets mit jener übertriebenen Zärtlichkeit, die mehr der Frau des reichen Schwiegersohnes als dem eigenen Kinde galt.
Auch die beiden jüngeren Sommerschen Kinder, die achtzehnjährige Margot und der um ein Jahr jüngere Karl Heinz, begrüßten die Schwester mit einer gewissen achtungsvollen Herzlichkeit. Margot bewunderte im Stillen den überaus schicken Witwenhut mit der weißen Borte, fand Elfriede darin geradezu entzückend und vergaß über diesen Gedanken beinahe, ihr gleich der Mutter und Karl Heinz jetzt zu kondolieren.
„Es ist am besten, ihr erfahrt alle gleichzeitig, welche Veränderung in meinen Verhältnissen eingetreten ist,“ sagte Frau von Sonnenstrahl nun und nahm am Eßtisch gleich den übrigen Platz.
Die vier Sommers sahen sich mit Blicken an, die ihre innere Unruhe bei dieser Andeutung verrieten.
Elfriede schaute mit gesenktem Kopf auf einen großen Fleck in der Mitte des Tischtuchs, fuhr dann zögernd fort:
„Kurt hat trotz vielfacher Warnungen des Bankdirektors Hutter seine russischen Papiere vor dem Kriege nicht umgesetzt. Heute teilte mir die Ostbank mit, daß ich mein Guthaben bereits um zweitausend Mark überschritten hätte und … und daß Kurts ganzes – ganzes Vermögen verloren wäre.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden. Die letzten Worte erstickten fast ganz unter einem nicht mehr niederzuhaltenden Aufschluchzen.
Im Zimmer war’s totenstill. Alle saßen wie erstarrt da. Dann entschlüpfte der Rätin, einer kleinen, rundlichen Frau mit kokett hochgekämmtem grauem Scheitel und stets ein wenig entzündeten Augen, ein klägliches „Mein Gott!“
Der Rat leckte sich verstört die Lippen; dachte nur daran, daß es nun mit dem monatlichen Zuschuß von zweihundert Mark aus war. – Ähnlich waren auch die Gedanken Margots und des Fahnenjunkers Karl Heinz. Elfriede hatte ja stets eine offene Hand und volles Verständnis für die häufige Börsenleere ihrer Geschwister gehabt.
Die Rätin warf ihrem Manne jetzt, nachdem sie sich leidlich gefaßt hatte, einen langen Blick zu. Er verstand, was sie ausdrücken wollte: Womöglich fällt sie uns nun gar wieder zur Last…!
Das Schweigen wurde peinlich. Sommer empfand sehr richtig, daß er als Vater notwendig zu dieser Unglücksbotschaft sich irgendwie äußern müßte.
„Kind, ist denn gar nichts für dich zu retten?“ meinte er unsicher.
„Nichts! Der Bankbeamte, der heute Vormittag bei mir war, betonte, daß es von Kurt überaus leichtsinnig gewesen wäre, ein so großes Vermögen der höheren Zinsen wegen lediglich in ausländischen Werten anzulegen, besonders noch in Industrieaktien. Es ist ja richtig, in Moskau sind die ganzen Webereien vernichtet, ebenso in Petersburg vom Pöbel die Uralwerke niedergebrannt worden.“
„Entsetzlich!“ stöhnte die Rätin.
„Ja, es ist ein Sturz von der Höhe in einen Abgrund,“ schluchzte Elfriede. Sie war zuweilen etwas theatralisch, auch in ihren Redewendungen.
„Du hast ja Anspruch auf Militärwitwengeld,“ sagte der Rat da, langte nach dem Aufgabelöffel und füllte sich den Teller.
Der lähmende Bann war gebrochen. Die Frage nach der Höhe der Witwenversorgung wurde lang und breit erörtert, während man zu essen begann.
Elfriede saß zurückgelehnt da und spielte nervös mit dem Schloß ihres goldenem Handtäschchens, knipste es auf und zu.
„Also etwa eintausendundachthundert Mark würde Elfriede erhalten?“ fragte die Rätin ihren Gatten.
„So ungefähr.“
Frau von Sonnenstrahl lächelte bitter. „So viel mag bisher meine Jahresrechnung bei der Putzmacherin betragen haben,“ meinte sie müde und verzweifelt.
Wieder das drückende Schweigen…
Anna, das Mädchen für alles, bei Sommers seit zehn Jahren im Dienst, brachte den zweiten und letzten Gang: Kohlröllchen mit einer sehr spärlichen Fleischfüllung. – Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, tyrannisierte die ganze Familie, wenn sie schlechter Laune war, hatte aber im übrigen Vorzüge, die sie den Sommers geradezu unentbehrlich machten.
Der Witwenhut verriet Anna, die stets in alles eingeweiht wurde, daß der Bescheid vom Kriegsministerium eingetroffen war.
„Na – wir haben’s doch längst gewußt, daß der gnädige Herr nicht mehr lebt,“ sagte sie, Elfriede aufmunternd zunickend. „Nu man nich noch länger und noch mehr den Kopf hängen lassen, Frau Friedchen. Der Mensch kommt über alles weg. Als mich der Karl Bendig damals sitzen ließ, das war auch kein Spaß…“
Die Rätin fürchtete, Anna könnte auf diese nicht ganz einwandfreie Liebesgeschichte noch näher eingehen und sagte daher schnell: „Frida ist ohne jedes Vermögen zurückgeblieben…“
„Na nu – wie das?“ fragte das robuste, alternde Mädchen ungläubig. Als ihr der Rat die Sachlage dann kurz erläutert hatte, meinte sie:
„Noch lange kein Grund, gleich so dreinzuschaun, als wenn die Welt untergehen will, – noch lange nich! Frau Friedchen ist doch jung, kann sich ‘ne Beschäftigung suchen. Zum Nichtstun ist doch eigentlich niemand von Gott bestimmt. Und – ein Glück, daß bei diesen Verhältnisse keine Kinder da sind.“
„Schon gut, Anna!“ sagte der Rat streng. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser…“ Das war stets für Anna das Zeichen zum Verschwinden, dieses Glas Wasser.
Es wurde auch weiter eine recht ungemütliche Mahlzeit für die Familie. Niemand wußte so recht, was er sprechen sollte. Die Rätin entwickelte allerlei Pläne, wie ihre Älteste auch weiterhin leidlich standesgemäß leben könnte. Diese Vorschläge waren Schaumblasen, zersprangen, sobald man sie näher untersuchte. Der Hausherr wieder versprach, sich um die Beantragung des Witwengeldes kümmern zu wollen. Es wurde viel geredet; das meiste, um nur nicht abermals eine peinigende Stille eintreten zu lassen.
Elfriede beteiligte sich kaum an alldem, obwohl es sich doch lediglich um ihre Person hier handelte. Sie fühlte immer deutlicher, daß sie bei den Ihrigen keine Ratschläge erhalten würde, die der veränderten Vermögenslage sich genügend anpaßten. Weder Vater noch Mutter trauten ihr zu, das durchführen zu können, was die ehrliche Anna so rücksichtslos angedeutet hatte: zu arbeiten. Immer sannen sie nur darauf, wie Elfriede es möglich machen könnte, nach außen hin als Frau von Sonnenstrahl den Schein wahren zu können. Die Rätin besonders betonte wiederholt: „Nur keinem Menschen sagen, wie es steht. Sonst geht’s mit der Schadenfreude los, und du verlierst auch den ganzen vornehmen Verkehr.“
Elfriede verabschiedete sich. Sommer war es gewöhnt, nach Tisch eine Stunde sich zurückzuziehen. Darauf wurde stets Rücksicht genommen. Dann schlich alles auf Zehenspitzen umher.
„Papa braucht Ruhe,“ sagte sie. „Ich werde in den nächsten Tagen wieder herkommen.“ Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß alle aufatmeten, als sie aufbrach.
2. Kapitel
Während man bei Sommers jetzt darüber beriet, ob man Kurts wegen nun Trauer anlegen müßte und sich – der Kosten halber! – sehr bald dahin einigte, es zu unterlassen, da ja sogar ‚von oben her‘ die Vermeidung schwarzer Kleidung gewünscht würde, schritt Elfriede langsam und mit trüben Gedanken beschäftigt durch die von lärmenden Kindern erfüllte Breitgasse dem Hauptbahnhof wieder zu.
Noch nie hatte sich Elfriede so einsam, so auf sich allein angewiesen gefühlt wie jetzt. Es war ihr, als seien alle Menschen, die ihr noch gestern nahegestanden hatten, weit von ihr abgerückt. Eine große Leere war um sie. Und aus diesem Empfinden, durch eine kahle, flache Ebene dahinzuwandern, wuchsen seltsame Gedanken heraus, wie die junge, verwöhnte Frau sie bisher nie gekannt hatte. Mit gleichsam ausgeschaltetem Gesichts- und Gehörsinn ging sie weiter und weiter, vorüber an dem großen, roten Ziegelbau des Bahnhofs und hinein in das nahe Viertel, wo die ärmere Bevölkerung der Stadt in uralten Häuschen oder riesigen, nüchternen Mietskasernen, die dicht neben den altersschiefen Baracken wie freche Eindringlinge sich hochreckten, mit ihren Sorgen und Kümmernissen hauste. Unbewußt zog es heute die schlanke Witwe hierher; ganz unbewußt…
Es war ein fast zu warmer Apriltag, und die Gassen und Gäßchen waren angefüllt mit dem jungen Nachwuchs dieses Viertels, dem die Begüterten, wenn ihr Herz noch nicht ganz verhärtet war, scheu auswichen, um diese Ärmlichkeit nicht wie einen stummen Vorwurf zu fühlen.
Ein Dunst von allerlei faden Gerüchen erfüllte die Luft. In den Türen standen früh verblühte Frauen, hin und wieder auch ein paar Feldgraue. Sie schauten Elfriede nach und tuschelten miteinander…
„Lackstiebel – natürlich! Und unsereiner looft auf der Brandsohle schon… Na, der Tod ist wenigstens unparteiisch… Wohl ‘ne Witwe…“ – Schadenfreude klang durch all diese Bemerkungen hindurch.
Elfriede sah, hörte nichts; schaute nach innen, lauschte den Stimmen, die aus ihrer Seele lauter und lauter hervordrangen…
Einsam…! Kurt war aus ihrem Leben ausgelöscht wie einer, der in Wirklichkeit nie dagewesen. Nichts hatte sie von ihm zurückbehalten, nicht einmal ein Grab, nicht mal ein Fleckchen Erde, an dem sie denken konnte: Dort ruht er aus, dort liegt das, was von ihm noch übrig… – Kurt von Sonnenstrahl…!
Ja – ganz Bernstadt und das nahe Modebad Lottow hatte sich lange nicht darüber beruhigen können, als der junge Lebemann und Millionär gerade die Tochter eines bescheidenen Subalternbeamten erwählt hatte… Erst als die Kreise, in denen Kurt von Sonnenstrahl seit Jahren mit tonangebend für vieles und seiner harmlosen Liebenswürdigkeit wegen überaus gern gesehen war, der mit viel natürlichem Takt und noch mehr abgelauschter Weltgewand auftretenden jungen Frau sich erschlossen hatte, war man über diese Wahl zur Tagesordnung übergegangen. –
Und die Ehe selbst…?! Nach außen hin machte das Paar stets den Eindruck zweier glücklicher, ausgelassener Kinder, über deren kleine Torheiten man lächelnd hinwegsah, da es eben verliebte Torheiten waren.
Heute – heute erkannte Elfriede, wie wenig Kurt und sie sich nach den ersten Wochen eines tollen Rausches an ernsteren Gaben gereicht hatten, wie dünn die schillernden Bande in Wahrheit gewesen, die ihre Seele vereinten. Waren sie allein, wußten sie sich nichts zu sagen, tändelten miteinander, führten kleine Komödien gegenseitigen Reizens, Gewährens und Verweigerns auf, nur um sich darüber hinwegzutäuschen, daß es keine tiefere, geistige Gemeinschaft zwischen ihnen gab. –
War Kurt denn überhaupt der Mann gewesen, der hiernach verlangte, der etwas in seiner Ehe vermißt hatte…? War er nicht Genußmensch durch und durch, oberflächlich, jeder höheren Interessen bar und – war sie nicht lediglich sein Spielzeug und er wieder für sie der gewesen, der es ihr ermöglicht hatte, ihr Sehnen nach berechtigter Zugehörigkeit zu jenen Gesellschaftskreisen zu befriedigen, die sie nur von ferne kannte und deren Mitglieder sie so glühend beneidete…?!
Hatte sie Kurt geliebt…?! Hätte nicht jedes Mädchen zugegriffen, sich Liebe eingeredet, wenn sich ihr eine solche Partie bot…?! – Und nun – nun wieder der Sturz in die Tiefe…! Arm, – arm – nichts mehr von Luxus, nichts mehr von jenem fast unbeschränkten Erfüllenkönnen aller Wünsche! Nun rechnen lernen, sparen lernen, all das aufgeben, was mit den vornehmen Räumen der großen Wohnung dort am Südpark in Lottow zusammenhing…
Das neue Leben sollte beginnen – jetzt sofort, – mußte begonnen werden, um nicht noch mehr Schulden den bereits vorhandenen hinzuzufügen… – Schulden, Geldsorgen…! Was wußte sie bisher davon…?! Nichts – nichts…! Und dennoch, sie mußte sich hineinfinden, mußte…! Der Bankbeamte war heute bereits recht deutlich geworden, hatte Begleichung der Summe von eintausendundfünfhundert Mark binnen acht Tagen ‚erwartet‘ – erwartet! Woher nur das Geld nehmen – woher? Sie besaß ja kaum noch hundert Mark…! Und dabei waren noch überall Rechnungen zu bezahlen – sicherlich auch ein paar tausend Mark…!
Die junge Frau merkte, wie ihr siedend heiß wurde. Ihre Lage erschien ihr verzweifelt. Das Gefühl, jetzt so völlig vor dem Nichts zu stehen, raubte ihr die klare Überlegung, zeigte ihr die Dinge in schwärzerer Beleuchtung, als dies in Wirklichkeit der Fall war.
Ja – wenn sie nur einen einzigen Menschen gehabt hätte, dem sie sich restlos anvertrauen könnte, der fähig gewesen wäre, ihr brauchbare Ratschläge zu erteilten…! Brauchbare, – nicht solche, wie Mutter und Vater sie bereit gehabt hatten, denen es undenkbar erschien, daß ihre Tochter, ihr Stolz, das Prunkstück der Familie, je wieder den Kreisen den Rücken kehren müßte, in die eines Kurt von Sonnenstrahls Adelswappen sie eingeführt hatte…
Elfriede ging in Gedanken die endlose Reihe ihrer Bekannten durch; prüfte jeden einzelnen, wie sie es bis dahin nie getan, prüfte mit geistigen Augen, die plötzlich erst sehend geworden zu sein schienen. – Nein – da war auch nicht einer, zu dem sie hätte hingehen können und sagen: ‚So stehe ich jetzt da. Wie soll ich aus den Trümmern des alten ein neues Leben aufbauen?‘
Sie machte plötzlich halt, hob den dichten Schleier… Luft – Luft…! Sie glaubte ersticken zu müssen. Die Angst vor der Zukunft preßte ihr das Herz zusammen, benahmt ihr den Atem.
Verwirrt schaute sie sich um. Wie war sie eigentlich in diese Gasse geraten…?! Dort erhob sich ja die Markthalle, dahinter blinkte am Ende einer Straße der breite Strom, reckten Schiffsmasten sich in die Höhe…
Dann fiel ihr Blick zur Seite – auf ein armseliges Schaufenster eines kleinen Weißwarengeschäfts; wollte schon weiter gleiten, blieb doch auf den billigen Schürzen, den groben Wäschestücken, den farbigen Strümpfen haften…
Und ein ernstes, stilles Frauenantlitz schien nun in diesem Rahmen der bescheidenen, ärmlichen Waren aufzutauchen; einen Namen formten Elfriedes Lippen, einen Namen, der bei Sommers verpönt war…: „Tante Emilie…“
Tante Emilie…! – Die junge Witwe hob den Kopf, ihre Gestalt straffte sich; die Angst verschwand; leicht und froh fühlte sie sich plötzlich, eilte hastig weiter…
3. Kapitel
Gegenüber dem Haupteingang der Markthalle lag an dem großen Domplatz das Weißwarengeschäft Emilie Körtigs, der Schwester der Rätin. Es war nur ein mittelgroßer Laden; aber bis an die Decke reichten die gefüllten Regale. Und an Markttagen, wenn aus der Umgegend die ländliche Bevölkerung sich hier auf dem großen Domplatz zusammen–fand, kam die Türglocke bis zum Abend nicht zur Ruhe. Hinter dem Laden lag gleich das saalartige Zimmer, in dem von früh bis spät acht Uhr abends Nähmaschinen schnurrten, in dem in den Arbeitspausen Gelächter und Gewisper von Mädchenstimmen ertönte und auf dem Gaskochherd in der Ecke all die verschiedenen Kochtöpfe dampften, in denen Kaffee, Tee, Milch oder gar Kakao gewärmt wurden.
Heute war ein stiller Tag. Emilie Körtig verhandelte gerade mit dem Reisenden einer Leinenfabrik, der seine Muster auf dem Ladentisch ausgebreitet hatte.
Es war wie immer der reine Kampf. Der Reisende hatte schon häufig mit Emilie Körtig zu tun gehabt. Ihm graute stets vor diesen Besuchen. Er kam stets schon mit dem Bewußtsein, schlecht abzuschneiden. Niemand verstand ja die Preise so zu drücken, Ware so zu bemängeln wie das alte Fräulein mit der hochgetürmten grauen Frisur und dem goldenen Kneifer auf der starken Nase; niemand wußte so gut Bescheid in Leinenartikeln, in Zwirn und Wolle wie Emilie Körtig.
„Ich werde Ihnen was sagen,“ erklärte sie jetzt in dem breiten Bernstädter Dialekt, der stark an das durch Robert Johannes berühmt gewordenen Ostpreußisch erinnerte, „ich bestelle fünfhundert Meter, wenn Sie bei Ihrem Preise bleiben, eintausend, wenn Sie auf meinen eingehen. Übrigens kommt auch morgen der Chemnitzer. Vielleicht ist der weniger bockbeinig.“
Da rasselte die Türglocke. Fräulein Emilie schaute auf, öffnete den Mund, rief erst nach ein paar Sekunden:
„Ne – wahrhaftig – die Frieda!“ Fügte aber sofort hinzu: „In Trauer…? Kind, ist etwa…“
Elfriede drückte die Hand, die sich ihr herzlich entgegenstreckte, nickte nur, wußte vor Verlegenheit nicht, was sie sagen sollte. Seit vier Jahren, seit ihrer Verlobung, hatte sie die Tante nicht mehr gesehen.
Das alte Fräulein ahnte, was in der Seele ihrer Nichte vorgehen mochte.
„Hier ist der Schlüssel,“ sagte sie. „Du weißt ja wohl noch Bescheid. Ich komme gleich nach.“
Elfriede trat durch die schmale Tür in den Hausflur, stieg die ausgetretene Treppe empor und setzte sich dann in dem Wohnzimmer der Tante in die Ecke des alten Plüschsofas; blickte sich um, fand hier alles wie früher, wie damals, als sie noch so oft ohne Wissen der Eltern sich Tante Emiliens delikate Äpfelkuchen hatte gut schmecken lassen.
Unten im Laden notierte der Reisende die bestellten tausend Meter, rief Fräulein Körtig dann ihre altbewährte Vertreterin aus der Arbeitsstube herbei und ging nun langsam, nachdenklich nach oben in ihre Privatwohnung.
„So, Kind, – nun mach’ dir’s erstmal bequem,“ sagte sie dann sofort zu der Nichte. „Wir werden uns eine anständige Tasse Bohnenkaffee aufbrühn, und auch die gewohnten Appelplinsen sollst du haben. – Zier’ dich nicht! Du wirst die Äpfel in der Küche klein schneiden, derweilen ich das andere besorge. Dabei läßt sich’s am besten plaudern. – So, hier hast du auch ‘ne Wirtschaftsschürze…“ –
Als auf der Pfanne die ersten drei Plinsen lustig brozelten, als Elfriede die Kaffeemühle im Schoß hatte und die Kurbel etwas ungeschickt drehte, meinte Emilie Körtig ernst:
„Also so stehen die Aktien…! Dein Mann muß alles andere nur kein Finanzgenie gewesen sein. Na – von Toten soll man nur Gutes reden. Vielleicht ist’s auch gar kein so großes Unglück, daß der ganze Mammon futsch ist. Als Mädel steckte ein recht gesunder Kern in dir. Ob diese Ehe noch viel davon übrig gelassen hat, weiß ich ja nicht. Wird sich aber bald herausstellen. Immerhin ist’s ein gutes Zeichen, daß du gerade heute den Weg zu mir gefunden hast. – – So, die ersten drei sind fertig. Hier, Kind, – eine zum Schmecken. Dort steht die Zuckerdose. Ja – ja, Butter haben wir noch, brauchen noch keine Margarine. Meine Landkundschaft versorgt mich mit allem. Fauler sieht’s mit dem Leinen aus. War ein reines Kunststück, noch tausend Meter heute vor Toresschluß zu ergattern und zu einem halbwegs annehmbaren Preise. Ja – der Krieg – der Krieg! Alles muß man hinten rum besorgen, und eigentlich müßte man für all die Übertretungen der unzähligen Verordnungen längst im Loch sitzen…“
Elfriede war es, als hätte ein schützender Hafen sie aufgenommen. Sie fühlte sich hier so geborgen, so sicher. Sie hatte nicht umsonst gehofft, daß Tante Emilie ihr nichts nachtragen würde.
Die hatte den Teig durchgerührt, drei neue Plinsen auf die Pfanne gebracht und begann nun wieder:
„Also dein neues Leben…! – Ja, Kind, – zunächst heißt es, mit dem alten Schluß zu machen. Dazu gehört: Aufgeben der Wohnung, Entlassung eurer drei Dienstboten, Zusammenstellung der Schulden, Verkauf der überflüssigen Möbel und alles sonst Entbehrlichen. In Lottow bekommst du für billig Geld eine Zweizimmerwohnung. Eine Aufwartefrau genügt. Mittag kannst du in der Kochschule des Frauenvereis essen. Die anderen Mahlzeiten besorgst du dir selbst. – In großen Zügen wäre das so mein Programm…“ – –
Als Frau von Sonnenstrahl abends kurz vor acht Uhr den Bahnsteig des Vorortsbahnhofs betrat, standen da der Freiherr von Minkwitz nebst Frau Oberst von Gilsenkron, alles Menschen, mit denen Sonnenstrahls sehr freundschaftlich verkehrt hatten und mit denen Elfriede noch vorgestern bei Rittmeister von Bronk zusammen gewesen war.
Elfriede trat auf die Gruppe zu. Aber sehr bald wurde ihr bewußt, daß man sie offenbar absichtlich mit eisiger Zurückhaltung behandelte.
Der Kurdirektor von Minkwitz, eine der gefährlichsten Jeuratten Lottows, besaß dann sogar die Taktlosigkeit anzudeuten, daß das Gerücht umginge, der auf dem Felde der Ehre Gefallene hätte sehr große Vermögensverluste erlitten.
„Hoffe stark, daß Frau Fama wieder mal übertreibt,“ näselte er weiter. „Würde mir in Ihrem Interesse sehr leid tun, Gnädigste. Geht ja heute vieles drunter und drüber, leider Gottes! Kriegsgewinnler – Pseudoaristokratie schießt wie Unkraut hoch!“
Und die Gilsenkron beeilte sich hinzuzufügen:
„Wir würden ja allerdings einen solchen Umschwung in unseren Verhältnissen weit ärger empfinden als Sie, Frau von Sonnenstrahl, die Sie doch nicht eben von Jugend an so ganz aus dem vollen schöpfen konnten. Ihr Herr Vater ist doch Beamter, nicht wahr, – Amtsgerichtsrat…“
„Nein – nur Rechnungsrat! Und vordem war er Feldwebel, Frau Oberst, – ganz gewöhnlicher Feldwebel, der sich den Zivilversorgungsschein erdiente! – Guten Abend!“ Elfriede hatte das mit ironischer Gelassenheit erwidert, obwohl in ihrem Innern alles danach schrie, diesen Menschen in ganz anderer Weise zu antworten, ihnen ins Gesicht zu schleudern, was sie von ihnen nach diesen letzten Minuten hielt.
Jetzt saß sie in der Ecke des Abteils zweiter, dachte an Tante Emiliens Worte… ‚Glaub’ mir, Kind, – sie werden dich boykottieren, die Herrschaften, wenn sie erst merken, daß du mit dem Pfennig rechnen mußt. Für sie bist du doch stets nur ein Eindringling geblieben. Sie wissen, wo du herstammst, haben längst rausgeschnüffelt, daß dein Großvater mütterlicherseits Tischlermeister und der väterlicherseits ein kleiner Bauer mit zehn Morgen Land und zwei Kühen war. Das hätten sie nur vergessen, wenn du dem Kurt auch ne Million mit in die Ehe gebracht hättest…! Geld macht alles gleich, macht aus dem Itzigsohn einen Herrn von Klitzig oder so ähnlich und aus seiner Tochter eine vollwertige Gardeleutnantsgattin. Ich kenn’ mich aus in der Welt…!‘
‚Boykottieren‘, hatte die Tante gesagt…! Ja – der Boykott hatte bereits begonnen…! Und früher, als es wohl auch die gute Tante gedacht hatte…! –
„Guten Abend, gnädige Frau!“
Elfriede blickte auf. Es war der Zahnarzt Doktor Gräbner, der seine Praxis in Bernstadt hatte, aber in Lottow wohnte, ein Bekannter ihrer Eltern, mit dem Vater sogar etwas wie befreundet, da beide eifrige Briefmarkensammler waren.
Sie reichte ihm die Hand. „Guten Abend, Herr Doktor. – So viel zu tun gehabt? Sonst fahren Sie doch schon um sechs hinaus.“
Er nahm ihr gegenüber Platz. Seit sie Frau von Sonnenstrahl hieß, seit Kurt ihn einmal bald nach der Hochzeit sehr hatte abfallen lassen, hatte er sie nie mehr angesprochen, war ihr sogar geflissentlich ausgewichen. Sie war daher mit Recht erstaunt, daß er ihr heute so zwanglos seine Gesellschaft halb aufdrängte. Erstaunt – aber nicht unangenehm berührt. Im Gegenteil… Sie freute sich, daß er ebensowenig nachtragend war wie die Tante Emilie, denn nicht Kurt allein hatte den Zahnarzt als nicht standesgemäßen Umgang ziemlich unverblümt abgeschüttelt, sondern auch Elfriede selbst, schnell angesteckt von den einseitigen Vorurteilen ihres Mannes, hatte seinen Gruß stets in etwas herablassender Weise erwidert und bei gelegentlichem Zusammentreffen im Hause ihrer Eltern ebenso stark die jetzt zwischen ihnen bestehende soziale Scheidewand ihm zu verstehen gegeben.
Doktor Gräbner, den sein infolge eines doppelten Schienbeinbruchs zu kurzes linkes Bein militärdienstuntauglich gemacht hatte, war von diesem kleinen körperlichen Gebrechen abgesehen, ein Mann, nach dem mit Recht schon zahllose Mütter heiratsfähiger Töchter ihre Angel ausgeworfen hatten, bisher jedoch stets ganz erfolglos. Gräbner war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt geworden und noch immer unbeweibt; würde es allem Anschein nach auch wohl bleiben.
Auf Elfriedes Bemerkung erwiderte er jetzt:
„Ich war bei Ihrem Herrn Vater, gnädige Frau.“ Dann sprach er ihr mit schlichten Worten sein Beileid aus.
In der jungen Witwe war ein besonderer Gedanke aufgestiegen. Hatte Gräbner vielleicht nur deshalb gewagt sie anzureden, weil er vom Vater erfahren hatte, wie es um ihre Vermögenslage bestellt war…? Glaubte er, daß sie jetzt nach Verlust der anderthalb Millionen ihres Mannes wieder mehr zu den Kreisen gehörte, die in einem Zahnarzt nicht lediglich ein notwendiges Übel sehen, den man zwar braucht, aber im Übrigen nicht für gleichberechtigt hält…? – Sie wollte dies zu gern feststellen, hielt hierzu den geraden Weg für den besten und fragte:
„Hat Papa Ihnen erzählt, Herr Doktor, daß unser Vermögen verloren gegangen ist?“
„Ja, gnädige Frau. – Vielleicht bedürfen Sie gerade jetzt eines aufrichtig ergebenen Beraters. Falls ich mich Ihnen da, ohne aufdringlich erscheinen zu wollen, als alten Freund Ihrer Familie in Erinnerung bringen darf… – Ich helfe Ihnen ja so sehr gern…“ –
Er begleitete nachher Frau Elfriede noch bis nach Hause. In Lottow wurden die Straßen nur während der Saison genügend beleuchtet. Die übrigen Monate brannte nach Dunkelwerden nur alle zweihundert Meter eine Laterne. Da war es Elfriede denn wirklich sehr lieb, daß sie die weite Strecke vom Bahnhof bis zum Südpark nicht allein zu gehen brauchte.
Sie hatten schon in der Bahn auch über Tante Emilie gesprochen. Elfriede hatte ihm erzählt, welche Ratschläge das geschäftsgewandte und welterfahrene alte Fräulein ihr gegeben, hatte hinzugefügt, daß sie sich vorgenommen, alles das auch getreulich zu befolgen.
Jetzt auf dem Wege vom Bahnhof durch die halbdunklen Straßen kam Gräbner ganz von selbst nochmals auf Emilie Körtig zu sprechen.
„Ihrer Schilderung nach, gnädige Frau, muß doch diese Tante Emilie geradezu ein Prachtmensch sein,“ begann er. „Wie kommt es da, daß in Ihrem Elternhause diese Verwandte so vollständig unterschlagen wird, ganz – als hafte ihr irgend ein Makel an?!“
Elfriede erwiderte etwas zögernd: „Einem Fremden gegenüber müßte ich in diesem Punkte zu einer Notlüge greifen. Sie als Freund meines Vaters dürften dagegen Verständnis für die kleinen Schwächen meiner Mutter haben, denn an ihr liegt es, daß Tante Emilie uns seit gut zehn Jahren nicht kennt. Es ist das eine lange, teils traurige, teils tragikomische Geschichte. Ihnen wird es genügen, wenn ich sage, daß die Tante mit siebenundzwanzig Jahren nach einer schweren Herzensenttäuschung die überaus bescheidenen Verhältnisse in ihrem Elternhause durch eigene Erwerbstätigkeit aufbessern wollte, daß sie ein kleines Weißwarengeschäft in Bernstadt am Domplatz eröffnete, deshalb mit meiner Mutter, die bereits verheiratet war und so etwas an Beamtendünkel litt, erregte Auseinandersetzungen hatte, die zu dem ersten Bruche führten. Als Tante sich dann bereits nach etwa zehn Jahren ein kleines Vermögen erworben hatte, jedes Jahr ihre Sommerreise machte und recht behaglich in jeder Beziehung leben konnte, kam es zu einer leider nur kurzen Aussöhnung zwischen den Schwestern. Ich will nicht gerade sagen, daß meine Mutter hierbei von vornherein im Auge hatte, Tante Emilie so ein wenig auszunutzen, aber jedenfalls war diese in den Augen meiner Mutter doch erst wieder ‚verkehrsfähig‘ geworden, nachdem sie ein Bankguthaben und ein Sparkassenbuch besaß. Wir Kinder, auch der Papa, besonders aber ich haben die Tante stets sehr gern gehabt und bedauerten es aufrichtig, daß die Mama sehr bald wieder die Beziehungen zum Domplatz Nr. 14 abbrach, nachdem ihre Schwester auf die Bitte um ein größeres Darlehen geantwortet hatte – dies hat mir der Papa später erzählt: ‚Such’ dir deinen Umgang in deinen Kreisen und gib keine großartigen Abfütterungen für Leute, die dich doch nicht für voll nehmen, dann wirst du auch keine Schulden machen. Bei mir hast du mit Anliegen ums Geld kein Glück. Jeder strecke sich nach seiner Decke…!‘ – Von da ab war uns Kindern streng verboten, die Tante Emilie zu besuchen. Margot und Karl Heinz waren folgsam; ich dagegen habe manchen Nachmittag heimlich in der kleinen, gemütlichen Behausung über dem Wäschegeschäft, Inhaberin Emilie Körtig, zugebracht. Erst als ich mich verlobt hatte…“ – Elfriede sagte das leise und schuldbewußt – „hörten diese Besuche bei der Tante auf. Ich weiß nur zu gut, wie unrecht ich tat, als ich mir so sehr schnell die Anschauungen Kurts zu eigen machte, der jeden Kaufmann und weit mehr noch jede erwerbstätige Frau für … für minderwertig hielt.“
Sie waren vor der Gartenpforte des stattlichen Hauses angelangt, dessen ganzes erstes Stockwerk das Ehepaar von Sonnenstrahl seit der Hochzeit bewohnte. Die Vorderfenster des gelbgrau gestrichenen, mit allen modernen Einrichtungen versehenen Gebäudes gingen auf den Südpark hinaus.
Doktor Gräbner verabschiedete sich. Elfriede behielt seine Hand ganz unbewußt in der ihren und sagte, indem sie widerstandslos der seltsamen Stimmung nachgab, die sie heute beherrschte: „Ich fürchte, auch Ihnen gegenüber habe ich ähnlich gehandelt, wie ich dies bei Tante Emilie tat. Halten Sie es meiner Jugend zugute, Herr Doktor. Ich war ja kaum achtzehn, als ich mich verlobte und mein späterer Mann mich sogleich in seiner Weise zu erziehen begann. – Auf Wiedersehen…! Ich werde an Sie denken, falls ich einen aufrichtigen Ratgeber brauchen sollte.“
Sie ließ Gräbner keine Zeit zu einer Entgegnung, wandte sich um, öffnete die Gittertür des schmalen Vorgartens und wollte dem Hause zueilen, als neben dem Doktor ein kleiner, buckliger Mann auftauchte, der bis jetzt im Schatten der Parkbäume gestanden hatte, nun aber Elfriede nachrief…:
„Meine Dame – meine Dame, – auf ein Wort!“ Frau von Sonnenstrahl blieb stehen, blickte zurück und fragte:
„Wünschen Sie etwas von mir?“
„Gewiß, meine Dame, gewiß…“ Er ging auf sie zu.
Elfriede packte ein unbehagliches Gefühl. Sie ahnte, daß dieser bescheiden, fast ärmlich gekleidete Mann, dessen Gestalt eine der Bogenlampen des Parkes hell beschien, Unangenehmes brachte.
Gräbner, der den Menschen zunächst mißtrauisch beobachtet hatte, grüßte Elfriede jetzt nochmals und schritt dann den Hauptweg des Parkes entlang dem Kurhause zu, wo in einer großen Vorhalle eine altdeutsche Bierstube eingerichtet war, in der der Doktor stets am sogenannten Juristen-Stammtisch sein Abendbrot einzunehmen pflegte.
Heute ging er jedoch vorher noch durch den nur spärlich erhellten Kurgarten auf den weit in die See hinaus gebauten Steg, ging ganz langsam und überdachte nochmals diese letzte Stunde, die er in Elfriedes Gesellschaft verbracht hatte.
Elfriede Sommer…! – Niemand in Bernstadt und Lottow ahnte, daß sie es war, die den blonden Doktor Heinz Gräbner bisher vor allen Nachstellungen schwiegersohnjagender Mütter bewahrt hatte.
4. Kapitel
Tante Emilie läutete nochmals. Dann erschien endlich die Zofe Anna und fragte maulfaul: „Was wollen Sie…?“
Hinter den blanken Gläsern des goldenen Kneifers funkelte ein schwarzes Augenpaar drohend und angriffslustig.
„Falls Sie die Zofe meiner Nichte sind, so werden Sie das Haus in einer Stunde verlassen – verstanden?!“ sagte das alte Fräulein so energisch, daß Anna ganz sprachlos blieb. „Von Benehmen haben Sie keine Ahnung, Sie…! Merken Sie sich das! Und nun gehen Sie und melden Sie mich an. Aber etwas hurtig!“
Seltsamerweise gehorchte Anna schweigend. Tante Emilie verstand eben mit Leuten umzugehen.
Elfriede kam ihr bis auf die Diele entgegen.
„Tantchen, ich danke dir, daß du so schnell auf meine telephonische Bitte hin dich eingefunden hast…“ Sie umarmte den Besuch, der heute zum erstenmal in diesen Räumen weilte.
Dann saßen die beiden in Elfriedes kleinem Damenzimmer sich gegenüber. Das alte Fräulein schaute sich um.
„Du wohnst ja wirklich fürstlich, Kind… Schade, daß die Herrlichkeit nun unter den Hammer kommt. Die Möbel sind vorzüglich erhalten. Bei der Auktion gibt das sicher ein hübsches Sümmchen. – Nun sag’ aber mal, Kind, was ist denn eigentlich geschehen, daß du am Telephon vor Aufregung kaum sprechen konntest und jetzt noch ganz verweinte Augen hast? Als du Abend nach Hause fuhrst, schienst du dich doch vernünftigerweise mit der Tatsache abgefunden zu haben, total umlernen zu müssen – eben mal das Leben so anzupacken, wie jeder Mensch mit innerem Gehalt es nun sollte. Und nun Tränen, helle Aufregung und am Fernsprecher ein Ton, als wollte die ganze Welt einstürzen.“
Frau von Sonnenstrahl wischte schnell eine Träne weg, meinte dann tapfer: „Tantchen – die Welt stürzt auch ein! Nie hätte ich geahnt, daß … daß man derart über mich herfallen würde, daß die Menschen im Stande sind, so völlig jede Rücksicht außer acht zu lassen, wenn sie fürchten, Geld zu verlieren…“ Sie schluchzte leise auf und starrte trübe vor sich hin mit tief gesenktem Kopf.
„Halb und halb versteh’ ich zwar diese Andeutungen,“ sagte Fräulein Körtig darauf und entnahm ihrer großen Handtasche ein Notizbuch und einen Bleistift. „Erzähle mir aber bitte alles recht genau. Wenn ich, wie du mir telephonisch nahelegtest, hier die Zügel des Haushalts in die Hand nehmen soll, muß ich vollkommen unterrichtet sein.“
Elfriede begann die Geschichte ihrer Demütigungen und Enttäuschungen. –
Gestern Abend hatte sich ihr vor dem Hause noch der in der Südstraße wohnende Möbelhändler Moses Morzek aufgedrängt und ihr für die gesamte Achtzimmereinrichtung fünftausend Mark geboten. – ‚Gnäd’je Frau, – was ich Ihnen sagen soll: Wahrhaft’gen Gott, – ich mach’ dabei noch e schlechtes Geschäft. – Fünftausend Mark in bar…! Greifen Sie zu. Ich weiß ja, daß Se werden verkaufen müssen…‘ –
Sie hatte daraufhin Herrn Morzek einfach stehen lassen. –
Kaum hatte sie oben dann Mantel und Hut abgelegt, als der Hauswirt kam. Bisher war der dicke Bäckermeister stets um den Finger zu wickeln gewesen. Jetzt tat er herablassend, verlangte die noch rückständige Miete für das laufende Vierteljahr und erklärte, er würde eine Entfernung der Möbel aus der Wohnung nicht eher dulden, bis der ganze Mietpreis für die Mietsdauer, also noch für zwei Jahre, mit viertausend Mark bezahlt wäre. – ‚Jetzt im Kriege werde ich die große Wohnung nicht los. Da muß ich mich schon an Sie halten. Ich habe auch meine Hypothekenzinsen zu berappen. – Also: ausziehn – meinetwegen! Aber die Möbel bleiben hier. Nach dem, was man hier in Lottow sich erzählt, sind Sie mir für viertausend Mark nicht mehr sicher…“ –
Elfriede hatte noch die Kraft gehabt, den Mann leidlich energisch abzufertigen. Dann hatte sie einen Weinkrampf bekommen. –
Als sie nach Anna klingelte, erschien weder diese noch sonst einer der Dienstboten. Sie waren einfach ohne Erlaubnis noch ins Kino gegangen. –
Elfriede verbrachte eine schreckliche Nacht, schlief kaum eine Stunde. Und dann der Vormittag, – all diese bisherigen Lieferanten, die einer dem andern die Tür in die Hand gaben, die alle mit Rechnungen kamen, alle persönlich vorgelassen werden wollten und dann sich benahmen, als wollte man sie um ihr Geld betrügen…! Selbst die Friseuse, die Elfriede stets den Klatsch der kleinen Stadt jeden Morgen brühwarm aufgetischt und stets so getan hatte, als würde sie für die liebe gnädige Frau durchs Feuer gehen, bangte um ihre fünfundzwanzig Mark, wurde geradezu frech und machte Bemerkungen wie: ‚… bin stets viel zu billig gewesen…, – wirkliche Damen bezahlen freiwillig mehr…, – jeder muß mal vom hohen Pferde herunter…‘ –
Kurz: alles schien sich verschworen zu haben, Elfriede ja recht schnell und nachdrücklich fühlen zu lassen, was es heißt, arm zu werden, – arm nach Jahren schrankenlosen Genußlebens. –
Da war auch der kleine Trost, den der Besuch Hella von Wieks brachte, die Elfriede ihrer unveränderten Freundschaft immer wieder versicherte und so wohltuend herzlich war, gar zu gering gegenüber dieser Schar besorgter Gewerbetreibender, da hatte Elfriede von neuem jenes trostlose Gefühl gehabt, über eine weite leere Ebene ganz allein dahinzuwandern. Und in dieser Seelennot war sie an den Fernsprecher geeilt und hatte Tante Emilie zu Hilfe gerufen.
Das alte Fräulein hatte sich diese von Tränen und mühsam unterdrücktem Schluchzen oft unterbrochene Schilderung der Vormittagsstunden schweigend angehört, nur ein paarmal ‚Armes Kind!‘ dazwischen gerufen und die Hände der armen gestürzten Größe in die ihren genommen und leise gestreichelt.
Jetzt sagte sie, und sie war ganz Emilie Körtig, der Schrecken der Leinenreisenden:
„Hast du zusammengerechnet, was all diese Leute zu bekommen haben? – Nicht? – Dann tu’s bitte gleich! Und – gegen eine Tasse Kaffee hätte ich nichts einzuwenden. Es ist jetzt gerade meine Kaffeezeit.“
Dies sagte Tante Emilie um drei Uhr nachmittags. Um vier verließ Anna das Haus; um fünf die Köchin. Helene, das Hausmädchen für die gröberen Arbeiten, durfte bleiben, da sie weinend um Verzeihung bat. Die beiden anderen hätten sie gestern Abend zu dem Kinobesuch verführt. –
Um halb sechs hatte die Tante einen klaren Überblick über die Verhältnisse gewonnen: viertausendneunhundert Mark Schulden bei Lieferanten, viertausendfünfhundert Mark Miete, – also rund neuntausendfünfhundert Mark Verpflichtungen, denen Aktiva gegenüberstanden: Bargeld nichts, Wert des Mobiliars, der Schmucksachen und so weiter fünfundzwanzigtausend Mark etwa.
Elfriede saß da wie ein geknicktes Blümlein und hörte zunächst mit ungläubigem Erstaunen, dann mit wachsendem Interesse der langen Rede zu, die die Tante ihr jetzt hielt. Von diesen Ausführungen waren besonders folgende Sätze bemerkenswert und für das alte Fräulein kennzeichnend:
„Sieh mal, Kind, die Frau von Sonnenstrahl, die du zu Lebzeiten deines Mannes warst, das war ja gar nicht die geborene Elfriede Sommer; das war ein Menschenkind, dem man stets die Augen mit einem Schleier halb verband, durch den die Umwelt ein ganz anderes Aussehen bekam. In Wirklichkeit ist die Welt so geblieben, wie sie sich dem Mädel zeigte, das so oft bei mir in der Sofaecke gesessen und die Arme hochreckend gesagt hat: ‚Du, Tantchen, wenn ich erst mündig bin, wenn die Mama mir nicht mehr dreinzureden hat, dann trete ich hier bei dir als deine Prokuristin ein, dann schaffen und arbeiten wir zusammen! Ich will nicht wie so viele andere dasitzen und nur immer nach dem Mann Ausschau halten, der vielleicht mal kommt und mich armes Kirchenmäuschen zur Frau wünscht!‘ – Ja, so hast du mehr als einmal gesagt. Und diese Worte, Kind, die waren so, als kämen sie aus einem eigenen vernünftigen Kopf.“ – –
Und weiter hatte Tante Emilie in anderem Zusammenhang erklärt: „Dir bleiben also etwa fünfzehntausend Mark, mit deren Hilfe du dir ein neues Leben zurechtzimmern könntest. Das ist nicht viel – nicht wenig. Manches läßt sich damit beginnen. Aber – besser wär’s, du könntest dir einen Erwerb schaffen, ohne gleich zur Schreibwarenhändlerin oder Gesellschaftsdame oder barmherzigen Schwester herabsteigen zu müssen…“
Und dann entwickelte das alte Fräulein kühl und wohlüberlegt den Plan, den sie bereits gestern erwogen hatte, nachdem Elfriede wieder nach Lottow hinausgefahren war, – – den Plan zu dem Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘.
In der Achtzimmerwohnung konnte noch die im zweiten Stock leerstehende Vierzimmergelegenheit hinzugemietet werden. Was an Möbelstücken fehlte, ließ sich schnell beschaffen. Die Eltern sollten die Köchin Anna hergeben; auf die sei Verlaß. Margot, die ja gerade die Haushaltungsschule besuchte, sollte gegen Gehalt Stütze der Pensionsinhaberin werden. Die notwendigen Lebensmittel ‚hinten rum‘, damit die Gäste, wahrscheinlich viel Kriegsgewinnler darunter, satt wurden, mußten die Gutsbesitzer der Umgegend, doch alles Kurts Freunde, liefern – natürlich gegen anständige Wucherpreise wie jetzt überall und für alles… –
So entwickelte Tante Emilie ihren Plan; baute ihre Idee Stein für Stein weiter, bis das Ganze fertig war. Sie selbst wollte stets mit nach dem Rechten sehen, wollte auch Geld vorschießen, so weit dies nötig. Auch den Hauswirt wollte sie ‚bearbeiten‘, damit er nicht etwa dem neuen Fremdenheim sein Haus verbot – gerade dieses so günstig gelegene Haus dicht am Park, am Kurhaus und an der See…
Elfriedes Augen waren blank geworden; die Wangen hatten Farbe bekommen; und der Kopf arbeitete mit, brachte Gedanken zur Entstehung, die Tante Emiliens Ausführungen glücklich ergänzten.
„Die ganze vornehme Bekanntschaft hier wimmle dir ab, Kind!“ schloß das Fräulein vom Domplatz die lange Rede. „Außerdem werden all diese Herrschaften mit ‚von‘ und ‚a.D.‘ und ‚z.D.‘ dich ohnehin total schneiden, wenn erst über der Haustür das große Schild prangt ‚Fremdenheim Sonnenstrahl‘. Mögen sie! Du hast ja doch deinem inneren Wesen nach nie zu ihnen gehört. Deine Großväter, ein Tischlermeister und ein Bauer, haben dir zu viel von ihrem Blut hinterlassen. Geh’ stolz erhobenen Hauptes immer geradeaus nur! Und – eine große Hauptsache: Streiche die Männer auf dieser neuen Tafel deiner Lebenspläne vollständig aus! Sie taugen alle nichts. Kannst es mir glauben. Dein Kurt – auch das muß gesagt werden! – hat an dir geradezu unverantwortlich gehandelt. Diese Geldwirtschaft hier bei euch spottet jeder Beschreibung. Ich wette: Bäcker, Fleischer und so weiter – die ganze Gesellschaft haut dich jetzt übers Ohr, fordert mehr, als angekreidet ist. Du hast ja keine Spur von Überblick über das, was ihr aus Bequemlichkeit auf Pump nahmt.“
Worauf Elfriede sich mit allem einverstanden erklärte und nur insofern widersprach, als sie Hella von Wieks Freundschaft nicht aufgeben wollte…
„Sie hat wirklich das Herz auf dem rechten Fleck, Tantchen! Du wirst sie ja kennen lernen. Keine Spur von Dünkel, beinahe sogar etwas rot angehaucht, dabei stets vergnügt, obwohl es der alten Generalin, ihrer Mutter, nicht gerade glänzend geht.“
„Gut – gut! Ich werde sie mir ansehen, Friedchen. Vor diesem goldenen Kneifer auf meiner dicken Nase wird jede Menschenbrust zum Kasten mit Glasdeckel; ich schau’ durch Seide und Lumpen hindurch, mir macht keiner was vor.“
5. Kapitel
Heinz Gräbner öffnete die Tür zum Wartezimmer, sagte „Bitte…!“, überflog dabei die Reihe der Patienten und dachte entsetzt: ‚Wieder fast alles junge Damen! Ich bin ein geplagter Mensch!‘
Hella von Wiek betrat das Sprechzimmer.
„Morgen, Herr Doktor! – Sehn Sie, nun kriegen Sie’s auch mit mir zu tun. Es dürften so drei bis vier Plomben nötig sein, um die Zähne wieder in Schuß zu bringen. Ich sage aber gleich: Kriegspreise gehen über meine Börsenverhältnisse.“
Sie schüttelten sich kräftig die Hände. Sie kannten sich vom Verein Kinderhort her, zu dessen Vorstandsmitgliedern sie gehörten. –
Hella sah zu, wie Gräbner einen neuen Bohrer in dem Handgriff der elektrischen Bohrmaschine festschraubte.
„Was sagen Sie eigentlich dazu, daß Elfriede von Sonnenstrahl demnächst ein Fremdenheim eröffnet?“ meinte sie. „Ich bin mit ihr zusammen zur Stadt gefahren. Sie wollte Tafelgeschirr einkaufen. Ja, sie betreibt die Sache mit Volldampf!“
Gräbner schaute Hella an. „Scherzen Sie?“
„Gott bewahre! Tatsache – ein Fremdenheim in ihrer bisherigen Wohnung.“
„Hm – wenn das nur was wird!“
„Oh – ich habe Vertrauen zu meiner Freundin Tüchtigkeit. Außerdem, kennen Sie Tante Emilie?“
„Nur vom Hörensagen.“
„Na – ich habe gestern ihre Bekanntschaft gemacht, bin begeistert – Tatsache!“
Der Bohrer begann zu surren. Und Gräbner meinte jetzt:
„Bitte, Mund auf! Von der Begeisterung nachher mehr!“
Die blonde Hella mit dem rassigen, schmalen Bubengesicht lehnte sich im Marterstuhl zurück. Und der blonde Doktor, dessen linke Wange zwei tadellose Durchzieher als Mensurandenken verschönerten, während noch weitere Schmißnarben durch den schon etwas dünnen Scheitel als helle Wülste hindurchschimmerten, begann den schadhaften Backenzahn zu bearbeiten.
Nach einer Weile konnte das Gespräch dann weitergehen.
„Diese Tante ist ein Original,“ meinte Hella.
„Genau wie Sie, Gnädigste.“
„Das weise ich zurück. Ich wirke nur originell, weil mein verstorbener Vater der Generalmajor von Wiek war. Wäre er der Postassistent Lehmann oder der Magistratsbureaudiätar Schulze gewesen, würde man mich ‚taktlos, herausfordernd, jungenhaft‘ nennen.“
„Schon möglich. – Haben Sie das schon mal zum Beispiel der Frau Oberst von Gilsenkron gegenüber in ähnlicher Weise geäußert?“
„Nein. Sie würde doch nicht verstehen, worauf ich damit hinaus will. Sie kennt zwar die Standorte sämtlicher Kavallerieregimenter der deutschen Armee und taxiert jedes Rennpferd ziemlich richtig ein, sonst aber leidet sie an … Gehirnmattigkeit.“
„Nicht schlecht gesagt!“ lachte Gräbner und zeigte seine tadellosen Zähne unter dem kurzgeschnittenen blonden Bärtchen.
Dann sagte er: „Wie haben eigentlich Frau von Sonnenstrahls Eltern – Sie wissen, ich verkehre dort – dieses Fremdenheim hingenommen?“
„Ah – Sie spielen auf das Eiffelturm-Standesbewußtsein der Rätin an?“
„Allerdings.“
„Na – das Fremdenheim hat in der Familie die zweite Spaltung herbeigeführt; die erste hatte die Firma Emilie Körtig verschuldet. Jetzt haben sich Margot und die brave Köchin Anna auf die Seite Elfriedes geschlagen, der Rat und Karl Heinz sind innerlich neutral geblieben, und Frau Sommer, geborene Körtig, bildet die Entente.“
„Das war vorauszusehen. Selten wird wohl eine Schwiegermutter den adeligen Schwiegersohn so verhimmeln wie dies die Rätin stets tat. Lernte sie Fremde kennen, waren diese todsicher in drei Minuten über die Ahnen der Familie von Sonnenstrahl feierlichst eingeweiht.“
Nachdem die erste Zementblombe fertig war, begann Hella wieder: „Sie haben doch Elfriede vor vier Tagen im Zuge getroffen und sie heimbegleitet. Hat sie da nicht wegen einer altertümlichen Truhe mit Ihnen gesprochen?“
„Nein.“
„Sie sammeln doch Altertümer. Elfriede sagte heute, daß Sie die Truhe vielleicht abschätzen könnten.“
„Gern. – Um was für ein Stück handelt es sich?“
„Holländischen Ursprungs, aus dem 14. Jahrhundert. Ein sogenannter Linnenkasten ist’s, aus alten eichenen Schiffsplanken hergestellt, grob geschnitzt und für meinen Geschmack scheußlich bunt bemalt. Aber Kurt von Sonnenstrahl war ganz verliebt darin. Er hatte das Ding mal selbst in Amsterdam noch als Junggeselle gekauft.“
„Und jetzt will seine Witwe die Truhe günstig losschlagen?“
„Nein, Elfriede nicht. Aber die Tante Emilie dringt darauf.“
„Hängt Frau von Sonnenstrahl denn an dem Linnenkasten?“
„Ne – durchaus nicht. Sie findet ihn ebenso plump und geschmacklos wie ich. Aber sie hat ihrem Manne versprechen müssen, das Ding nicht zu veräußern – unter keinen Umständen! Tante Emilie meint nun, es wäre Unsinn, sich an diese Zusage unter den jetzigen Umständen zu halten. Ein Kunsthändler ist nämlich schon dreimal bei meiner Freundin gewesen und hat jedesmal eine höhere Summe geboten. Jetzt hat die Tante, – und ich habe dabei redlich geholfen, Elfriede endlich so halb und halb herumgekriegt. Sie sollen nun gebeten werden, Taxator zu spielen.“
„Tue ich mit Freuden. – Bitte: Mund auf! Und nicht wieder so ängstlich. Ich bohre nur Zähne, nicht auch Gaumenfleisch.“ Und Gräbner lachte wieder.
Hella sah ihn so gern lachen. Aber – er ging so sparsam damit um, war stets so ernst, fast weltschmerzlich angehaucht. Heute hatte er aber offenbar seinen vergnügten Tag. So heiter kannte Hella ihn kaum, obwohl sie nun doch bereits zwei Jahre fast wie gute Freunde miteinander standen.
Der Bohrer surrte. Und Hella von Wiek hing so allerlei Gedanken nach, die jedoch in nächster Nähe blieben – bei Heinz Gräbner, den der öde Kurdirektion Freiherr von Minkwitz, Major a.D. und Vater von zwei preisgekrönten Tennisspielerinnen immer nur den ‚feudalen Zahnreißer‘ nannte.
Unter anderem dachte Hella auch…: ‚Es tut nicht gut, sich mit einem Manne auf so freundschaftlichen Fuß zu stellen, der so schwermütige Augen hat wie Heinz … wie Doktor Heinz Gräbner…‘ – –
Zu derselben Zeit etwa stand Frau von Sonnenstrahl im Laden der Tante Emilie und sagte: „Ich habe Glück gehabt. Es war bei Levy noch genug Ausschußporzellan auf Lager. Daher bin ich recht billig weggekommen.“
Tante Emilie wandte sich der eben eingetretenen Kundin, einer Bauersfrau, zu, die scheu auf die schwarzgekleidete Witwe blickte und der Geschäftsteilhaberin dann verstohlen allerlei Zeichen machte, wobei sie auch auf den Marktkorb auf ihrem Arm hindeutete.
„Keine Angst, liebe Frau Jahnke,“ meinte das alte Fräulein da, „es ist meine Nichte. Sie wird am 15. Mai in Lottow ein Fremdenheim eröffnen. Wollen Sie ihr da nicht so einige Lebensmittel liefern?“
„Hm – na ja… Aber…“
„Butter zehn Mark, Eier die Mandel1 sechs Mark, Speck zwölf Mark,“ sagte die Tante leise. „Also dieselben Preise, die ich zahle. – Einverstanden? – Gut, abgemacht! – Was haben Sie mir heute denn Gutes mitgebracht?“
„Ein Huhn, einen Mandel Eier, ein Pfund Butter und drei Pfund Weizenmehl. Aber – ich will kein Geld, ich brauch’ ne Morgenjack’ und ne große Schürz’.“
Nachdem das Tauschgeschäft erledigt und die Frau gegangen war, verhandelten Tante und Nichte weiter über das Fremdenheim, kamen dann auch auf den holländischen Linnenkasten zu sprechen.
Elfriede erwähnte, daß sie Gräbner bitten wolle, ihn abzuschätzen.
„Sehr verständig, Kind. – Hast du auch noch die Adresse des Kunsthändlers, der doch zuletzt zweitausend Mark geboten hat?“
Elfriede holte einen Brief aus ihrer Handtasche hervor. Das goldene Täschchen hatte sie verkauft. Das jetzige war aus Leder und recht umfangreich.
„Denk dir, Tante, der Herr hat heute an mich geschrieben. Morgens erhielt ich diesen Brief. Er bietet jetzt zweitausendundfünfhundert Mark.“
„Wahrhaftig? Wieder fünfhundert mehr?! – Na – ich gäb’ für das Ding keine hundert.“ Sie las die Anfrage des Kunsthändlers langsam durch.
„Komisch,“ meinte sie dann, „nicht nur der Absendeort fehlt, sondern die Unterschrift ist ja auch gar nicht zu entziffern. Und – ‚postlagernd Bernstadt unter Chiffre XYZ 000‘ sollst du antworten? – Der Herr scheint seinen Namen verschweigen zu wollen…“
„Den Eindruck hatte ich schon bei seinen ersten Besuchen gewonnen,“ bestätigte die junge Witwe. „Seine selbstgeschriebenen Visitenkarten enthielten ein Kriggelkraggel, aber keinen Namen. Nur das ‚Kunsthändler‘ war bequem zu lesen. – Ich werde dem Manne jetzt unter XYZ 000 schreiben, daß er für zweitausendundfünfhundert Mark den Kasten haben kann. Hella hat mir ja auch so dringend zu einem Verkauf zugeredet.“
Tante Emilie schüttelte so energisch den Kopf, daß ihr der Kneifer von der Nase flog.
„Das wirst du nicht tun, Friedchen! – Kind, von Geschäftstüchtigkeit hast du noch keine Ahnung! – Du antwortest, daß du vorläufig eine bindende Erklärung nicht abgeben könntest, da du zur Zeit noch mit einem anderen Käufer unterhandeltest. Verstanden?“ Der Kneifer wurde an seiner schwarzen Seidenschnur wieder nach oben gefischt und mit einem Jongleurgriff zurechtgerückt. Dann fuhr die Firma E. Körtig fort: „Du machst ein so bedenkliches Gesicht, Kind? – Na, es ist doch klar: Wer zweitausendundfünfhundert Mark für solch’ Gerümpel lose hat, der legt auch noch fünfhundert Emmchen zu. – Ja, schlau muß man sein!“
„Hm – eine Schlauheit, die an … Schwindel grenzt,“ sagte Elfriede mit leisem Aufseufzen. Sie merkte schon: Das neue Leben verlangte auch in vielem etwas weniger strenge moralische Anschauungen…
„Schwindel?! Noch schöner!“ ereiferte sich Tante Emilie. „Ei, wenn jetzt der Doktor … Doktor…“
„Gräbner…“
„… richtig, Doktor Gräbner sagt, er sei mehr wert, – ich meine der olle bunte Kasten, – was dann, he?! Wenn er zum Beispiel meint, du könntest ruhig viertausend fordern?“
„Dann – dann würde ich sie fordern. Gräbners Urteil als Altertumskenner ist mir maßgebend.“
„Na also! – Du schreibst daher, wie ich’s vorschlug, Friedchen. – – Hat der Tischler schon die Zwischenwände in den drei Reitställen von Zimmern angefangen, damit aus dreien sechse werden? – Noch nicht? Du, dann tritt ihm man etwas auf die Hühneraugen. – Wie steht’s mit den Betten? Warst du auf dem Gut von Frau … Frau…“
„Legien…“
„… Ja, also Legien. Man hat mich in Karlstal reizend aufgenommen, obwohl ich Frau Legien doch vorher schon telephonisch mitgeteilt hatte, daß die Verhältnisse mich zwingen, ein Pensionat zu eröffnen. Legiens sind bisher das erste Ehepaar aus unserem früheren Kreise, das mir gegenüber unverändert geblieben ist. Acht Betten hat sie mir geliehen. Ohne jede Bezahlung.“
„Auch keine Geschäftsleute! Aber – gut, daß es auch solche gibt.“
Inzwischen waren wieder zwei Kundinnen erschienen, diesmal sehr auffällig herausgeputzte und stark geschminkte Damen. – „Vom Stadttheaterballett“, flüsterte Tante Emilie. „Was die Wäsche brauchen…! Aber – bezahlen tadellos! – Auf Wiedersehen, Kind. – Oder – hast du noch was zu besprechen?“–
Frau von Sonnenstrahl ging jetzt zum Juwelier Rumpf und sprach mit dem alten, würdigen Herrn allein in dessen Privatkontor. Kurt hatte bei Rumpf stets alles gekauft, und der Juwelier erklärte daher auch: „Sehr richtig, daß Sie zu mir kommen, gnädige Frau. Ich werde Sie nicht übervorteilen. – Zunächst aber: Mein aufrichtiges Beileid. – Diese Perlenschnur, die Ihr Herr Gemahl vor zwei Jahren mit zweitausendund achthundert Mark bezahlt hat, ist jetzt im Wert sehr gestiegen. Ich biete Ihnen dreitausendundfünfhundert Mark.“
Elfriede war angenehm überrascht. Sie hatte auf etwa zweitausend nur gerechnet.
Nachdem das erste Geburtstagsgeschenk Kurts so den Besitzer gewechselt hatte, läutete Elfriede von der Hauptpost aus Doktor Gräbner an und fragte, ob er nicht so liebenswürdig sein wolle, morgen Sonntag vormittags zu ihr zu kommen, um einen altertümlichen… – Da hatte er sie unterbrochen. „Weiß bereits Bescheid, gnädige Frau, – holländischen Linnenkasten abschätzen… Sehr, sehr gern! Bin ich um elf Uhr angenehm?“
„Gewiß. Und – wenn Sie zu Tisch bleiben wollen… Ich hätte nämlich noch eine andere Bitte. Darüber aber besser mündlich.“
„Gut – mündlich – ohne Telephondraht dazwischen! – Auf Wiedersehen, liebe gnädige Frau…“ Sie hörte heraus, daß er recht guter Laune war… Gewiß: der Grundzug seines Charakters war wohl ernster; er gehörte zu den schwermütigen Naturen. Aber trotzdem ging stets von ihm etwas Frisches, Selbstbewußtes aus. Die kraftvolle Persönlichkeit trat für einen leidlichen Menschenkenner stets zusagt – Kurt – ja, der war so anders gewesen, so ganz anders. In Gesellschaft anderer hatte er immer eine leichte, vornehm sein sollende müde Blasiertheit hervorgekehrt. War er dagegen mit ihr allein gewesen, streifte er die Maske ab, zeigte jene spielerische Ausgelassenheit, die ihr zuweilen den Eindruck gemacht hatte, als tolle ein junger Student mit seinem Hündchen zum Zeitvertreib herum…
6. Kapitel
Margot Sommer richtete mit Hilfe des robusten Hausmädchens die Zimmer, so weit sie nicht durch Zwischenwände geteilt werden sollten, fremdenheimmäßig ein.
„Hier kann ein Fürst wohnen!“ meinte sie, sich in dem Ecksalon umsehend. „Eigentlich alles viel zu fein für Sommergäste, womöglich gar Kriegsgewinnler, die bisher kaum gewußt haben, was ein Teewagen ist wie der dort neben der Vitrine.“
„Freil’n ham ganz recht, – viel zu fein,“ echote Helene.
„Na – Elfriede kann dafür denn auch einen gehörigen Preis fordern. Ich glaube, es wird in ganz Lottow kaum ein so elegantes Pensionat geben wie das unsrige.“
Helene stellte die Kannen auf den Marmorwaschtisch und meinte: „Die Frau Ilgner von nebenan hat gestern beim Fleischer Marks jesagt, die Herrlichkeit hier würd’ nich lang dauern. Sie fürchtet die Kuhgerents, sagte Marks nachher.“
„Konkurrenz! Konkurrenz!“ verbesserte Margot lachend. Sie hatte auffallende Ähnlichkeit mit der älteren Schwester, war nur etwas kleiner, dafür aber bei aller Schlankheit üppig und sprühend vor Lebenslust. In den zwei Tagen, die sie jetzt bei der Elfriede wohnte, hatte sie sich in ihrem Wesen völlig verändert. Daheim hatte die ewige Tadelsucht der Mutter fortwährend ihre wahre Natur geknebelt, jedes freie Aufatmen und jedes natürliche Sichgeben unterdrückt. Die Rätin wollte eben aus ihren Kindern mit aller Gewalt Menschen von ‚gesellschaftlicher Vollkommenheit‘ machen, wie sie es nannte. Sie hatte hierüber Ansichten, die den heimlichen Spott ihrer Bekannten immer wieder herausforderten und ihr den Namen ‚Exzellenz Superfein‘ eingetragen hatten.
Jetzt schrillte die Flurglocke. Helene eilte hinaus. Es war der alte, bucklige Tischler Lebrecht mit seinem gerade auf Urlaub befindlichen Sohn, einem strammen Gefreiten. Sie kamen, in den drei Zimmern, die Tante Emilie als Reitställe bezeichnet hatte, die Zwischenwände errichten.
Der alte Lebrecht, der jetzt stets seine Orden und Ehrenzeichen von 70/71 auf dem Rocke trug, hatte geglaubt Elfriede vor sich zu haben und rief dann, sich den buschigen Bart kratzend:
„Dunner noch eens – sone Ähnlichkeit! Aber freilich, wenn’s man jenauerhinsieht: det Freil’n is voller in der Oberetage und auch rosiger ins Jesichte.“
„Vater!“ mahnte der Gefreite, der das Eiserne Erster auf der Brust hatte und Kunsttischler im Zivil war.
Margot nickte dem Alten freundlich zu. „Ich bin nicht zimperlich, Meister! Ich weiß ja, wie’s gemeint ist.“
Nachher brachte sie Vater und Sohn noch je eine Zigarre aus Kurts reichem Vorrat, der in einem geschnitzten Schranke aufgestapelt lag, unterhielt sich auch mit dem Feldgrauen und fragte so beiläufig, ob er etwas von alten Möbeln verstünde.
Karl Lebrecht bejahte. „Ich war vor dem Kriege in Berlin bei dem Kunsthändler Hirschheim in Stellung, in dessen Atelier – denn Werkstatt durften wir nicht sagen – aus drei alten, total zerbrochenen Stücken ein neues hergestellt wurde. Da habe ich so ziemlich alles in den Fingern gehabt, was es in diesem Spezialartikel gibt.“
„Das trifft sich prächtig, Herr Lebrecht,“ meinte Margot eifrig. „Kommen Sie doch mal mit.“
Sie führte ihn in das Schlafzimmer, in dem jetzt die beiden breiten Betten auseinandergerückt waren und das die Schwestern nun gemeinsam benutzten. Sie zeigte ihm den holländischen Linnenkasten, der zwischen den Fenstern an der Wand stand, und fragte, welchen Wert er wohl hätte.
Der junge Kunsttischler besichtigte die etwa ein Meter breite und ebenso hohe Truhe sehr eingehend und erklärte dann: „Tausend Mark wäre schon ein sehr anständiger Liebhaberpreis.“
Margot machte ein recht enttäuschtes Gesicht, sagte dann:
„Denken Sie, meiner Schwester hat heute morgen jemand schriftlich zweitausendundfünfhundert Mark geboten.“
Der Gefreite schüttelte den Kopf. „Dann ist’s sicher einer, der keine Ahnung von Antiquitäten hat. Hirschheim in Berlin würde vielleicht fünfhundert geben und für tausend dann weiterveräußern.“
Als Elfriede eine Stunde später aus Bernstadt zurückkehrte, erzählte ihr Margot sofort, daß der junge Lebrecht die Eichentruhe nur auf tausend Mark geschätzt hätte.
„Mag sein,“ meinte die Ältere darauf etwas abgespannt. „Tante Emilie hat mir schon gesagt, was ich dem Herrn postlagernd antworten soll.“
Margot fiel das müde Wesen der Schwester auf.
„Du siehst nicht gut aus, Friedel,“ erklärte sie besorgt und umfing die Ältere zärtlich. Die beiden waren sich erst jetzt so recht nahe gekommen. Bisher war Frau von Sonnenstrahl für Margot stets so etwas Respektsperson gewesen. Das hatte sich schon am ersten Tage des Zusammenlebens gründlich geändert. Nachdem der Glorienschein des Reichtums erloschen, hatte die Jüngere sehr schnell jene Scheu überwunden und nun erst gemerkt, daß Elfriede eigentlich doch noch eine rechte, echte Sommer geblieben war.
Am nächsten Morgen ließ Frau von Sonnenstrahl den Linnenkasten in die frühere Plättstube bringen, die sie jetzt mit Margot zusammen als Schlafraum benutzen wollte, da das bisherige eheliche Schlafgemach gleichfalls durch eine Wand geteilt werden sollte.
Heinz Gräbner erschien pünktlich um elf Uhr. Als ihn Margot auf der halbdunklen Diele in großer Wirtschaftsschürze begrüßte, so daß er nicht sehen konnte, daß sie ein farbiges Hauskleid darunter trug, verwechselte er sie einen Moment mit Elfriede, meinte dann heiter: „Wir haben uns ja auch gut ein halbes Jahr nicht gesehen, gnädiges Fräulein. Sie hatten ja stets in der Haushaltung Dienst, wenn ich Ihren Papa besuchte, was auch nicht häufig geschah. Ich bin jetzt mit Arbeit geradezu überlastet.“ Im stillen fügte er hinzu: ‚Donner noch eins, – hat das Mädel sich herausgemacht!‘
Dann kam auch Elfriede in ihrem schwarzen, weichen Moireekleide2, kam mit ihren seltsam gleitenden, leichten Schritten und einem freundlichen Lächeln, begrüßte ihn mit jener zwanglosen gesellschaftlichen Gewandtheit, die ihr in der Ehe sehr bald zu eigen geworden war. In dieser Hinsicht hatte sie bei Kurt eine gute Schule durchgemacht.
Zu dreien stand man dann vor der Truhe. Elfriede öffnete das derbe, feste Kunstschloß mit einem sehr eigenartig geformten Schlüssel und schlug den schweren, dicken Deckel zurück. Der Linnenkasten diente jetzt als Aufbewahrungsort für allerlei Schuhzeug, von dem Elfriede allein einige zwanzig Paare besaß.
Der Doktor gab schließlich sein Urteil – von der durch den Kunstschlosser erfolgten Abschätzen wußte er noch nichts – dahin ab, daß ein Liebhaber vielleicht – vielleicht! – tausend Mark, ein Händler weit weniger bieten würde.
„Jedenfalls ist dieses Stück mit tausend Mark reichlich bezahlt,“ schloß er seine Erklärungen.
Als Elfriede ihm nun den Brief des ‚nicht zu entziffernden‘ Herrn zeigte, meinte er bedächtig: „So – der Mann ist also schon persönlich bei Ihnen gewesen, gnädige Frau. – Sonderbar, er scheint ja auf den bunten Kasten, den auch ich nicht schön finde, rein versessen zu sein. Zweitausendundfünfhundert Mark! Dafür bekommt man denn doch etwas Besseres.“
Die gemeinsame Mahlzeit – jetzt zu vieren, da auch Tante Emilie sich eingefunden hatte – verlief höchst angeregt.
„Sie sind ja ein sehr vernünftiger Mensch, Herr Doktor,“ meinte die Firma E. Körtig bereits beim Nachtisch, der in einem Kartoffelpuffer mit Fruchttunke bestand. „Wirklich – sehr vernünftig! Freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Im Allgemeinen halte ich nicht viel von dem stärkeren – hm ja – sogenannten stärkeren Geschlecht, – was Sie mir nicht verübeln werden. Ich liebe keine Phrasen.“
Gräbner lachte heiter. „Übelnehmen?! Ich?! Ich danke Gott, wenn ich mal einem natürlichen Menschen begegne. Heutzutage spielt ja jeder dem andern mehr oder weniger Theater vor. Ehrliche Zwanglosigkeit gilt für unfein, Aufrichtigkeit für Dummheit.“
„Bravo!“ rief Emilie Körtig begeistert.
Den Kaffee konnte man draußen auf der geräumigen Loggia trinken. Es war heute recht warm, ein wunderbarer Frühlingstag. Im nahen Park schimmerten die Bäume im Schmuck der frischen Blättchen in zartem Grün. Die See sang ihr altes, träumerisches Lied mit dem Branden der nie ganz zur Ruhe kommenden Wellen. Ab und zu flogen Vögel im Parke, Strohhalme und Federn in den Schnäbeln, – schon etwas verspätete Nestbauer.
Tante Emilie freute sich des prächtigen Wetters. Sie liebte die Natur in allem, was sie ihr bot; fand überall Schönheit heraus, wußte dem prosaischen Fleckchen einen Reiz abzugewinnen. – Auch hierin hatte sie in Heinz Gräbner einen Gesinnungsgenossen entdeckt.
Dann hatte Elfriede mit der Tante allerlei geschäftliche Dinge durchzusprechen. Margot und der Doktor blieben allein auf der Loggia in den rotlackierten Korbstühlen sitzen. Die Unterhaltung wurde immer einsilbiger. Beide hingen ihren Gedanken nach. Der Frühling goß ihnen eine seltsame Unruhe ins Blut, benahm ihnen die Harmlosigkeit. Sie fühlten beide, daß in ihren Herzen ein heißes Sehnen hochquoll, wollten ihre Empfindungen nicht preisgeben, vielleicht durch eine Bemerkung, einen verträumten Blick. Das Bewußtsein der zur gegenseitigen Ergänzung von der Natur bestimmten Geschlechter machte sie verschlossen. –
Wenn Margot sprach, ließ Gräbner häufig die Lider sinken und horchte… Es war Elfriedens Stimme; die Ähnlichkeit zwischen den Schwestern ging bis zum gleichklingendem Organ. Nur ein ganz feiner Unterschied war vorfanden: Margot verriet durch einen lebhaften Unterton dieselbe natürliche Frische ihres Wesens, die auch sonst in ihrem Benehmen sich offenbarte, verriet so mehr als sie ahnte: daß sie Weib war, daß eine zarte, köstliche Knospe dessen harrte, der im heißen Kuß die Rose zur Entfaltung bringen sollte… –
In Elfriedens Damenzimmer rechnete Tante Emilie derweilen die bisherigen Ausgaben für das Fremdenheim zusammen, sagte dann plötzlich, von dem neu angelegten Kontobuch aufblickend:
„Der Gräbner wäre ein Mann für die Margot. Ich werde da mal so ein bißchen nachhelfen…“
Frau von Sonnenstrahl nickte zerstreut. Sie hörte nicht auf das, was die Tante weiter sprach; lauschte auf die Stimmen, die plötzlich in ihrem Innern laut geworden… – Heinz Gräbner…! Damals war sie siebzehn, noch ein halber Backfisch, als der Bernstädter Verein der Briefmarkenfreunde einen Dampferausflug mit Damen nach den großen Schleusen des alten Stromes unternommen hatte; da war der junge Zahnarzt, den man erst an jenem Tage kennengelernt, nicht von ihrer Seite gewichen. Sie hatte zum erstenmal den Triumph ausgekostet, als Weib einen vielbegehrten Herrn in gesicherter Lebensstellung an sich gefesselt zu haben, hatte an jenem Junisonntag vor – ja vor fünf Jahren zum erstenmal die Macht gespürt, die ihrem Geschlecht, halb Lockung halb Geheimnis, mitgegeben. Und abends hatte die Mutter dann daheim mit ihrer nüchternen Berechnung gesagt: „Schade, daß dieser Gräbner nur Zahnarzt ist. Wäre er doch Assessor…!“ –
Und diese Worte waren auf fruchtbaren Boden gefallen. Elfriede wurde zurückhaltend, kühl, obwohl Heinz Gräbner ihrem Ideal von Freier so ziemlich entsprach – bis auf den lahmen Fuß. Und dieses kleine körperliche Gebrechen hatte den Ausschlag gegeben. Ein halbes Jahr darauf ließ sich Kurt von Sonnenstrahl in Lottow nieder, lernte sie ihn auf einem Basar kennen, behandelte ihn absichtlich schlecht, reizte ihn, … denn sie hatte inzwischen manches zugelernt, die Kinderschuhe ganz abgestreift…
An all das dachte die junge Witwe jetzt. Und horchte, was in ihrem Herzen ernst und eindringlich klang und sang: ‚Dem, den du wähltest aus Eitelkeit, warst du nur mehr ein Spielzeug; was wärst du wohl dem anderen geworden…?‘
Und weiter dachte sie; rief sich diese Begegnung wieder ins Gedächtnis zurück – im Zuge nach Lottow an jenem Tage, der ihr die Bestätigung gebracht, daß sie wieder allein dastand auf der Welt. – Die Jahre der Ehe, das rege gesellschaftliche Leben hatten ihren Geist und Blick für manche Dinge geschärft. Wenn sie Gräbner ganz gleichgültig wäre, – hätte er dann sofort die Beziehungen zu ihr wieder aufgenommen, nachdem er kaum erfahren, daß sie Witwe geworden…?!
Tante Emilie ahnte nichts von diesen Gedanken, die ihr Friedchen beschäftigten, sagte jetzt zum zweiten Male:
„Also – für den Ecksalon zwanzig Mark mit voller Pension, Kind!“ Fügte hinzu: „Und keinen Pfennig billiger. Margot hat ganz recht: Dort kann ein Fürst wohnen! – Nur nicht zu geringe Preise fordern… Wer heutzutage ins Bad reist, hat auch die nötigen Moneten…“
Elfriede fand sich nur schwer in die nüchterne Wirklichkeit zurück; ein Seufzer stahl sich über ihre Lippen… Sie durfte ja nicht vergessen, daß jetzt das neue Leben um sie her war mit seinen prosaischen Anforderungen, daß sie die Inhaberin eines Fremdenheims werden sollte, von dem sie die Sicherstellung ihrer Zukunft erhoffte…
„Notier’ dir lieber die Preise, Kind,“ sagte Tante Emilie ungeduldig. „Du bist so zerstreut… – Also, Salon mit einem Bett zwanzig, mit zweien dreißig Mark. Herrenzimmer mit einem Bett fünfzehn, mit…“
Und Elfriede schrieb…
Und draußen pochte der Frühling überall an, flogen die Vögel mit Federn und Halmen geschäftig, gingen die Feldgrauen aus dem nahen Hilfslazarett durch die Parkwege Arm in Arm mit den Mädels, die sie erst gestern kennengelernt hatten…
7. Kapitel
Alles war fix und fertig. Nun konnten die Gäste kommen, die man nicht nur durch Zeitungsanzeigen und Plakate auf den Bahnhöfen der Provinz, sondern auch durch Vermittlung guter Bekannter herbeizulocken suchte.
Besonders Heinz Gräbner, den Elfriede damals gebeten hatte, ebenfalls im Interesse des Fremdenheims zu wirken und zu werben, hatte in seinem zahlreichen Patientenkreis, der sich bis auf Nachbarstädte ausdehnte, immer wieder die neue Pension aufs wärmste empfohlen.
Der Erfolg all dieser Bemühungen – die Firma E. Körtig muß in dieser Beziehung ebenfalls lobend erwähnt werden – blieb auch nicht aus…
Am 15. Mai war ‚Sonnenstrahl‘ feierlich mit einem bescheidenen Festessen eröffnet worden. Bei dieser Gelegenheit kam es zum Friedensschluß zwischen der Entente, also der Frau Rat Sommer, und ihrer Schwester und den Töchtern. Die Rätin hatte ein paar Tage vorher von der Frau Obersteuerinspektor Warmholz, deren Mann als Hauptmann in der Etappe wirkte und regelmäßig ‚fette‘ Kisten schickte, erfahren, daß der Zahnarzt Gräbner, dieser eingefleischte Junggeselle, allgemein auf ein Jahreseinkommen von dreißig- bis vierzigtausend Mark geschätzt werde. Und da sie schon vorher wieder von anderer Seite gehört hatte, daß derselbe Gräbner und ihre Jüngste sehr oft jetzt in Lottow allein spazieren gingen, kapitulierte die Klugheit vor dem Eifelturm-Standesbewußtsein.
An dem Festessen hatten außer den Familienangehörigen nur noch Hella von Wiek und der ‚feudale Zahnreißer‘ teilgenommen. –
Hella hatte schon längst gemerkt, daß es zwischen ihr und Gräbner wohl immer bei der kameradschaflichen Freundlichkeit bleiben würde. Nur war sie hier, was die glücklichere Nebenbuhlerin anbetraf, auf der falschen Fährte. Ihre Freundschaft mit Elfriede hatte dadurch jedoch keinen Riß bekommen. Dazu war sie zu gerecht denkend. Im Gegenteil, auch sie hatte zahlreiche Briefe an Verwandte und Bekannte geschrieben und das Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ und seine Besitzerin darin über den grünen Klee gelobt. – –
Am 17. Mai morgens neun Uhr, also nach Ankunft des Berliner D-Zuges, kam Helene, die jetzt mit weißem Häubchen und weißblau gestreiftem Servierkleid gar nicht mehr ‚landsch‘ aussah, aufgeregt in die Küche gestürzt, wo Elfriede gerade mit Frau Jahnke, der Bauersfrau und Lieferantin der Firma E. Körtig, abrechnete und eine ganze Menge Papiergeld auf das Fensterbrett zählte.
„Gnäd’je Frau – es sind welche da!“ keuchte Helene förmlich.
Frau von Sonnenstrahl verstand nicht gleich. Margot, die am Küchentisch Spargel einweckte, ergänzte daher: „Sie meint Gäste, Frieda.“
Die große Wirtschaftsschürze wurde der gnäd’jen Frau dann von Helene fast vom Leibe gerissen.
Auf der Diele, die als Gesellschaftszimmer hergerichtet war, brannte der Kronleuchter. Helene hatte ihn eingeschaltet, wie ihr das für den Empfang von ‚Herrschaften‘ eingeschärft worden war.
Elfriede, heute wieder im weichen, anschmiegenden Moireekleid, stand einer elegant gekleideten jungen Dame gegenüber, die mit knappem Kopfneigen den Gruß der Pensionsinhaberin erwidert hatte, ohne sich aus dem Korbsessel zu erheben. Auch ihr Begleiter, ein Herr mit einer dunklen Brille vor den Augen, blieb sitzen, was Elfriede recht ungehörig fand. In diesem Punkt änderte sich ihre Ansicht aber sehr bald, da die Dame erklärte:
„Sie haben doch wohl noch Zimmer frei, nicht wahr? Mein blinder Bruder und ich“ – sie betonte das ‚blind‘ merklich – „beabsichtigen acht Wochen in Lottow zu bleiben…“
Die Geschwister Randler aus Breslau nahmen dann, nachdem Fräulein Ilka Randler sich sämtliche Räume angesehen hatte, die beiden Zimmer, die durch Teilung des früheren Musiksalons entstanden waren. Die junge Dame, die in ihrem Auftreten sehr zurückhaltend war, feilschte sehr hartnäckig um den Pensionspreis, wobei sie erwähnte, ihr armer Bruder hätte als Kriegsfreiwilliger im Felde das Augenlicht verloren und sie könnten nicht allzu viel anlegen, da das elterliche Geschäft in Breslau sehr zurückgegangen wäre.
Elfriede, die hier in Rücksicht auf den bedauernswerten Bruder der jungen Dame eine Ausnahme machen zu müssen glaubte und der nebenbei auch dieses Feilschen um ein paar Mark geradezu seelische Quallen bereitete, ging denn auch in dem von Tante Emilie festgesetzten Preise herunter. Randlers blieben und bilden somit den Stamm der Gäste.
Kaum waren sie in ihren Zimmern untergebracht, als Helene abermals ‚welche‘ meldete. Diesmal fand Elfriede auf der Diele gleich drei Personen vor: Herrn Fabrikbesitzer Meier nebst Gattin und Tochter aus Konitz.
Meier, der sich noch vor zwei Jahren Kürschnermeister genannt und damals nur Sonntags einen von Muttern geplätteten bequemen Umlegekragen getragen hatte, trat mit dem Selbstbewußtsein des Mannes auf, der dem Vaterlande in dieser schweren Zeit für das Heer einige tausend Pelze, nachher auch Sättel, Zaumzeuge und Geschirre – natürlich gegen Kriegspreise – geliefert und jetzt mit das höchste Einkommen in Konitz hatte. Frau Meier und die Erbin des ganzen Reichtums waren offenbar in die neuen Verhältnisse noch nicht ganz hineingewachsen und schwiegen sich bei den Verhandlungen mit der ihnen mächtig imponierenden Inhaberin des Fremdenheims ‚Sonnenstrahl‘ total aus.
August Albert Richard Meier begann diese Verhandlungen mit der Bemerkung: „Mein Zahnarzt Doktor Gräbner hat Ihr Pensionat empfohlen. Er hat mir vorigen Herbst für dreihundert Emchen Gold in die Zähne gepflastert. – Na – haben Sie noch was frei, meine Allergnädigste?“ –
So wurde Elfriede abermals zwei Zimmer – ohne Feilschen jetzt! – an Leute los, die für die übrigen Gäste sehr wahrscheinlich wertvolle Studienobjekte der neuen Gattung von ‚reichen Leuten‘ werden konnten.
Nachmittags telephonierte Elfriede die Firma E. Körtig an und teilte mit, daß sie nunmehr den gemeinsamen Mahlzeiten ‚präsidieren‘ müsse.
„Gratuliere, Kind, – gratuliere,“ ließ sich Tante Emilie vernehmen. „Der Anfang macht sich. – Haben sie sehr gehandelt, und bist du nicht mit den Preisen gedrückt worden…?“
Elfriede antwortete etwas zögernd, daß die Geschwister Randler allerdings vier Mark weniger zahlten als festgesetzt. Worauf die Firma entgegnete: „Na – wenn der Herr blind ist, – da will ich nichts sagen. Aber in Zukunft, Friedchen, – Ohren fest halten und den Leuten, die am meisten stöhnen, am wenigsten glauben.“ –
Abends genossen die Schwestern dann das Vergnügen, mit den ersten Gästen gemeinsam zu speisen. Der frühere rote Salon, ein langgestreckter, dreifenstriger Raum, wurde nun als Eßsaal genutzt.
Auch jetzt fiel es Elfriede wieder recht schwer, sich in ihre Hausfrauenpflichten hineinzufinden. Zahlende Gäste, die für ihr Geld Ansprüche machen können, an ihrer Tafel zu sehen war Frau von Sonnenstrahl denn doch zu ungewohnt. Zum Glück fand sie aber in Margot eine überaus gewandte Hilfe. Die ersten Klippen der Pflichten einer Pensionsinhaberin wurden so ohne störende Zwischenfälle glatt umschifft. –
Randlers blieben zurückhaltend. Ernst Randler, der früher Ingenieur gewesen, war mit seinem flotten, blonden Schnurrbart und der energischen Hakennase eine recht ansprechende Erscheinung. Ilka dagegen fand Margot etwas zu stark herausgeputzt und zu gesucht vornehm. Meiers entpuppten sich als harmlose Leutchen. Die Fabrikbesitzersgattin war selig, als sie sich mit Margot übers Einwecken unterhalten konnte, während er wieder Ilka Randler so etwas den Hof machte und Minni, die Erbin des Kriegsgewinnlers, Elfriede heimlich anhimmelte.
Zwei Tage darauf traf der sechste Gast ein – Gymnasialprofessor Doktor Emanuel Bommel, Junggeselle, nervös, stets heiser, – sonst ein gemütlicher älterer Herr. Er nahm das Zimmer Nr. 6 neben Randlers.
Nach abermals drei Tagen Pause vergoß Elfriede die ersten bitteren Tränen als Pensionsinhaberin. – Grund: Frau Fabrikdirektor Rosalie Silberstein nebst Familie aus Berlin. – ‚Er‘ wollte nachkommen. ‚Sie‘ wog gut einhundertundachtzig Pfund, trug ein Vermögen in Steinen auf den Fingern und der stets asthmatisch wogenden Brust, brachte zwei erwachsene Töchter, Mia und Vera, mit und behandelte Frau von Sonnenstrahl mit einer Herablassung und einer aufdringlichen Neugier, daß nicht viel gefehlt hätte und Silbersteins wären … hinausgeflogen. Aber Elfriede biß tapfer die Zähne zusammen, denn Rosalie geb. Levysohn aus der Jerusalemer Straße nahm den teuren Ecksalon und das zweite Prunkzimmer für sechs Wochen, und … erst dann weinte sich die Inhaberin des ‚vornehmen Familienheims‘ in der früheren Plättstube am Herzen Margots aus, die die Dinge weit verständiger auffaßte und sagte:
„Aber Friedel, – die Leute können dich doch nicht verletzen, ich bitt’ dich! Noch schöner! Sie sind für uns doch nur zahlende Nummern, Zimmer 1 und 2, – weiter nichts…!“ –
Elfriede beruhigte sich denn auch allmählich. Und als abends die Tante Emilie überraschend zu Besuch kam und gleichfalls an der Abendbrottafel mitaß, konnte Elfriede bereits wieder mit stiller Freude beobachten, wie gut die Firma vom Domplatz mit Rosalie Silberstein fertig wurde und ihr klarmachte, wie wirklich feine Leute sich zu benehmen pflegen. Tante Emilie lockte dann weiter auch mit viel diplomatischem Geschick aus den Zwillingen Mia und Vera heraus, daß Herr Isidor Silberstein vor dem Kriege ‚in Seife und Öl gemacht‘ – das heißt Vertreter von ein paar Fabriken gewesen und erst durch den Feldzug ‚hochgekommen‘ war.
Nach dieser Feststellung sagte die Firma E. Körtig sehr hoheitsvoll zu der Firma Fabrikdirektor: „Sie haben es gut getroffen, daß Sie gerade das Pensionat meiner Nichte gewählt haben. Sie werden hier nur mit Leuten zusammentreffen, von denen man etwas lernen kann. Und lernen wollen und müssen wir Menschen ja alle bis an unser Lebensende. Nur der Umgang mit Zugehörigen der gebildeten Kreise bietet die geistige Anregung, die Sie doch auch im Bade nicht werden missen wollen, Frau Direktor, – nicht wahr?“
Worauf Professor Bommel hinzugefügt hatte: „Ich bin zum Beispiel gern bereit, den Damen als Führer durch die Privatsammlungen des Herrn Wekstern hier zu dienen, die sehr reichhaltig sind: Gemälde, Skulpturen, Antiquitäten, alte Schriften und so weiter…“
Rosalie Silberstein hatte großes Interesse geheuchelt, hatte das ironische Lächeln Ilka Randlers bemerkt, ebenso den spöttischen Blick August Meiers gesehen und sich vorgenommen, doch lieber fernerhin bescheidener aufzutreten.
8. Kapitel
Nach dieser in mancherlei Beziehung denkwürdigen Abendtafel schlenderte Professor Bommel dem Kurgarten zu und betrat die Altdeutsche Bierstube, in der Heinz Gräbner sein Nachtmahl einzunehmen pflegte.
Gräbner saß allein am Stammtisch und verzehrte gerade eine magere Räucherflunder, als Bommel ihn ansprach und dann bei ihm Platz nahm. Zehn Minuten später verließen die Herren gemeinsam die Bierstube und gingen die Strandpromenade nach Falkennest hinunter, einer weit in die See sich hineinerstreckenden Landzunge, deren Spitze einen schroffen Abhang bildete.
„Das nenn’ ich wirklich mal ne Überraschung!“ hatte Gräbner gesagt, als sie sich allein auf der Promenade sahen, hatte Bommel die Hand hingestreckt und kopfschüttelnd hinzugefügt: „Also Emanuel Bommel…! Ein köstlicher Name! – Auch sonst hast du dich verändert!“
Der Professor lachte. Es war ein junges, kräftiges Lachen.
„Ja – verändert! Man wird alt, wenn man will, lieber Heinz! In meinem Beruf ist das nun mal so!“
Nachher kamen sie auf Elfriede von Sonnenstrahl zu sprechen.
„Eine prächtige Frau!“ meinte der Professor ganz begeistert. „Nur – nur zur Pensionsinhaberin eignet sie sich nicht. Sie nimmt alles viel zu tragisch, ist eben zu sehr Dame. Schade um sie…! Sie hat so einen Zug um den Mund, der von heimlichem Sehnen nach anderen Dingen spricht. Ich glaube, die Liebesfähigkeit dieser Frau ist in der ersten Ehe nicht erschöpft worden. Für einen Menschenkenner wie mich jedenfalls ein interessanter Fall.“
„Hör’ mal, lieber … Emanuel, – richtig: Emanuel! – du schwärmst ja förmlich wie ein Studio! Ei – halte nur dein Herz recht fest! – Im übrigen: Frau Elfriede und ich sind gute Freunde…“ Und Gräbner erzählte, daß er mit Rechnungsrat Sommer durch den Briefmarkenverein bekannt geworden… Von all dem andern sprach er nicht, was seine Seele jetzt so schwer beunruhigte. Sein alter Universitätsfreund und Verbindungsbruder, den er lange nicht gesehen, wußte nichts von der stillen, starken Liebe zu Elfriede, nichts von der schweren Herzensenttäuschung damals vor nunmehr fast fünf Jahren, als Kurt von Sonnenstrahls Adel und Reichtum über den Zahnarzt gesiegt hatten…
Der Abend war lau und windstill. Die Freunde setzten sich auf eine Bank in die Anlagen vor dem Familienbade, rauchten behaglich ihre Zigarren und tauschten halb vergessene Erinnerungen aus.
Gräbner hätte den Professor zu gern gefragt, was ihn hier nach Lottow geführt hatte. Aber er mochte nicht gern neugierig erscheinen, zumal er noch von früher her wußte, daß ‚Emanuel‘ in dienstlichen Angelegenheiten sehr verschwiegen war.
Die Dunkelheit nahm jetzt rasch zu. Nur selten kamen Spaziergänger vorüber. Dann aber tauchte ein Paar auf, bei dessen Anblick – eine Bogenlampe ließ die Vorübergehenden eine hellbeleuchtete Strecke der Promenade etwas seitwärts von den Freunden passieren – Gräbner mitten im Satz abbrach und nach einer kleinen Pause mit besonderer Betonung fortfuhr:
„Da – das sind Pensionsgenossen von dir, die … Geschwister Randler.“
„Stimmt.“
„Stimmt?! – Ich zweifle stark – das heißt, ob es wirklich Geschwister sind. Eigentlich gebe ich hier nur einen Argwohn wieder, den Fräulein Margot mir gegenüber heute Vormittag angedeutet hat, als wir aus Bernstadt herauskamen.“
„So?! Sie meint also, daß es so etwas wie ein Pärchen sein könnte…“
„Scheint so. Sie drückte sich natürlich sehr vorsichtig aus… – Ah – was war das eben?! Merkwürdig…!“
„Was denn?“
„Sahst du nicht, daß Randler seinen Spazierstock, der ihm aus der Hand gefallen war, aufhob, ohne lange mit der Hand auf dem Boden herumzutasten.“
„Ah so! Du meinst, weil er doch blind ist.“
„Ja. Es machte soeben stark den Eindruck, als ob er ebenso gute Augen hat wie wir beide.“
Bommel lachte leise auf. „Aber alter Heinz, – woher dieses Mißtrauen gegen den harmlosen Menschen?! Glaubst du etwa, er täuscht seine Blindheit nur vor?“
„Hm, jedenfalls hat diese kleine Beobachtung eben mich stutzig gemacht. Freilich – weshalb sollte…“ Er führte den Satz nicht zu Ende und schaute den Geschwistern nach, die jetzt wieder wie immer Arm in Arm dem Kurgarten zuschritten.
Dafür ergänzte der Professor das Begonnene: „Freilich, weshalb sollte er diese Täuschung sonst so sorgfältig aufrecht erhalten, weshalb überhaupt so tun, als hätte er das Augenlicht verloren. – Nicht wahr, Heinz, das wolltest du doch sagen.“
„Allerdings. Manchmal kommen einem so merkwürdige Gedanken. Es war wie ein Blitz, der mir durchs Hirn zuckte.“
„Ein Blitz ist etwas Tatsächliches, etwas, das böse Wirkungen haben kann. Man sollte solchen Blitzen sein Hirn verschließen.“
„Ganz recht, lieber … Emanuel, – der Name ist wahrhaftig so, als ob man Mehl kaut.“
Der Professor lachte herzlich. „Aber er klingt so schön vertrauenerweckend, so bieder und schlicht. – Was den Randler angeht, Heinz, da spricht wohl so eine gewisse Abneigung bei dir mit. Anders kann ich mir diesen Verdacht nicht erklären.“
„Abneigung? Hm – vielleicht! – Ich habe mich gestern mit ihm auf dem Seesteg längere Zeit unterhalten. Margot – Fräulein Margot vermittelte die Bekanntschaft. Sie tut um Randler sehr besorgt, spielt die Mitleidige. Sie will aber nur herausbekommen, ob Bruder und Schwester oder nicht. Wenn nicht, soll das Pärchen natürlich fliegen! Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ bietet derlei Liebesleuten kein Unterkommen. – Ja, also gestern, – beim Gespräch mit Randler fiel mir auf, daß er als Elektroingenieur von der Einrichtung meiner neuen elektrischen Bohrmaschine System Adrian keinen Schimmer hat, mehr noch, daß er überhaupt von Elektrotechnik kaum so viel versteht wie ich. Ich glaubte, gerade eine Unterhaltung über Dinge seines Spezialstudiums würde ihn interessieren. Keine Rede! Er suchte immer wieder ein anderes Thema anzuschlagen. Da wurde ich schon einmal so etwas mißtrauisch. Nebenbei empfand ich auch so eine leise Antipathie gegen den Menschen in mir aufsteigen. Er protzt sozusagen mit seiner Blindheit. Dann heute noch die Äußerung Fräulein Margots…! – Aber – du hast ganz recht…! Ich sehe das jetzt auch ein. Weshalb diese Täuschung…?!“
„Na also! – Er ist blind, mein Alter. Du kannst dich drauf verlassen!“
„Wenn du es sagst…! Du hast doch einen Blick für solche Dinge.“
„Freilich – den hab’ ich und muß ich haben.“
Nach einer Weile schlenderten sie dem Stege wieder zu. Im Kurgarten trafen sie Elfriede und Margot. Die regelmäßigen Konzerte hatten noch nicht begonnen. Der Garten war daher recht leer. Nur auf den Terrassen des mächtigen Schmuckbaus saßen einige Badegäste.
Man ging zu vieren weiter, durch den breiten Kurhauseingang hinein in die hellerleuchtete Seestraße, die Hauptverkehrsader des Badeortes.
Der Professor und Elfriede bildeten die Spitze. Einige Schritte hinter ihnen kamen Margot und der Doktor. Dieser hatte soeben gefragt, was denn eigentlich der Kunsthändler Kriggelkraggel – den Namen hatte der Herr behalten – auf Frau von Sonnenstrahls Brief geantwortet hätte.
„Ach so – wissen Sie das noch nicht?“ meinte Margot gutgelaunt. „Die Antwort war sehr vielsagend. Er hat nämlich bisher gar nicht geantwortet und wird es daher auch kaum noch tun. – In dieser Sache hat Tantchen also mal gründlich vorbeispekuliert. Das kommt von der Habgier! – Nun kann Elfriede zusehen, wo sie wieder einen Käufer für den Kasten findet, der zweitausendundfünfhundert Mark bietet, – denn Kriggelkraggel ist ja leider unerreichbar. Im Vertrauen: Elfriede hat, nachdem sie zehn Tage umsonst auf Antwort gewartet hatte, einen zweiten postlagernden Brief an XYZ 000 geschrieben und die Truhe für zweitausendundfünfhundert Mark zur Verfügung gestellt. Auch das war vergeblich. – Von diesem zweiten Briefe weiß Tantchen nichts. Wir wollten sie nicht kränken. Sie hofft noch immer auf einen dreitausend Mark Erfolg.“
„Vorbeispekuliert – ganz meine Ansicht, Fräulein Margot,“ bestätigte der Doktor. „Soll manchmal vorkommen… Genau so wie ich vorhin beinahe mich habe zu dem Verdacht verleiten lassen, Randler könnte seine Blindheit nur vortäuschen.“
Margot blieb plötzlich stehen.
„Also auch Sie…?!“ sagte sie leicht erregt. „Erzählen Sie, wie kamen Sie auf den Gedanken?“
Als Gräbner den von ihm beobachteten Vorgang kurz erläutert hatte, – sie waren inzwischen wieder weitergegangen – , sagte Margot leise:
„Ich wette, er ist nicht blind! – Ich habe nämlich etwas Ähnliches gestern auf der Diele bemerkt. Ich stand hinter der Pendeltür zur Küche. Er saß allein an dem Tischchen, auf dem das Anmeldebuch liegt. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, schlug er es auf und beugte sich über die erste Seite mit den Namen unserer Gäste. – Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?“
„Hm… – aber, gesetzt den Fall, der Mann heuchelt wirklich. Wozu dann nur?!“
Der Professor hatte sich umgedreht und rief ihnen jetzt zu: „Wie wär’s mit einem Glas Pilsener im Metropol? – Einverstanden?“
So kam es, daß das Thema Randler zwischen Gräbner und Margot unerledigt blieb.
In dem mit Gold und Weiß überladenen Saale des Metropols war es Bommel dann, der bei passender Gelegenheit betonte, wie sehr er sich freue, heute rein zufällig des Doktors Bekanntschaft gemacht zu haben.
Gräbner hatte sich schon selbst gesagt, daß der Freund hier unbekannt bleiben wolle und ihn daher wie einen Fremden behandelt, mit dem einen das Badeleben zusammengeführt hat.
Nachher begleitete der Doktor die drei noch bis zur Gitterpforte des Pensionats. Als er sich gerade verabschieden wollte, rief Elfriede plötzlich halb ängstlich halb erstaunt:
„Da – Margot, sieh nur, – in unserem Zimmer brennt Licht! – Ich hatte es doch aber abgeschlossen und den Schlüssel hier bei mir, weiß auch ganz bestimmt, daß ich die Ampel ausgedreht habe.“
Sie deutete hinauf auf ein erleuchtetes Fenster. In demselben Augenblick erlosch droben das Licht. Und Elfriede sagte nun merklich besorgt:
„Was bedeutet das? – Hier ist doch der Schlüssel, und trotzdem…“
Bommel unterbrach sie hastig. „Sehen wir doch einfach nach – schnell!“
Alle vier hasteten die Treppe empor, – fanden die Tür der früheren Plättstube aber verschlossen vor.
Elfriede öffnete mit ihrem Schlüssel und trat ein, drehte das Licht an, schaute sich überall um, bemerkte aber nichts irgendwie Verdächtiges, kam zu den Herren in den Flur zurück und sagte: „Ich begreife das nicht…“
Gräbner blickte Emanuel Bommel an. Der aber schüttele verstohlen den Kopf. Das hieß: Ich will inkognito bleiben.“
Und der Doktor dachte: ‚Wenn einer sich einen Vers aus dieser Geschichte machen kann, dann ist es Emanuel! Schade, daß er sich nicht einmischen darf, weil er eben bleiben will, was er ist: Professor Bommel!‘ –
Der Professor stellte eine Viertelstunde später seine Stiefel vor die Tür, riegelte sich dann in seinem Zimmer ein, hängte über das Schlüsselloch noch ein Taschentuch und … begann sich zu rasieren.
Das Merkwürdigste dabei war, daß er am nächsten Morgen doch wieder einen leicht ergrauten Vollbart hatte.
9. Kapitel
„Guten morgen, gnädige Frau,“ begrüßte der Professor Frau Elfriede, die gerade ein paar Einkäufe erledigen wollte und ihm vor der Haustür begegnete, wo er sich umständlich eine Zigarre anzündete. „Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen anschließe?“
„Aber bitte – sehr gern.“
Sie bogen nach der Südstraße ein und sprachen über den Abschluß des gestrigen harmlosen Metropol-Bummels, über das erleuchtete Fenster des jetzigen Schlafzimmers der Schwestern. –
Bommel hatte das Thema angeschnitten und gefragt, ob Elfriede Anzeichen dafür gefunden hätte, daß sich jemand in dem Zimmer etwas zu schaffen gemacht, vielleicht irgendwelche Behältnisse durchwühlt hätte.
Frau von Sonnenstrahl verneinte und fügte hinzu: „Dieser Vorfall beunruhigt mich trotzdem recht sehr. Es unterliegt doch keinem Zweifel, daß ein Unbefugter unsere Abwesenheit dazu benutzt hat, mit Hilfe eines Nachschlüssels den Raum zu betreten.“
„Allerdings, der Gedanke ist nicht angenehm, daß jemand dort ganz nach Belieben aus- und eingehen kann. Ich würde Ihnen raten, jetzt sofort eine sogenannte Schloßsicherung zu kaufen, die dem Herrn Jemand das Handwerk legt. Ich bin gern bereit, Ihnen diese Sicherung in das Schloß gleich nachher einzuschrauben. Nur dürfte außer Ihnen und Ihrer Schwester niemand erfahren, daß ich dies getan. – Es paßt nicht recht zu einem Gymnasialprofessor.“
Elfriede schaute Bommel verwundert an.
„Sie – Sie verstehen auch etwas von Schlosserarbeiten, Herr Professor? – Das muß man Ihnen lassen, wahrhaftig: Vielseitig sind Sie! – Natürlich nehme ich Ihr Anerbieten mit herzlichem Dank an, falls Sie nicht zu viel Mühe damit haben. – Wird man denn aber eine solche Sicherung aussuchen können, ohne das Schloß bei der Hand zu haben…?!“
„Oh – ich habe es mir vorhin angesehen, – das heißt von außen. Diese Türschlösser werden ja alle fabrikmäßig hergestellt. Da genügt ein Blick auf das Schlüsselloch, um Bescheid zu wissen.“
Elfriede konnte jetzt einen verwunderten Ausruf nicht unterdrücken.
„Nein – wirklich…?! – Sie haben also bereits heute früh daran gedacht, mich … mich vor diesem Eindringling zu schützen? Das – das ist ja sehr lieb und aufmerksam von Ihnen, Herr Professor, … sehr!“ Sie wurde ein wenig verwirrt. Sie hatte ja bereits bemerkt, daß er sich ihr widmete, so oft er eine Gelegenheit dazu fand, daß er bei Tisch gerade sie immer anredete; und auch das hatte sie schon herausgefunden, daß er seine Schüchternheit, die ihn in größerem Kreise so etwas zur halb komischen Figur machte, im Alleinsein mit ihr völlig verlor, geradezu wie ausgewechselt schien. Diese Veränderung erstreckte sich sogar bis auf seine Stimme, deren heiserer Klang nicht gerade angenehm wirkte.
Heute, wo Elfriede den Beweis erhielt, daß der Professor doch offenbar für sie ein reges Interesse zeigte, – und sie hätte nicht Weib sein müssen, um diese Türschloßgeschichte nicht richtig zu deuten! – heute schaute sie sich daher dem freundlichen Herrn an ihrer Seite eigentlich zum erstenmal mit den Augen der Frau, nicht mit denen der Pensionsinhaberin an. Und das war und ist ein großer Unterschied. Ob junges Mädchen oder reiferes Weib: Sage ihnen, daß dieser oder jener offenbar für sie so ein ganz wenig zu schwärmen scheint, und sie werden den Betreffenden stets sofort mit ganz anderen Blicken betrachten als bisher, werden selbst an dem Häßlichsten und Abstoßendsten etwas finden, das mildernd und angenehm wirkt.
Nun – Bommel war keineswegs abschreckend. Im Gegenteil. Er hatte ein kluges, gütiges Gesicht, und hinter den Gläsern der goldenen Brille leuchteten ein Paar braune, lebhafte Augen, wenn er mal die Lider voll aufschlug. Doch das geschah selten.
Elfriede musterte ihn jetzt also verstohlen wie einen, den sie heute zum ersten Male ganz aus der Nähe sah, fand, daß der leicht ergraute Bart eigentlich nicht recht zu dem frischen, gebräunten Gesicht paßte, daß es schade war, daß er so sehr vornübergebeugt ging, und daß seine Stimme, wenn er wie jetzt nicht mit Heiserkeit zu kämpfen hatte, recht wohlklingend und auch energisch war.
Auf ihre letzte Bemerkung hin erwiderte er nun mit einem freundlichen Lächeln, in dem sogar etwas wie Spitzbüberei lag:
„So ein alter Herr wie ich hat ja auf der Welt nichts Besseres zu tun als der Jugend beizuspringen, wo es irgend angeht, gnädige Frau. Uns Schulmeistern sagt man leider stets nach, wir wären weltfremd. Mag sein. Ich jedenfalls bilde hier eine Ausnahme. Ich habe Lebenserfahrungen gesammelt, die mich wohl berechtigen, mit Erfolg hier und da den ‚guten Onkel‘ zu spielen. Als ich zu Ihnen kam, als ich Ihr Schalten und Walten, Ihr Sichgeben, Ihre kleinen Sorgen und Kümmernisse still mit beobachten durfte, da gewann ich sehr bald den Eindruck, daß Sie erst durch eine harte Lebensschule gegangen sein müßten, um sich zu sich selbst zurückzufinden, da merkte ich aber auch, daß der Beruf, den Sie jetzt erwählt haben, Sie nie voll befriedigen wird, daß Sie anderswohin gehören – in das Heim eines Mannes, dem Sie nicht nur Gattin, sondern auch Kameradin und Freundin sein würden. –
Oh – machen Sie kein so abweisendes Gesicht, gnädige Frau. Ich bin ein alter Mann, der wohl das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen darf, ehrlich zu sein und eine landläufige Unterhaltung auszuschalten.“
Elfriede war vor dem Schaufenster einer Bernsteinhandlung stehen geblieben, hob nun den Kopf, blickte den Professor offen an und entgegnete leise:
„Meinen Gesichtsausdruck haben Sie soeben falsch gedeutet, lieber Herr Professor. Er war nicht abweisend, – nein, – nur schuldbewußt und verlegen, – wie dies wohl bei jedem Menschen der Fall gewesen wäre, der … sich durchschaut sieht, der fühlt, daß seine Seele vor einem anderen offen wie ein aufgeschlagenes Buch daliegt. Was Sie da von ‚sich zu sich selbst zurückfinden‘ sagten, trifft vollauf zu…“
Es war so seltsam, ja, fast unbegreiflich, daß sie jetzt den Wunsch verspürte, sich einmal mit einem Menschen über ihre Ehe und diese letzten Jahre überhaupt auszusprechen, – noch seltsamer, daß sie es auch sofort tat, schonungslos mit sich selbst Abrechnung hielt und dabei auch andeutete, daß sie vielleicht ein stilleres, aber größeres Glück in jugendlicher Unerfahrenheit sich verscherzt hätte…
„Es handelte sich um einen Herrn, einen Bekannten meines Vaters, dessen Charaktervorzüge ich damals noch nicht richtig einzuschätzen wußte, dessen Stellung meiner Mutter auch wohl nicht ganz genügte. Und – wenn man siebzehn ist, haben Mütter ja noch einen großen Einfluß auf die Töchter, oft einen wenig vorteilhaften…“
So sprach Elfriede. Sprach weiter; und der Professor dachte: ‚Dieses stille Glück, das dürfte nach allem, was ich weiß und was ich mir zusammenreimen kann, mein alter Heinz sein… – Gerade er – er…!‘
Frau Elfriede hätte diese Andeutungen nie gemacht oder sich doch vorsichtiger geäußert, wenn sie auch nur im entferntesten hätte vermuten können, daß der Doktor und Bommel so gute Bekannte waren.
Als sie jetzt schwieg und dann noch leicht beschämt und verwirrt hinzufügte: „Nicht wahr, – das bleibt doch alles unter uns, Herr Professor…“ Da streckte er ihr herzlich die Hand hin und sagte:
„In meiner Brust lagern schon ganz andere Geheimnisse, gnädige Frau. Seien Sie in dieser Beziehung ganz beruhigt. Ich kann schweigen. – Ja, ja – wir blinden Menschenkinder gehen ja so oft, so sehr oft in das falsche Geschäft, um unsern Lebensbedarf zu decken, lassen uns durch glänzende Fensterauslagen verlocken und erkennen zu spät, daß die kleinen, soliden Geschäfte die besten Waren führen… Auch ich kann davon ein traurig ernstes Lied singen. – Vertrauen gegen Vertrauen…: Ich war verheiratet, genau ein Jahr lang. Und seit zwei Jahren bin ich wieder frei.“
„Wie – ein Jahr, und erst seit…,“ warf Elfriede erstaunt ein.
Er unterbrach sie. „Ja – ja, vielleicht habe ich mich etwas spät darauf besonnen gehabt, daß der Mensch nicht allein sein soll. – Es war eine blendende Schönheit, die ich heimführte; ein nicht mehr ganz junges, vielseitig gebildetes Mädchen aus bester Familie. Sie hätte Millionäre und Grafen haben können, wählte mich, weil gerade damals mein Name in aller Munde war, weil meine Person ein gewisser Nimbus umgab…“
„Ah – Sie haben wohl ein großes wissenschaftliches Werk herausgegeben…?“ fragte Frau Elfriede interessiert.
„Na ja – was Ähnliches… – Jedenfalls habe ich mich dann wohl in der Ehe als sehr nüchterner Geselle entpuppt… Kurz: das große Glück zerflatterte schnell in alle Winde wie der dünne Rauch eines schwachen Feuers… – –
So, gnädige Frau, nun wollen wir aber wieder in die Gegenwart zurückkehren. Man soll nicht zu oft und zu angestrengt rückwärts blicken, sonst stolpert man auf dem Wege, der vor einem liegt. Sie sind noch jung… Das Leben kann und wird Ihnen noch alles bieten, was es zu verschenken hat. Nur – zupacken müssen Sie und festhalten, was Ihnen gereicht wird; nicht vorschnell, aber auch nicht ängstlich…“
Er zeigte auf ein großes Stück Bernstein, in dem ein Käfer eingeschlossen war. Er wollte das Thema wechseln und sagte daher:
„Wenn das Tierchen da erzählen könnte…! Tausende von Jahren liegt es nun schon in diesem hellgelben Grabe, hat noch Zeiten der Entwicklung unserer Erde mitgemacht, von denen wir wenig wissen. – Mich berühren solche Dinge, die an längst entschwundene Weltepochen erinnern, immer ganz eigenartig. Wie erbärmlich kurz ist doch unser Leben, – wenn’s hoch kommt, wird man siebzig! Und das Käferlein da existiert sicherlich schon viele tausende Jahre! Ja – es ist auch so ein Mahner, der uns zuruft: Nützet die Zeit…!“
Dann gingen sie weiter, bogen in die Seestraße ein, plauderten von anderem. Und Frau Elfriede war es, als hätte sie den Professor schon vor langer Zeit kennen gelernt, als wäre er ihr nie ein Fremder gewesen.
In einem Eisenwarengeschäft suchten sie gemeinsam die Schloßsicherung aus. Dann gingen sie nach der Brotkartenkommission, erledigten auch noch weitere Gänge.
Emanuel Bommel verstand es, Menschen aufzuheitern, wenn er wollte. Er erzählte kleine nette Erlebnisse von seinen Reisen. Elfriede wunderte sich, daß er fast die ganze Welt kannte. Immer deutlicher hatte sie das Empfinden, daß diesen Mann, der unmöglich so alt sein konnte, wie ihn der Vollbart erscheinen ließ, etwas Geheimnisvolles, Unklares umgab. Sie begann daher alles, was er sagte und was er schon gesagt hatte, wie er sich ihr gegenüber gab und wie er sich in größerem Kreise benahm, kritisch gegeneinander abzuwägen. So fiel ihr besonders auf, daß er bisher auch noch nicht mit einer Silbe über seinen Beruf als Jugendbildner gesprochen hatte. Dagegen merkte man, welches Interesse er gerade komplizierten Charakteren entgegenbrachte, wie gut er Bescheid wußte in all den vielen dunklen Abgründen der Menschenseele, in denen sich die schweren Fehler moralischen Empfindens verkriechen und aus denen sie dann von Zeit zu Zeit wie beutelüsterne Drachen emporkriechen. Anderes noch stellte sie fest, – daß seine Zeitangaben mit Sicherheit darauf hindeuteten, was sie vorhin schon bemerkt hatte: Er müsse weit jünger sein, als er aussah.
Je länger sie beisammen waren, desto eindringlicher raunte in Elfriedes Innerem eine Stimme: ‚Er sucht hier alle Welt zu täuschen; er spielt eine eingelernte Rolle, ist ein ganz anderer…‘ Da wurde sie stiller und stiller. Daß sie dem alten Professor einen Einblick in ihr Innenleben gewährt hatte, wäre ihr nicht weiter unangenehm gewesen; aber daß ein Mann, der nur einen würdigen, schüchternen Philologen vorzutäuschen suchte, sich in ihr Vertrauen halb gegen ihren Willen eingeschlichen hatte, erschien ihr jetzt wie eine tiefe Demütigung. Gegen ihren Willen war’s geschehen, denn sie hatte ja einem ihr selbst unerklärlichen Zwange gehorcht, als sie über all diese Dinge sprach, die nur ihr gehörten als ein Teil ihres Ichs, zusammengeschmiedet mit ihrer Person als Erlebnisse von nachhaltigster Wirkung auf ihr Dasein.
Der Professor wurde nun ebenfalls einsilbiger. Und gerade als sie durch den Südpark dem Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ wieder zuschlenderten, ganz langsam, um den köstlichen Maivormittag unter den frischgrünen Bäumen voll auszukosten, sagte er plötzlich, indem er stehen blieb, den Hut abnahm und sich mit der Rechten über die Stirn fuhr:
„Ich habe soeben so etwas wie eine Vision gehabt; sah vor mir eine Frau, die mich ernst und vorwurfsvoll ansah, die Hände nach mir ausstreckte und mir etwas nehmen wollte, was sie mir soeben geschenkt. Da habe ich zu der Frau folgendes gesprochen: ‚Geduld, liebe Fee, – was heute noch geheimnisvoll und unklar erscheint, kann jeder Tag erleuchten bis zur vollsten Klarheit. Und dann, liebe Fee, dann wirst du die Hände wieder sinken lassen und nicht zurückverlangen, was du hingabst und was in mir bleibt wie ein tief vergrabener Schatz‘…“
Sie verstand ihn sofort. Der Schatz war ihr Vertrauen, und die Fee sie selbst… – Er hatte ihr nur beruhigend andeuten wollen, daß das, was ihr an ihm heute so geheimnisvoll erschien, bald eine all ihre Zweifel zerstörende Aufklärung finden würde.
Da wurde sie wieder froh und das Herz ihr leicht. Und in Gedanken bat sie ihn um Verzeihung, daß sie ihm gegrollt hatte, – ihm, der so richtig ihre Gedanken erraten hatte. – Was für ein vortrefflicher Menschenkenner mußte er nur sein…! –
In aller Heimlichkeit brachte er dann die Schloßsicherung an. Er hatte Frau Elfriede gebeten, sich zu diesem Zweck in der früheren Plättstube einriegeln zu dürfen. Das nötige Handwerkszeug hatte er vorher aus seinem stets sorgfältig zugesperrten Koffer geholt, der zwei recht eigenartige Schlösser besaß, an denen auch der gewandteste Dieb sich vergeblich abgemüht haben würde.
10. Kapitel
Während der Professor an dem herausgeschraubten Schloß herumfeilte und die Sicherung einfügte, empfing Frau Elfriede auf der Diele abermals ein paar neue Gäste, – einen Rechtsanwalt nebst Frau aus Thorn und einen Offizier in Zivil, Hauptmann Kettner, der die letzten Folgen eines Lungenschusses an der See schneller zu überwinden hoffte.
Elfriede brachte die beiden neuen Parteien nach Wunsch unter und sagte nachher zu Margot, die mit hochrotem Kopf an dem großen Gasherd stand und eine magere Kriegsspeise für den Nachtisch kochte: „Wir haben wirklich Glück, Kleines. Der Juni hat noch nicht einmal begonnen, und das Haus ist bereits halb voll.“
Margot nickte zerstreut. Sie hatte soeben wieder an Doktor Gräbner und die Geschwister Randler gedacht. Sie schaute sich erst vorsichtig um. Als sie sah, daß sie mit Elfriede allein war, meinte sie zögernd:
„Friedel, ich möchte dich nicht gern beunruhigen. Aber ich glaube, Gräbner wäre auch ganz einverstanden damit, daß ich dir mitteile, was er und ich gemerkt haben – gemerkt zu haben argwöhnen…“
Sie machte eine kleine Pause. Frau Elfriede aber hatte bei dieser Einleitung, die noch in keiner Weise erkennen ließ, was darauf folgen würde, ihr Herz wie in jäher Angst zusammenzucken gefühlt. –
Gräbner und Margot…! Ob es etwa zwischen den beiden bereits innigere Beziehungen gab, ob es wirklich wahr werden sollte, worauf so manches hindeutete: Daß nun auch Gräbner ihr verloren gehen würde, daß Margot ihn ihr genommen hätte, – ihn, auf den sie, nur sie doch Anspruch zu haben glaubte und mit dem ihre Gedanken sich in der letzten Zeit nur zu viel beschäftigt hatten…?! –
Eine leise Regung der Eifersucht stieg in ihr auf. Sie war ehrlich genug sich einzugestehen, daß Margot ihr verjüngtes, frischeres Ebenbild war, daß nur zu leicht gerade dieser großen Ähnlichkeit wegen der Mann, der sie einst umworben, sich jetzt der Schwester zugewendet haben könnte, diesem blühenden, heiteren, starken Geschöpf, das vor ihr noch den Vorzug hatte, dem, den sie liebte, eine Seele und einen Körper schenken zu können, die noch frei von Erinnerungen an einen anderen waren. – Junges Mädchen hier – Witwe da, – und – so hatte Gräbner die erstere gewählt. –
Doch ebenso schnell wie dieses Flämmchen der Eifersucht hochzüngelte, sank es auch wieder zusammen. Elfriede empfand jetzt mit voller Deutlichkeit, daß dieses Gefühl weniger Eifersucht, als verletzter Stolz gewesen war, eben das ein wenig beschämende Bewußtsein, von der Jüngeren verdrängt zu sein. Nein – heute wurde es ihr klar in diesem Augenblick: Sie liebte Gräbner nicht; nein – nicht einmal um den Beginn einer aufkeimenden Neigung handelte es sich. Wenn sie jetzt so häufig seiner gedacht hatte, war es nur geschehen, da sie sich innerlich vereinsamt gefühlt und Anlehnung gesucht hatte bei jemand, den sie für gut und ehrlich hielt. –
Es war nun, als ob sie befreit aufatmete nach diesem klärenden Blick in ihr Herz. Und das schalkhafte Lächeln, mit dem sie nun zu Margot sagte „Ist das, was mich nicht beunruhigen soll, etwa eine Verlobung?“ war nicht erheuchelt.
Die Jüngere lachte etwas verschämt, schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf, wurde schnell wieder ernst und sagte: „Friedel, die Sache ist durchaus nicht scherzhaft, wirklich nicht…!“ Und dann erzählte sie, was sie selbst und was Gräbner hinsichtlich der Blindheit Randlers beobachtet hatte, und schloß diesen Bericht mit den Worten: „Gräbner will ja heute abend zu uns kommen. Dann können wir mit ihm diese Angelegenheit nochmals durchsprechen.“
Frau von Sonnenstrahl meinte jetzt: „Ob ihr nicht doch auf falscher Fährte seid? – Randlers müßten doch geradezu Hochstapler oder dergleichen sein und hier dunkle Absichten verfolgen, wenn es zuträfe, daß die Blindheit nur vorgetäuscht wird. Und für Verbrecher halte ich die beiden auf keinen Fall.“ Sie hätte wohl kaum so gelassen über diesen Argwohn gegen die Geschwister sich geäußert, wenn ihr nicht der Professor eingefallen wäre. Ja – sie wollte ihn doch sofort ins Vertrauen ziehen. Er, der Vielerfahrene, würde ihr schon sagen, wie sie sich in diesem Falle verhalten solle.
Eines der beiden Stubenmädchen betrat die Küche und stellte das große Teebrett mit dem Frühstücksgeschirr auf den Mitteltisch, indem sie zu Frau Elfriede ärgerlich sagte: „Die Silberstein verlangte heut wieder Butter als Aufstrich. Ich hab’s immer auszufressen, wenn sie schlechter Laune ist. Sie meinte, für ihr Geld könnte sie mehr verlangen als diese fettlose Gefängniskost.“
„Eine Frechheit!“ rief Margot temperamentvoll.
Noch bevor Frau Elfriede sich hierzu ebenfalls äußern konnte, brachte ihr die ‚kultivierte‘ Helene eine Visitenkarte.
‚Bernhard Gert, Kriminalwachtmeister‘ stand darauf.
Elfriede dachte sofort an die Geschwister Randler und eilte auf die Diele, wo Herr Gert behaglich in einem Korbsessel saß.
Er kam aus Berlin, wo der Direktor Isidor Silberstein gestern wegen Lebensmittelschiebungen verhaftet worden war.
„Es tut mir leid, gnädige Frau,“ erklärte er Elfriede, „aber ich muß auch Frau Silberstein festnehmen, die in dringendem Verdacht steht, an Goldschmuggel ins Ausland beteiligt zu sein.“
Mittags fehlten die drei Damen Silberstein an der Tafel. – „Plötzlich abgereist,“ sagte die Inhaberin des Fremdenheims so nebenbei zu ihren Gästen, um allen Fragen zu entgehen.
Fabrikbesitzer August Meier aus Konitz wußte es besser, lachte sehr zwanglos und nicht minder schadenfroh auf und meinte:
„Sogar mit Ehrenwache abgereist…! Der Gert, Frau von Sonnenstrahl, – mit dem hab’ ich nämlich zusammen bei den Franzern in Berlin gedient. Ich traf ihn, als er hier auf dem Wege zu Ihnen war.“
Elfriede wurde sehr verlegen. Daß diese Geschichte gerade hier bei ihr passiert war, erschien ihr wie eine persönliche Kränkung. Als sie nun den Fabrikbesitzer aus Konitz bittend ansah, nickte der ihr freundlich zu und meinte: „Gert ist wohl mit Silbersteins bekannt…“ Damit machte er die erste Bemerkung wieder gut, so daß den übrigen Gästen gegenüber dieser peinliche Auszug der drei Berliner Damen bemäntelt werden konnte.
Nur in der Küchenregion wußte man Bescheid. Und das eine Stubenmädchen erklärte noch schadenfroher als August Meier: „Gut, daß die Gesellschaft aus dem Haus ist! Dies Vornehmgetue war reineweg ekelhaft…!“
Dieser Zwischenfall ‚Silberstein‘ war auch schuld gewesen, daß Frau Elfriede erst nach Tisch Gelegenheit fand, den Professor in ihr Zimmer zu bitten und ihm die andere Sache vorzutragen.
„Sie können sich denken, daß ich jetzt, nachdem die Silbersteins so wenig ehrenvoll von hier verschwunden sind,“ sagte sie seufzend, „auch eher geneigt bin, den Argwohn Margots begründet zu finden. Lieber Herr Professor – wozu raten Sie mir also? – Ich muß doch dafür sorgen, daß der Ruf meiner Pension nicht leidet. – Ach – was hat man nur alles für Aufregungen und Ärger!“
„Raten? – Hm … abwarten! – Denn bisher handelt es sich doch nur um einen Verdacht, über den ich gestern allerdings auch schon mit Doktor Gräbner gesprochen habe.“
„Gräbner kommt abends zu uns. Ob wir nicht mit ihm ebenfalls noch überlegen, ob man Randler nicht vielleicht entlarven könnte? Ich denke an so etwas wie eine Falle, die man ihm stellen müßte. Besteht er diese Probe, dann wäre ich beruhigt.“
‚Natürlich Gräbner – der Glückliche!‘ dachte Emanuel Bommel. Laut aber erwiderte er:
„Gut – also abends großer Kriegsrat. Als Ort schlage ich das Metropol vor, als Stärkungsmittel Kriegspilsener, – was auch so eine dunkle Geschichte hinsichtlich Herkunft und Entstehung ist.“
„Oh – Sie haben leicht scherzen, Herr Professor! Aber ich…“
„Man muß jedes Ding so lange drehen, bis man selbst an einer schwarzen Kugel eine helle Stelle findet, liebe gnädige Frau. Sonst hält man das Leben nicht aus oder verkümmert doch zum mindesten.“
„Sie mögen recht haben…“ – –
Um fünf Uhr nachmittags erschien ganz überraschend Tante Emilie im Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘. Sie hatte offenbar irgendeine Neuigkeit in Bereitschaft, was man ihr an der auffallend guten Laune anmerkte und auch aus ein paar Andeutungen schließen konnte. Sie hielt aber mit dem Kanonenschlag, der heute vielleicht noch losgehen würde, so lange zurück, bis sie Frau Elfriede in das Schlafzimmer der Schwestern durch einen Vorwand hineingelockt hatte, stellte sich dann vor dem holländischen Linnenkasten bolzgerade auf, deutete mit der Hand auf den bunten, geschnitzten Deckel und sagte:
„Denk’ dir, Kind, der Kriggelkraggel hat an mich geschrieben – – an mich! Ja, da staunt der Fachmann, und der Laie wundert sich!“ Sie reichte Frau Elfriede den Brief.
„Du siehst, er ist mir durch einen Dienstmann ins Geschäft gebracht worden, nicht durch die Post,“ erklärte sie weiter. „Vor genau zwei Stunden erhielt ich ihn. Und ich triumphiere jetzt…! Kriggelkraggel bietet dreitausend Mark, wie ich’s vorausgesagt habe…! – Na – lies nun mal erst!“
Tante Emilie setzte sich mit Schwung auf den Truhendeckel und trommelte darauf mit den Fingern einen fidelen Marsch.
Der Brief lautete:
Sehr geehrtes Fräulein !
Da mir bekannt ist, daß Sie auf ihre Nichte Frau von Sonnenstrahl einigen Einfluß haben und da ich Sie für eine geschäftstüchtige Dame halte, die nüchternen Zahlen gegenüber irgendwelchen sogenannten pietätvollen Bedenken den Vorzug gibt, bitte ich Sie, bei Ihrer Frau Nichte dahin wirken zu wollen, daß sie mein jetziges allerletztes Angebot von dreitausend Mark für die Truhe annimmt. Frau von Sonnenstrahl schrieb mir zwar postlagernd, sie stünde mit einem anderen Käufer in Unterhandlung. Ich glaube aber, daß sie die Truhe lediglich in Gedanken an ihren dahingegangenen Gatten nicht veräußern will, was doch in ihrer jetzigen Vermögenslage gelinde gesagt eine Torheit ist. – Ich bitte mir die Antwort wieder unter XYZ 000 Bernstadt hauptpostlagernd zuzustellen und hoffe bestimmt auf einen zusagenden Bescheid. –
Hochachtungsvoll…
Elfriedens erster Gedanke war jetzt: ‚Was wird die Tante nur dazu für ein Gesicht machen, daß ich inzwischen ohne ihr Wissen dem Kriggelkraggel den Linnenkasten für zweitausendundfünfhundert Mark angeboten habe?! Zum Glück hat er ja offenbar den Brief nicht abgeholt, und ich kann ihn selbst daher wieder zurückfordern, so daß der komische Herr nie erfahren wird, wie leicht er fünfhundert Mark hätte sparen können. Anderseits verlangt es die Dankbarkeit gegen die Tante, daß ich ihr jetzt reinen Wein einschenke, da sie doch tatsächlich ganz richtig spekuliert hat.‘
Und tapfer und mit einigen Worten der Entschuldigung teilte sie der Firma E. Körtig nunmehr mit, daß beinahe aus den dreitausend Mark nichts geworden wäre…
Tante Emilie jedoch nahm die Sache keineswegs übel auf, meinte nur: „Ja – ja, höre nur immer hübsch auf mich, Kind! Dabei fährst du wirklich am besten!“
Dann mußte Elfriede eine Antwort an Kriggelkraggel aufsetzen. Diesen Brief steckte man nachher bei einem Spaziergang in den Briefkasten auf dem Bahnhof, damit das Schreiben sofort mit nach Bernstadt abginge.
Abends bildete Tante Emilie beim Kriegsrat im Metropol die fünfte Teilnehmerin. Und da erst hörte Emanuel Bommel zum erstenmal etwas von dem Manne, der so begierig hinter dem Linnenkasten her war. Er schien dafür aber kein größeres Interesse zu haben, fragte nur, wann der Herr Kriggelkraggel zuerst bei Elfriede als Bieter sich eingefunden hätte.
Im Übrigen kam bei dem Kriegsrat nichts Besonderes heraus. Der Professor warnte davor, Randler eine Falle zu stellen, begründete dies damit, daß eine solche Probe, ob blind oder nicht blind, sehr leicht den Geschwistern auffallen und sie veranlassen könnte, falls sie wirklich auf faulen Pfaden wandelten, ihre Pläne hier aufzugeben, was doch für die Allgemeinheit sehr schädlich wäre, da sie dann anderswo versuchen würden, einen neuen Gaunerstreich auszuführen. Und daher wäre es Pflicht, sie geduldig zu beobachten und wenn nötig der Polizei in die Hände zu spielen.
Tante Emilie erklärte sofort, dies sei allerdings der einzig richtige Rat. Auch Doktor Gräbner war dafür; Margot enthielt sich der Stimme, und so stand Elfriede allein da, die mit Unruhe der weiteren Entwicklung der Dinge entgegensah und lieber die Sachlage baldigst geklärt hätte.
11. Kapitel
Nachdem man Tante Emilie zur Bahn gebracht hatte und die Schwestern von den Herren heimgeleitet worden waren, fand zwischen Bommel und Gräbner, die noch den Mondschein auf dem Seestege genießen wollten, eine längere Aussprache über Randler und auch über die Truhe statt.
Der Professor hatte diese Unterredung mit der Bemerkung eingeleitet, daß Zahnärzte doch außerordentlich kurzsichtige Leute wären, die zwar ihren Mitmenschen zu einem neuen Gebiß verhelfen, sie aber sonst nicht vor drohendem Schaden zu bewahren wüßten.
Woraufhin der Doktor gemeint hatte:
„Lieber Freund, du gestattest, dir zu erwidern: Herr, dunkel war der Rede Sinn!“
Bommel blieb jetzt am Anfang des Steges stehen, lehnte sich an das Geländer, deutete auf die flimmernde Silberbahn, die das Nachtgestirn auf das Wasser zeichnete, und sagte:
„Die Tatsachen sind doch so leicht zu übersehen und daher so leicht aneinander zu fügen, daß eigentlich jedes Kind hierzu imstande sein müßte. –
Herrlich, dieses Mondlicht; wie ein Zug silberner, leuchtender Fische, die dicht an der Oberfläche schwimmen, wie eine…“
„Bleibe beim Thema!“ mahnte Gräbner. „Du mischt Prosa und Poesie denn doch zu unvermittelt.“
„Man darf nie zu nüchtern denken. Besonders ich nicht bei meinem Beruf. Ich suche stets bei all dem Häßlichen und zum Teil Gemeinen, dem ich nachspüren muß, einen Schimmer von edleren Regungen mit ans Licht zu zerren. Ähnliches sagte ich heute zu Frau Elfriede. –
Ich beneide dich, Heinz, daß du gerade diesem jungen Weibe die bessere, ausgeglichenere Zukunft bedeutest.“
Gräbner blickte seinen Emanuel etwas unsicher an, erwiderte zögernd: „Lieber Alter, du – du bist hier auf falschem Wege. Und es täte mir sehr leid, wenn etwa Frau Elfriede Hoffnungen hegte, die ich nicht erfüllen kann, da diese letzten Wochen mir klar gemacht haben, daß es nicht mehr unsere liebe Pensionsbegründerin ist, mit deren Person ich sehr ernste und zärtliche Wünsche verbinde, sondern … ihr verjüngtes Ebenbild: Margot!“
„Ah!“ machte der Professor nur. Und über sein Gesicht glitt ein Ausdruck der Befriedigung hin.
„Ja, ob Elfriede in dieser Beziehung wirklich sich einer Täuschung hingeben sollte, erscheint mir doch recht fraglich,“ fuhr der Doktor fort. „Sie hat ja täglich den Beweis vor Augen, daß meine stillen Huldigungen ihrer jüngeren Schwester gelten. Aber – glaubst du, daß sie etwa trotzdem…“
„Ich weiß darüber nichts Bestimmtes, Heinz. – Lassen wir jetzt aber die Poesie ruhen und nehmen wir die Prosa auf, die zur Zeit eindringlicher zu uns redet. Ich deutete vorhin an, daß verschiedene Tatsachen dafür sprechen, daß man Frau Elfriede als Opfer eines Gaunerstreiches sich ausgesucht hat. Dies ist leicht zu begründen. Ich will mich dabei aber kurz fassen. Also…: Gestern abend sprachen wir über den blinden Ingenieur Randler. Wir beobachteten einen Vorgang, der im Verein mit anderen Eigentümlichkeiten des Betreffenden uns ein Recht gibt, hinter seine Person ein dickes Fragezeichen zu setzen. Wenn ich meinerseits so tat, als hielte ich ihn für harmlos, so hatte ich meine Gründe dafür. Ich hätte dir dann nämlich meine Karten ganz aufdecken müssen. Und dazu war es noch zu früh. Heute tue ich’s – das heißt, ich offenbare dir mein Spiel, da die Dinge einer Entscheidung zutreiben. –
Randler nebst Schwester erscheinen also gestern in etwas fragwürdiger Beleuchtung. Dann bringen wir beide etwa zwei Stunden später die Damen heim. Vor dem Hause bemerkt Frau Elfriede, daß in einem versperrten Zimmer Licht brennt. Die Beleuchtung erlischt dann plötzlich. – Wenn man nun auf den Argwohn sozusagen dressiert ist wie ich, so wird…“
Gräbner fiel ihm hier hastig ins Wort. „… so wird man vielleicht an die Geschwister Randler denken, die möglicherweise jenem Zimmer einen unerlaubten Besuch abgestattet haben können.“
„Sehr richtig. – Man konnte aber, wenn man wie du, lieber Heinz, von dem holländischen Linnenkasten und dem Herrn Kriggelkraggel bereits so verschiedenes wußte, diese argwöhnischen Gedanken leicht noch weiter ausspinnen. Ich für meine Person konnte dies erst heute infolge des Besuchs der prächtigen Tante Emilie, die den vielsagenden Brief mitgebracht hatte, denn durch diesen Besuch wurde ich ja erst mit diesen Vorfällen vertraut gemacht. –
Die Truhe steht ausgerechnet in dem Zimmer, in das sich jemand unrechtmäßig Zutritt verschafft hatte. Beachtet man diese Tatsache, so kommt man wieder zu dem Schluß, daß Randlers vielleicht an dem Linnenkasten ein Interesse haben könnten. –
Ich drücke mich absichtlich sehr vorsichtig aus, operiere mit ‚vielleicht‘, ‚möglicherweise‘, ‚könnten‘, ‚dürften‘ und so weiter, da das alles bisher ja blasse Theorie ist. –
Wollen wir nun einmal zusammenstellen, was wir über die Truhe wissen. –
Der gefallene Kurt von Sonnenstrahl hängt offenbar an diesem Stück sehr, legt seiner Frau vor dem Ausrücken ins Feld nahe, daß sie die Truhe nicht veräußern soll. Nachdem er als vermißt – das ist länger als ein Jahr her – gemeldet ist, erscheint vier Monate später ein älterer Herr bei Frau Elfriede und erklärt, er hätte zufällig durch einen Bekannten ihres Gatten erfahren, daß sie einen Linnenkasten besäße – und so weiter.
Sie weist ihn ab; er kommt trotzdem wieder, macht schließlich noch ein schriftliches Angebot. Aus der Art seines Auftretens und der Behandlung dieses Geschäftes geht für jeden ein wenig Mißtrauischen hervor, daß dieser Kunsthändler nicht ganz einwandfrei sein kann. – Sein schriftliches Angebot wird ebenfalls auf Anraten der gerissenen Tante Emilie vorläufig abgelehnt. Er läßt nun eine Weile nichts von sich hören, beweist dann aber plötzlich in seinem letzten Brief, den wir heute lesen durften, eine so genaue Kenntnis der Familienverhältnisse – ich meine hier die Rolle, die die Tante Emilie als Generalbevollmächtigter, um nicht zu sagen Aufsichtsrat ihrer Nichte spielt –, daß man sich unwillkürlich fragt: Woher dieses Eingeweihtsein in Familienangelegenheiten? –
Und man muß auf diese Frage ebenso notwendig antworten: Er beobachtet Frau Elfriede und ihre Umgebung sehr genau! Was doch wieder auf ein geradezu verdächtiges Interesse an der Truhe hindeutet, ein Interesse, das weit über dasjenige eines geschäftseifrigen Kunsthändlers hinausgeht.“
„Allerdings!“ warf Gräbner lebhaft ein.
„Nun zu dem Zimmer der Schwestern zurück!“ fuhr Bommel fort. „Ich habe heute früh festgestellt, daß von dem Schlüsselloch ein Wachsabdruck genommen worden ist. Mein Vergrößerungsglas zeigte mir an den Rändern winzige, haften gebliebene Wachspartikelchen. –
Das genügte mir. Ich riet Frau Elfriede zu einer Schloßsicherung. Diese wird von mir mittags eingefügt. Damit ist der Zutritt zu dem Zimmer denen, die unerlaubt schon einmal eingedrungen waren, endgültig versperrt, da sich von einer Schloßsicherung nur sehr schwer ein Nachschlüssel anfertigen läßt, wenn man nicht gerade den Originalschlüssel zur Verfügung hat. –
Also mittags ist’s Schluß mit den heimlichen Besuchen im Truhenzimmer. Nach Tisch fährt dann Fräulein Ilka Randler nach Bernstadt, läßt den blinden Bruder allein zurück. Während sie in Bernstadt weilt, bringt ein Dienstmann Tante Emilie den Brief mit dem bis auf dreitausend Mark erhöhten Angebot. Komisches Zusammentreffen zweier scheinbar ohne jeden Zusammenhang dastehender Ereignisse: Fahrt nach Bernstadt – Brief für die Tante…“
„Donnerwetter!“ rief der Doktor. „Lieber … Emanuel, du bist wieder glänzend in Fahrt.“
„Freilich! Fahren wir aber noch weiter… Man kann aus alldem sich vielleicht folgendes zusammenreimen: Die Randlers sind Beauftragte eines Mannes, der an dem Linnenkasten ein sehr reges Interesse nimmt. Deshalb sind sie zu Frau Elfriede gekommen – als Spione vielleicht, – vielleicht als noch schlimmeres. Sie fertigen jedenfalls einen Nachschlüssel an und statten dem Zimmer, in dem die Truhe steht, einen Besuch ab. –
Hier müssen wir zunächst mal halt machen und uns fragen: Weshalb dieses doch immerhin nicht ganz ungefährliche Betreten eines verschlossenen Raumes, wenn der Auftraggeber der Geschwister tatsächlich nur den Kasten erwerben will? Darauf gibt es nur eine Antwort: In der Truhe…“
„… muß etwas verborgen sein, – etwas, worauf der ‚Kunsthändler‘ es in erster Linie abgesehen hat,“ führte Gräbner dem Satz seinerseits zu Ende.
„Stimmt. Es ist darin etwas verborgen – ohne Frage! – Was nun aber? Man kann an Vermögenswerte denken, die Kurt von Sonnenstrahl dort niedergelegt hat; an wichtige Papiere auch, an ein Testament, Urkunden von Bedeutung – und so weiter. Die Frage kann noch offen bleiben. Es genügt: Der Linnenkasten ‚hat es in sich‘, kann man sagen, – enthält ein Geheimnis von Wert. –
Die Geschwister können also in das Zimmer eingedrungen sein, um diesem Geheimnis nachzuspüren, von dessen Existenz sie irgendwie Kenntnis erhalten haben, können vielleicht auch, falls dort Geldwerte oder Papiere verborgen, diese haben stehlen wollen. Der heimliche Besuch bleibt jedoch erfolglos. Und nun ist ihnen ein zweiter unmöglich gemacht, so daß ‚der Kunsthändler‘ gezwungen ist, die Truhe für einen hohen Preis zu erwerben, um sie dann in aller Ruhe durchsuchen zu können. – –
Das paßt alles sehr gut ineinander, nicht wahr? Besonders wenn man noch folgendes berücksichtigt: Herr Kriggelkraggel mußte zuerst, da er an den Linnenkasten nicht anders herankonnte, allen Ernstes daran denken, ihn zu erwerben. Erst als Frau Elfriede dann das Fremdenheim einrichtete, bot sich ihm die Möglichkeit, ohne Kauf die Truhe gründlich in Augenschein zu nehmen. Dies sollten Randlers tun.“
„Glänzend gefolgert!“ meinte Gräbner.
„So, mein lieber Heinz… Bisher habe ich als Professor Dr. Bommel gesprochen, als einer, der nur die ihm hier bekannt gewordenen Tatsachen in Betracht zog. – Nun spreche ich als … der wahre Jakob. – Ich sagte vorhin, daß ich dir mein ganzes Spiel aufdecken würde. –
Ich bin hier nach Lottow gekommen und bei Frau Elfriede abgestiegen, um eines der vielseitigsten Hochstaplerpärchen zu beobachten, die wir im Verdacht haben, vor zwei Monaten im Hotel ‚Hammer‘ in Wiesbaden der Fürstin Hohenglücksburg ihren gesamten Schmuck gestohlen zu haben. Daher also der Professor Emanuel Bommel, mein Lieber! Und daher behaupte ich nun auch, daß die Geschwister Randler, alias Baron v. Thornstedt und Gemahlin, alias Freiherr v. Burg nebst Schwester, in Wahrheit aber Karl Kugel nebst Frau, Sorgenkinder der Kriminalpolizei aller Erdteile, seit Kriegsbeginn aber so ziemlich unsichtbar geblieben, hier ganz allein arbeiten, daß der Herr ‚Ingenieur‘ in einer Verkleidung als Kunsthändler bei Frau Elfriede war, und daß wir sehr bald ganz genau Bescheid wissen werden, welches Geheimnis der Linnenkasten enthält. –
Du mußt anerkennen, daß ich die beiden Persönlichkeiten Emanuel Bommel und ‚den wahren Jakob‘ scharf auseinandergehalten habe bei diesen hübschen, gewinnbringenden Kombinationen. Bommel kombinierte anders, eben nicht so treffsicher, als der andere, der Randlers auf den Fersen ist. – –
So, nun wären wir fertig. Wir brauchen jetzt nur abzuwarten, was das Pärchen weiter unternimmt, und dann zur rechten Zeit zupacken. Ich beabsichtige, den beiden einen halben Sieg vorzutäuschen und die Niederlagen dann desto gründlicher zu gestalten, muß auch so vorgehen, um mir sicheren Aufschluß darüber zu verschaffen, woher Karl Kugel und Frau eigentlich von dem Linnenkasten Kenntnis erhalten haben.“
Er steckte sich eine frische Zigarette an, reichte Gräbner das Streichholz und fügte noch mit einem leisen Auflachen hinzu: „Frau Elfriede ist übrigens heute inbetreff meiner Persönlichkeit etwas stutzig geworden. Sie dürfte jetzt ungefähr ahnen, was … mit mir eigentlich los ist. – Komm’, gehen wir heim. Es ist spät geworden.“
12. Kapitel
Am folgenden Tage ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Nur Ilka Randler teilte Frau Elfriede mit, daß sie und ihr Bruder wegen plötzlicher Erkrankung ihrer Mutter abreisen müßten.
Auch an der Mittagstafel fehlten die Geschwister. Fabrikbesitzer August Meier schien ganz geknickt, als er hörte, daß die fesche Ilka sich ihm bei Tisch nicht mehr widmen würde. Er hatte so etwas mit ihr zum Ärger seiner Gattin getechtelmechtelt, die ihm gerade heute Morgen bei einer vertraulichen und recht lebhaften Aussprache gesagt hatte: ‚Son alter Krauter wie du sollte doch man lieber von so ner gekalkten Schönheit, an der nichts echt ist, die Finger weglassen…! Die lacht dich hinterher doch bloß aus…!‘ –
Professor Bommel wieder sagte zu Frau Elfriede beim Nachtisch: „Ich werde wahrscheinlich auch für ein paar Tage verreisen müssen. Wann, steht noch nicht fest. Ich will mir zusammen mit einem Freunde von auswärts die Marienburg ansehen.“ –
Als Ersatz für Silbersteins, die ersten Bewohner der beiden Prunkräume, waren jetzt ein pommerscher Majoratsherr nebst Gattin und Tochter, von Barfelde-Kolbin, zugezogen. Es waren Bekannte der Frau General von Wiek, und Hella hatte hier die Gäste ‚vermittelt‘, die sich allerdings von den Übrigen mit Ausnahme des Hauptmanns Kettner völlig abschlossen und bei Tisch höchstens noch Emanuel Bommel einer Anrede würdigten, so daß durch diesen adeligen Zuwachs die Gemütlichkeit der gemeinsamen Mahlzeiten nicht gerade gewonnen hatte. Später – nach ein paar Tagen – änderte sich dies insofern, als August Meier aus Konitz plötzlich viel mit Herrn von Barfelde zusammensteckte, so daß man nicht zu Unrecht im Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ allerlei von aussichtsreichen Kriegsgeschäften tuschelte, die hier die gesellschaftliche Kluft überbrückt hätten.
Immerhin hatte aber Elfriede doch die Genugtuung, daß Barfeldes mit Hella viel zusammen waren und diese so den Hauptmann Kettner näher kennen lernte, der trotz seines Reichtums für die Tochter des Majoratsherrn als Freier nicht in Frage kam, wohl auch kaum daran gedacht hätte, die strohblonde, stark in die Breite gegangene junge Dame, deren Kopf lediglich mit Erinnerungen an Hofbälle und Manövereinquartierungen angefüllt war, in sein bürgerliches Herz einzuschließen.
Herr von Barfelde bat den Professor, ihn doch mit nach Marienburg zu nehmen. „Meine Damen bekomme ich dort nicht hin; denen ist die Geschichte zu langweilig,“ meinte er. Worauf Bommel erwiderte, wenn es sich machen ließe, würde er sich erlauben, Herrn von Barfelde rechtzeitig zu benachrichtigen.
Aber – leider ließ es sich nicht machen! Er reiste ganz plötzlich am nächsten Morgen mit demselben Zuge ab, der auch die Geschwister Randler zunächst nach Bernstadt brachte, wo er sich von ihnen wortreich und fast herzlich verabschiedete, da sein Zug früher weiterging.
Randlers fuhren mit ihrem Gepäck dann nicht nach Breslau, sondern in einem Taxameter nach einem Hause einer stillen Straße, in dem sie offenbar schon vor einiger Zeit zwei möblierte Erdgeschoßzimmer mit Flureingang gemietet hatten. – –
An diesem selben Vormittag fand sich dann eine Stunde später bei Tante Emilie am Domplatz ein älterer Herr ein, der sich als Kunsthändler Müller vorstellte und an die Firma E. Körtig die dreitausend Mark für den Linnenkasten bezahlte, den er, wie er erklärte, durch zwei Dienstmänner aus Lottow abholen lassen wollte; Fräulein Körtig möchte daher so freundlich sein, ihre Nichte telephonisch davon zu verständigen, daß der Kaufpreis bereits hinterlegt wäre, – was die Tante strahlend versprach, da sie nun ‚voll und ganz‘ triumphieren konnte, nachdem das Geschäft endlich mit dreitausend Mark perfekt geworden.
Zu gern hätte sie mit dem Kunsthändler noch so ein wenig geplaudert. Aber der hatte es sehr eilig und schlug sogar die Quittung über die gezahlte Summe als zwischen ‚Ehrenmännern‘ überflüssig aus.
Kaum war er gegangen, als Tante Emilie auch schon Elfriede in Lottow anklingeln wollte und bei der Post das Gespräch anmeldete. Sie hing jetzt den Hörer weg und bedauerte sehr, warten zu müssen, bis sie mit dem Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ verbunden war. Da rasselte die Glocke der Ladentür abermals. Ein schlanker Herr trat ein, grüßte höflich, reichte der Tante schweigend eine gestempelte Karte und flüsterte dann, als die Firma E. Körtig gelesen hatte, daß der Herr der Berliner Kriminalkommissar Winter war:
„Wir kennen uns bereits, liebes Fräulein…, Tatsache! Raten Sie mal woher?“ Er lächelte vergnügt. „Na – Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘… Professor Bommel…!“
„Du meine Güte – da schlag’ einer lang hin…!“
„Pst! Leise…! Ich bitte Sie. Ich bin doch im Dienst, sogar sehr…!“
Er hatte mit Tante Emilie darauf eine recht lange Unterredung oben in der Privatwohnung; bekam dort ein paar schöne Spiegeleier mit Speckscheiben und ein Glas Rotwein vorgesetzt und sagte wiederholt: „Sie sind ein Engel, Fräulein Körtig,“ – eine Schmeichelei, die die Firma mit den Worten ablehnte „ja – ein Engel, der sich eben wieder nach den Kriegsverordnungen strafrechtlich vergangen hat, denn die Eier und der Speck stammen nicht von ‚vorne rum‘, sondern von ‚hinten rum‘…!“ – –
Frau Elfriede räumte den Linnenkasten aus, verschloß ihn, packte den kunstvollen Schlüssel in einen Umschlag, versiegelte diesen und gab ihn nachher den beiden Dienstmännern mit, die die Truhe holten. So hatte es Herr Kriggelkraggel gewünscht, und so hatte es Tante Emilie der Nichte durchtelephoniert. Aber sie hatte noch mehr hinzugefügt: das, was Herr Fritz Winter ihr aufgetragen…
Winter saß zu derselben Zeit bei Doktor Gräbner im Sprechzimmer, – freilich nicht auf dem Marterstuhl am Fenster, sondern gemütlich in einem Klubsessel am Mitteltisch und sagte eben:
„Unsere Leutchen wohnen hier in Bernstadt in der Hafenstraße Nr. 19 bei einer verwitweten Frau Oberzollamtsoberassisten Schmiedecke. Diese rundliche Dame ist auf meine Wünsche zunächst etwas zögernd eingegangen. Sie meinte: ‚Es treiben jetzt so viele Betrüger ihr Unwesen…‘ Dann schenkte sie meiner Harmlosigkeit aber doch Glauben, und … in einer Stunde kann also die Bombe platzen. Wir werden Frau Elfriede vom Bahnhof abholen, und du wirst die Freude haben, ihr den ‚wahren Jakob‘ zu präsentieren…“ – –
Frau Elfriede ahnte nichts – nichts. Die Tante hatte ihr nur telephonisch mitgeteilt, sie solle mit demselben Zuge nach Bernstadt kommen, den auch die Dienstmänner benutzen würden, – was sich ja leicht unauffällig feststellen ließe; auf dem Bernstädter Vorortbahnhof solle sie aber solange im Zuge sitzen bleiben, bis die Leute den Linnenkasten vom Bahnsteig fortgeschafft hätten.
Gewiß – Elfriede vermutete nach diesen merkwürdigen Verhaltungsbefehlen, daß etwas Besonderes in der Luft liegen müßte. Was – darüber konnte ihr auch das angestrengteste Nachdenken keine Klarheit bringen.
Als sie jetzt ihr Abteil verließ und langsam der Sperre zuschritt, bemerkte sie plötzlich Gräbner und einen ihr fremden Herrn. Beide kamen auf sie zu…
Da stutzte sie, schaute den Fremden durchdringend an, lächelte und – verdarb Gräbner die ganze Überraschung, indem sie sagte:
„Guten Morgen, meine Herren… – Sie haben sich recht verjüngt, Herr Professor…“
Immerhin blieb für den Doktor doch noch das kleine Vergnügen übrig, ihr an Stelle Bommels einen Fritz Winter und gar einen Kriminalkommissar darbieten zu können.
Der Amtstitel setzte Elfriede wirklich in Erstaunen. Bald erfuhr sie dann aber auf dem Wege nach der Hafenstraße alles, was sie zur Vorbereitung auf das Kommende wissen mußte. – –
*
„Stellen Sie die Truhe nur dort vor das Fenster,“ sagte der Herr, der sich bei Tante Emilie vormittags als Kunsthändler vorgestellt hatte, zu den Dienstmännern, bezahlte sie dann reichlich und schloß hinter ihnen die Tür des Wohnzimmers wieder ab.
„Endlich hätten wir den verd… Kasten also!“ meinte er dann zu der ‚gekalkten‘ Ilka, die das Erzeugnis holländischer Schreinerkünste neugierig musterte. Er riß den Umschlag, der den Schlüssel enthielt, auf und fügte hinzu: „Schade, daß wir die dreitausend Mark opfern mußten. Na – wenigstens hast du dem Kriegsgewinnler Meier, dem Herrn Fabrikbesitzer und patentierten Hornochsen, die Brillantbrosche im Wert von gut eintausendundachthundert Mark abgeschmeichelt… – So, nun wollen wir doch mal nachsehn, wo eigentlich das Geheimfach zu suchen ist. Ein Jammer, daß ich’s damals abends nicht so schnell fand und daß die Rückkehr der Sonnenstrahl mich störte…“
Er öffnete die Truhe, lehnte den Deckel zurück und begann die Innenwände mit dem gekrümmten Zeigefinger abzuklopfen.
„Auf die Weise ist nischt zu wollen,“ brummte er dann. „Halt – den Deckel habe wir vergessen. Er ist leicht gewölbt. In solcher Wölbung läßt sich vielleicht…“
Er schwieg. – „Du – paß auf, – hier klingt’s anders, gerade hier in der Mitte, wo die Schrauben des Deckelhandgriffs hindurchgehen und die plumpen Schraubenmuttern etwas in das Holz eingelassen sind.“
Abermals eine Weile nichts.
Dann rief er: „Du – du –, ich hab’s! Die Schraubenmuttern gehören gar nicht zu dem Handgriff, halten vielmehr das Mittelstück dieses Brettes fest! Warte… –
Ah – da dreht sich schon die eine…, – – da – das Brettchen ist wahrhaftig der Boden eines kleinen Kastens, – – und hier – hurra – – Papiergeld, ganz wie er mir anvertraute, – Tausendmarkscheine – – das Gesuchte…! – Oh – noch ein beschriebener Zettel… Das ist seine Schrift! Ich kenne sie ja von den Postkarten her, die er aus dem Felde an seine Frau und an Bekannte schrieb… – Hör’ mal zu…:
Diese einhunderttausend Mark habe ich, Kurt von Sonnenstrahl, heute hier in dieses Geheimfach gelegt, damit sie, falls mein sonstiges aus ausländischen Werten bestehenden Vermögen durch diesen Krieg verloren geht, als Notgroschen dienen können.
den 3. August 1916
Kurt von Sonnenstrahl,
Oberleutnant d.R.“
Das Zimmer, in dem sich diese Vorgänge abspielten, hatte nach den Räumen der Frau Witwe Schmiedecke hin eine durch einen Kleiderschrank verstellte Verbindungstür, die schon vorhin, als die Untersuchung der Truhe begann, vorsichtig geöffnet worden war, so daß kräftige Arme den Schrank, auf einem Fuß in Drehung versetzt, ein Stück abrücken konnten.
Das Gaunerpaar war so vollständig durch die Beschäftigung mit dem Linnenkasten in Anspruch genommen, daß es auf nichts anderes acht gab. Als daher jetzt hinter den beiden glücklichen Schatzfindern eine Stimme ertönte, die sehr laut: „Na, Karl Kugel, wie geht’s?!“ sagte, fuhren sie entsetzt herum, und dem Hochstapler entschlüpfte ein nicht minder entsetztes: „Kommissar Winter…!“
„Allerdings. – Und ich habe mir gestattet, hier gleich die alleinige und rechtmäßige Erbin dieser einhunderttausend Mark mitzubringen, für deren Auffindung wir Ihnen sehr dankbar sind. – Sie sehen hier auch noch andere Bekannte wieder: Herrn Doktor Gräbner und Fräulein Emilie Körtig. – Außerdem stehen vor der Tür noch zwei Kriminalbeamte. Ergeben Sie sich also in Ihr Schicksal, Kugel…“
Der Hochstapler hatte seine Frechheit bereits wiedergewonnen.
„Verdammt – daß ich auch so blind sein mußte!“ knurrte er wie ein bissiger Köter. „Natürlich – Sie waren der Professor…! – Na – viel werden Sie uns nicht anhaben können wegen dieser Sache…“
„Nein. Aber – wie steht’s mit dem Schmuck der Fürstin, he…?!“
„Davon weiß ich nichts…“
„Wird sich herausstellen. – Aber – Deserteur sind Sie offenbar, Kugel! Das ging aus Ihrer eigenen Bemerkung vorhin hervor. Sie haben offenbar mit Oberleutnant von Sonnenstrahl bei derselben Kompagnie gestanden, und er wird Ihnen in seiner letzten Minute das Geheimnis der Truhe anvertraut haben, damit Sie es seiner Gattin mitteilen; ohne zu ahnen, daß er einen unserer gefährlichsten Hochstapler vor sich hatte, tat er dies. Sie sind dann glücklich davongekommen, sind desertiert, und kein Mensch wußte zunächst bestimmtes über Ihres Kompagnieführers Schicksal, weil Sie natürlich schwiegen, einmal als Deserteur, dann, um diesen Gaunerstreich verüben zu können. – Habe ich recht mit alldem?“
„Jawohl – vollständig! – Ich möchte aber betonen, Herr Kommissar, daß, wenn ich auch ein großer Halunke in, ich doch zu Anfang des Krieges freiwillig unter anderem Namen eintrat. Nachher lockten mich diese einhunderttausend Mark hier – und da verschwand ich.“
„Freut mich, daß auch in Ihnen noch etwas Gutes schlummerte, Kugel! Nun seien Sie mal vernünftig, Mann, und geben Sie der Wahrheit die Ehre: Sie haben doch den Schmuck…“
„Ne – nichts zu machen!“ unterbrach der Verbrecher den Kommissar, „Mit der Geschichte habe ich nichts zu tun!“
Und dabei blieb er auch. Die Pretiosen der Fürstin konnten nicht wiedergefunden werden, obwohl sehr begründeter Verdacht gegen Kugel und Frau vorlag, den Diebstahl begangen zu haben.
Schluß
Die Abendmahlzeit im Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ verlief an diesem Tage sehr angeregt. Fritz Winter, der, jetzt als ‚wahrer Jakob‘ sein Zimmer beibehalten hatte, wurde natürlich allseits als Wundertier angestaunt. Elfriede wieder wurde herzlich beglückwünscht, und auch Tante Emilie, die ebenso wie Rechnungsrats mit nach Lottow hinausgekommen waren, ward als ‚kluge Helferin im Streite‘ von dem Thorner Rechtsanwalt als redegewandtem Herrn in einer launigen Ansprache mitgefeiert.
Alle waren in bester Stimmung. Auch August Meier aus Konitz suchte eine solche vorzutäuschen, obwohl er sich innerlich schandbar ärgerte, der falschen Ilka die Brosche, für ein paar verstohlene Händedrücke spendiert zu haben. Na – ein Glück war’s wenigstens, daß seine brave Alte nichts davon ahnte und auch hoffentlich nie etwas erfahren würde… –
Winter blieb noch acht Tage in Lottow. Am Abend vor seiner Abreise wollte er von dem holländischen Linnenkasten, der wieder im Zimmer der Schwestern stand, Abschied nehmen, wie er vorgab…
So brachte er ein Alleinsein mit Frau Elfriede zustande.
Sie ahnte, was er ihr unter vier Augen zu sagen hatte. Und – sie freute sich darauf…
Er machte die Sache dann recht kurz ab, nahm ihre Hände in die seinen, begann sofort mit warmer Innigkeit…
„Wollen wir nicht dem Beispiel folgen, das uns Margot und Heinz, Hella v. Wiek und Hauptmann Kettner als Brautpaare gegeben haben…? – Werden Sie mein Weib, Friedel! Daß ich Sie bereits als Professor Bommel verehrt habe, daß ich Sie jetzt als Fritz Winter liebe, wissen Sie… – Ich denke, Friedel, Sie werden sich glücklicher fühlen, wenn Sie unserem Heim als dem Fremdenheim ‚Sonnenstrahl‘ vorstehen… Nun – was wählen Sie?“
„Unserem Heim…,“ erwiderte sie ganz leise.
Dann saßen sie eng aneinander geschmiegt auf dem Linnenkasten und bauten Zukunftsschlösser und … werden sich auch wohl geküßt haben…
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Fußnoten:
1 Mandel = altes deutsches Zählmaß; 1 kleine Mandel = 15 Stückk, 1 große Mandel = 16 Stück
2 Moiree (franz.) bezeichnet einen Stoff mit mattschimmendem Muster, das feinen bewegten Wellen oder der Holzmaserung entspricht