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Das sterbende Herz

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 342

Das sterbende Herz

Roman von

W. Kabel.

 

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin S. 14, Dresdener Straße 88–89

 

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag mod. Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 

 

1. Kapitel

Wie ich nach Lankenau kam und was ich dort fand.

Der Leser wird vielleicht, nein, sogar sehr wahrscheinlich diese Geschichte, wenn er sie zu Ende gelesen hat, enttäuscht aus der Hand legen.

Ich halte es daher für angebracht, folgendes als Einleitung zu bemerken.

Ich bin alles andere nur nicht Berufsschriftsteller. Man darf mit mir also nicht allzu streng ins Gericht gehen, wenn die ganze Art, wie ich diesen inhaltreichen Abschnitt meines Lebens geschildert habe, das vermissen läßt, was man von einem richtigen Roman verlangt, sowohl was Aufbau der Handlung, Stil, Charakteristik der Personen und so weiter anbetrifft.

Phantasie besitze ich überhaupt nicht. Ich bin ein sehr nüchtern denkender, moderner Mensch, vielleicht zu modern, – wenigstens war ich es, bevor ich nach Lankenau kam. Die ideale Lebensforderung, von der in Ibsens Schauspiel ‚Wildente‘ so viel die Rede ist, hatte ich schon mit zweiundzwanzig Jahren für unnötigen Ballast im Kampfe ums Dasein erklärt und strebte meinem gesteckten Ziele mit allen Mitteln zu, soweit diese nicht gerade den landläufigen Anschauungen nach als unmoralisch galten. Meine sonstigen Eigenschaften wird der Leser aus dieser Geschichte mit Leichtigkeit sich zusammenreimen können. Ich habe mich weder besser noch schlechter gemacht, als ich es bin, wie ich überhaupt die handelnden Personen ganz nach dem Leben gezeichnet habe, genau so, wie sie mir in der Erinnerung vorschweben.

Lankenau wird man vergeblich auf einer noch so genauen Karte suchen. Ich habe meine Gründe gehabt, den Ort der Handlung etwas zu verändern wie die Namen der Menschen, die in diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen eine Rolle spielen, – hassen, lieben und sterben. Daß ich andere Namen benutzt habe, hätte ich eigentlich kaum zu erwähnen brauchen. Diese Rücksicht war einfach selbstverständlich.

Also – Lankenau kann sowohl an den Gestaden der Adria als an der Nord- oder der Ostsee liegen. Bei meinem Mangel an Phantasie wurde es mir nicht leicht, alles das zu vermeiden, was Schlüsse auf die Nationalität meiner ‚Helden und Heldinnen‘ erleichtert hätte. Der werte Leser mag sich daher nicht wundern, wenn ich über manche Einzelheiten hinweggleite und vielfach scheinbar oberflächlich bei der Schilderung bestimmter Dinge und Szenen bin.

Dies mag als Einleitung genügen. Ich habe sie geschrieben, nachdem die eigentliche Geschichte fertig war. – Halt, noch eins.

Warum ich diese Blätter einem Verleger zum Abdruck überlassen habe, wird sich mancher vielleicht fragen, und nach dieser Einleitung mit Recht.

Nun – ich glaube eben, daß diese wahre Geschichte allerlei enthält, was zum Nachdenken anregen kann, daß sie auch diesen oder jenen, der so war wie ich, stutzig machen und ihm zurufen wird: ‚Gehe mit dir doch einmal ganz streng ins Gericht! Prüfe deine gesamten Lebensanschauungen und überlege dir, ob du nicht, falls du sie beibehältst, einem Abgrund zutreibst, der, hat er dich erst eingeschlossen, dir zum öden Gefängnis wird, wo nur Vereinsamung und unerfüllbare Sehnsucht nach Glück deine Gefährten sind.‘

Mit einem Wort: meine Geschichte soll bessernd wirken! – In dem Moment, wo ich diese Worte niederschreibe, spielt ein trauriges Lächeln um meinen Mund… Fritz Trebra als Apostel, als Weltverbesserer, als Prediger in der Wüste…! – Nie hätte ich so etwas für möglich gehalten, – ich, der Kraftmensch ohne Ideale, von dem man sich zuflüsterte…: ‚Er geht über Leichen!‘ –

Genug…! Beginnen wir…

*

Ich heiße Fritz Trebra. Meine Eltern waren leidlich gebildete Menschen, aber keine Durchschnittscharaktere. Von ihnen übernahm ich durch das Blut vieles, was man ererbte Eigenschaften nennt. Als der Weltkrieg ausbrach, hatte ich gerade meine astronomischen Studien beendet.

Man bilde sich nicht ein, daß die Astronomie eine poesievolle Wissenschaft ist. Nirgends wird so viel gerechnet und mit nüchternen Zahlen operiert, als bei der Himmelskunde. Und letzten Endes muß man doch einsehen, daß die Kenntnis der anderen Gestirne stets jämmerliches Stückwerk bleiben wird, kommt sich dabei erbärmlich unbedeutend vor und verwünscht den Tag, wo man dieses Studium als Lebensberuf begann. Wäre nicht ein Bruder meines Vaters eine Leuchte im Kranze der namhaftesten Astronomen des Erdenrunds gewesen und hätte ich mir nicht von ihm eine wesentliche Förderung meiner Laufbahn versprochen, so würde ich wahrscheinlich Bierbrauer geworden sein, da diese bei einiger Gerissenheit am schnellsten reich werden, wenn sie nebenbei nur noch etwas Glück haben.

Ich war also Doktor der Philosophie geworden, hatte glänzende Zeugnisse und die sichere Aussicht, erster Assistent einer der größten Sternwarten der Welt zu werden, als die Mobilmachung der Armee erfolgte, der ich als Unteroffizier der Reserve angehörte.

Bereits im Oktober 1914 wurde ich leicht verwundet, kam gerade Weihnachten desselben Jahres wieder als geheilt an die Front und erhielt vier Monate später einen Granatsplitter gegen das rechte Schienbein, welches sich weniger widerstandsfähig als das Stück Eisen erwies und sehr böse zugerichtet wurde. Juni 1915 schickte man mich aus dem Lazarett, zum Skelett abgemagert und für alle Zeit zum humpelnden Krüppel geworden, auf das Land zur Erholung. Eine ganze Menge von ländlichen Besitzern hatte sich bereiterklärt, Genesende ohne Entgelt bei sich aufzunehmen. Und zu diesen von edlem Patriotismus erfüllten Leuten gehörte auch mein Gastgeber, der Gutsbesitzer Franz von Schmechting auf Lankenau, obwohl der Herr im übrigen Ansichten huldigte, die alles andere als ideal waren.

Nach einer dreistündigen, durch Truppentransportzüge häufig unterbrochenen Eisenbahnfahrt stieg ich auf der kleinen Station Szirow aus. Ich trug Uniform, hatte meinen Koffer in der Linken und in der Rechten den Stock, ohne den ich nicht recht vorwärtskam.

Auf dem Bahnsteig schaute ich mich suchend um. Meine Ankunft war nach Lankenau gemeldet, und es stand zu erwarten, daß ich abgeholt wurde.

Sehr bald erschien denn auch mit bloßem Kopf ein wahrer Hüne von Mann, dem man an der Kleidung den Landedelmann sofort ansah.

Es war Herr von Schmechting. In lärmender, aber herzlicher Weise begrüßte er mich, nahm mir den Koffer ab, rief einen in schäbiger Livree stehenden Kutscher herbei, übergab ihm mein einziges Gepäckstück, nahm mich unter den Arm und führte mich wie ein krankes Kind in den Warteraum, wo an einem Tische zwei Herren hinter einer Batterie geleerter Flaschen saßen.

Der Riese roch stark nach Alkohol und war leicht angetrunken, ohne dadurch jedoch eine gewisse hochmütig nachlässige Vornehmheit zu verlieren, die auch in der Art und Weise zum Ausdruck kam, wie er mich seinen Zechgenossen vorstellte, zwei Ingenieuren, die, wie ich später erfuhr, unweit des Gutes Lankenau den Bau einer Luftschiffhalle für die Militärverwaltung leiteten.

Wir setzten uns an den Tisch, und Schmechting bestellte für mich dann zunächst ein reichliches Mittagessen, ohne zu fragen, ob ich Hunger hätte.

Um ein Uhr war ich auf der Station eingetroffen, und erst gegen vier bestiegen wir den Zweispänner, der uns nach Lankenau bringen sollte.

Die beiden Ingenieure blieben sternhagelvoll zurück. Ich selbst hatte nur ein Glas Portwein getrunken. Mein Gastgeber aber, der wahre Unmengen Alkohol jeder Form vertilgt hatte, war nüchterner geworden als in dem Augenblick, wo er mich begrüßt hatte.

Sein gebräuntes Gesicht mit den dunklen herrischen Augen und dem starken, blonden Schnurrbart strahlte vor Genugtuung, weil er die Ingenieure… ‚so bis zum Rande vollgepumpt‘ hatte.

Nachdem er seiner Freude hierüber in spottgetränkten Redensarten Luft gemacht hatte, erklärte er mir ohne jeden Übergang, daß er sich schwer geärgert habe, weil ich meine Zeche auf dem Bahnhof hätte selbst bezahlen wollen.

„Sie sind mein Gast, Herr Doktor! Zum Teufel – das wissen Sie doch! Und wenn Sie nochmals derartige Faxen machen, verderben Sie es mit mir gründlich.“

Ich wollte etwas einwenden, aber er ließ mich gar nicht zu Worte kommen.

Der Wagen, der ebenso vernachlässigt wie der Kutscher und die Geschirre der Pferde aussah, bog bald von der Chaussee in einen Landweg ein. Dieser schlängelte sich auf einen die Abhänge niedriger Hügel bedeckenden Wald zu, nach dessen Durchquerung ich von einer Anhöhe aus in der Ferne das Meer liegen sah.

Schmechting deutete jetzt auf eine Anzahl von Gebäuden hin, die, halb verdeckt von Bäumen, bei der klaren Luft trotz der noch recht beträchtlichen Entfernung deutlich zu erkennen waren.

„Dorf Lankenau, und dort rechts das Gutshaus,“ meinte er. „Erwarten Sie keinen feudalen Herrensitz vorzufinden. Mein Heim ist eine halbe Ruine. Aber meine Urgroßeltern haben dort bereits gehaust, und so lange ich noch zu leben habe, wird der Kasten wohl zusammenhalten. Was dann geschieht, ist mir gleichgültig. Söhne habe ich nicht. Und meine einzige Tochter wird froh sein, wenn sie Lankenau verlassen kann.“

Bisher wußte ich nichts von seiner Familie. Dies war die erste Andeutung. – Ob Schmechting wohlhabend oder in bedrängten Verhältnisse sich befinde, ließ sich schwer entscheiden. Auf dem Bahnhof hatte er die ganze Zeche allein beglichen. Seine Kleidung war, obwohl einfach, doch von tadellosem Sitz. Noch manches andere deutete entweder auf einen leichtsinnigen Verschwender oder einen Mann von Vermögen hin. Letzterer Annahme widersprach wieder das Aussehen des alten, graubärtigen Kutschers, des Wagens und der Geschirre. Aber die Pferde waren tadellos und gingen ein Tempo, als ob sie sich auf glatter Chaussee und nicht auf ausgefahrener Landstraße bewegten.

Wir bogen nun in das Dorf ein. Saubere Häuschen mit Vorgarten, eine kleine, uralte Kirche, zahlreiche spielende Kinder, Obstgärten; Frauen und Mädchen bei allerlei Arbeiten, wenig Männer zu sehen, – das war so der erste Eindruck. Alles, ob groß oder klein, grüßte den Gutsherrn ziemlich ungezwungen, aber offenbar nicht einer halben Pflicht gehorchend, sondern mehr aus innerem Zusammengehörigkeitsgefühl.

Eine Allee lief auf den Park des Gutes vom Dorfe aus zu. Hier begegneten wir einem stattlichen, jungen Weibe, der Schmechting ein derbes Scherzwort zurief.

Hundert Schritte weiter holten wir etwa zwanzig Kriegsgefangene ein, die von zwei Wehrmännern geführt wurden.

„Ah – die mir zugewiesenen Arbeiter,“ meinte Schmechting. „Ganz stramme Burschen. Nur die beiden Franzosen – weiß Gott, wie die unter die Russen geraten sind! – sind klägliche Gestalten. Warte auf die Leute schon acht Tage. Habe genug Schreiberei damit gehabt.“

In der Erregung sprach Schmechting meist im Depeschenstil. Und jetzt war er erregt.

„Hoffentlich gibt’s nicht zuviel Ärger mit den Kerlen. Na – sollen mich kennen lernen, wenn einer nicht tanzt, wie ich pfeife.“

Der verwilderte Park lag hinter uns, und der Wagen hielt vor dem Gutshause, einem schmucklosen, langen Fachwerkgebäude von zwei Stockwerken mit zum Teil völlig erblindeten Fenstern.

Auf der Steintreppe, die zu einer großen Diele hinaufführte, wucherten Gräser und sogar ein paar Butterblumen.

Schmechting führte mich rechts in ein saalartiges dreifenstriges Zimmer mit verschossenen Polstermöbeln, in dem es höchst ungemütlich aussah.

„Nehmen Sie Platz! Ich muß erst feststellen, ob Ihre Stuben oben auch in Ordnung sind.“

Dann brüllte er mit einer Stimme, die eine kerngesunde Lunge verriet:

„He, Wirtschaft!“

Gleich darauf trat ein junges Mädchen ein.

Ich erhob mich.

„Meine Tochter Franzi! – Herr Doktor Trebra, unser neuer Hausgenosse.“

Fräulein von Schmechting kam langsam auf mich zu, reichte mir die Hand.

„Ich hoffe, Sie werden sich hier gut erholen, Herr Doktor. Seien Sie mir herzlich willkommen.“

Franzi Schmechting paßte zu diesem kalten, jeder persönlichen Eigenart entbehrenden Raum ebenso wenig wie zu diesem Hünen von Vater mit dem selbstherrlichen Wesen und der Kraft und fast brutale Willensstärke verratenden Bewegungen.

Sie war mittelgroß, schlank und doch von fraulicher Fülle. Aus einem zarten, feinen Gesicht von auffallender Blässe schauten mich zwei dunkle, ernste Augen prüfend an. Dunkelblondes, reiches Haar rahmte dieses liebliche, charaktervolle Mädchenantlitz in tiefgetragenem Scheitel ein. Die Hand, die meine Finger einen Moment umspannte, war weich und heiß. Um auch die Kleidung zu erwähnen: selten hat wohl ein schlichtes, hellblaues Leinenkleid einem Weibe so gut zu Gesicht gestanden wie Franzi Schmechting.

Damals, als ich Franzi kennen lernte, war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Frauen hatten in meinem Leben stets nur eine Nebenrolle gespielt. Einmal kurz vor dem Kriege war ich nahe daran gewesen mich zu verloben. Von meiner Seite hatte nur kühle Berechnung mitgesprochen. Ich war auf eine reiche Partie angewiesen, wollte ich überhaupt heiraten. Noch rechtzeitig stellte ich fest, daß von einer nennenswerten Mitgift keine Rede war, und zog mich zurück. Die junge Dame soll diese Enttäuschung schwer verwunden haben.

Franzi Schmechting machte sofort einen tiefen Eindruck auf mich. Ihre Stimme, eine selten weiche Stimme, klang mir noch im Ohr nach, ihr Bild schwebte noch wie eine Vision vor mir, als ich dann zehn Minuten später in meinem Schlafzimmer im ersten Stock den Koffer mit Hilfe eines drallen, jungen Stubenmädchens auspackte.

 

 

2. Kapitel

Boris Scherbetscheff, der Chemiker.

Zwei Räume standen mir zur Verfügung. Sie waren mit ehrwürdigen, alten Möbeln ausgestattet; die verblichenen Tapeten an den Wänden hätten in ein Museum gehört als Erinnerungsstücke an die Anfänge der Tapetenindustrie; die Fenster gingen auf den Gemüsegarten hinter dem Hause hinaus.

Ich schickte das Mädchen fort, wusch mich gründlich und zog den mitgebrachten Zivilanzug an. Hier wollte ich ganz der Doktor der Philosophie Franz Trebra sein – ganz! Der Unteroffizier wurde in den Kleiderschrank geworfen.

Dann trat ich auf den Balkon hinaus, der vor meinem Schlafzimmer lag. Zwischen den Obstbäumen hindurch sah ich das Meer. Aus dem Garten drangen die starken Düfte blühender Blumen zu mir herauf. Und hinter einem Gebüsch bemerkte ich jetzt auch zwei Gestalten, – Herrn von Schmechting, der halb im Scherz wohl mit demselben stattlichen jungfrischen Weibe rang, der wir in der Allee begegnet waren und der der recht eindeutige Zuruf meines Gastgebers gegolten hatte.

Ich zog mich ins Zimmer zurück. Schmechting hatte das Weib soeben geküßt. Ich wollte nicht den Lauscher spielen.

Es war gegen acht Uhr abends, als ich durch das Stubenmädchen zu Tisch gebeten wurde. Nun lernte ich auch die Haushälterin, Frau Werner, und den Oberinspektor Malotka kennen, – aber nicht lieben.

Erstere, eine riesige, üppige, blonde Frauenschönheit, schien recht schlechter Laune zu sein. Mich beachtete sie kaum. Darin lag ohne Zweifel eine bestimmte Absicht. Als ich dies erst merkte, brachte ich die halbgebildete Person wiederholt dadurch in peinliche Verlegenheit, daß ich im Gespräch Fragen über wissenschaftliche Dinge an sie richtete, die sie nicht zu beantworten vermochte. Ich führte ihr so vor Augen, daß sie doch erheblich unter mir stehe. Ihre Gereiztheit nahm zu. Auch Herrn von Schmechting behandelte sie nicht so, wie es ihr zukam. Einerseits war sie sehr unfreundlich zu ihm, dann wieder suchte sie seine Aufmerksamkeit durch allerlei kleine Mätzchen, wie sie Frauen zur Verfügung stehen, zu erregen. Ihr Verhältnis zu Franzi war offenbar ein recht gespanntes. In dem Benehmen Fräulein von Schmechtings ihr gegenüber trat sogar eine gewisse feindselige Verachtung zutage.

Am ungezwungensten und freundlichsten zeigte sie sich Malotka gegenüber. Der Oberinspektor war ein Mann von gelbbrauner Gesichtsfarbe, schwarzem Haar und ebensolchem Schnurrbart, der dünn zu beiden Seiten des breiten Mundes herabhing. Malotka sah wie ein Zigeuner aus und hatte den unsteten Blick und das kriecherische Wesen eines Menschen mit schlechtem Gewissen, der sich um jeden Preis mit aller Welt gut stellen will. Sein Alter zu bestimmen, war schwer.

Der Gutsherr selbst spielte diesen beiden Angestellten gegenüber den herablassenden Herrn, von dem man auch eine ironische Bemerkung hinzunehmen gewöhnt schien.

Daß bei diesen immerhin nicht ganz einfachen gegenseitigen Beziehungen die Stimmung bei Tisch nicht eben gemütlich war, braucht kaum erwähnt zu werden. Es war, als läge eine gewisse Gewitterstimmung in der Luft. Die Unterhaltung bewegte sich denn auch sprungweise von diesem auf jenes Gebiet und wurde erst lebhafter und einheitlicher, als Malotka auf die dem Gute zugewiesenen Gefangenen zu sprechen kam, deren Liste er inzwischen durchgesehen hatte.

Es sei auch ein recht gebildeter Russe darunter, ein Chemiker namens Boris Scherbetscheff, meinte er. Der ließe sich vielleicht dazu verwenden, die seit einem Jahre vernachlässigten Bücher in Ordnung zu bringen.

Herr von Schmechting erwiderte, das sei ein ganz guter Gedanke. Not tue es, daß diese Arbeit mal erledigt würde. – Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß der frühere Gutsschreiber seit Kriegsbeginn eingezogen und niemand von den Zurückbleibenden recht im Stande war, ihn auch nur leidlich zu ersetzen.

„Eine heillose Unordnung herrscht jetzt in allem,“ erklärte Schmechting lachend. „Franzi hat ja tagelang über den Büchern gehockt und gerechnet, aber ebensowenig ausgerichtet wie Malotka, der beim Addieren von Summen über hundert bereits versagt.“

Ich hielt mich für verpflichtet, auch meine Hilfe anzubieten, indem ich betone, daß das Studium der Astronomie ein Umspringen mit Milliardenzahlen erfordere und mich als Buchhalter einigermaßen geeignet erscheinen lasse.

Schmechting war sichtlich erfreut.

„Es genügt, Doktor, wenn Sie dem Scherbelschaf oder wie der Kunde sonst heißt, ein wenig auf die Finger sehen. Jedenfalls besten Dank im voraus.“ Die Anrede ‚Herr‘ für Leute, die er als nicht gleichwertig von seinem Edelmannsstandpunkt aus betrachtete, ließ er schnell fallen.

Dann fügte er hinzu: „Der Russe wird uns gleich nachher vorgestellt, Malotka. Ich will mir den Kerl ansehen.“

Der Oberinspektor sprang sofort, nicht nachher, auf, eilte hinaus und kam nach zehn Minuten mit Boris Scherbetscheff wieder.

Dieser fiel durch seine saubere Uniform angenehm auf, auch durch den tadellosen Wuchs und ein Paar schwermütige dunkle Augen, war überhaupt ein Mann, der Anspruch auf die Zensur ‚eigenartige, sehr ansprechende Erscheinung‘ erheben konnte.

Das Deutsche sprach er etwas gebrochen und hart wie alle Slawen. Sein Auftreten, seine Ausdrucksweise verrieten den gebildeten Menschen. Dabei lag etwas Bescheiden Einschmeichelndes in seinem Wesen, gepaart mit einer seltenen, schwermütigen Ruhe. Seine Stimme hatte für mich Ähnlichkeit mit der Franzis, war voll und wohllautend, biegsam und in Momenten wie Musik.

Schmechting fragte ihn wie einen Untersuchungsgefangenen aus, der vor seinem Richter steht.

So erfuhren wir, daß Scherbetscheff neunundzwanzig Jahre alt, unverheiratet war und aus Moskau stammte. Vor zwei Monaten in Gefangenschaft geraten, hatte er sich darum bemüht, Arbeit irgendwo in der Nähe der Meeresküste zu erhalten.

„Ich liebe das Meer,“ sagte er, „liebe es über alles. Alle Russen schwärmen für das Rauschen der See, in dem so viel schwermütig geheimnisvolles liegt. Wenn die Wellen ihre Musik erheben, glaube ich aus dem Branden der Wogen Geisterstimmen zu vernehmen, die mir ganze Romane erzählen.“

Schmechting meinte zu mir:

„Hören Sie nur – wie ein Dichter!“ Und zu Scherbetscheff gewandt: „Sie machen wohl auch Verse, wie?! – Na, das lassen Sie hier unterwegs! Ich liebe keine Poeten. Das verträgt sich schlecht mit trockenen Zahlenreihen. Und Sie werden meine Bücher einsehen, die notwendigen Nachtragungen machen, die Rechnungen und Belege ordnen und dafür das Gute genießen, im Zimmer zu sitzen und nicht mit der Mistgabel herumhantieren zu müssen – verstanden?!“

Der Russe verbeugte sich mit schwachem, verbindlichem Lächeln.

Für meinen Geschmack war der ganze Mann zu weich, zu weiblich. Er paßte gut in eine Teegesellschaft hinein, wo über moderne Literatur, die Frauenfrage und ähnliche nutzlose Dinge gesprochen wird.

Inzwischen waren wir mit der Mahlzeit, die gut, reichlich aber einfach war, längst fertig geworden.

Schmechting hob die Tafel auf und fragte mich, ob ich es meinem Bein wohl zutrauen dürfte, bis zum Wirtschaftshofe zu gehen. Er wollte sich ansehen, wo man die Gefangenen untergebracht habe. Hierfür beständen gewisse Vorschriften, um eine Flucht zu vereiteln.

Ich schloß mich ihm an. Nur durch stete Übung konnte ich hoffen, daß mein Fuß wieder gebrauchsfähiger würde.

Malotka und Scherbetscheff gingen hinterdrein.

Der Wirtschaftshof mit seinen Stallungen und sonstigen Baulichkeiten lag nach Osten zu neben dem Park und war vom Gutshause vielleicht dreihundert Meter entfernt.

Auch hier fand ich dieselbe Vernachlässigung wie überall auf Lankenau. Nur das lebende Inventar, Schafe, Schweine, Rinder und besonders die Pferde, waren sehr gut untergebracht und vorzüglich im Stande.

Den Gefangenen war im Inspektorhause die leere Wohnung des Gutsschreibers zugewiesen worden. Vor den Fenstern hatte der Dorfschmied starke eiserne Gitter angebracht. Die beiden Wehrmänner wieder, denen die Bewachung oblag, wohnten in einem kleinen Zimmer dicht an der Eingangstür.

Viel Umstände hatte man mit den Feinden hier nicht gemacht. Strohsäcke, wollene Decken, Blechschüsseln, -näpfe und Teller – alles sehr einfach, aber praktisch.

Schmechting war zufrieden.

„Die Bande muß merken, daß sie mit zu der großen Räubervereinigung gehört, die uns überfallen hat,“ sagte er auf dem Rückwege nach dem Gutshause zu mir. „Nur keine Milde, keine Gutmütigkeit! Wie behandelt man unsere armen Kriegsgefangenen in Frankreich und Rußland…?! Wie Verbrecher, schlimmer als das Vieh!“

Er führte mich dann nach einem Baumpavillon, der oben zwischen drei riesigen Buchen hing und zu dem eine gewundene Holztreppe emporlief.

Von dort hatte man eine weite Aussicht nach drei Seiten hin über das Land.

Er wies auf ein von den Strahlen der untergehenden Sonne in rote Glut getauchtes riesiges Gebäude, das nach Westen zu hinter dem Wirtschaftshofe in einer flachen Bodenvertiefung lag.

„Da, Doktor, die neueste Sehenswürdigkeit von Lankenau, die Luftschiffhalle. Es sollen hier zwei Schiparskis, so heißt ja wohl der jüngste Luftschifftyp, stationiert werden zur Überwachung des Meeres. Meine Schafe werden schön glotzen, wenn so eine Riesenwurst mit lärmenden Propellern zum erstenmal über diese Gegend dahinfliegt. Zu den Schafen rechne ich in diesem Falle alles, was noch kein Luftschiff gesehen hat, also auch den größten Teil der hiesigen Bevölkerung.“

Wir sprachen eingehender über diese militärische Maßnahme zur Erkundung des Meeres. Der Gutsbesitzer erzählte mir im Vertrauen, daß an der Küste trotz des ständigen Patrouillenganges sehr viel Spionage getrieben würde. Feindliche U-Boote hatten Agenten gelandet und aufgenommen. Ebenso solle es eine weitverzweigte Organisation hier in diesem Küstenstrich geben, die Kriegsgefangenen zur Flucht verhelfe. Auch hierbei sollten die U-Boote mitwirken, wie mit ziemlicher Sicherheit festgestellt war.

„Man verspricht sich offenbar sehr viel von dem Patrouillendienst durch die Luftschiffe,“ meinte er. „Natürlich nicht nur, was die Abstellung der eben erwähnten Übelstände anbetrifft. Die Aufklärung soll auch der feindlichen Kriegsflotte überhaupt gelten. Vielleicht hofft man auch, hin und wieder so einem verfl… U-Boot eine Bombe auf den Kopf schmeißen und so die Torpedierung unserer Handelsschiffe verhindern zu können. Jedenfalls hat die Militärbehörde es sehr eilig mit der Inbetriebnahme der Halle. Einer der von mir heute so gründlich eingeseiften Ingenieure wollte wissen, daß bereits nächste Woche der erste Schiparski hier eintrifft. Dann bekommen wir also auch ein Luftschifferkommando nach Lankenau. Die Wohnbaracken können Sie von hier aus nicht sehen. Die stehen hinter der Halle.“

Als wir wieder im Gutshause eintrafen, war es bereits völlig dunkel. Schmechting brachte mich in das Musikzimmer, sagte, ich solle der dort anwesenden Franzi noch Gesellschaft leisten, so lange es mir gefalle. Er hätte noch etwas vor, meinte er, rief uns von der Tür aus flüchtig ‚Gute Nacht‘ zu und ging mit dröhnenden Schritten davon.

Daß das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ein sehr kühles war, hatte ich schon bei der Abendmahlzeit gemerkt. Diese Art der Verabschiedung von seinem einzigen Kinde – ohne jedes wärmere an sie gerichtete Wort – bewies dies aufs neue.

Mir war diese Plauderstunde mit Franzi keineswegs unangenehm. Wenn ich vorhin gesagt habe, daß mir die Frauen bis dahin Nebensache gewesen seien, so möchte ich jetzt hinzufügen, daß ich durchaus kein Weiberfeind war. Im Gegenteil – ich hatte an mancher Blüte genippt, doch stets so wie etwa eine Biene, die der Instinkt von Blumenkelch zu Blumenkelch treibt. Nur würde ich nie einer Frau irgendwelchen stärkeren Einfluß auf mein innerstes Leben und Erleben eingeräumt haben.

Franzi hatte mir auf den ersten Blick gefallen. Was es war, das mich zu ihr hinzog, – ich weiß es nicht. Vielleicht ihre Stimme und ihre Augen. Schwermut lag in beiden, und ich hätte wohl gern ergründet, was auf der Seele dieses schönen jungen Geschöpfes lastete.

Sie begann die Unterhaltung damit, daß sie in entschuldigendem Tone sagte:

„Mein Vater macht es mit Ihnen genau so wie mit allen anderen Leuten. Er bestimmt einfach über Sie, ohne zu fragen. Vielleicht sind Sie müde, Herr Doktor, und möchten lieber zur Ruhe gehen. Seien Sie bitte ganz offen.“

Ich versicherte, daß ich sehr gern ihr noch die Zeit vertreiben helfen würde, – sehr gern.

Sie hatte sich einen Sessel neben ein rundes Tischchen gesetzt und lud mich nun durch eine Handbewegung ein, in dem zweiten ihr gegenüber Platz zu nehmen. In dieser Ecke herrschte ein ungewisses Halbdunkel, da nur auf dem Flügel eine brennende Petroleumlampe stand, deren grüne Glocke das Licht stark abdämpfte.

Unser Gespräch wurde bald recht lebhaft. Ich fühlte, daß sie sich freute, einmal mit einem Menschen plaudern zu können, der ihr an Bildung gleichstand und der einen Teil der welterschütternden Ereignisse des letzten Jahres mitgemacht hatte.

Sie gab auch zu, daß sie hier so gut wie ganz für sich allein lebe.

„Wir haben selten Gelegenheit, mit anderen Menschen zusammenzukommen. Unser Verkehr mit den Nachbargütern, die außerdem schwer zu erreichen sind, beschränkt sich auf Einladungen zu ein paar Gesellschaften und Treibjagden. Mein Vater ist ein etwas schwieriger Charakter. Das werden Sie bald selbst einsehen oder vielleicht auch schon gemerkt haben.“

Alles, was sie sprach, kam so müde, so gleichgültig heraus. In dem Halbdunkel leuchtete ihr bleiches Gesicht wie ein Kopf aus gelblichem Marmor. Aber gerade dieses Matte, halb Abgeklärte, halb Schmerzliche in ihrem ganzen Wesen reizte mich auf unerklärliche Weise.

Es war halb elf Uhr, als ich mich verabschiedete.

Franzi reichte mir wie einem guten Kameraden die Hand.

„Ich danke Ihnen Herr Doktor. Sie haben mir wirklich eine Freude gemacht durch Ihre interessanten Ausführungen. Ich werde jetzt den Sternenhimmel mit anderen Augen betrachten. Wieviel Geheimnisse schlummern doch dort oben im unendlichen Äther…!“

Mit einer in einem schweren, altertümlichen Leuchter steckenden brennenden Kerze in der Hand ging ich über die Diele und die in den Oberstock führende Treppe hinauf.

Gerade wollte ich die Tür meines Wohnzimmers öffnen, als undeutlich von irgendwoher ein Schrei aus weiblicher Kehle an mein Ohr drang.

Ich blieb stehen und lauschte. Mir war’s, als ob ich noch einen zweiten, leiseren Schrei vernahm. Aber das Zuschlagen einer Tür unten im Erdgeschoß erfolgte in demselben Augenblick und übertönte alle übrigen Geräusche, so daß ich mich auch geirrt haben konnte.

Trotzdem ging ich leise bis zur Treppe zurück und beugte mich über das Geländer, um auf die Diele hinabzusehen. Dort stand Franzi Schmechting mit der Klavierlampe in der offenen Tür des Salons. Ihre Haltung drückte gespannteste Aufmerksamkeit aus.

Dann hörte ich sie nach einer Weile tief aufseufzen, und gleich darauf trat sie in das große, dreifenstrige Zimmer zurück und zog hinter sich die Tür energisch ins Schloß.

 

 

3. Kapitel

Das zweite Abenteuer der ersten Nacht.

Ich war froh, daß ich Franzi nicht angerufen hatte, wie dies einen Moment meine Absicht gewesen war.

Aus ihrem ganzen Verhalten glaubte ich entnehmen zu müssen, daß sie sehr wohl den ersten lauten Schrei gleichfalls gehört habe, daß sie aber auch wisse, was dieser bedeute, beziehungsweise auf welche Vorgänge er zurückzuführen sei, – Vorgänge, die bei ihr mehr Trauer als Schrecken hervorgerufen hatten, wie der tiefe schmerzliche Seufzer bewies.

Wahrscheinlich wäre es ihr mithin sehr unangenehm gewesen, wenn ich mich eingemischt und sie um Aufklärung gebeten haben würde. Sicher lag hier irgendein Geheimes vor, dachte ich mir, welches auch nur anzudeuten für Franzi sehr peinlich gewesen wäre.

Ich begab mich nun auf meine Zimmer, zündete die Lampe an und zerbrach mir den Kopf, was sich wohl vorhin in dem alten Hause abgespielt haben könne, als ich den Schrei hörte. In einem steiflehnigen, ledergepolsterten Großvaterstuhl am Fenster sitzend hing ich diesen Gedanken nach.

Da kam die Müdigkeit nach der Reise, die Nervenabspannung nach all den neuen Eindrücken, die ich hier in Lankenau empfangen hatte. Ich schlief ein.

Erst als mein drittes Bein, mein starker Spazierstock, polternd zu Boden fiel, schreckte ich auf.

Aber wie sah es in meinem Zimmer aus! Die Lampe, die ich wohl zu hoch geschraubt, hatte geräuchert und war auf dem Mitteltisch in dem dichten, schweren Qualm nur noch als verschwommener rötlicher Fleck zu erkennen, etwa so, als wenn die Sonne durch starken Morgennebel hindurchscheint.

Taumelnd erhob ich mich, halb betäubt. Mein Kopf schmerzte wie rasend. Ich riß beide Fenster weit auf, löschte die Lampe aus und ging in mein Schlafzimmer hinüber, dessen Tür zum Glück eingeklinkt gewesen war, so daß der scheußliche Qualm dort nicht hatte eindringen können.

Auf dem Nachttischchen neben dem Bett lag meine elektrische Taschenlampe. Ich dachte mir schon, daß mein Gesicht wahrscheinlich recht mohrenähnlich aussehen müßte, nahm meinen Rasierspiegel und beschaute mich beim Lichte des weißen Strahlenkegels der kleinen Lampe.

Wahrhaftig: Neger – vollständig Neger! – Na, das würde gehörig Wasser und Seife kosten, ehe der Ruß entfernt war! – Himmel, und meine Hände waren genau so gefärbt, hinterließen überall schwarze Spuren, wo ich nur hingriff. Auch mein blendend weißer Stehkragen, mein Anzug – alles hatte gelitten. Und mein Wohnzimmer mußte natürlich einer Generalreinigung unterzogen werden. Das war mir am unangenehmsten, bei meinen Gastgebern mich gleich als ein solcher Schmutzfink eingeführt zu haben.

Mit einemmal begann sich das Zimmer um mich zu drehen. Es war ein regelrechter Ohnmachtsanfall, die Folge der eingeatmeten Petroleumdünste. Schleunigst humpelte ich auf den Balkon hinaus, ließ mich in einen der dort stehenden Korbsessel fallen.

Die frische Nachtluft tat mir wohl.

Jetzt hörte ich in der Ferne auch wirklich das Meer rauschen, wo alles ringsum so still war. Nur hin und wieder kreischten in einem nahen Gebüsch ein paar verliebte Katzen auf, fauchten und fuhren raschelnd durch die Sträucher.

Leichtes Gewölk zog am Himmel hin, sperrte das Licht des Vollmondes ab. Nur wenige Sterne waren sichtbar.

Ich mochte so vielleicht eine Viertelstunde regungslos gesessen haben, tief und gleichmäßig atmend, um die Lunge gründlich zu reinigen, als den Hauptweg des Gemüsegartens entlang eine Gestalt auf das Haus zugeschlichen kam, deren Umrissen ich nur schattenhaft erkennen konnte.

Ich muß hier einfügen, daß dieser sehr breite Hauptweg des Wirtschaftsgartens schnurgerade in Richtung auf das Meer hin verlief und sich allmählich nach dorthin auch abwärts senkte, ferner daß die Strandpartie dem Gutshause gegenüber flach und ohne Baumwuchs war.

Die sich lautlos bewegende Gestalt – es war ein Mann, das erkannte ich trotz der Dunkelheit – machte halbrechts von mir mitten auf dem Wege etwa zwanzig Meter vom Hause entfernt halt. Dann sah ich, wie der Mann beide Arme hoch emporreckte. Gleich darauf blitzte dort unten, scheinbar aus den Händen des nächtlichen Besuchers kommend, ein blendend weißer Lichtstrahl auf, erlosch, flammte abermals auf, – bald längere, bald kürzere Zeit erscheinend, verschwindend…

Die Geschwindigkeit des elektrischen Funkens und des Lichts wird stets als etwas Ungeheuerliches angestaunt. Nun – ich behaupte, daß das menschliche Hirn an Schnelligkeit der Gedankenarbeit mindestens ebenso viel leistet. Die oft gebrauchte Romanphrase ‚in einer Sekunde zog das ganze bisherige Leben vor seinem geistigen Auge in wechselnden Bildern vorüber‘ hat ihre gute Berechtigung. Den Beweis hierfür erlebte ich an mir selbst in dem Augenblick, als der Mann dort halbrechts unter mir seine Lichtzeichen nach dem Meere hin zu geben begann. Es war wirklich nur ein Moment, in dem mein Hirn folgende Gedanken gebar: Lankenau verwahrlost, heruntergewirtschaftet – Schmechting trotzdem mit Geld offenbar wohlversehen – kühles Verhältnis zu seiner Tochter – Franzi traurig, schwermütig – wenig Verkehr mit den Nachbarn – Schmechting ein schwieriger Charakter – der von mir gehörte Schrei – Franzis Verhalten bei dieser Gelegenheit – Schmechtings Abwesenheit heute abend – – –, – gebar und zu einer Kette von Verdachtsmomenten gegen meinen Gastgeber vereinigte.

Dieser Verdacht, der so blitzartig in mir aufzuckte, versetzte mich in einen förmlichen Zustand der Erstarrung. Wie gebannt saß ich da, ließ den Mann ungehindert verschwinden, obwohl ich durchaus berechtigt gewesen wäre, ihn anzurufen und auf ihn zu schießen, falls er zu fliehen versuchte.

Freilich – vorher hätte ich meine Pistole aus der Nachttischschublade holen müssen. Aber ich hätte wohl die Zeit dazu gefunden, wenn ich eben nicht so vollständig meine Geistesgegenwart verloren haben würde.

Nun, da der Mann fort war, quoll der Ärger über meine eigene Kopflosigkeit in mir auf. Die Zwecklosigkeit derartiger Selbstvorwürfe sah ich jedoch sehr bald ein. Ich gab meinen Gedanken wieder eine andere Richtung und prüfte nun nochmals die Kette von Verdachtsmomenten Glied für Glied nach, die mein Hirn soeben zusammengefügte hatte.

Jetzt fiel mir auch die Unterhaltung mit Schmechting oben auf dem Baumpavillon ein. – War es von ihm vielleicht kühle Berechnung gewesen, daß er selbst mir von der hier betriebenen Spionage und all dem anderen erzählt hatte…?! Wollte er sich dadurch als ganz harmlos hinstellen?! – – Aber, vorher wußte er die mir mitgeteilten Dinge von dem geheimnisvollen Treiben feindlicher U-Boote an der Küste, von der weitverzweigten Organisation zur Befreiung von Kriegsgefangenen…?! – Die Ingenieure, selbst Zivilisten, konnten in diese Einzelheiten kaum eingeweiht sein. Bei militärischen Kommandostellen wird ja gerade in den Spionageabteilungen mit größter Verschwiegenheit gearbeitet. Von dort dringt so leicht nichts an die Öffentlichkeit. – Also, woher diese Kenntnisse…?!

Dann wieder ein neuer Gedanke. Wie ich darauf kam, – ich weiß es nicht!

Boris Scherbetscheff…!

Der Russe hatte offen zugegeben, daß er sich um eine Arbeitsstelle in der Nähe des Meeres bemüht habe. – ‚Wir alle lieben das Meer‘, hatte er gesagt, um dadurch diesen besonderen Wunsch zu begründen.

Steckte Scherbetscheff etwa mit Schmechting unter einer Decke? Hatte dieser den Chemiker etwa nur deswegen beim Abendbrot so eingehend nach dessen näheren Verhältnissen ausgeforscht, um uns anderen recht deutlich vor Augen zu führen, daß ihm der Russe ein Wildfremder sei…?! – Und schließlich auch die Geschichte mit der Beschäftigung des Chemikers als Gutsschreiber, als Buchhalter…! Auf diese Weise hatten die beiden ja die beste Gelegenheit, wann sie wollten, ungestört und unbeobachtet, miteinander sprechen zu können…! War es doch ganz gut möglich, daß Schmechting es durch allerhand Machenschaften fertiggebracht hatte, gerade Scherbetscheff zusammen mit dem Gefangenentrupp zugestellt zu erhalten.

Ich gebe zu, daß mir über alledem, was ich mir so an Verdachtsgründen hervorsuchte, ganz wirr im Kopf wurde.

Dann aber kam wieder mit aller Macht die Müdigkeit. Was es noch weiter zu überlegen gab, mußte ich am Morgen tun – mit ausgeruhtem Hirn und frischen Nerven.

So erhob ich mich denn, wusch mich gründlich, warf meine rußbeschmutzten Kleider in einen Winkel und kroch ins Bett.

In einem Roman würde es jetzt heißen:

‚Fritz Trebra lag noch lange wach. Das eben Erlebte mit seinen Rätseln hielt ihn munter. Als er dann endlich einschlief, ängstigten ihn schwere Träume…‘

Die Wirklichkeit sah anders aus. Kaum hatte ich mich in den Kissen zurechtgelegt, als der Schlaf auch schon da war. Ob ich geträumt habe? Ich glaube nicht! Jedenfalls kann es nichts aufregendes gewesen sein.

Erst gegen neun Uhr erwachte ich. Draußen schien die Sonne. Ich hatte die Balkontüren halb offen gelassen. Die Vorhänge wehten hin und her, und ich hörte im Garten die Bäume rauschen. Es mußte ein recht kräftiger Wind vom Meere her kommen. Da wollte ich doch gleich am Vormittag noch zur Küste hinunter. Seegang, Rauschen der Brandung, die ganze großartige Musik des Meeres: ich liebte sie nicht gerade mit der Schwärmerei wie Boris Scherbetscheff, aber auch für mich hatte sie ihre Reize.

Boris Scherbetscheff…! Mit einem Schlage standen die Vorgänge der Nacht mit greifbarster Deutlichkeit vor meinem Geiste. – Dort in der Ecke lag der schmutzige Anzug, da auf der Marmorplatte des Nachttischchens waren die Spuren meiner berußten Finger zu sehen… Ja, mit der qualmenden Lampe und meinem Nickerchen in dem Großvaterstuhl hatte das Spionagedrama begonnen… Ein Traum war es nicht gewesen, so abenteuerlich phantastisch auch alle Begleitumstände erschienen.

Ich zog mich langsam an. Dabei überlegte ich mir, was nun werden, wie ich mein ferneres Verhalten einrichten sollte. Als ich aus dem Kleiderschrank meinen anderen, schlechteren Zivilanzug herausnahm und in die Hosenbeine fuhr, dachte ich an das verschmutzte Wohnzimmer nebenan.

Wahrhaftig – mein Hirn war schon ganz an vorsichtige Berechnung, auf genauestes Abwägen jedes Wortes, jedes Schrittes eingestellt. – Natürlich mußte ich Franzi von meinem Pech mit der Lampe Mitteilung machen und mich gebührend entschuldigen. Aber verschweigen wollte ich, daß ich kurz nach Mitternacht aufgewacht sei. Stimmten meine Vermutungen nämlich, trieb Schmechting sehr unsaubere, hochverräterische Dinge und war Franzi deshalb so traurig, weil sie entweder Mitwisserin war oder doch die Wahrheit ahnte, so durfte ich erst gegen Morgen in dem Lehnstuhl halb betäubt zu mir gekommen sein – erst gegen Morgen! Kurz nach Mitternacht jedenfalls niemals, da Schmechting dann argwöhnen konnte, ich sei auch noch wach gewesen, als er die Lichtzeichen nach der See hin entsandte.

So gewappnet mit mir selbst erteilten genaueren Verhaltungsmaßregeln betrat ich gegen zehn Uhr das Speisezimmer.

Franzi war nicht anwesend. Nur das junge, dralle Stubenmädchen, mit dem Sammelnamen Anna genannt, wischte gerade vor der großen Anrichte den Staub weg.

Ich setzte mich an den Eßtisch, ließ mir von ihr das Frühstück bringen und hatte so Gelegenheit zu bemerken, daß sie ganz verschwollene, verweinte Augen hatte.

Schon am Tage vorher hatte ich, um nicht beim gemeinsamen Auspacken meines Koffers hochmütig zu erscheinen, mich mit ihr in ein Gespräch eingelassen und erfahren, daß sie aus einem entfernteren Dorfe stammte, achtzehn Jahre alt und erst drei Tage im dieser neuen Stellung bei Schmechtings war.

„Anna, was hat’s denn gegeben? – Verweinte Augen?! Daran ist wohl ein Tadel von Frau Werner schuld, wie?!“ fragte ich, weniger aus Teilnahme als in dem Gedanken an die Arbeit, die dem Mädchen oben in meinem Wohnzimmer bevorstand. Für einen freundlichen Herrn würde der Ruß schneller und gründlicher beseitigt werden.

Die frische, dralle Dirne, die gar nicht übel in ihrem hellen Kleide und der weißen Tändelschürze aussah, begann sofort wieder zu weinen. Nein – zu heulen! Für diese Äußerung heftigster Seelenerregung, diese jammernden Töne ist weinen wirklich ein zu wenig kennzeichnender Ausdruck.

„Hätte ich nie dieses Haus betreten…!“ wiederholte sie des öfteren rein mechanisch, während ihr ganzer Körper von wildem Schluchzen hin und her geschüttelt wurde.

Da trat Herr von Schmechting ein.

„Morgen, Doktor! Gut geschlafen? – Sehr vernünftig von Ihnen, daß Sie so spät aufstehen! Schlaf ist für Genesende das Beste… – Na, Anna, hast du dich noch immer nicht des schaurig süßen Traumes wegen beruhigt? – Hör’ auf mit dem Geflenne, in drei Teufels Namen! Diese Frühmusik dürfte dem Doktor nicht gerade angenehm sein!“

Das Mädchen war bis unter die Haarwurzeln errötet.

„Ich … ich … will nach Hause, zu meinen Eltern, gnädiger Herr,“ stotterte sie mit gesenktem Kopf, jedes einzelne Wort mühsam hervorwürgend.

„Quatsch! Das macht das Ungewohnte… Du wirst dich hier schon einleben!“

Er zog seine Börse und reichte ihr einen Zwanzigmarkschein.

„Da – kauf’ dir was Schönes dafür! Morgen darfst du mit Frau Werner nach Bolanka fahren, Einkäufe machen. – Nun geh’ – und sei vernünftig, kleiner Racker!“

Bolanka war die nächste Großstadt, zugleich auch Festung und Sitz des Oberkommandos, zu dessen Bezirk auch Lankenau gehörte.

Der Name Bolanka machte auf Anna wirklich Eindruck. Oder – war es das Geld…?! – Jedenfalls knickste sie, stammelte ein ‚Danke‘ und eilte hastig davon.

Schmechting lachte ihr dröhnend nach. Er schien vorzüglicher Laune zu sein. Der Mann sah für den Vater einer erwachsenen Tochter noch überraschend jugendlich aus, wie ich heute wieder feststellen konnte.

„Wie gefällt sie Ihnen, Doktor?“ meinte er, mir vielsagend mit den Augen zuzwinkernd.

Einer Antwort wurde ich durch das Erscheinen Franzis überhoben. Sie wünschte mir mit Handschlag guten Morgen und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Noch bleicher als gestern erschien sie mir. Um ihre Augen lagen dunkle Schatten. – Von ihrem Vater nahm sie keine Notiz.

Schmechting zündete sich eine Zigarre an und rief hin und wieder eine Bemerkung in unsere Unterhaltung.

Als ich nun von der blakenden Lampe, meinem Mohrengesicht und dem halbverdorbenen Anzug erzählte, meinte er scheinbar ehrlich besorgt:

„Aber Doktor, – eine solche Unvorsichtigkeit! Sie hätten ersticken können!“ Und zu Franzi gewandt: „Die Lampen werden aus Trebras Zimmer entfernt, – verstanden, Kind?! Er kriegt nur noch harmlose Stearinkerzen in die Finger!“

Dann zog er sich wieder die grauseidene Mütze schief auf den Kopf.

„Auf Wiedersehen! Muß mal das Scherbelschaf revidieren, der bereits über meinen Büchern hockt…!“

Franzi schnitt mir ein paar Scheiben Schinken ab und meinte, nachdem ihres Vaters Schritte verklungen waren:

„Ich muß heute ins Freie… Hier ersticke ich! – Wollen wir zum Strande hinunter? – Ich werde einen Einspänner für uns bestellen.“

Ersticken…?! – Ich horchte auf. Und dachte, daß Franzi Schmechting wahrscheinlich ahnte, was hier nächtlicherweise vorging, – nur ahnte! Mitwisserin eines Verbrechens konnte dieses junge Weib nicht sein…

 

 

4. Kapitel

Franzis Lüge.

Ich kann nichts dafür, wenn diese Geschichte immer mehr zum Abenteuerroman wird. Aber von Lieben und Hassen wird auch noch genug die Rede sein.

Von Lieben… – Beginnen wir also damit. Es paßt auch ganz gut, um die Ereignisse weiterfortzuspinnen und zu zeigen, wie die spätere Katastrophe sich langsam vorbereitete.

Daß ich, der kühle, berechnende Fritz Trebra, ausgerechnet nach Lankenau kommen mußte, um mich innerhalb von zwei Wochen zu verlieben, war mir im ersten Augenblick, als ich mir über meinen Herzenszustand klar wurde, keineswegs angenehm. Inzwischen hatte ich Schmechting genügend kennen gelernt, um zu wissen, daß er einen maßlosen Stolz auf seinen alten, adeligen Namen besaß und alle Bürgerlichen als Menschen zweiter, geringerer Sorte betrachtete. Nie würde er seine Einwilligung zu einer nicht standesgemäßen Ehe seiner Tochter geben, nie! Diese Überzeugung verdunkelte recht stark den Maiensonnenschein der ersten heißen, aufrichtigen Liebe in meinem Herzen. Wirklich – Sonnenschein durchwärmte mein ganzes Innere, verwandelte mich vollständig. Wie alle Verliebten nahm ich sehr bald die Schwierigkeiten, die sich einer Erfüllung meiner sehnsüchtigsten Wünsche hindernd in den Weg stellten, recht leicht; irgend ein Ausweg würde sich schon finden lassen.

Sehr bezeichnend für mein Wesen, mein stark entwickeltes Selbstgefühl und den irrigen Glauben, jede Frau liebe wieder, wenn sie nur aufrichtig angebetet würde, war es, daß ich mich mit diesen Zukunftsgedanken beschäftigte, ohne eigentlich den geringsten Beweis dafür zu haben, daß Franzi meine Gefühle erwiderte. Ich hielt das für selbstverständlich.

Vielleicht gab aber gerade diese Sicherheit, mit der ich ein freudiges Ja von seiten Franzis erwartete, meinen Huldigungen etwas allzu freundschaftlich Kameradschafliches und ließ daher alle jene feinen Einzelheiten vermissen, aus denen ein Frauenherz die ernsten Absichten und das heiße Empfinden eines Bewerbers herausfühlt.

Kurz – das Verhältnis zwischen mir und Franzi entbehrte wohl so ziemlich all des süßen Versteckspielens mit den wahren Gefühlen, all der kleinen, reizenden Torheiten, die ein angehendes Brautpaar, sich selbst unbewußt, vornimmt, um sich auszuweichen und sich doch zu finden, um schroff und zurückhaltend zu scheinen, wo es doch im Innern so ganz anders aussieht.

Aber – ich war damals eben noch der Mann, der geliebt sein wollte, ohne von seiner Freiheit einen Deut hinzugeben, der sich einbildete, Frauen seien Geschöpfe, die dankbar sein müßten, wenn ein Mensch wie ich sich ihnen zuneigte…

In diesen vierzehn Tagen hatte sich in Lankenau im übrigen nicht viel Wichtiges zugetragen. Mein Verdacht gegen Schmechting hatte keinerlei neue Nahrung erhalten und war daher von Tag zu Tag mehr eingeschlummert. Der ganze Mann, eine Despotennatur von rücksichtsloser Offenheit, war nicht dazu geschaffen, sich auf derartige verbrecherische Unternehmungen einzulassen. Hätte ich nicht die volle Überzeugung von seiner Schuldlosigkeit gewonnen, so würde ich, um Franzi zu fliehen, einfach abgereist sein. Mein Argwohn richtete sich jetzt gegen Malotka, den Oberinspektor. Dieser schwarzhaarige halbe Zigeuner mit dem kriecherischen Wesen und den scheuen, unstäten Augen kam mir wie die personifizierte Falschheit vor. Verdächtig wurde er mir dadurch, daß er die Gefangenen fast roh behandelte und besonders den Chemiker Scherbetscheff bei jeder Gelegenheit in einer Weise anfuhr, die gerade in ihrer Übertreibung mir keineswegs echt erschien.

Ich hatte verschiedentlich in dieser Zeit noch in dunklen Nächten auf dem weinumrankten Balkon mit der Pistole in der Hand gewartet, aber nie wieder die Gestalt des Unbekannten bemerkt. Dann nahm die erwachende Liebe zu Franzi all meine Gedanken so sehr in Anspruch, daß ich mein Erlebnis von jener ersten Nacht im Gutshause Lankenau eigentlich ganz vergaß. Diese Gleichgültigkeit gegenüber einem offenkundigen Beweise von landesverräterischen Absichten – denn das waren die Lichtsignale zum mindesten! – entsprang einer Selbstsucht, die mir heute unbegreiflich erscheint. Meine Pflicht gegenüber dem hart bedrängten Vaterlande vernachlässigte ich eines Weibes wegen, und machte mir nicht einmal viel Gedanken darüber.

Über die Rolle, die die üppige Schönheit der Frau Werner in diesem Hause spielte, war ich mir jetzt auch klar geworden – wenigstens zum großen Teil. Sie hatte es auf Schmechting abgesehen. Es machte auf mich den Eindruck, als ob dieser ihr früher einmal Grund zu der Annahme gegeben hatte, sie würde ihr Ziel, Frau von Schmechting zu werden, auch erreichen. Enttäuschungen und wieder auch eine ganz geringe Hoffnung waren bestimmend für ihr Verhalten dem Gutsherrn gegenüber, der sie bald mit Kälte, beinahe Verachtung, strafte, bald wieder mit schüchternen Verführungskünsten zu umgarnen suchte. Anna, das dralle, hübsche Stubenmädchen, verfolgte sie mit einem mir unverständlichen Haß, den sie aber nicht recht zu zeigen wagte. Die schmucke, junge Dirne hatte sich wirklich sehr schnell auf Lankenau eingelebt, obwohl auch Franzi sie nicht recht leiden mochte, was wohl darauf zurückzuführen war, daß das Stubenmädchen sich einen zuweilen recht selbstbewußten, schnippischen Ton angewöhnt hatte.

Der Schiparski, ein Ungeheuer von gut einhundertundzwanzig Meter Länge, war mittlerweile auch nach glücklicher Reise von Bolanka eingetroffen, von der Bevölkerung angestaunt und glücklich in der neuen Halle untergebracht worden. Erkundungsflüge hatte das Luftschiff noch nicht ausgeführt, obwohl es nun bereits acht Tage in Lankenau stationiert war.

Die drei Offiziere und zwei Marineingenieure, die zu dem Luftschiffhafen Lankenau gehörten, hatten sehr bald bei Herrn von Schmechting Besuch gemacht und waren auch schon zweimal zum Abendessen eingeladen worden. Der Führer des Schiparski 3, Flaggenkapitän von Pestöni, hatte kaum gehört, daß ich Astronom sei, als er mich auch schon bat, ihn bei den notwendigen Feststellungen für die mit dem Hafen verbundene Wetterwarte zu unterstützen, was ich auch bereitwilligst zusagte. Die Offiziere behandelten mich, obwohl ich doch eigentlich ihr Untergebener war, durchaus als Gleichstehenden, und in kurzem hatte sich zwischen uns ein ziemlich zwangloser Verkehrston herausgebildet, zumal ich jetzt täglich morgens und abends in der Luftschiffhalle mit den feinen Instrumenten der Wetterwarte mich beschäftigte, um die Witterung mit leidlicher Bestimmtheit voraussagen zu können. Von dieser Spezialkunde verstand ich recht viel, und als meine Ankündigungen von zwei Wetterstürzen auf die Minute eintrafen, wurde ich vom Oberkommando in Bolanka aus durch besonderen Befehl zum ständigen Berater für den Luftschiffhafen Lankenau bestimmt.

Ich erwähne all diese Einzelheiten, weil ohne sie ein Verständnis der weiteren Verwicklungen, wie sie sich bald nach dieser vierzehntägigen Ruhepause einstellten, unmöglich wäre.

Es war am 18. Juli 1915, als ich nach zwei Regentagen wieder einmal vormittags nach der Küste wollte. Ich bat Franzi, mich zu begleiten. Sie lehnte aber ab, da sie notwendig Briefe schreiben müsse.

Etwas enttäuscht machte ich mich allein auf den Weg. Franzi war so merkwürdig verlegen gewesen, als sie meine Bitte ausschlug. Ich grübelte längere Zeit darüber nach, beruhigte mich aber in dem Gedanken, daß es sicherlich sehr dringende Briefschulden seien, die sie endlich erledigen wollte.

Mein Bein hatte sich inzwischen sobald gekräftigt, daß ich den Stock kaum noch brauchte, wenn ich auch nach wie vor hinkte. Bei der Umgehung einer Pfütze des aufgeweichten Landweges rutschte ich dann jedoch auf der Mitte der zurückzulegenden Strecke aus und knickte mit dem kranken Fuße um, empfand sehr heftige Schmerzen und schleppte mich mühsam heimwärts.

An der hinteren Pforte des Gemüsegartens angelangt, ruhte ich mich auf einer dort stehenden morschen, grünbemosten Bank aus. Zu meiner Linken lag in der Westecke des Gartens ein Gebüsch, in das eine kleine Laube eingeschnitten war. Von dort aus konnte man durch die Öffnung in den Zweigen ebenfalls das Meer sehen, und ich wußte, daß Boris Scherbetscheff diesen Platz bei gutem Wetter bei seinen schriftlichen Arbeiten bevorzugte.

Die Stellung des Russen hier auf dem Gute war eine recht eigenartige. Hatte man ihn erst näher kennengelernt, war es schwer, diesen feingebildeten Menschen weiter als Feind zu behandeln, besonders da er diesen furchtbaren Krieg als überzeugter Revolutionär nach jeder Richtung hin verurteilte. Siegt Rußland, meinte er, so wird die Reaktion mächtig ihr Schlangenhaupt erheben und alle freiheitlichen Bestrebungen vielleicht für Jahrhunderte unterdrücken. Wird es besiegt, so wird die Schulden- und Steuerlast das Volk unfähig machen, für die Revolution das nötige Geld aufzubringen. Über die Zentralmächte sprach er stets mit Ausdrücken rückhaltloser Anerkennung. Seine Beredsamkeit hatte in Augenblicken, wo er politische Dinge behandelte, etwas geradezu Hinreißendes. Der Fanatiker leuchtete ihm dann aus den Augen, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß dieser Mann sehr wohl geeignet war, den Anführer einer ebenso fanatischen Geheimgesellschaft mit auf Mord und Umsturz gerichteten Zielen abzugeben und den weiblichen Teil des Bundes durch seine äußere Erscheinung ebenso zu entflammen wie durch seine von glühender Begeisterung getragenen Reden.

Zwischen Scherbetscheff und mir hatte sich so etwas wie Freundschaft entwickelt. Ich scheue nicht, das offen einzugestehen. Auch Schmechtings, Vater und Tochter, behandelten ihn gut, zogen ihn häufig zu Tisch zu und verschafften ihm allerlei Erleichterungen. Der Oberinspektor war eigentlich der einzige, der hartnäckig nur den gefangenen Feind in ihm erblickte und vielleicht gerade deshalb ihn dies ständig auf wenig vornehme Art fühlen ließ, weil wir anderen dem Chemiker seine Nationalität längst verziehen hatten – oder weil er hiermit bemänteln wollte, daß es zwischen ihm und Scherbetscheff andere, recht gefährliche Anknüpfungspunkte gab. Auch die Offiziere des Luftschiffhafens waren einsichtsvoll genug, dem Beispiel Schmechtings zu folgen, so oft sie im Gutshause als Gäste weilten. Der Russe trat ja auch so bescheiden auf, daß man ihn eigentlich kaum bemerkte. –

Mit einemmal vernahm ich dann in der Laube Stimmen, hin und wieder auch ein leises, wohlklingendes Lachen.

Dieses Lachen konnte nur aus Franzis Kehle kommen… Das hörte ich sofort heraus, obwohl es mir bisher auch nicht ein einziges Mal geglückt war, mehr als einen heiteren Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht hervorzuzaubern.

Wer konnte es nur in aller Welt sein, dem es gelang, meiner Angebeteten Schwermut so weit zu verscheuchen?!

Zuerst dachte ich an Flaggenkapitän von Pestöni. Der machte zuweilen recht gute Scherze, war überhaupt ein sonniger Mensch voller Lebensfreude und einer Heiterkeit, die oft ansteckend wirkte. – Nein, Pestöni kam doch nicht in Frage. Der Schiparski 3 sollte ja heute nacht seine erste Ausfahrt unternehmen, und da gab es im Luftschiffhafen alle Hände voll zu tun.

Die Neugier, auch wohl eine leise Regung von Eifersucht trieb mich hoch und näher an die Laube heran. Nicht daß ich besonders vorsichtig mich bewegt hätte, um nicht gehört zu werden, – nein! Den heimlichen Lauscher spielen – das wollte ich nicht.

Und doch stand ich bald wie angewurzelt still.

Es war Franzi, die eben sagte:

„Sie verdrehen alle Begriffe, Herr Scherbetscheff, wenn auch in geistvollster Weise. Nächstens werden Sie mir beweisen, daß die Lüge eine Gott wohlgefällige Tat und die Wahrheit eine Sünde ist!“

„Sehr richtig! Beides trifft zu! Es gibt besondere Verhältnisse, in denen auch die Umkehrung des moralischen Wertes der Wahrheit sich folgerichtig ergibt.“

Scherbetscheff…! Unglaublich…! Waren das die Briefe, die Franzi zu schreiben hatte?! – So begehrte die Eifersucht sofort in meinem Herzen auf.

Aber ich beruhigte mich selbst schnell wieder: Schmechting wird Franzi mit einer Bestellung zu dem neuen Aushilfsbuchhalter in die Laube geschickt haben, und da sind die beiden eben ins Plaudern gekommen!

Leider erwiderte Franzi jetzt:

„Kommen Sie – Sie müssen mir heute wie versprochen die russischen Volkslieder vorspielen. Papa und Doktor Trebra sind unterwegs…“

Da kehrte ich eiligst um, bog in den Hauptweg ein, schritt dem Hause zu und gelangte auch unbemerkt auf mein Zimmer.

Der Großvaterstuhl nahm mich und meine Sorgen auf.

Ich hatte Franzi auf einer Lüge ertappt. Die Briefe sollten heute überhaupt nicht geschrieben werden. Sie hatte nur mit dem Russen allein sein wollen…

 

 

5. Kapitel

Was Anna gesehen hatte.

Einem durch eine ganz unerwartete, in keiner Weise vorausgeahnte Revolution entthronten Könige kann kaum elender zumute gewesen sein als mir damals in dem ledernen Sorgenstuhl am Fenster meines Wohnzimmers.

Sorgenstuhl…! – Die Bezeichnung paßt vorzüglich.

Es dauerte recht lange, ehe ich mich in diese Tatsache hineingefunden, daß Franzi den Russen mir vorzog, daß ihr russische Volkslieder wertvoller waren als ein Spaziergang an meiner Seite nach dem Strande.

Noch länger dauerte es, bis ich im Geiste zwei Personen mit möglichster Gerechtigkeit gegeneinander abgewogen hatte: Scherbetscheff und mich! – Hierbei gelangte ich nun zu dem betrübenden, aber meiner Vorurteilslosigkeit und Ehrlichkeit das beste Zeugnis ausstellenden Ergebnis, daß, wenn ich Weib gewesen wäre und zu wählen gehabt hätte, ich wohl auch den Chemiker vorgezogen haben würde.

Es war eine Stunde der Einkehr, strengsten Gerichtes über mich selbst.

Was hatte ich in die Wagschale zu werfen?!

Ein Durchschnittsäußeres, – wenn ich nicht Krüppel, lahm gewesen wäre! Einen Charakter, dessen Hauptmerkmale Eigensucht und Selbstüberschätzung, nüchternste Lebensauffassung und die sich daraus ergebenden Eigenschaften waren. Nichts hatte ich an mir, was mir auch nur den geringsten Glorienschein verliehen hätte, nichts, abgesehen meine Verwundung vor dem Feinde, und die war eher geeignet eine Frau abzustoßen, weil sie eine körperliche Minderwertigkeit zurückgelassen hatte. Jedes Weib verlangt nun einmal bei dem Manne, dem sie ihre Liebe zuwenden soll, wenigstens etwas, das nach Poesie schmeckt, daß ihre Phantasie anregt. An mir war alles kalte Nüchternheit, Reizlosigkeit.

Und Boris Scherbetscheff?! Oh – das war ein so ganz anderer Menschenschlag: temperamentvoll, leicht begeistert, ausgestattet mit einem Gesicht, das, ohne schön zu sein, selten anziehend wirkte, mit einer Stimme wie Musik, einer Rednergabe wie ein Volkstribun, mit Anschauungen, die ihn aus der Masse heraushoben, wohl zum Widerspruch reizten, aber auch dazu zwangen, sich mit seiner Person näher zu beschäftigen.

Nein – der Russe war mir überlegen, weit überlegen, daran ließ sich nichts ändern…!

Und diese Überzeugung wirkte noch stärker als die Erkenntnis, daß ich Franzi liebte – weit stärker! Die Eifersucht, die Unzufriedenheit mit mir selbst ließen urplötzlich wieder alle meine Verdachtsgründe gegen Schmechting aus dem Winkel meines Herzens hervorkriechen, in den ich sie zurückgedrängt hatte. Mit dem durch Neid auf Scherbetscheff, durch Enttäuschung und Ärger über Franzi geschärften Blick des Liebenden betrachtete ich die Dinge um mich her plötzlich mit strengem, kritischem Abwägen.

Eifersucht soll den Blick verdunkeln, trüben! Bei mir war das gerade Gegenteil der Fall.

Und das Ergebnis der einen Stunde im Sorgenstuhl war ein neuer Fritz Trebra, der sich fest vorgenommen hatte, nur einer Aufgabe all seine Kräfte zu widmen: Licht zu bringen in diese dunkle Angelegenheit, die hier in Lankenau, wie ich selbst gesehen, ihren Ausgangspunkt hatte.

Aus dem Erdgeschoß hatte zu all diesen Gedanken der Flügel im Musikzimmer eine leise Begleitung abgegeben. Nur einzelne Töne und stärkere Akkorde, bisweilen auch die Spur einer Melodie waren bis an mein Ohr gedrungen.

Ich malte mir die Szene dort unten aus: Scherbetscheff am Flügel, mit seinen wohlgepflegten, schöngeformten Händen über die Tasten hingleitend, das dunkle Schwärmerauge träumerisch ins Weite gerichtet, – und vor ihm, ihn still beobachtend und andächtig lauschend, die blasse Franzi, – – die mich belogen hatte…!

Gerade wollte ich mich erheben, um ein Buch zu nehmen und zu lesen – ich brauchte jetzt Ablenkung, nachdem ich mit mir ins Reine gekommen war! – als es kurz klopfte und Anna, das Stubenmädchen, eintrat, ohne auf mein Herein zu warten. Sie hatte geglaubt, ich sei nicht zu Hause, entschuldigte sich ihres Eindringens wegen und ging in das Schlafzimmer, um die Waschkannen frisch zu füllen.

Anna hatte verweinte Augen gehabt. Und eine gewisse Unfreundlichkeit in ihrem Ton, die sie sich mir gegenüber noch nie erlaubt hatte, sagte mir, daß es heute nicht Seelenschmerz allein war, der ihre Stimmung beeinflußte.

Ich ging ihr ins Schlafzimmer nach, gab ihr einen kleinen Auftrag und knüpfte daran die teilnehmende Frage, ob ich nicht erfahren könnte, was ihr zugestoßen wäre. Ich hätte es doch stets mit ihr gut gemeint, und sie solle sich mir gegenüber nur ruhig aussprechen, um sich das Herz zu erleichtern. – Anna mußte eine wertvolle Verbündete sein. Daran dachte ich lediglich. Ihre Person war mir im übrigen höchst gleichgültig.

Ihr Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Aus ihren Augen leuchtete es wie Haß.

„Ja, Sie waren immer nett zu mir, Herr Doktor. Sie sind ein anständiger Herr.“ Und mit hervorbrechender Heftigkeit: „Er hat ein neues Stubenmädchen gemietet. Es sei jetzt mehr zu tun, wo die Offiziere vom Luftschiff immer herkämen, sagt er. Aber ich weiß Bescheid…“

Er – er…! In so wenig respektvoller Weise sprach sie von Schmechting…! Ja – war ich denn bisher blind gewesen…?!

Jetzt gingen mir plötzlich die Augen auf! Ich verstand den Haß der Wirtschafterin gegen Anna mit einemmal nur zu gut, verstand jetzt auch manches andere…! Die Szene damals im Speisezimmer nach der ersten Nacht im Gutshause, als Schmechting das Mädchen durch Geld und die zugesagte Fahrt nach der Stadt beruhigt hatte…! Jetzt war auch die Erklärung für das schlechte Verhältnis zwischen Vater und Tochter gefunden! Nein – Franzi war weder seine Mitwisserin noch ahnte sie etwas von dem nächtlichen Treiben im Gemüsegarten, von den Lichtsignalen… Aber anderes wußte sie genau, und ihr Mädchenherz hatte sich in Abscheu und Empörung dagegen aufgelehnt und ihr den Vater entfremdet, der ein Despot war in jeder Beziehung, der wie ein morgenländischer Sultan mit dem Weibervolke umsprang und mit brutaler Gewalt nötigenfalls erzwang, was ihm nicht freiwillig gewährt wurde.

Jetzt war Schmechting Annas überdrüssig geworden, jetzt schob er sie beiseite, wie er dies auch mit Frau Werner einst getan hatte. Und die Nachfolgerin für Anna war also auch schon gefunden…

„So – also ein zweites Stubenmädchen,“ wiederholte ich laut, nur um etwas zu sagen.

„Ja, Herr Doktor, so eine ganz feine – aus der Stadt, mit angemalten Backen und Schuhen mit so – so hohen Absätzen! Vor einer Stunde ist sie angekommen. Er hat sie selbst von der Bahn abgeholt. Und jetzt sitzt sie oben in unserer Stube und brennt sich die Haare, die eitle Aff’!“

Oben in der Stube…! – Ich dachte an den Schrei damals abends, als ich gerade mein Zimmer betreten wollte, und Franzi nachher unten in der Tür des Salons mit der Lampe in der Hand angstvoll lauschend stand…

Anna war offenbar froh, in mir eine mitfühlende Seele gefunden zu haben, der sie einmal rückhaltlos ihr Herz ausschütten konnte. Was ich da zu hören bekam, braucht hier nicht mehr erwähnt zu werden. Das Bild Franz von Schmechting steht ohnedies fest als das eines Mannes, der jeder Schürze nachlief und dessen Jagdrevier sich bis hinab in das Dorf erstreckte, wo er die Frauen, deren Männer im Felde waren, auf seine Art tröstete, aber auch, um ihm gerecht zu werden, reichlich durch Geld unterstützte. Daß Schmechting mehr als wohlhabend war, hatte ich ja längst herausbekommen. Und die Verwahrlosung seines schönen, großen Besitzes hatte man nur dem Umstande zuzuschreiben, daß der männliche Erbe für Lankenau flehte. Der jetzige Gutsherr hatte eben kein Interesse daran, sein Eigentum in gutem Zustande zu erhalten. Hatte er doch selbst zu mir gesagt, daß Franzi froh sein würde, wenn sie nach seinem Tode Lankenau verlassen könne.

Und das glaubte ich jetzt selbst! Dieses Haus barg für das junge Mädchen so häßliche Erinnerungen, daß man es nur begreiflich finden konnte, wenn nichts sie mehr an die Stätte ihrer Vorfahren fesselte, wo ihre Mutter – auch das erfuhr ich jetzt von Anna – an der Seite dieser selbstherrlichen, durch keinerlei moralische Bedenken gebändigten Kraftnatur langsam dahingesiecht war.

Für diese Stunde, wo ich dem Stubenmädchen gestattete, mir Franz von Schmechting so zu schildern, wie sie ihn kennen gelernt hatte, verlangte ich einen Gegendienst.

Ich bat Anna, recht genau auf den Russen Scherbetscheff acht zu geben. Ich hätte so das Empfinden, erklärte ich, daß man ihm nicht trauen dürfte. – Meine Absicht war natürlich die, durch das Mädchen feststellen zu lassen, wie Franzi mit Scherbetscheff stand. So schlug ich zwei Fliegen mit einer Klappe.

Zu meiner Überraschung brachte der Name des Chemikers bei Anna eine Wirkung hervor, die ich nie voraussehen konnte.

Sie schaute sich erst im Zimmer um, als ob sie einen geheimen Lauscher fürchte, trat dann dicht an mich heran und sagte leise:

„Herr Doktor, Sie haben ganz recht! Dem Russen ist auch nicht zu trauen.“ Ihr Gesicht strahlte dabei vor Genugtuung, daß sie mir auch in dieser Beziehung Neuigkeiten mitteilen könne, die ihr alleiniges Geheimnis waren. „Gestern abend noch,“ fuhr sie fort, „– es war so gegen elf Uhr, habe ich den Scherbetscheff gesehen, wie er am Zaun des Gemüsegartens entlang auf den Feldweg nach der See zueilte. Er hatte sich einen Lappen vor das Gesicht gebunden, trug auch nicht seine Tellermütze, sondern einen schwarzen, großen Filzhut. Aber ich habe ihn trotzdem erkannt.“

Mir stockte der Herzschlag. – Scherbetscheff um elf Uhr abends allein im Freien! – Unmöglich!

„Sie müssen sich irren, Anna,“ sagte ich kopfschüttelnd. „Sie wissen doch, die Gefangenen werden jeden Abend um halb zehn Uhr in ihre Räume eingeschlossen, haben Gitter vor den Fenstern und außerdem die beiden Wehrmänner als Wächter in unmittelbarer Nähe!“

Ihr frisches Gesicht überflog ein Ausdruck bäuerischer Pfiffigkeit. Dumm war Anna überhaupt nicht. Sie verstand recht gut, aus kleinen Beobachtungen ihre Schlüsse zu ziehen, wie mir diese Stunde gezeigt hatte.

„Wenn’s das erstemal gewesen wäre!“ meinte sie mit Nachdruck. „Aber vor – ja – vor vier Tagen habe ich den Scherbetscheff ebenfalls um dieselbe Stunde gesehen…“

„Nicht möglich…!“

„Doch, Herr Doktor.“ Sie wurde etwas verlegen. „Beide Male saß ich in der Laube hinten im Gemüsegarten. Ich irre mich nicht – nein, bestimmt nicht!“

Ich hatte sie scharf im Auge behalten. Ihre Verlegenheit mußte einen besonderen Grund haben.

„Was taten Sie zu so später Stunde in der Laube, Anna?“

Da warf sie den Kopf trotzig zurück.

„Sie werden mich ja nicht verraten, Herr Doktor… Ich war nicht allein dort…“

Blitzschnell überlegte ich. Schmechting hatte gestern mit mir abends Schach gespielt. Bis kurz nach elf Uhr. Also er kam nicht in Frage. Da war nun im Dorfe ein Bauernbursche, der als Invalide vom Militär vor zwei Wochen zurückgekommen war. Dieser Argad galt als stiller Verehrer Annas.

„Etwa der Argad?“ fragte ich.

Sie nickte kurz.

„Warum nicht, Herr Doktor?! Unsereiner muß an die Zukunft denken. Der Argad erbt mal den Hof von seinem Vater. Und der Alte ist Trinker. Der macht’s nicht mehr lange.“

Ah – Anna ging auf eine Heirat aus! Dieses junge Weib war berechnender, als ich geglaubt hatte, daher nicht ungefährlich für die, die sie haßte. Und hierzu gehörte auch Franzi, weil sie von dieser stets mit kalter Verächtlichkeit behandelt wurde.

Argad und Anna mochten ein Paar werden – meinetwegen! Was ging es mich an! Für mich blieb es die Hauptsache, daß ich den Angaben des Mädchens nunmehr vollen Glauben schenkte.

Also Scherbetscheff gelangte nachts irgendwie ins Freie…! Und – zu welchem Zweck schlich er in der Dunkelheit draußen herum…?!

Ein häßlicher Verdacht zuckte in mir auf.

Franzi…! – Traf er sich etwa heimlich mit Franzi?! – Doch nein! Gestern nach der Schachpartie hatte ich mit Vater und Tochter noch bis Mitternacht geplaudert.

Dieser Argwohn schien also ungerechtfertigt zu sein.

Was trieb der Russe aber sonst, wenn er nicht auf Liebespfaden wandelte? –

Die Frage beschäftigte mich noch, als Anna längst wieder mein Zimmer verlassen hatte, und ich abermals in dem Sorgenstuhl saß und grübelte und grübelte…

Scherbetscheff war mein Rivale bei Franzi. Scherbetscheff war aber auch ein Feind meines Vaterlandes, war Russe. Seine Redensarten, er fluche denen in Petersburg, die dieses Morden heraufbeschworen hätten, konnten eben … Redensarten sein. Ich hatte doppelten Grund, mich jetzt recht eingehend mit ihm zu beschäftigen. Ich belog mich selbst, suchte mir vorzumachen, daß die Interessen meines Landes in erster Linie mich zu den Entschlüssen hindrängten, die die Folgen der Ereignisse dieses Vormittags waren.

Aus der Fülle der auf mich einstürmenden Gedanken löste sich immer deutlicher eine bestimmte Überzeugung heraus, die am besten durch vier Schlagworte gekennzeichnet wird: Spionage – feindliche U-Boote – Organisation zur Gefangenenbefreiung – Lichtsignale.

Von jener Stunde an begann mein heimlicher Feldzug gegen Boris Scherbetscheff.

 

 

6. Kapitel

Mein zweiter Verbündeter.

Erst kurz vor dem Mittagessen verließ ich mein Zimmer.

Franzi saß mit einer Handarbeit vor dem Haupteingang des Hauses auf der terrassenähnlichen Plattform der grasüberwucherten Treppe. Zwei mächtige Kastanien spendeten hier Schatten und Kühle.

Sie wurde rot, als ich sie begrüßte.

„Wie war es an der Küste, Herr Doktor?“

Eine Verlegenheitsfrage, weiter nichts.

Ich deutete auf meinen Fuß, erzählte ganz harmlos von meinem Mißgeschick, das mich zur Umkehr gezwungen hatte.

In ihre Augen trat eine gewisse Unruhe.

„Sind Sie denn den ganzen Vormittag auf Ihren Zimmern gewesen, Herr Doktor?“ meinte sie, mich heimlich beobachtend.

Es war recht bezeichnend, daß der Wunsch festzustellen, ob ich ihr Zusammensein mit Scherbetscheff auch nicht etwa bemerkt hätte, sie sogar vergessen ließ, mir ein paar Worte des Bedauerns über die ausgestandenen Schmerzen in meinem umgeknickten Fuß zu spenden. Und sonst war sie in dieser Beziehung die Aufmerksamkeit selbst…!

Ich brauchte längere Zeit, um nach Hause zu humpeln,“ erklärte ich ruhig. „Als ich die Treppe hinaufging, hörte ich Klavier spielen. Gern hätte ich mich als andächtiges Publikum im Musikzimmer eingefunden. Aber ich wollte mir den Fuß mit Wasser kühlen. – Was war es eigentlich, was Sie spielten, Fräulein Franzi?“

Sie senkte schnell den Kopf.

„Ach – so alles, was mir einfiel.“

Das Lügen wurde ihr schwer. Ich sah es ihr an. Es war ja der erste Schritt auf der breiten Straße, die die Sünder gehen. Und diesen Schritt tat sie Scherbetscheffs wegen.

Mir gab’s einen Stich durch das Herz. Die Hoffnung, Franzi erwidere meine Gefühle, zerrann jetzt erst endgültig…

Bei Tisch bediente das neue Mädchen. Ein mageres Geschöpf, aber ein Gesicht voller Leben und Eigenart. Sie hieß Jutta.

Schmechting legte sich keinen Zwang auf, verschlang sie mit Blicken. Frau Werner war heute doppelt liebenswürdig zu dem Zigeuner Malotka, der wieder auf Scherbetscheff schimpfte, bis der Gutsherr es ihm untersagte.

Nach dem Mittagessen ging ich mit einem Buche in den Park. Dort gab es einen großen Weiher mit zahlreichen Fischen. Einer der beiden Wehrmänner, der die Gefangenen zu bewachen hatte, war ein leidenschaftlicher Angler. Schmechting hatte ihm erlaubt, in dem malerischen Teiche zu angeln.

Der Wehrmann saß auch jetzt wieder am Ufer, mit der langen Bambusrute in der Hand.

„Na – beißen sie heute?“ begann ich die Unterhaltung, setzte mich neben ihn und bot ihm eine Zigarette an. Wir hatten schon öfters miteinander geplaudert. Der Wehrmann war im Zivilberuf Schreiber bei einem Advokaten, war zwar dick, aber geistig sehr rege.

Vorsichtig lenkte ich das Gespräch auf die Gefangenen. Willuhn – so hieß der angelwütige Vaterlandsverteidiger – wenigstens will ich ihn so nennen – zog einen silberglänzenden, handbreiten Weißfisch aus dem Wasser, befreite ihn geschickt von dem Haken und sagte dabei, auf meine eben gestellte Frage antwortend:

„Anderswo mögen die Gefangenen ja gelegentlich auskneifen. Bei uns hier ist es unmöglich. Da passen mein Kamerad und ich zu gut auf, Herr Doktor. Und nachts – da ist schon gar nichts zu fürchten! Wirklich nicht. Ich habe so einen leisen Schlaf. Nein – da können Sie ganz außer Sorge sein.“

Ich hatte geargwöhnt, daß die Wehrmänner vielleicht gegen Geld und gute Worte Scherbetscheff gestattet hätten, abends später sich einzufinden. Daß dies nicht der Fall war und daß Willuhn in dem Glauben lebte, nachts seine ihm anvertrauten Schäflein stets beisammen zu haben, sah ich jetzt ein. Angler sind meist biedere, aufrichtige Leute.

Wie gelangte der Russe also ins Freie – wie?!

Willuhn hatte schon wieder einen Fisch am Haken.

„Herr Doktor, Sie bringen mir Glück!“ meinte er strahlend.

Da bat ich ihn, den Bewohnern des Weihers einige Minuten Ruhe zu gönnen.

„Es gibt hier nämlich noch anderes zu angeln,“ fügte ich hinzu. „Sie wissen, Willuhn, daß ich Unteroffizier bin. Als Doktor Trebra bitte ich Sie um strengste Verschwiegenheit über das, was ich Ihnen jetzt anvertrauen werde, als Vorgesetzter befehle ich es Ihnen und mache Sie auf die Folgen des Ungehorsams aufmerksam. Es handelt sich hier um keine Kleinigkeit, Scherbetscheff kennt Mittel und Wege, nachts aus dem Unterkunftsraum der Gefangenen zu entschlüpfen.“

Der Wehrmann geriet in heiligen Eifer, wollte tausend Eide schwören, daß derartiges ausgeschlossen sei und wurde doch sehr kleinlaut, als ich ihm von Annas Beobachtungen berichtete.

„Das geht nicht mit rechten Dingen zu!“ brummte er. – Gleich heute wolle er noch Fenstergitter, Türriegel und Schlösser heimlich nachsehen. Sei an diesen alles in Ordnung, so stehe er allerdings vor einem Rätsel.

Dann wurde er mit einem Male nachdenklich.

„Scherbetscheff – hm – Scherbetscheff! Jetzt, wo Sie mich eben auf seine Person aufmerksam gemacht haben, Herr Doktor, fällt mir etwas ein, was mir schon so ein wenig aufgestoßen ist. Der Chemiker ist der einzige von unseren einundzwanzig Gefangenen, der regelmäßig jede Woche durch Vermittlung des schwedischen Roten Kreuzes aus Rußland ein Paket mit Lebensmitteln erhält – von seinen Eltern aus Moskau, – ganz regelmäßig. Vier Wochen sind wir nun hier in Lankenau, und vier Pakete gingen für ihn ein. Wie gesagt – Lebensmittel nur! Keine geschriebene Zeile dabei. Wir müssen die Sendungen ja genau untersuchen, da es schon vorgekommen ist, daß in den Kistchen an Kriegsgefangene Briefe mit eingeschmuggelt wurden, die Anweisungen für eine Flucht oder sonstwie gefährliche Mitteilungen enthielten. Bei Scherbetscheff habe ich immer besonders genau nachgesehen. Gerade auf die Gebildeten unter den Gefangenen sollen wir scharf acht geben. Aber selbst das Aufschneiden von Dauerwürsten und das Zerbröckeln von Gebäck förderte nicht einmal den winzigstes Zettel zutage.“

Die regelmäßigen Pakete waren verdächtig, ohne Frage. Anderseits sagte ich mir aber auch wieder, daß Scherbetscheff ja sehr wahrscheinlich, wie aus seinen nächtlichen geheimnisvollen Ausflügen zu schließen war, mit seinen Landsleuten in Rußland auch sonst noch – etwa durch die U-Boote – eine Verbindung aufrecht erhalte. Es brauchten die Pakete also nicht notwendig zur Nachrichtenübermittlung benutzt zu werden. Immerhin war es gut, auch diesen Punkt im Auge zu behalten.

Willuhn erhielt also den Befehl, das nächste Paket mir ganz unauffällig zuzustellen.

Dann verabredeten wir noch so allerlei, was die Sachlage erheischte. Der zweite Wehrmann sollte nicht mit ins Vertrauen gezogen werden. Je mehr Mitwisser, desto mehr Gefahr, daß Scherbetscheff irgendwie gewarnt wurde.

Ich besaß nunmehr zwei Verbündete. Und das genügte mir vollauf, besonders da der eine weibliche, im Gutshause, der zweite im Inspektorhause tätig war, also gerade an den beiden Orten, auf die es ankam. –

Abends gegen zehn Uhr stieg der Schiparski 3 auf. Schmechting und ich, denen die Abfahrtzeit bekannt war, hatten uns auf Einladung des Flaggenkapitäns von Pestöni nach der Luftschiffhalle begeben, um zu sehen, wie man das Ungeheuer aus der Halle herausschleppte. In Rücksicht auf meinen Fuß waren wir im Einspänner dorthin gefahren. Ich hatte mir von Schmechting eines seiner vorzüglichen Ferngläser geborgt und benutzte dieses kurz vor dem Aufstiege eifrig dazu, die in Dunkelheit gehüllte Gegend abzusuchen. Vielleicht – vielleicht erspähte ich irgendwo Lichtsignale, die den Erkundungsflug des Schiparski schnell weitermelden sollten. Man konnte ja nicht wissen…

Franzi stand neben mir, Schmechting einige Schritte abseits im Gespräch mit dem Werkstättenoffizier, der die Aufsicht über den gesamten Luftschiffhafen unter sich hatte, aber die Fahrten selbst nicht mitmachte.

„Wonach schauen Sie eigentlich so andauernd aus?“ fragte Franzi.

„Ich probiere, inwieweit ein solches Glas auch in der Dunkelheit zu verwerten ist,“ meinte ich, gab das Suchen nach aufblitzenden Strahlen dann aber auf.

Franzi hatte heute in ihrem Benehmen mir gegenüber etwas Unfreies. Überhaupt war sie stiller und schwermütiger als gewöhnlich. Was sie ihrerseits zu der sich mühsam zwischen uns hinschleppenden Unterhaltung beitrug, wurde nur gesprochen, um ihre halbe Verlegenheit zu bemänteln. – Schuldbewußtsein, dachte ich, und traf damit sicher das richtige.

Nach einer Weile seufzte Franzi verstohlen. Dann legte sie mir plötzlich leicht ihre Hand auf den Arm.

„Oh – ich bin so schlecht, so … so…“ – Die halb gemurmelten Worte erstickte ein Aufschluchzen. Und Franzis Finger hatten sich förmlich in meinen Arm eingekrallt.

„Aber – wie können Sie nur!“ meinte ich recht weich und eindringlich. „Sie … schlecht…?! Was haben Sie heute denn nur, Fräulein Franzi?“

Sie weinte unhörbar, schwieg…

Dann schleppten die Mannschaften den Schiparski aus der Halle. Pestöni rief uns aus der Vordergondel heiter ein ‚Auf Wiedersehen‘ zu.

Franzi empfand Reue über ihre Lüge, mit der sie mich am Vormittag weggeschickt hatte. Das unterlag keinem Zweifel. Ich begann wieder zu hoffen. Vielleicht siegte ich doch…! Ich war recht lieb zu Franzi, sehr aufmerksam und gesprächig.

Als ich ihr auf der Diele nach unserer Heimkehr gute Nacht sagte, murmelte sie wieder:

„Ich verdiene Ihre Güte gar nicht!“ und eilte davon.

Kein Wunder, daß ich in froherer Stimmung meine Zimmer aufsuchte.

Franzi war eine aufrichtige, goldehrliche Natur. Hätte sie sonst unter dieser Lüge so gelitten…?!

Meine Hoffnung wuchs. Entlarvte ich Scherbetscheff baldigst als Spion oder dergleichen, so mußte ich die besten Aussichten haben. –

Als ich am nächsten Morgen zu den üblichen meteorologischen Beobachtungen nach der Luftschiffhalle kam, nahm mich Herr von Pestöni – der Schiparski war gegen vier Uhr früh wieder zurückgekehrt – unter den Arm und führte mich wortlos in die Halle, zeigte mit triumphierendem Lächeln auf … zwei nebeneinander festgemachte Schiparskis und meinte:

„Haben wir fein gemacht, wie?! Kein Mensch ahnt, daß zwei Luftkähne sich jetzt hier befinden. Aber – reinen Mund halten, Doktor! Es soll geheim bleiben! Unsere nächtliche Fahrt hatte hauptsächlich den Zweck, das zweite Luftschiff möglichst unauffällig hier einzuschmuggeln.“

Ich lernte dann auch die Offiziere der Besatzung des Schiparski 4 kennen. Sie sollten angeblich zur Ausbildung nach Lankenau kommandiert sein, ebenso die neuen Mannschaften. So sollte ihre Anwesenheit hier erklärt werden.

Von meinem meteorologischen Dienst nach dem Gutshause zurückgekehrt, begegnete ich Franzi im Gemüsegarten, wo sie große, zartgerötete Erdbeeren pflückte, die jede einzeln auf untergeschobenen Glasscherben gelegen hatten, um schneller zu reifen.

Sie sah übernächtigt, sehr blaß und müde aus.

„Ich möchte heute ans Meer,“ sagte sie nach einer Weile unvermittelt. „Wollen wir mit dem Einspänner hinfahren?“

Freudig stimmte ich zu. Es wurden für mich zwei wonnevolle Stunden. Meine Seele war hoch gestimmt. Ich fühlte wieder: Franzi wollte gutmachen! –

Schmechting hatte heute Scherbetscheff zu Mittag ‚befohlen‘. Eingeladen konnte man nicht gut sagen, da selbst seine Bitten stets ohne Widerspruch hingenommen werden mußten.

Ich beobachtete Franzi und den Chemiker genau. Sie war sehr kühl zu ihm, richtete nie das Wort an ihn. Er suchte ständig einen Blick von ihr zu erhaschen. Aber ihre Augen wichen ihm aus.

Ich triumphierte. – Drei Tage blieb das so. Anna erstattete mir täglich zweimal Bericht. Franzi und der Russe hatten keine Silbe wieder gewechselt. Sie mied ihn, während er ihr offenbar nachstellte.

In diesen drei Tagen ereignete sich sonst nichts von Wichtigkeit. Es regnete und stürmte. Schmechting schimpfte über das Wetter. „Gerade jetzt, wo das Korn reift! Doktor, bestellen Sie in drei Teufels Namen anderes Wetter, oder ich schmeiße Sie raus!“

Solche Scherze liebte er.

Der vierte Tag brachte sommerliche Hitze, Windstille und klaren Himmel. Im Park war es jetzt nach dem erfrischenden Regen prächtig. Jeder Baum, jede Pflanze atmete neue Lebenskraft.

Ich kam gegen neun Uhr vormittags von der Luftschiffhalle. Es gab da mitten im Park in einem verwilderten Rosenhain eine Art von chinesischem Pavillion, den offenbar der Gutstischler einst nach einer Vorlage zusammengeschlagen hatte. Kletterrosen und blühende Rankengewächse in allen Farben verliehen dem morschen, kleinen Bau ein romantisches Aussehen.

Es war wirklich nur ein Zufall, der mich nach dem Pavillion führte, eine jener Eingebungen, über deren tiefere Ursachen wir uns keine Rechenschaft zu geben vermögen.

Die Rosen dufteten nach dem Regen fast betäubend. Ich selbst befand mich in gehobener Stimmung. Mit meinem Taschenmesser schnitt ich für Franzi hier und da eine halbgeöffnete Knospe ab, näherte mich dabei langsam dem Pavillion. Franzi würde sich über den Strauß sicher freuen. Sie liebte Rosen, besonders die ganz dunkelroten. ‚Sie sehen so ernst, so schwermütig aus,‘ hatte sie einmal gesagt.

Da war’s mir, als hörte ich sonderbare Laute in der Nähe. Ich erwachte aus meiner Träumerei.

Leises Weinen – ohne Zweifel – das war’s! Ein Weib gab sich dort im Pavillion seinem Schmerze hin.

Franzi…? – Mein erster Gedanke galt natürlich ihr. Ich schlich näher. Nun stand ich vor dem Eingang. Die Stufen der Holztreppe waren mit grünem Moos und weißlichen Pilzwucherungen überzogen; sie waren zu alt und feucht, um noch zu knarren. So genügten zwei weitere geräuschlose Schritte, um mir einen Einblick in den Pavillion zu gewähren. Franzi saß, die Hände im Schoß gefaltet, zusammengesunken auf einem Birkenstuhl. Sie wandte mir den Rücken zu. Trotzdem sah ich, daß vor ihr auf dem runden Tische, dessen Ölfarbenanstrich sich in einzelnen gebogenen Blättchen losgelöst hatte, ein Papier lag.

Jetzt nahm sie es zur Hand, schaute darauf hin, um dann fassungslos aufzuschluchzen… Das Schluchzen klang in ein wimmerndes Weinen aus…

Und nun hörte ich sie etwas vor sich hinmurmeln.

„Mein Gott – mein Gott, – was soll daraus werden…?! Ich bin nicht stark genug, … ich werde unterliegen… Ich sehne mich ja nach Glück – namenlos…!“

Wie ein Aufschrei waren die letzten Worte.

Leise wie ich gekommen schlich ich davon.

Der Park schien mir plötzlich düster und häßlich. Ich sah nur das Ungepflegte, die Verwilderung ringsum. Und über meine frohe Stimmung hatten sich schwarze Schleier herabgesenkt…

‚… ich werde unterliegen … ich sehne mich ja nach Glück namenlos…!‘ Diese Worte waren meinem Hirn wie eingebrannt. Ich wurde sie nicht los, ihr Klang brauste mir in den Ohren, verzehnfacht, verstärkt, als brülle eine Schar von Furien sie mir zu.

Alles war mir klar – alles…! Franzi war Scherbetscheff nur deshalb ausgewichen, weil sie ihn fürchtete, weil sie merkte, daß die Liebe zu ihm mit aller Macht in ihrem Herzen aufkeimte… Und sie hatte in diesen Tagen mit sich selbst gerungen, einen schweren Kampf gekämpft. Heute war sie in ihrer Seelenangst in die Einsamkeit des Pavillions geflüchtet… Ihre Tränen waren geflossen, ihre Seele hatte aufgeschrien in heißer Bedrängnis. Die Liebe war über sie gekommen – die Liebe zu dem Feinde ihres Vaterlandes, dem Kriegsgefangenen, der noch vor nicht allzu langer Zeit die Waffe gegen ihre Landsleute gerichtet hatte…

Ich kannte Franzis Gesinnung. Ein glühender Patriotismus lebte in ihr. – ‚Wäre ich doch ein Mann, könnte ich doch mithelfen bei der Vernichtung derer, die in freventlicher Ländergier uns überfallen haben!‘ hatte sie mehr als einmal geklagt.

Und nun sandte das Schicksal ihr einen Mann in den Weg, dem anzugehören für ihr ganzes Empfinden fast eine Schmach bedeuten mußte und den sie doch liebte…

Arme Franzi! – Unwillkürlich sprach ich die Worte halblaut vor mich hin.

Ein hartes Auflachen ließ mich zusammenfahren. Ich stand mitten auf der Diele des Gutshauses. Ohne es zu wissen war ich bis hierher gelangt.

Und Anna schaute mich mit sonderbaren Augen an, dicht vor mir stehend.

Wieder kam das harte Auflachen aus ihrer Kehle.

„Er hat ihr ein Gedicht gegeben…“ sagte sie dann. „Ich habe die beiden belauscht. Heute morgen in ‚seinem‘ Arbeitszimmer. Scherbetscheff hat vor ihr auf den Knien gelegen. Sie stieß ihn zurück. Da sagte er, er würde sich töten, wenn sie nicht wenigstens das Gedicht annähme. – Alles verstand ich nicht hinter der Tür. Dann kam sie herausgestürzt, rannte mich fast um, ohne mich zu sehen, lief in den Park…“

Anna sagte das alles, während sie mich, wie der Arzt einen Kranken, musterte… In ihren Blicken lag es wie heimliche Genugtuung. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß ich Franzi liebe, daß ich jetzt litt… Aber – sie litt ja selbst! Mochte es anderen doch ebenso ergehen, mochten andere auch die Qualen der Eifersucht empfinden…

Mit einem Male war sie mir widerwärtig. Haß quoll in mir empor… Ich hätte dieses Frauenzimmer würgen mögen, in deren Augen die Schadenfreude schimmerte, – nicht eine Spur von Mitgefühl…!

Aber – wer war schuld daran, daß das Gute in ihrer Seele erstickte unter der grausamen Enttäuschung, nur zu schnell wie ein Spielzeug beiseite geworfen zu sein…, wer…?! – Ein Mann hatte diese wilde Rose geknickt, und nun zeigte sie jedem ihre Stacheln…

Der Haß erlosch schnell, wie er aufgeflammt…

Ich nickte ihr kurz zu und ging die Treppe empor, verfolgt von ihrem rachsüchtigen, dem ganzen Mannsvolke geltenden Lachen…

Oben in meinem Zimmer saß Willuhn, der Advokatenschreiber, der Wehrmann. Er hielt einen unförmigen, in einen schmutzigen Sack eingehüllten Gegenstand auf den Knien.

Ich ahnte, was er brachte. Und die Notwendigkeit, mich mit ihm beschäftigen zu müssen, lenkte meine Gedanken wohltuend von dem eigenen Herzjammer ab.

 

 

7. Kapitel

Was die Sonne an den Tag brachte.

Von dem eigenen Herzensjammer!

Nun lernte ich ihn also auch kennen…! Und hatte doch damals so kalt, so grausam meine Beziehungen zu jenem Mädchen abgebrochen, als ich feststellte, daß … der goldene Hintergrund fehlte. Kalt und grausam, obwohl ich wußte, daß sie meiner in Sehnsucht gedachte, daß ihre reine Phantasie ihr bereits ein Leben an meiner Seite in beglückenden Bildern vorgegaukelt hatte…

Alles rächt sich auf Erden. Jetzt brachte für die von mir Verlassene ein anderes Weib die Vergeltung.

Doch – fort mit den Gedanken! – Willuhn war da. Und Willuhn war eins der Werkzeuge, um den Nebenbuhler zu vernichten…

Aus dem grauen Sack schälte sich ein Holzkistchen heraus. Doppelt so groß etwa wie eine Zigarrenkiste.

Ich schloß die Tür nach dem Flur ab. Und der Advokatenschreiber breitete die für den Kriegsgefangenen Scherbetscheff bestimmten Gaben auf dem Tische aus: ein Päckchen mit dreihundert Zigaretten, zwei rotbraune Dauerwürste mit runzliger Oberfläche, ein Paket harter, runder Kuchen und eine Blechdose mit Schmalz.

Selten ist wohl einer Liebesgabensendung so viel Aufmerksamkeit gewidmet worden wie dieser.

Eine halbe Stunde prüfte ich Stück für Stück. Auch das Kistchen wurde beklopft, dann sogar auseinandergenommen. Das Schmalz wurde herausgekratzt, wieder in die Büchse getan. Die Würste zerschnitt ich in handbreite Stücke.

Nichts – nichts…

„All das hab’ ich auch schon probiert, Herr Doktor,“ meinte Willluhn. Er wollte wohl andeuten, daß ein studierter Herr auch nicht klüger sei als er selbst.

Der durch das eine der Fenster hereinflutende Sonnenschein lag mit breiter, leuchtender Bahn jetzt gerade auf dem Tische. Matt – fettig glänzten die runzeligen Därme der zerteilten Würste.

Mit gekrauster Stirn schaute ich auf den umherliegenden Inhalt des Kistchens. Ich ärgerte mich über des Advokatenschreibers Bemerkung. Ich war gereizt. Vielleicht hatte er sich bei seinen Worten nichts gedacht. Aber in meiner Stimmung schob ich ihnen eine besondere Absicht unter.

Da – meine Augen wurden starr. Vor meinen Blicken begab sich ein Wunder.

Prall lag die Sonne auf den Wurststücken. Und da, wo sie hintraf, vollzog sich das Wunder.

Auf der runzeligen Haut erschienen in goldgrüner Farbe Zahlen, eine unter der anderen…

Ein befreiendes Lachen kam aus meiner Kehle.

Willuhn hatte noch nichts gesehen.

„So – Sie haben all das schon probiert, Mann?“ fragte ich triumphierend. „Alles…? – Ich denke, doch nicht alles. – Die Sonne bringt es an den Tag! Das ist der Witz!“

Und ich zeigte auf die goldgrünen Zahlen.

Seine Augen quollen förmlich im Kopfe.

„Heiliger Anton!“ sagte er nur. – –

Das Wunder war nichts als ein chemischer Kniff. Die Zahlen waren mit einer besonderen Tinte, die nur in der Sonne sichtbar wurde, außen auf die Würste in langen Reihen, in denen wieder kleine Abstände die einzelnen zusammengehörigen Wortziffern abtrennten, untereinander geschrieben.

Ich stellte fest, daß die Schrift im Schatten nach kurzer Zeit wieder verschwand und daß auch Wärme sie nicht hervorbrachte, – nur die Sonnenstrahlen.

Wieder eine halbe Stunde später hatte ich die Zahlen sorgfältig abgeschrieben. Es waren arabische. Dort, wo der Anfang der Geheimschrift war, stand ein besonderes Zeichen – das Doppelkreuz der russischen Kirche.

Auch die Kiste und die anderen Gegenstände wurden der Sonne zur Prüfung übergeben. Aber nichts fand sich heraus. Nur die Wursthaut, die sich leicht abziehen und verbergen ließ wie Pergamentstückchen, war als ‚Briefpapier‘ benutzt worden.

Willuhn zog mit dem Sack und dem Kistchen ab. Die Würste sollten Scherbetscheff nicht vorenthalten werden. Es würde ihn mißtrauisch machen, wenn er die gewohnte Gabe vermißte. Jedes Paket an ihn hatte ja zwei solcher Würste enthalten.

Ich setzte mich an den viereckigen Tisch vor dem zweiten Fenster, den ich mir als Schreibtisch hergerichtet hatte. Ich beherrschte das Russische vollkommen. Und als Astronom bei den schwierigen Berechnungen hatte ich mich zum Zeitvertreib auch vielfach mit der Lösung von Chiffreschriften beschäftigt.

Aber meine Hoffnung, gleich heute den Schlüssel für dieses System zu finden, mit dessen Hilfe dem Chemiker aus Moskau geheime Nachrichten zugingen, erfüllte sich nicht.

Bis kurz vor dem Mittagessen saß ich und probierte dies und das, bedeckte ganze Bogen mit Zahlen und russischen Buchstaben, zeichnete mir Netzquadrate, trug darin Zahlen- und Buchstabenreihen ein – alles vergeblich.

Das Gesicht glühte mir noch vor Eifer, als ich zu Tisch hinunterging.

Ich kam etwas zu früh. Schmechting sei noch auf dem Felde, erklärte der Zigeuner Malotka, der mit Frau Werner im Speisezimmer im Erker stand. Diese beiden Menschen steuerten einer Verlobung mit vollen Segeln entgegen. – Viel Vergnügen, Herr Malotka…! –

Franzi fehlte auch noch. Als sie dann, eine Kompottschüssel in Händen, eintrat, und ich sie begrüßte, wichen ihre Augen den meinen ängstlich aus.

Ich hatte nichts anderes erwartet. –

Noch nie hatte sie so schön ausgesehen wie heute. Seelenschmerz, Schwermut und etwas wie schwärmerische Träumerei prägten sich deutlich auf ihrem Antlitz, in dem Blick ihrer Augen aus. Es hätte ein großer Künstler dazugehört, dieses Gesicht auf der Leinwand festzuhalten.

Schmechting kündigte sein Nahen schon von weitem durch seine dröhnende Stimme an.

„Zum Teufel, machen Sie keine Geschichten,“ hörten wir ihn im Musikzimmer rufen. Dann trat er ein, indem er Scherbetscheff am Ärmel vorsichher schob.

„Dieser Mensch, der meine Bücher und Rechnungen tadellos wie ein gerichtlich bestellter Konkursverwalter in Ordnung gebracht hat, will durchaus heute wieder seine Gefangenenkost im Inspektorhause fressen! Mann, dort gibt es Kohlrüben mit Hammelfleisch, hier Rinderfilet! Ist da die Wahl so schwer?! – Vorwärts, setzen wir uns. Ich habe einen Mordshunger.“

Wie immer führte er auch heute bei Tisch das Wort. Die schwarze Jutta bediente jetzt stets. Anna war in die Küchenregion und in die Plättstube verbannt.

Schmechting erzählte, daß von dem Nachbargut Dorschewo zehn russische Gefangene, die dort gearbeitet hatten, in der vergangenen Nacht entwichen seien.

„Ihre Landsleute sind verrückt, Scherbetscheff,“ wandte er sich an den Chemiker. „Haben sie’s hier nicht ganz gut?! Was fehlt ihnen hier?! Kommen sie nach Rußland zurück, steckt man sie wieder ins Heer und gibt ihnen Gelegenheit, sich für die Knutenregierung totschießen zu lassen. Die Kerle sind glatt blödsinnig!“

Scherbetscheff lächelte.

„Es ist die Sehnsucht nach Weib und Kind, nicht Vaterlandsliebe, Herr Schmechting. Was weiß der russische Mann bei uns überhaupt von seinem Vaterlande?! Nichts. Er kennt nur den Steuereintreiber, nur die Polizei. Das ist das, woran er sich bei dem Worte Rußland erinnert. – Nein – bei diesen Fluchtversuchen spricht dasselbe Gefühl mit, das in Verein mit dem Hunger stets als eins der beiden treibenden Momente des Daseins genannt wird: die Liebe!“

Er war schon wieder der fanatische Volksredner, wie er das so mit hohem Schwung, bitter ironisch zum Teil, zum Teil mit weichem Schmelz, sagte.

Und bei dem Wort ‚Liebe‘ hatten seine glühenden Augen blitzschnell Franzi gestreift.

Ich hätte ihm in diesem Augenblick mit noch größerer Wollust an die Kehle fliegen können als vorhin der weit harmloseren, armen Anna. Dieser Schuft – wie er sein Handwerk verstand…! Wie er Franzi die helle Glut ins Gesicht trieb…!

Ein verlorener Sonnenstrahl, der sich draußen durch die Blätter der Bäume hindurch gestohlen hatte, tanzte als heller Fleck auf Franzis Haar wie ein Glorienschein.

Sonnenstrahl…! – Warte, Boris Scherbetscheff, – die Sonne hat es an den Tag gebracht…! Wer weiß, wie lange du dich hier noch dieser mehr als halben Freiheit erfreust und Unheil stiftest…! – –

Nach Tisch ging ich hinaus an den Weiher. Ich hatte mich dort mit Willuhn verabredet.

Der Advokatenschreiber angelte wieder.

„Also in dieser Nacht legen wir uns bestimmt auf die Lauer, Herr Doktor?“ meinte er, nachdem ich ihm erzählt hatte, daß die Chiffreschrift ihre Geheimnisse vorläufig noch nicht hergeben wolle.

„Bestimmt! Es wird eine warme Nacht werden. Die letzten waren mir zu feucht und zu kühl.“ – –

Abends gegen halb zehn Uhr erklärte ich Schmechtings, mit denen ich vor der Haustür unter den Kastanien saß, ich fühle mich sehr abgespannt, verabschiedete mich und ging in mein Zimmer hinauf.

Im Wirtschaftsgarten war um diese späte Stunde nie eine Menschenseele, – falls nicht gerade Anna den Bauernsohn Argad zum Stelldichein bestellt hatte. Ich durfte es daher ruhig wagen, mich an einer Wäscheleine, die Anna mir besorgt hatte, vom Balkon auf den Erdboden hinunterzulassen. Die Leine zog ich mit Hilfe eines dünnen Bindfadens wieder hoch, konnte sie aber jeder Zeit erneut herabholen. Den Bindfaden band ich schräg nach dem Hause zu an eine Rebe des wilden Weinspaliers der Wand fest.

Ich hatte meinen Soldatenmantel übergezogen und die Pistole in der Tasche. Hinter dem Inspektorhause traf ich mit dem Wehrmann zusammen. Dort stand eine invalide Dreschmaschine wohl schon Jahre lang. Disteln hatten sich zwischen ihren Rädern eingenistet. Und in diesem stacheligem Dickicht hatte Willuhn für uns ein Versteck hergerichtet, von dem aus wir die Rückseite des Inspektorhause im Auge behalten konnten. Hier mußte Scherbetscheff auf jeden Fall vorüber. Auf dem Gutshof lagen die drei Hunde in ihren Hütten an langen Ketten. Es waren wachsame Tiere. Den Russen waren sie sehr feindlich gesinnt und rissen sich stets beinahe los, wenn einer der Gefangenen in ihrer Nähe vorüberkam. Deshalb durfte es der Chemiker nie wagen, den Hof in der Dunkelheit zu betreten. Er mußte nach uns zu ins freie Feld zu gelangen suchen. –

Ich schreibe keinen Kriminalroman oder dergleichen, suche keine spannenden Momente herauszuarbeiten. Was ich schildere, ist notwendig, um den Fortgang der Handlung zu verstehen, die sich jetzt mit Riesenschritten der Katastrophe nähert.

Ich fasse mich kurz. Ein berufsmäßiger Schriftsteller hätte jetzt eine Seite damit füllen können, was Willuhn und ich unter der Dreschmaschine zwischen den Disteln trieben, wie uns die Zeit lang wurde, Mücken uns peinigten und so weiter. Ich begnüge mich mit diesen Andeutungen.

Bald verwünschte ich meinen Eifer – meine Eifersucht, besser gesagt, da diese Nachtwache alles andere nur kein Vergnügen war.

Aber – kurz nach Mitternacht kam die Belohnung, kam Scherbetscheff – und zwar tauchte er in einem der … Kellerfenster auf, schob sich gewandt ins Freie, lauschte und glitt an uns vorüber wie ein Schatten. Ehe wir noch aus den Disteln heraus waren, war er in der Dunkelheit in Richtung auf die Ballonhalle verschwunden, und wir hatten das Nachsehen.

Es blieb uns nichts anderes übrig als auf seine Rückkehr zu warten. Zwei endlose, martervolle Stunden vergingen. Die Mücken waren offenbar sehr entente-freundlich gesinnt. Sie richteten uns Gesicht und Hände übel zu.

Scherbetscheff erschien nicht allein. Malotka war bei ihm. Malotka mit einem Dinge in der Hand, das einer großen elektrischen Batterielampe recht ähnlich sah.

Die Schufte hatten also von irgendwo aus nach dem Meere wieder Signale gegeben.

Scherbetscheff kroch in das Kellerfenster hinein, nachdem er sich sehr bieder von seinem Gönner Malotka mit Handschlag verabschiedet hatte. Der Oberinspektor aber ging dann um das Haus herum, um durch den Seiteneingang in seine Wohnung zu gelangen.

„Wir hätten die Kerle festnehmen sollen,“ meinte der vor Eifer förmlich zitternde Advokatenschreiber und Angler leise.

„Das dümmste, was wir hätten tun können,“ knurrte ich und kratzte mir die zerstochenen Hände. „Nein, um die Halunken ordentlich hineinzulegen, müssen wir sie bei Schlimmerem ertappen. Geduld also – trotz der Mücken!“

Wir wußten jetzt immerhin, wie Scherbetscheff aus den Räumen der Gefangenen, die natürlich sämtlich eingeweiht waren, hinausgelangte. Es mußte dort so etwas wie eine geheime Falltür in den Dielen des Fußbodens geben, durch die er in den Keller hinabstieg. Diesen Weg konnte nur Malotka vorbereitet haben, ehe noch die Gefangenen in Lankenau eintrafen. Er hatte ja auch für deren Unterbringung gesorgt. Mithin steckte er schon lange mit den Landesfeinden unter einer Decke. – –

Am nächsten Mittag wußte Schmechting zu erzählen, daß abermals ein Dutzend Russen entwichen seien.

„Die Luftschiffe helfen also auch ‘n Dreck!“ meinte er. „Die Schweinerei ist dieselbe geblieben wie vorher. Ich wette, daß wieder U-Boote an der Küste die Kerle aufgenommen haben.“

Worauf Malotka sagte:

„Ohne Frage, Herr Schmechting! – Es ist ein Skandal, daß man nicht herausbekommt, wie die ganze Geschichte befingert wird.“

 

 

8. Kapitel

Warum ich Pestöni alles sagte.

Acht wunderbare Sommertage folgten.

Was nützte mir der Sonnenschein, der durchsichtig klare Himmel?! Ich ging umher wie ein Blinder, ich lebte nur dem, was ich Ehrenpflicht gegen mein Vaterland nannte, und was doch nur niedrigster Rachedurst gegen Scherbetscheff war, der mir Franzis Liebe gestohlen hatte. Alle meine Gedanken galten der Aufgabe, den Chemiker zu überführen, so zu überführen, daß ihm ein halbes Dutzend Kugeln sicher war. Und dieser Rachedurst war so gewaltig, daß er sogar den Schmerz über meine vernichteten Herzenshoffnungen betäubte. –

Anna war eine vorzügliche Spionin. Am Abend wußte sie mir die große Neuigkeit zu berichten, daß das Fräulein Franzi auch nicht viel besser sei als alle anderen Weiber. Mit behaglicher Breite erzählte sie, wie sie am Nachmittag gegen sechs Uhr Franzi und Scherbetscheff nachgeschlichen sei, die in den Park gegangen wären. Im ‚Panwiljohn‘ habe er ihr dann eine wilde, feurige Liebeserklärung gemacht, und sie habe sich ihm an die Brust geworfen und ‚rein vor Freude‘ geweint. Und geküßt hätten sie sich – geküßt…! Das Fräulein Franzi sei ‚wie eine aus dem Theater‘ gewesen. – Was Anna damit so recht meinte, weiß ich heute noch nicht.

Ich war jedenfalls so bestürzt, daß ich sie stehen ließ und schnell davonhumpelte. Meinen Spazierstock brauchte ich jetzt nicht mehr. Das Humpeln war fast ein Laufen.

Ganz erschöpft sank ich auf die Bank in der Laube des Gemüsegartens.

Ich hätte nie dulden dürfen, daß es zwischen den beiden so weit kam …, nie! Franzi hätte gewarnt werden müssen! Aber – konnte ich ahnen, daß in diesem jungen Weibe eine solche Leidenschaftlichkeit schlummerte, daß sie in dem Kampfe so bald unterliegen würde…?! Aufgewachsen in diesem verfluchten Hause, wo sie täglich Gelegenheit hatte zu beobachten, welche Rolle ungezügelte Begierden im Leben der Menschen spielten, wie der eigene Vater, dieser kraftstrotzende, sieghafte Mann, das Dasein genoß ohne jede Rücksicht auf das Getuschel ringsum, mußte ihre Seele einerseits mit heftigem Abscheu gegen dieses Treiben erfüllt, dann aber auch langsam vergiftet werden… – Wäre sie eine kühle Natur gewesen, hätte nicht vom Wesen des Vaters in den Tiefen ihres Herzens ein vielleicht durch strenge Selbstzucht bisher gebändigtes unheilvolles Erbteil geschlummert, würde ihre Phantasie sich vielleicht nie näher mit den alle Schranken niederwerfenden menschlichen Instinkten beschäftigt haben. So aber war das Gift in ihr Herz gekommen, eine wohl krankhafte Sehnsucht nach Erleben, Genießen. Krankhaft…! Wie hätte sonst wohl sie, die aufrichtige, ehrliche, in diesem Ringen mit besserer Einsicht so schnell auf jeden Widerstand verzichten können…!

Ich hätte sie warnen müssen! – Wirklich – warnen?! Und, was würde das genützt haben?! Würde ich dadurch das Unheil verhindert, würde ich nicht dadurch die heilige Mission dem Vaterlande gegenüber – ich Heuchler nannte es vor mir tatsächlich so! – gefährdet haben?! Ein liebendes Weib, das den Mann ihres Herzens in Gefahr sieht, ist eine schlechte Mitwisserin von so gefährlichen Geheimnissen, wie ich sie kannte, gab ich mir selbst zu bedenken. Franzi würde Scherbetscheff alles weiter berichten, er würde sich in Sicherheit bringen, und die weitverzweigten Fäden dieser Organisation zur Befreiung von Kriegsgefangenen würden nie entwirrt werden…

Eine halbe Stunde hatte ich in der Laube gesessen und gegrübelt. Als ich mich erhob, war ich entschlossen, das Liebespaar nicht zu stören. Was ging mich schließlich Franzi an! Die Interessen des Vaterlandes standen höher als das Seelenheil einer einzelnen Frau! – Diesen einen Satz türmte ich wie einen Wall vor meinem Gewissen auf.

Beim Abendessen war die ganze Umwelt offenbar für Franzi nicht vorhanden. Ihr Gesicht, ihre Augen strahlten wie verzückt.

Ich war froh, als ich gleich nach Tisch unter einem Vorwand mich entfernen konnte. Franzis Anblick bereitete mir Qualen.

Willuhn und ich lagen nachts wieder in den Disteln. Ich hatte mir Gesicht und Hände mit Nelkenöl eingerieben – gegen die Mücken. – Es ereignete sich nichts. Auch in den drei folgenden Nächten nicht.

Am nächsten Morgen hatte Franzi verweinte Augen, sah wie eine Kranke aus. Ich traf wohl das richtige, wenn ich annahm, daß in der Einsamkeit ihres Zimmers das Gewissen bei ihr erwacht war, daß sie nochmals schwer mit sich gerungen hatte. – Sie wich Scherbetscheff bis zum Mittagessen ängstlich aus. Und dann bei Tisch bat sie Schmechting, er möge ihr erlauben, für einige Zeit nach der Großstadt zu einer Freundin zu fahren.

Schmechting sagte kurz ‚meinetwegen‘. Er war froh, wenn er die lästige Aufpasserin loswurde.

Franzi blieb. Scherbetscheff war mit ihr nachmittags im Musikzimmer eine Stunde allein, spielte ihr auf dem Flügel traurig sehnsuchtsvolle Volkslieder seiner Heimat vor. Er wußte, wie man Weiber umgarnt.

Abends kamen ein paar Luftschifferoffiziere. Franzi schützte Kopfschmerz vor und zog sich zurück. Es wurde unten im Salon ein tolles Zechgelage. Ich drückte mich früh. Auf der Diele flüsterte Anna mir zu, ‚die beiden‘ seien im Park. Ich schlich ihnen nach, fand sie an einer versteckten Stelle am Ufer des Weihers, erlebte gerade noch, wie der Russe für heute Abschied nahm.

Sie hing an seinem Halse, ließ ihn nicht los. Dann kam er dicht an mir vorüber. Ich hörte, wie er ein paar Worte vor sich hin murmelte, häßlich auflachte – wie ein Teufel…

Franzi sah täglich bleicher, hohlwangiger aus. Aber in ihren Augen brannte die Glut weiter. Doch auch Spuren von Tränen bemerkte ich zuweilen darin. Ganz hatte der Seelenkampf noch nicht aufgehört. Halbe Tage floh sie Scherbetscheff, um dann wieder Stunden in seiner Gesellschaft zuzubringen.

Ihr Antlitz wurde schmal – beängstigend schnell. Selbst Schmechting fiel es auf.

„Bist du krank?“ fragte er sie einmal.

Sie verneinte errötend.

Sie war jetzt freundlicher ihrem Vater gegenüber. Vielleicht hatte sie gelernt, für ihn Entschuldigungsgründe zu finden, obwohl er sich weniger Zwang denn je auferlegte und die schwarze Jutta bei Tisch förmlich mit Blicken verschlang.

Franzis Liebe war ein beständiges Leid. Das merkte ich sehr wohl. Nur wenn Scherbetscheff bei ihr war, wenn sie ihn mit Liebkosungen überschütten konnte – auch solche Szenen belauschte ich oft! – war diese Liebe ein Scheinglück.

Franzis Herz war krank. Das Bewußtsein, ein Unrecht zu begehen, lag in ewigem Streit mit der Sehnsucht nach dem Geliebten. Sie hätte oberflächlicher sein müssen, um nicht diesen fortwährenden seelischen Erregungen, diesen zwiespältigen Gefühlen, anheimzufallen.

Sieben von den wunderbaren Sonnentagen waren dahin.

Ich war in dieser Zeit ein besserer Heuchler gewesen als Franzi, ließ mir nichts anmerken – nichts! Sie dagegen war mir gegenüber immer scheu. Sie wußte wohl, welche Hoffnungen ich an ihre Person geknüpft hatte, dachte, diese Hoffnungen lebten noch immer. Und ich tat ihr leid. Manchmal war sie aber auch sehr herzlich zu mir. Vielleicht aus Berechnung, damit kein Argwohn in mir aufkeime.

Am achten dieser mit Sonnenglanz erfüllten Tage spielte ich wieder am Vormittag den Lauscher. Franzi und Scherbetscheff saßen im Park auf einer Rasenbank in einem unzugänglichen Dickicht. Sie hatten gelernt, sich mit ihrer Liebe gut zu verkriechen.

Ich war so nahe, daß ich jedes Wort verstand.

Sie hatte heute wieder Anwandlungen von Gewissensbedenken.

„Es muß ein Ende zwischen uns haben – muß! Eines Tages werde ich fliehen vor dir… Ich zermartere meine Seele. Mein Herz stirbt… In der Stadt bin ich sicher vor dir. Du kannst mir nicht folgen…“

Sie weinte.

Ich sah sein Gesicht. Ein höhnisches Lachen entstellte es zur Fratze, wie er sie jetzt von der Seite anschaute.

Da zerriß der letzte Vorhang, der mir die volle Wahrheit noch verhüllt hatte.

Er liebte sie nicht… Er spielte mit ihr ein freventliches Spiel… – Aber, was wollte er von ihr, was – was, welchen Zweck hatte diese verabscheuenswürdige Komödie…?!

Er zog sie an sich. Seine Stimme war wie der weiche Klang eines Cellos…

„Fliehen?! Vor mir, Franzi?! – Du kannst es nicht! Du würdest nach drei Tagen wieder hier sein…“

Er küßte sie. Da lachte sie jubelnd…

„Ich glaube es selbst… Ich würde am nächsten Tage schon zurückkehren. Die Sehnsucht würde mir keine Ruhe lassen…“

Seine Zärtlichkeiten schienen heute matter als sonst zu sein.

„Was hast du nur, Boris…?!“ klagte sie. „Du bist so zerstreut, so anders…“

„Ich habe eine Bitte, Franuschka. Aber ich weiß nicht, ob ich dich damit belästigen darf, ob du mich verstehen wirst…“

„Ich dich nicht verstehen…! Oh Boris – ich, deren Herzschlag nur dir gehört…!“

Er schaute nachdenklich vor sich hin. Ihr Kopf lag an seiner Brust. Den Ausdruck seines Gesichts sah sie nicht.

Aber ich sah genug, übergenug. In seinen Augen war alles andere als Liebe. Kühle, listige Berechnung – kein warmer Schimmer…

„Du weißt, wie sehr ich das Meer liebe. Gerade in den Sommernächten, wenn der Mond es mit Silberlicht übergießt, ist es am schönsten. Aber mir ist es verwehrt, diesen Anblick zu genießen. Abend für Abend sperrt man uns ein wie die … Sträflinge.“

„Es entfliehen so viele Gefangene,“ verteidigte sie leise diese Maßnahme. „Aber gerade bei dir ist es unnötige Härte,“ fügte sie schnell hinzu. „Du würdest bei mir bleiben, immer – immer… – Du tust mir so leid. Aber ich kann dir nicht helfen.“

Hohn verzog seinen Mund.

„Doch – du kannst mir helfen.“ Das Cello klang wieder.

„Wie sollte ich das wohl, Boris?!“

Er preßte sie fester an sich.

„In den Nächten, wenn das Luftschiff seine Patrouillenfahrten unternimmt, sind unsere Wächter weniger aufmerksam. Dann könnte ich für einige Stunden ins Freie, ohne daß jemand etwas merkt. Aber ich müßte vorher genau wissen, ob eine Fahrt geplant ist.“

Sie lächelte ihn glücklich an.

„Oh – wenn es weiter nichts ist, Boris… Dieser oder jener von den Offizieren der Luftschifferabteilung ist ja täglich bei uns zu Gast. Von denen werde ich schon herausbringen, ob du dich sicherfühlen kannst. Außerdem denke ich eben an Doktor Trebra. Er weiß auch stets Bescheid, sogar am allerbesten, da er doch die Wetterwarte unter sich hat.“

Scherbetscheff küßte sie stürmisch.

„Hab’ Dank, Liebling! – Ja – und besonders ungefährlich wäre es, wenn mal beide Luftschiffe gemeinsam ausfahren. Also – richte dich danach…“

„Wie, du weißt, daß zwei Schiparskis in der Halle sind? Das sollte doch streng geheim bleiben.“

„Durch einen Zufall hörte ich es. – Wie wirst du mir nun aber Mitteilung zugehen lassen, wenn du erst abends etwa Kenntnis von einer geplanten Ausfahrt erhältst und du mich nicht mehr erreichen kannst?“

„Ja, wie – wie?!“

Sie schien angestrengt nachzudenken.

„Zerbrich dir nicht den Kopf, Liebling… Ich weiß schon einen Ausweg. Befestige außen am Fensterkreuz deines Zimmers im ersten Stock möglichst hoch oben ein Taschentuch. Ich werde mich dann schon, bevor wir eingeschlossen werden, davon überzeugen, ob es da ist oder fehlt. Wenn das Tüchlein am Fenster hängt, steht eine Patrouillenfahrt bevor. Zwei Tüchlein sollen anzeigen, daß beide Schiparskis unterwegs sein werden.“

„Ja. Liebster, das ist am einfachsten. Du kannst dich auf mich verlassen, unbedingt. – Ach, wie gern würde ich einmal mit dir zusammen nachts bei Mondschein am Strande sein. Auf der Falkenklippe, unter sich die rauschende, schimmernde See, muß es herrlich sein…“

Ein finsterer Schatten lief über des Russen Gesicht hinweg. Und doch sagte er:

„Ja – es müßte schön sein…“

„Vielleicht könnte ich dich einmal begleiten, Boris. Wenn du ein Steinchen an mein Fenster würfest… Ich würde es wohl hören. Aber – du sollst dich deshalb keiner Gefahr aussetzen…“

„Ich werde sehen, Franuschka, ob es sich wagen läßt…“ – –

Der Schuft – der Schuft! Also deshalb heuchelte er Liebe, deshalb! Franzi war ihm nur Mittel zum Zweck! Sie sollte ihm Nachricht geben, wenn es infolge der Patrouillenfahrten der Schiparskis gefährlich war, daß feindliche U-Boote sich der Küste näherten…! Andererseits erfuhr er auf diese Weise aber auch, wann der Feind vor Überraschungen durch unsere Luftschiffe ganz sicher war. Die Schiparskis hatten sich ja für diesen Dienst vorzüglich bewährt, hatten von der Höhe aus, langsam die Küste entlangfahrend, schon zweimal aufgetauchte U-Boote erspäht und vertrieben. Selbst bei Nacht war mit Hilfe guter Ferngläser von einem Luftkreuzer das Meer leichter zu beobachten als von einem Dampfer aus.

Jetzt durfte ich nicht länger schweigen! Die Offiziere mußten gewarnt werden. Freilich – bloßstellen wollte ich Franzi nicht; ich wollte nur dem Flaggenkapitän von Pestöni alles Wichtige über Scherbetscheff mitteilen und hinzufügen, daß dieser seine Stellung im Gutshause dazu benutzen könnte, Schmechtings vielleicht auszuhorchen, und daß es daher besser wäre, wenn die Offiziere nie ein Wort darüber fallen ließen, was hinsichtlich der Patrouillenfahrten beabsichtigt würde.

Herr von Pestöni war starr, als ich ihn in meine Geheimnisse einweihte.

„Doktor, wer hätte das gedacht! Und dieser verd… Scherbetscheff tut stets so, als ob ihm an Rußland den Teufel was gelegen wäre! Hören Sie, da haben Sie dem Vaterlande ja einen außerordentlich wichtigen Dienst geleistet. Das soll Ihnen nicht vergessen werden!“

Und nach kurzer Pause fügte er hinzu:

„Unter diesen Umständen kann ich ja auch Ihnen gegenüber ganz offen sein. Ich habe unter meinen Leuten zwei Unteroffiziere, die nichts anderes als verkleidete Mitglieder der geheimen politischen Polizei sind und nur zu dem Zweck mit nach Lankenau kamen, um hier das Treiben der bewußten Organisation aufzudecken. Erfolg haben die beiden Herren – es sind sogar höhere Beamte – bisher jedoch nicht gehabt. Nun wird sich das Bild bald ändern! – Warten Sie, ich lasse die beiden gleich holen, damit wir gemeinsam das Nötige besprechen können.“

Diese Unterredung fand in Pestönis Wohnung in der Offiziersbaracke unweit der Luftschiffhalle statt und zwar kaum eine halbe Stunde später, nachdem ich meinen Lauscherposten im Park hatte verlassen können.

Die beiden Geheimkommissare, die im Interesse der Sache hier die Unteroffiziere spielten, ließen sich von mir alles nochmals genau berichten.

Dann bat mich der eine, den ich Müller nennen will, ich solle ihm sofort die Chiffreschrift bringen. Er und sein Kollege Meier seien im Entziffern derartiger Sachen wohl doch geübter als ich.

Manches andere wurde noch vereinbart und so ein Netz um die Schuldigen gezogen, in dessen Maschen sie sich unweigerlich fangen mußten.

Zum Glück gelang es mir, meine Angaben so einzurichten, daß Franzi ganz aus dem Spiel blieb.

Die Beamten hatten sich aber doch verrechnet, was die Schwierigkeiten der Entzifferung der Geheimschrift anbetraf. Obwohl sie den ganzen Nachmittag sich mit dieser Arbeit beschäftigten, kamen sie zu keinem Ergebnis, wie sie mir abends mitteilten, als ich in der Halle nach den meteorologischen Instrumenten sah.

Vier stürmische, regnerische Tage folgten, in denen sich nichts unternehmen ließ. Die Chiffreschrift trotzte den geistvollen Lösungsversuchen nach wie vor. Franzi wandelte jetzt schon bleich wie eine Leiche, aber mit glühenden, flackernden Augen umher. Schmechting blieb blind. Er ahnte nicht, daß sein einziges Kind in den Klauen eines gewissenlosen Schurken langsam verblutete. Er hatte genug mit der schwarzen Jutta zu tun, die ihm hin und wieder die Krallen zu zeigen schien wie eine Katze, die eine Weile mit sich spielen läßt und dann plötzlich beweißt, daß sie auch Launen hat und kratzen kann. Anna hatte für die Umwelt jetzt wenig Interesse. Der Bauernsohn wollte sie schnellstens als braves Eheweib heimführen. Sie hatte also wirklich erreicht, was von vornherein bei dieser Liebschaft mit dem etwas beschränkten Burschen in ihrer Absicht gelegen hatte.

Scherbetscheff war und blieb der fleißige Rechner, der in Schmechtings Arbeitszimmer, eingehüllt in Wolken von Zigarettenrauch, die Bücher in Ordnung brachte und auch den ganzen Schriftverkehr für das Gut erledigte. Sein Verbündeter Malotka schien mit der üppigen Frau Werner bereits einig zu sein. Sie hatte nämlich ihre Stellung zum 1. August gekündigt, ein Beweis, daß sie einen besseren, leichteren Posten in Aussicht und es endgültig aufgegeben hatte, Schmechting nochmals für sich zu gewinnen.

So trieben die Ereignisse in Lankenau langsam der großen Katastrophe zu.

Niemand merkte, daß sich hier besondere Dinge vorbereiteten, am wenigsten die am meisten Beteiligten. Franzi war oft im Arbeitszimmer ihres Vaters, wenn der Russe dort weilte. Des öfteren stellte ich fest, daß die beiden den Riegel der Tür vorschoben, wenn sie Schmechting auf dem Felde wußten.

Und mein Seelenzustand…? In einem Roman würde es heißen:

‚Doktor Trebra verbrachte die Nächte schlaflos. Wahnwitzige Eifersucht quälte ihn ständig. Er magerte zusehends ab. Er aß fast nichts…‘ und so weiter.

Das gerade Gegenteil war der Fall.

Diese Treibjagd auf das menschliche Wild, auf den Mann, den ich mehr wie meinen Todfeind haßte, nahm alle meine Gedanken gefangen. Der Haß war stärker als die Liebe. Erst später, als alles vorüber, kam das Erwachen und die Erkenntnis, was ich verloren hatte.

 

 

9. Kapitel

Der Brillantschmuck.

Am Nachmittag etwa gegen fünf Uhr trat der Witterungsumschlag ein.

Das Gewölk verschwand, der Wind ließ nach. Aber die See tobte noch, und ihr Wüten drang heute als fernes Brausen selbst bis zum Gutshause hin.

Ich wollte mich überzeugen, ob die Instrumente der Wetterwarte eine Fortdauer dieser Wendung zum Besseren verhießen. Unterwegs begegnete mir der Geheimkommissar Müller.

„Ich wollte zu Ihnen, Herr Doktor. Am Vormittag ist wieder ein Paket mit zwei beschriebenen Würsten für Scherbetscheff eingegangen. Willuhn brachte es mir, als ich gerade für die Chiffreschrift den Schlüssel gefunden hatte. Unsere bisherigen Lösungsversuche waren deshalb fehlgeschlagen, weil wir von der unrichtigen Voraussetzung ausgingen, es sei die russische Sprache benutzt worden. Heute versuchte ich’s mit der englischen. Na – und nun wissen wir Bescheid. Die vor einer halben Stunde endlich wieder erschienene Sonne hat uns auch die heute eingetroffenen Chiffremitteilungen lesbar gemacht. – Ich sage Ihnen, Sie werden staunen! – Scherbetscheff ist keineswegs gemeiner Soldat, sondern Hauptmann im russischen Generalstab. Ich wette, daß er, als er der Gefangennahme nicht mehr entgehen konnte, in den Rock eines Gemeinen geschlüpft ist, um seinem Vaterlande besser nützten zu können. Das wird sich ja im einzelnen später herausstellen. Jedenfalls also Hauptmann, verheiratet und jetzt Leiter der Organisation, auf die wir es schon lange abgesehen haben. Und – halten Sie sich fest! – er plant nichts anderes als die Vernichtung der beiden Schiparskis, darauf Flucht mit Hilfe eines U-Bootes. – Was sagen Sie nun?!“

Ich sagte nichts. – Verheiratet…, – arme Franzi!

„Wir müssen jetzt sehr gut die Augen offenhalten,“ fuhr Müller fort, „da der Anschlag gegen die Halle jede Nacht erfolgen kann. – Diese ganzen Kenntnisse verdanken wir … den Wursthäuten.“

Er kicherte in sich hinein.

„Und aus diesen Wursthäuten wird sich wohl noch ein Strick drehen lassen, an dem so einige Leute hier baumeln werden… – Kommen Sie, Herr von Pestöni erwartet uns zum Kriegsrat.“ – –

Beim Abendessen erzählte ich Schmechting, daß wir morgen bestimmt wieder mit schönstem Wetter rechnen könnten und daß Flaggenkapitän von Pestöni daher fürchterlich fluche, weil er trotzdem mit seinem Schiparski 3 zu Hause bleiben müsse.

„Vorläufig ist überhaupt nicht daran zu denken, daß das Luftschiff wieder eine längere Fahrt macht. Der eine Motor ist total kaputt,“ fügte ich hinzu.

Und nachher teilte ich Malotka noch ‚im Vertrauen‘ mit, daß auch das zweite Luftschiff erst gründlich repariert werden müsse.

„Sehr wahrscheinlich werden beide sogar in die große Luftschiffwerft nach der Festung überführt werden müssen,“ sagte ich sehr geheimnisvoll. „Herr von Pestöni will aber nicht, daß dies bekannt wird. Falls das Wetter beständig bleibt, gehen die beiden Schiparskis schon in den nächsten Tagen von hier fort. Dafür sollen dann Torpedoboote den Wachtdienst an der Küste übernehmen.“

Meine Mitteilsamkeit dem Oberinspektor gegenüber war nichts als ein Teil des Feldzugsplanes, den wir heute entworfen hatten. Müller hatte nämlich erklärt, er wolle die Schurken durch die Kunde, die Schiparskis kämen vielleicht für längere Zeit von Lankenau weg, zu schnellem Handeln zwingen, wodurch man der Mühe enthoben würde, vielleicht wochenlang auf der Lauer liegen zu müssen, – ein Gedanke, den ich sehr gut fand.

Es war klar, daß Malotka nichts eiligeres zu tun haben würde als Scherbetscheff von dem in Kenntnis zu setzen, was ich ihm als Ehrenmann im Vertrauen berichtet hatte. Das wollten wir ja auch. – –

Am nächsten Vormittag hatte ich ein scharfes Auge auf Franzi und Scherbetscheff. Ich sagte mir, daß sie den warmen, sonnigen Tag sicher zu einer Zusammenkunft im Park benützen würden, wo sie immerhin noch ungestörter als in Schmechtings Arbeitszimmer waren. Ich hoffte sie wieder belauschen und aus dieser oder jener Äußerung des Russen vielleicht von dessen Absichten der veränderten Sachlage gegenüber schließen zu können.

Ich sah die beiden denn auch gegen zehn Uhr kurz hintereinander im Park verschwinden. Gerade wollte ich ihnen nach, als Anna mich aufhielt, mich in des Gutsherrn jetzt leeres Arbeitszimmer führte und mir hier sehr aufgeregt und sehr schadenfroh erzählte, der Dorfstellmacher Wenzel Klabka, der die schöne junge Frau habe, sei gestern abend ganz plötzlich aus dem Felde auf Urlaub gekommen, habe sein Weib zur Begrüßung furchtbar verprügelt und im Dorfkruge nachher allerlei Drohungen gegen ‚ihn‘ ausgestoßen. Danach stehe es wohl außer Zweifel, daß ein guter Freund von hier aus Wenzel Klabka geschrieben habe, in welcher Weise sein hübsches Weib sich trösten lasse.

Ich wußte genug. Die Frau Klabkas war dieselbe, die Schmechting damals am Tage meiner Ankunft in Lankenau im Gemüsegarten hinter den Büschen geküßt hatte, wie ich vom Balkon aus beobachten konnte.

Eigentlich hatte ich angenommen, daß jetzt die schwarze Jutta uneingeschränkte vorläufige Favoritin bei Schmechting sei. Aber Anna belehrte mich eines besseren. Die Klabka hätte ‚er‘ nie ganz fallen lassen, meinte sie. Das sei der richtige Weibsteufel. Die verstehe es, die Männer zu fesseln. Von der könne man viel lernen.

Anna wollte mir noch mehr mitteilen, ich verzichtete aber auf weiteren Klatsch und eilte den beiden in den Park nach.

Ich hatte Glück. Sie waren wieder an der alten Stelle in dem Dickicht. Ich wußte schon, wo ich am leichtesten und geräuschlosesten eindringen und mich ihnen näheren konnte. Ein Krähenschwarm lärmte über uns so laut, daß ich mich nicht einmal besonders in acht nehmen brauchte. Leider entgingen mir durch das Geschrei der Vögel, die wohl eine Eule aufgestört haben mochten und jetzt belagerten, zunächst einige Sätze der Unterhaltung des ahnungslosen Paares, das wieder eng umschlungen dasaß und sehr leise, aber auch, wenigstens was Franzi betraf, sehr erregt verhandelte.

Jetzt hörte ich Franzi sagen, und der klagende Ton ihrer Stimme schnitt mir tief ins Herz:

„Du mußt mich mitfortnehmen von hier – mußt! Versprich mir das, Boris… Ich ahne, daß du fliehen willst. Ich werde dir gern dabei helfen, soweit ich es vermag, aber verlassen darfst du mich nicht. Ich will dich begleiten… Mir ist es gleichgültig, wohin wir uns wenden. Ich besitze einen von meiner Mutter ererbten Schmuck, der gut achtzigtausend Mark wert ist, – heute wohl noch weit mehr, da Brillanten ja so sehr im Preise gestiegen sein sollen. Und es sind alles ausgesucht schöne Steine…“

„Ein Brillantschmuck? – Davon hast du mir noch nie etwas erzählt, Franuschka. – Achtzigtausend Mark…! Es muß ein sehr schöner Schmuck sein.“

„Vor fünf Jahren wurde er von einem Sachverständigen abgeschätzt. Ich habe ihn in einem Geheimfach meines Schreibtisches. Ich nehme ihn mit. Er ist mein alleiniges Eigentum. – Oh, Boris, du wirst mich nicht verlassen, nicht wahr? Schwöre mir, daß du mich mitnimmst.“

Er küßte sie.

„Franuschka, ohne dich wäre das Leben ja leer und inhaltslos. Du brauchst keine Angst zu haben. Du begleitest mich. Aber sei vorsichtig. Laß niemanden merken, daß du besonderes vorhast. Packe das Allernotwendigste zusammen. Am besten in einen Korb, wie du ihn zum Erdbeerenpflücken benutztest. Dann komme mit dem Korb nachmittags in den Gemüsegarten. Dort verbergen wir die Sachen zunächst in der Laube. Auch den Schmuck. Vielleicht fliehen wir schon in dieser Nacht, vielleicht auch erst morgen. Jedenfalls bleibe heute bis zwei Uhr morgens munter und angezogen. Ich werde dreimal den Ruf eines Käuzchens vor deinem Fenster ertönen lassen. Dann kommst du in die Laube im Gemüsegarten…“

Sie umschlang ihn stürmisch.

„Boris, ich danke dir! Ich wußte, du würdest mich nicht allein lassen… Du darfst es auch nicht mehr. Und sobald wir können, heiraten wir.“

Ich sah ihr tief erglühtes Gesicht. – Der Schurke – der Schurke…! – –

Gleich nach dem Mittagessen eilte ich zu Flaggenkapitän von Pestöni in die Offiziersbaracke.

Ich habe Pestöni damals belogen, um Franzi zu schonen. Daß Scherbetscheff – daran zweifelte ich nach der Art seiner Verabredung mit Franzi nicht! – fliehen würde und zwar sehr bald, mußte Pestöni erfahren. Daher erfand ich ein Märchen, erzählte, ich hätte beobachtet, wie der Russe heute im Arbeitszimmer Schmechtings verschiedene ihm gehörige Kleinigkeiten, die er bis dahin hätte auf dem Schreibtisch herumliegen lassen, eingepackt und mit ins Inspektorhaus genommen habe. Das deute auf eine Flucht hin.

Pestöni gab mir recht. Die beiden Geheimkommissare wurden geholt, neue Maßnahmen vereinbart.

Der eine der Beamten brachte mich dabei in schwere Bedrängnis, als er mich so beiläufig fragte:

„Ich weiß nicht, Herr Doktor, ich habe so den Eindruck, als ob zwischen Scherbetscheff und Fräulein von Schmechting irgendwelche innigen Beziehungen bestehen. Haben Sie etwas davon gemerkt?!

Ich spielte recht gut den Erstaunten.

„Sie müssen sich irren. Ich kann nicht glauben, daß …“

„Schon gut, schon gut!“ unterbrach er mich. „Ich habe ja auch keinerlei Beweise. Nur jenes instinktartige Vermuten war’s, das Leute meines Berufes oft besitzen.“

Da mengte sich Pestöni ein.

„Na, so ein kleiner harmloser Flirt wird zwischen den beiden doch wohl im Gange gewesen sein. Der Kerl, der Scherbetscheff, ist ja auch die richtige Romanfigur für Weiberherzen.“

Zum Glück wurde dieses Thema nicht weiter erörtert.

Ich saß dabei wie auf glühenden Kohlen und war froh, als wir wieder auf die beste Art der Bewachung der Ballonhalle zu sprechen kamen. Daß der Russe versuchen würde, die Luftschiffe noch vorher zu vernichten, war ja mit größter Sicherheit anzunehmen.

Hinter den Vorhängen des einen Fensters meines Wohnzimmers verborgen beobachtete ich am Nachmittag dann, wie Franzi tatsächlich mit einem Korbe den Gemüsegarten betrat. Scherbetscheff war schon vorher nach der Laube geschlichen. Nach einer halben Stunde erschien Franzi wieder und verschwand im Hause, nachdem sie noch einige Erdbeeren gepflückt hatte.

Auch der Russe entfernte sich gleich darauf in der Richtung nach dem Inspektorhause über die Felder.

 

 

10. Kapitel

Die rote Nacht.

Wäre ich Berufsschriftsteller und wollte ich lediglich einen Spionageroman schreiben, so hätte ich jetzt, wo die Ereignisse so weit gediehen, die beste Gelegenheit zwei Kapitel mindestens mit einer fraglos sehr spannenden Schilderung der Vorgänge der kommenden Nacht zu füllen, ohne etwas der Wahrheit hinzudichten zu brauchen.

Aber ich als Laie muß mich kurz fassen. Spannnde Momente herauszuarbeiten, würde mir auch wohl kaum glücken. Dazu fehlt es mir an Übung, – Routine nennt man das mit einem kennzeichnenden Fremdwort. –

Gleich nach dem Abendessen sagte Franzi ihrem Vater und mir gute Nacht. Sie hätte wieder Migräne.

Schmechting küßte sie auf die Stirn. Das beobachtete ich heute zum erstenmal. Das Verhältnis zwischen beiden war ja sichtlich besser geworden.

Als Franzi draußen war, meinte er etwas besorgt:

„Ich finde, das Mädel sieht wie eine wandelnde Leiche aus, der das Fieber in den Augen flackert. Und eiskalte Hände hat sie…, brrr! Ich liebe kalte Hände nicht. – Morgen schreibe ich nach Bolanka an den Professor Martinig. Der soll sofort herkommen und Franzi mal gründlich untersuchen. So geht das nicht weiter.“

Um halb zehn Uhr wurde er unruhig.

„Ich muß noch mit Malotka etwas besprechen. Es wird wohl ziemlich lange dauern. – Gute Nacht, Doktor.“

Der Händedruck, den wir austauschten, war der letzte in diesem Leben…

Um halb elf lag ich neben Müller schon in den Disteln unter der Dreschmaschine.

Daß Schmechting zu Malotka wollte, hatte er mir nur vorgeredet. Müllers überall verteilte Posten hatten beobachtet, daß der Gutsherr auf großen Umwegen sich auf das Dorf zupirschte. – Hm – ob er es etwa wagte, die hübsche Frau Klabka wegen der Tracht Prügel zu trösten, die der von der Front heimgekehrte Gatte ihr mit Recht verabreicht hatte, – zu trösten, obwohl Wenzel Klabka mit sich nicht spaßen ließ…?!

Um elf Uhr erschien Malotka in einem grauen Staubmantel, unter dem er etwas wie einen Kasten verborgen hatte.

Ich ahnte, daß es die stark leuchtende elektrische Lampe war. Müller war derselben Ansicht.

Ich blieb liegen, während der Geheimkommissar die Verfolgung des Oberinspektors aufnahm.

Eine Stunde verging. – Die Nacht war warm, sternenklar und hell. Ringsum zirpten die Grillen. Leuchtkäfer flogen hin und her. Ein Iltis besuchte mich in meinem Versteck und floh entsetzt davon, als er den menschlichen Feind erkannte. Die Mücken waren wieder zahlreich vertreten. Aber das Nelkenöl hielt sie mir vom Leibe.

Dann tauchte Malotka, vom Strande kommend, wieder auf. Und gleich darauf schob sich lautlos auch Müller an meine Seite, flüsterte mir zu, daß der Inspektor wirklich auf das Meer hin Lichtsignale gegeben habe, die von dort erwidert worden seien.

Malotka hatte sich in den Schatten der Rückwand des Inspektorhauses gestellt und wartete dort, nachdem er die elektrische Lampe in eins der Kellerfenster geschoben hatte. Sehr bald kletterte dann aus einem anderen Fenster des Kellergelasses Scherbetscheff heraus. Er hatte einen länglichen Kasten in der Hand, mit dem er sehr vorsichtig umging.

Beide schlugen die Richtung nach der Ballonhalle ein.

Wir natürlich in vorsichtigem Abstand hinterdrein.

Die Schurken fingen die Sache sehr schlau an. Während Malotka den Posten, der die Halle umkreiste, in ein Gespräch verwickelte, schlich Scherbetscheff sich von der anderen Seite näher und schob den mitgebrachten Kasten – eine Höllenmaschine mit einem Uhrwerk, die nach einer Stunde explodiert wäre und unfehlbar die Halle und die Luftschiffe vernichtet hätte – durch ein Luftloch in die Ballonhalle hinein.

Wir störten die Schurken nicht, die sich nachher wieder, von uns weiter verfolgt, in der Nähe des Inspektorhauses zusammenfanden. Wußten wir doch, daß andere Augen über die Luftschiffe wachten: Herr von Pestöni und die anderen Offiziere, die in guten Verstecken überall verteilt gewesen waren und die dann auch tatsächlich die Höllenmaschine sofort unschädlich machten.

Malotka und Scherbetscheff gaben den im Hause eingeschlossenen Gefangenen nun ein Zeichen, auf das hin die Leute einzeln aus dem Kellerfenster herauskletterten.

Die weiteren Absichten der beiden waren klar: der angebliche Chemiker und die Gefangenen wollten noch in dieser Nacht entfliehen!

Müller schickte mich nun nach der Ballonhalle, um die Soldaten zu alarmieren. Ich sollte diese und die Offiziere nach dem Strande führen und zwar an eine Stelle östlich der Falkenklippe, von wo aus Malotka vorhin die Lichtsignale gegeben hatte, so daß anzunehmen war, daß dort auch das U-Boot ein Beiboot an Land senden würde, welches die Flüchtlinge aufnehmen sollte.

Die Soldaten waren für alle Fälle bereitgehalten worden. Nur mit Gewehr und Seitengewehr bewaffnet, ohne Gepäck, daher leicht beweglich, eilten wir, im ganzen dreißig Mann stark, darunter vier Offiziere, im Laufschritt durch eine Talsenkung dem Meere zu, wo Herr von Pestöni seine Leute sehr geschickt aufstellte, Stille befahl und dann mit mir einen Hügel erkletterte, um rechtzeitig das Nahen der Gefangenen feststellen zu können.

Wir brauchten nicht lange zu warten.

In der Ferne schob sich eine lange Linie von undeutlichen Gestalten näher dem Strande zu. Mein Herz klopfte wie ein Hammerwerk. – Würde Franzi dabei sein?! – Ich glaubte nicht recht daran! Was sollte Scherbetscheff wohl mit ihr beginnen, er, der verheiratet war…?!

Die Flüchtlinge kamen etwa fünfzig Meter links von uns vorüber. Eine Frau befand sich nicht bei ihnen.

Ich atmete auf.

Inzwischen war trotz der noch recht starken Brandung auch ein Boot gelandet, in dem drei Leute die Riemen geführt hatten, während ein vierter am Steuer saß. Die vier hatten ihr Fahrzeug ein Stück auf den Strand gezogen. Sie schienen sich sehr sicher zu fühlen, wußten wohl, daß sie keine Überraschung zu fürchten brauchten. Von dem U-Boot selbst war nichts zu sehen. Es mußte recht weit in See liegen.

Nun waren die Flüchtlinge dicht am Ufer. Scherbetscheff eilte voraus und tauschte mit den Bootsleuten ein englisches Erkennungswort aus.

Pestöni gab den Seinen jetzt das Zeichen zum Vorstürmen und Einkreisen der Gefangenen. Es glückte vollkommen. Nur Scherbetscheff versuchte in dem Boot zu entrinnen. Es gelang ihm nicht.

Ich müßte lügen, wenn ich hier diese Szene als besonders wildbewegt schildern wollte. Alles klappte so vorzüglich, daß niemand von den Feinden an Gegenwehr dachte, die ja auch ein heller Wahnsinn gewesen wäre.

Malotka befand sich nicht bei dem Trupp. Er hatte seine Schuldigkeit getan und war daheim geblieben.

Scherbetscheff wurde als einziger gefesselt. Dann trat man den Rückmarsch nach der Ballonhalle an.

Plötzlich machte uns einer unserer Soldaten auf einen Feuerschein aufmerksam, der in der Richtung des Gutes aufleuchtete. Bald wußten wir, was geschehen: die Gefangenen hatten die Wirtschaftsgebäude in Brand gesteckt, – auf Befehl Scherbetscheffs, wie sich später herausstellte. –

Es wurde eine Nacht, die ich nie vergessen werde, nie!

In der Nähe der brennenden Scheunen und Ställe traf ich, der ich den anderen vorausgeeilt war, mit Franzi zusammen. Malotka und ein paar Weiber aus dem Dorfe standen neben ihr.

Das Feuer prasselte, Funkengarben sprühten auf, kläglich blökte das Vieh, das nachher dank der Hilfe der Soldaten noch gerettet wurde. Alles hatte hier den Kopf verloren. Auch Malotka spielte den vor Entsetzen keines Wortes, keines Entschlusses Fähigen.

Franzi kam mir entgegengelaufen. Ihr weißes Gesicht war vom Widerschein des Brandes in rosige Glut getaucht.

„Herr Doktor – wo mag nur der Vater sein,“ jammerte sie unter würgenden Tränen.

Ich führte sie etwas abseits.

„Kehren Sie ins Gutshaus zurück, Fräulein Franzi,“ bat ich eindringlich. „Diese Nacht ist nichts für Sie … Sie sind schon seit Tagen krank. Man sah es Ihnen ja nur zu deutlich an. – Kommen Sie – ich bringe Sie hin.“

Ich wollte nicht, daß sie der Verhaftung Malotkas beiwohne. Allmählich gedachte ich sie vorzubereiten auf das Furchtbare, das sie erfahren mußte.

Aber sie blieb. Ich hatte keinen Einfluß auf sie.

Dann kamen Pestöni und die Soldaten, auch die beiden Geheimbeamten. Die Gefangenen wurden in einer Baracke scharf bewacht.

Kommissar Müller trat auf Malotka zu.

„Ich verhafte Sie wegen Landesverrats,“ sagte er kalt.

Aber Flaggenkapitän von Pestöni vermochte sich nicht so gut zu beherrschen.

„Schuft, käuflicher Schurke, all deine Schandtaten sind aufgedeckt, und dein Freund Scherbetscheff soll mit dir zusammen vor die Gewehre!“ brüllte er ihn an, indem er ihm ins Gesicht spie.

Franzi flog herbei. Der eine Name wirkte wie ein Magnet.

„Herr von Pestöni, was geht hier vor?“

Und Pestöni sprudelte in einem Atem alles heraus, was sich in dieser Nacht bereits ereignet hatte.

Die rote Glut des Brandes beleuchtete mit unheimlichen Lichteffekten unsere Gruppe.

Franzi stand mit weitaufgerissenen Augen da.

„Scherbetscheff – – ohne mich … ohne mich…!“ Wie ein Hauch kam es aus ihrem Munde, und dann – wäre sie lang zu Boden gesunken, hätte ich sie nicht aufgefangen.

Wir – Pestöni, Anna und ich – trugen die Ohnmächtige schnell nach dem Gutshause, betteten sie dort im Speisezimmer auf das breite Ledersofa. Sie kam zu sich, als wir sie kaum niedergelegt hatten, verlangte mit matter Stimme ein Glas Portwein, stürzte es hinunter und schickte die anderen dann hinaus. Nur ich sollte bei ihr bleiben.

Ich rückte mir einen Stuhl an das Sofa, setzte mich und nahm ihre herabhängende Rechte zwischen meine Hände.

Dann fragte sie.

Ich verschwieg nichts – nichts…

Eine Weile lag sie ganz still.

Plötzlich schnellte sie empor.

„Ich glaube das alles nicht – nein, ich glaube es nicht…! So schlecht kann er nicht an mir gehandelt haben…! – Sie hassen ihn – ich weiß es… Sie übertreiben, wollen ihn bei mir anschwärzen…!“ Das alles schrie sie mir mit verzerrtem Gesicht zu.

Da zog ich den Brillantschmuck aus der Tasche, den ich Scherbetscheff abgenommen hatte – unten am Strande, ohne daß jemand etwas merkte, wobei ich ihm zuflüsterte: ‚Wenn Sie noch eine Spur von Ehrgefühl im Leibe haben – schonen Sie Franzi!‘ – Und er hatte schnell genickt.

Er wollte Sie auch bestehlen, Franzi!“ sagte ich leise. „Hier ist der Beweis…“ Und ein paar weitere Sätze genügten, um ihr klarzumachen, wem sie ihre Liebe geschenkt hatte.

Sie sank auf das bunte Kissen zurück, mit geschlossenen Augen.

Ich hatte ihre Hand wieder in der meinen, sprach auf sie ein, versuchte sie zu trösten.

Was ich sagte, ich weiß es nicht mehr. Ich redete und redete.

Ihre Finger waren erst fieberheiß gewesen. Dann merkte ich, daß sie kühler und kühler wurden.

Franzi regte sich nicht. Ein Ausdruck von Frieden und Entspannung nach den furchtbaren Aufregungen lag auf ihrem wachsbleichen Antlitz.

Ich beugte mich über sie… Kein Atem mehr – nichts, nichts…

Sie war tot… Das heiße Herz war gestorben…

Ich habe damals scheu die erkalteten Lippen geküßt. So nahm ich Abschied von Franzi…

*

Am Morgen nach dieser Nacht fand man Schmechting mit einer schweren Kopfwunde tot in einem Kornfelde unweit des Dorfes auf. Wenzel Klabka wurde als Mörder verhaftet. Aber man mußte ihn wieder freilassen. Die schwarze Jutta beschwor, daß er mit ihr in der in Frage kommenden Zeit zusammengewesen sei… – Jutta wird einen Meineid geschworen haben. Aber sie wollte wohl den Mann retten, dessen Weib den an der Front kämpfenden Mann mit Schmechting betrogen hatte.

Malotka, Scherbetscheff und noch einige andere Hauptschuldige wurden sehr bald nach der Nacht, die ich als die große Katastrophe wohl mit Recht bezeichne, zum Tode verurteilt und erschossen.

Und ich selbst…?!

Ich hause jetzt einsam in einem Observatorium auf einem hohen Berge der Tiroler Alpen, umgeben von ewigem Eise und Schnee. Hier gedenke ich auch mein Leben zu beschließen. Ich habe keinen Ehrgeiz mehr, kein Streben. Meine Gedanken sind meine Gefährten … und ein Bild Franzis, das auf meinem Schreibtisch steht…

Und wenn das Alpenglühen durch das Fenster dringt und auch Franzis liebes Gesicht in leuchtendes Rot taucht, denke ich stets an jene Nacht in Lankenau, als die Scheunen und Ställe brannten und das einzige Weib starb, das ich je geliebt habe…

 

 

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