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Ein Todesopfer

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 347

Ein Todesopfer

Roman von

W. Belka.

 

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin S. 14, Dresdener Straße 88–89

 

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag mod. Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 

 

1. Kapitel

Die Gaslampe summte gemütlich über den auf die Näharbeit gebeugten Köpfen der beiden Frauen, und der alte Regulator an der Wand tickte so eilfertig die Sekunden ab, schlug dann ebenso eilfertig elf, als ob er es genau so dringend mit seiner Jahr ein Jahr aus gleichen Pflicht hätte wie Mutter und Tochter mit ihren mühsamen Stickereien.

Dora Mühling legte die Schere wieder auf den Tisch, mit der sie eben einen Faden abgeknipst hatte, reckte sich auf ihrem altmodischen Mahagonistuhl höher und seufzte leise. Verträumt schaute sie der Mutter zu, die emsig Stich an Stich reihte und das Schlagen der Uhr ganz überhört zu haben schien.

„Hast du Hellmer eigentlich die Wasserkaraffe frisch gefüllt, Mutti?“ fragte sie dann.

Die Frau Amtsgerichtsrat blickte über den Rand der Brille hinweg ihre einzige etwas verständnislos an. Sie war mit den Gedanken gerade Jahre zurückgeeilt in eine lichtere Vergangenheit. Es ließ sich ja bei der Arbeit so schön denken, so leicht die Alltagsmisere vergessen…!

„Hm – Wasserkaraffe…?! – Möglich, daß ich’s übersehen habe,“ meinte sie mit einem prüfenden Blick auf Dora. „Wie bist du gerade jetzt darauf gekommen, Kind?“

Das junge Mädchen strich die Stickerei glatt.

„Vielleicht hat er frisches Wasser heute nötig, Mutti. Kasinofeier, Kaisers Geburtstag. – Da wird doch wohl auch Hellmer mehr trinken als sonst.“

Der prüfende Blick blieb auf dem blassen, feinen Gesicht ruhen.

„Ich finde, Dora, du beschäftigst dich eigentlich mit unserem Mieter mehr als mir lieb ist,“ sagte die Frau Rat mit mildem Vorwurf in der Stimme. „Kind, Kind, – wenn auch das noch geschähe, daß du womöglich…“

Der angefangene Satz erstarb in einem Räuspern und Hüsteln, fand dann folgende Ergänzung: „Du kannst ja aber mal in sein Zimmer hinübergehen und nachsehen, denn vorläufig dürfte er kaum heimkehren.“

Dora erhob sich, eilte hinaus. Ihre Bewegungen waren weich und schmiegsam, wie ihr Gesicht zart und anmutig war.

Im Wohnungsflur brannte ein winziges Petroleumlämpchen. Das junge Mädchen nahm es von dem Stützbrett und betrat des Oberleutnants großes Vorderzimmer. Ein Blick hinter den Wandschirm auf das Nachttischchen genügte. Die Karaffe war gefüllt. Dora hätte also getrost umkehren können. Aber auf Zehenspitzen schlich sie noch bis zum Schreibtisch und hielt das übelduftende Lämpchen ganz dicht an die große Photographie von Egon Hellmers Braut, seufzte verstohlen und ließ den Arm sinken, so daß der rötliche, schwache Lichtschein einen Brief traf, der erst abends mit der letzten Postbestellung eingegangen war.

Dem Umschlag aus feinstem Büttenpapier entströmte ein süßlicher Wohlgeruch. – Es, als ob dieser Duft die Sinne des jungen Mädchens völlig verwirrte, alles Gute, Ehrliche in diesem klaren Charakter verwandelte. – Die Linke hielt das Lämpchen, und die bebende Rechte Dora Mühlings nahm jetzt den Brief und … schob ihn in die Tasche des einfachen Hauskleides. –

„Die Karaffe ist gefüllt, Mutti,“ sagte Dora und setzte sich wieder an den Tisch, indem sie die gefalteten Hände über die Stickerei hinweg auf die Abendzeitung legte. Ihre Finger schlossen so gerade eine Annonce ein, die folgenden Wortlaut hatte:

Von sogleich oder später junge Dame als Gesellschafterin auf ein Rittergut gesucht. Englische und französische Sprachkenntnisse, ebenso tadellose Familie Bedingung. Offerten mit Bild, Lebenslauf und Zeugnisse sind zu senden postlagernd Malguhnen bei Pillau, Ostpr., unter ‚Frau I. Sch‘.

Des jungen Mädchens Augen wanderten von der Zeitung zur Mutter hin. Für einen Moment war der Brief in der Tasche vergessen. – ‚Wenn die Mutter nur nicht so altmodische Ansichten hätte…!‘ dachte Dora zum so und so vielten Male… – ‚Nicht standesgemäß, – nichts für eine junge Dame…! – Mein Gott – was bedeutete jetzt wohl das Standesbewußtsein, wo die Not infolge der allgemeinen Teuerung aus allen Winkeln hervorgrinste, wo man für armseligen Lohn Stickereien fertigte und den einstigen ‚Salon‘ möbliert hatte vermieten müssen…!‘

Diese Gedanken zerflatterten aber schnell wieder. Der Brief in der Tasche war wie ein Bleigewicht. – Hätte ich ihn nur nicht genommen…! Wie konnte ich nur! haderte Dora in steigender Gewissensangst mit sich selbst. – Ich muß ihn nachher wieder heimlich zurücktragen… Wenn nur die Mutter nichts merkt…! Nein – wie konnte ich aber auch nur…!

Und die ineinander geschlungenen Finger wurden bis zu schmerzhaftem Druck zusammengeschlossen…

Die Frau Rat packte ihre Stickerei zusammen, nahm die Brille ab, betupfte sich mit einem feuchten Läppchen die müden Augen und fragte dann, wie spät es sei.

„Gleich halb zwölf, Mutti,“ erwiderte Dora zerstreut. – Ach, wenn sie doch nur erst Gelegenheit gehabt hätte, den Brief zurückzutragen…! – Sie dachte nur an den Brief… Und der war von jenem jungen Weibe, die von ihr mit Gedanken glühendster Eifersucht verfolgt wurde, ohne daß sie sie kannte. Nur das große Bild, die künstlerische Photographie auf Hellmers Schreibtisch, kannte sie nur zu gut. Wie oft hatte sie nicht schon vor diesem Bilde gestanden und die sieghafte, etwas herausfordernde Schönheit dieses Mädchens mit kritischen Blicken nachgeprüft, Zug für Zug, – wie oft hatte sie sich nicht schon sagen müssen, daß der Gesamteindruck dieser Erscheinung aus einer Welt, die ihr nur aus Romanen bekannt war, geradezu niederdrückend für sie war, – für sie, das bescheidene, stille Provinzkind mit den billigen Kleidern, die stets ‚auf neu‘ umgearbeitet wurden… –

Die Rätin hatte die Brille wieder aufgesetzt.

„Woran denkst du, Dora?“ fragte sie mißtrauisch.

Das junge Mädchen errötete. „Eigentlich an nichts, Mutti. Oder, um ganz ehrlich zu sein, – mir will die Annonce nicht aus dem Kopf!“

„Die Sache ist für mich abgetan,“ sagte die Frau Rat streng, erhob sich und ging in das anstoßende Schlafzimmer, wo sie vor dem Spiegel ihr Haar zur Nacht zu ordnen begann.

Dora huschte zur anderen Tür. Der Brief … der Brief!

Gerade wollte sie in Hellmers Zimmer verschwinden, als sie einen festen Schritt auf der Treppe hörte. Klopfenden Herzens blieb sie stehen. – Dann wurde ein Schlüssel in das Schloß der Flurtür gesteckt…

Zu spät – zu spät! – Dora saß wieder am runden Tisch im Wohnzimmer und lauschte auf jedes Geräusch, das vom Salon her trotz der von beiden Seiten durch Schränke verstellen Tür herüberdrang.

Die Rätin erschien. „Gehst du denn noch nicht zu Bett, Kind?“

„Ich will nur noch die Abendzeitung durchsehen, Mutti. In zehn Minuten komme ich.“

Frau Mühling beugte sich über ihre Einzige und küßte sie auf die Stirn. „Gute Nacht, Kleines… – Daß du mir nicht zu lange aufbleibst…! Jetzt muß man die fettlose Kost durch Schlaf zu ergänzen suchen…“

Dann sog sie prüfend die Luft ein. „Hast du dich parfümiert, Dora? Du riechst so nach … nach…“ Sie wollte ‚Halbwelt‘ sagen. Aber das war für ihres Kindes Ohren nichts. Und so blieb der Satz unvollendet.

Dora war feuerrot geworden. – Wo nur schnell eine Ausrede hernehmen…? Denn die Wahrheit…?! – – Die Wahrheit war ja der Brief Irma Scharbecks an Hellmer und befand sich in ihrer Kleidertasche…! – Also wieder eine neue Lüge – und all das wegen dieser einen Sekunde, in der sie sich selbst untreu geworden war.

Zum Glück fiel ihr da Frau Hauptmann Bolz ein.

„Ach, Mutti, Frau Bolz hat sich heute nachmittag den Scherz gemacht, mich mit ihrem Zerstäuber zu besprengen,“ sagte sie schnell. Aber es klang wenig aufrichtig, vielmehr so recht wie eine armselige Notlüge.

„Ich begreife nicht,“ meinte die Rätin, „wie eine Dame sich stets mit einer derartig aufdringlichen Wolke von Wohlgerüchen – sogenannten Wohlgerüchen! – umgeben kann. Gegen ein wenig Kölnisch Wasser auf das Taschentuch habe ich nichts einzuwenden. Aber dies – dies riecht abscheulich…!“

Sie verschwand mit abermaligem: „Gute Nacht, Kleines!“ im Schlafzimmer.

Dora atmete auf, stützte dann aber bald ganz verstört und verzweifelt die Stirn in beide Hände und fühlte, wie ihr heiße Tropfen langsam die Wangen entlangrannen.

‚Hätte ich nur nicht zugegriffen, als diese verzehrende Neugier mich packte!‘ schluchzte es in ihrem Innern. ‚Wäre Egon Hellmer nie zu uns…, nie! Vor sechs Wochen lebte ich ja noch so ruhig innerhalb meines kleinen Kreises von Pflichten…! Und nun – nun zieht eins das andere nach sich, Lüge kommt zu Lüge, Unannehmlichkeit zu Unannehmlichkeit… Gleich morgen vormittag muß ich zu Frau Bolz nach oben und sie für alle Fälle bitten, Mama nicht zu verraten, daß ich gelogen habe… Nur gut, daß die Frau Hauptmann mich so gern mag. Einer anderen gegenüber würde ich vor Scham in die Erde sinken…‘

Plötzlich machten ihre Gedanken jedoch erschrocken halt wie vor einem schweren Hindernis. – Ja, durfte sie denn Frau Bolz die volle Wahrheit anvertrauen…?! Durfte sie dieser Dame, die sie doch als Mitbewohnerin nur oberflächlich kannte, erklären, daß und weshalb sie den unseligen Brief an sich genommen hatte…?! – Nein – nein, – niemals! Dieses einzugestehen war ihr einfach unmöglich…!

Die Tränen flossen reichlicher. Dann drängten sie sich spärlicher hervor. Und bald versiegten sie ganz.

Doras Gedanken waren nur noch bei dem Brief Irma Scharbecks… Die Mutter war jetzt nicht mehr zu fürchten, schlief stets sofort ein und … schlief dann bis gegen Morgen ganz fest, obwohl sie immer behauptete, sie hätte ‚wieder kein Auge zugetan‘. Dieser feste Schlaf war der Versucher, der Dora immer wieder zuraunte, während noch die Tränen die reumütigen Gedanken begleiteten: ‚Schau dir den Brief wenigstens von außen an… Du hast ihn doch nun schon mal in der Tasche… Was ist denn dabei, … nur von außen!‘

Und plötzlich faßte Dora in die Tasche und zog ihn wirklich mit scheuen Fingern hervor.

Sie beugte den Kopf tiefer, musterte die ihr längst wohlbekannten Schriftzüge wie ein strenger Sachverständiger. Die fingerlangen Buchstaben mit den großen Schleifen verrieten Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht und gewollte Eigenart, die starken Verdickungen der Grund–striche, bald hier bald dort auftretend, wohl ein ungezügeltes Temperament.

Dann glitt ihr Denken ein Stück weiter abwärts auf gefährlicher Bahn… – Was der Umschlag von teurem Büttenpapier wohl enthalten mochte…?! Was Egon Hellmers Braut wohl schrieb und … wie sie das wohl schrieb, was sie ausdrücken wollte…?

Dora wußte ja nichts, gar nichts über das Verhältnis zwischen den Verlobten. Der Oberleutnant sprach nie über seine Braut. Aber – aus seinem ganzen Wesen ging eigentlich kaum hervor, daß er sich glücklich fühlte, daß er eine rosige Zukunft vor sich sah. –

Der Brief lag mit einemmal mit der Rückseite nach oben. Er war nur recht oberflächlich zugeklebt. Die eine Seite der Klappe stand weit offen…

Doras Rechte spielte mit der Schere…

Oh, nur einen einzigen Blick auf Irma Scharbecks Herzensergüsse werfen dürfen – nur einen einzigen…! Vielleicht – – vielleicht stellte sich dann heraus, daß die Liebe bei diesem Verlöbnis, was Dora vermutete, gar nicht mitgesprochen hatte… ‚Vielleicht täusche ich mich auch… Welche Seelenqualen stehen mir bevor, wenn der Brief von heißen Zärtlichkeiten wie mit rotglühenden Fäden durchwirkt ist…‘ –

So überlegte Dora, so stritten Ehrlichkeit und strenges Rechtlichkeitsgefühl gegen Neugier, Eifersucht und Hoffnung…

Das Schlechte siegte. Halb unbewußt wurde die geschlossene Schere in die offene Stelle der Briefklappe geschoben. Mit leisem Knistern löste sich die Klebenaht. Die Klappe sprang hoch.

Doras Herz pochte so hastig. Scheu wie eine Diebin schaute sie sich um, schlich zu der nur angelehnten Schlafzimmertür und horchte mit angehaltenem Atem. – Die Mutter schlief bereits…

Dora stand da mit schlaff herabhängenden Armen. Noch gab es eine Umkehr… Noch war sie nicht ganz gesunken vor sich selbst. Sie konnte den Brief schließen, konnte ihn morgen zurück auf Hellmers Schreibtisch legen…

Aber der Verführer flüsterte schon wieder mit höhnischem Kichern: ‚Unrecht tatest du ohnehin schon. Was macht es aus, noch ein Mehr hinzuzufügen…?!‘

Leise setzte sie sich wieder. Mit einem Schlage war ihr Gewissen verstummt, erstorben. Eine unheimliche Ruhe und Kaltblütigkeit fühlte sie, etwas ganz Fremdes, das in ihrem Innern förmliche Kältewellen verbreitete. Ihre schöngeschwungenen Lippen preßten sich zur schmalen Linie zusammen. Die schlanken Finger bebten nicht mehr, als sie den Briefbogen mit dem verschlungenen goldenen Monogramm entfaltete. Ohne Hast las sie…

Berlin W. 50

Bleibtreustraße 106

Prediger in der Wüste!

Du wirst von mir wohl kaum erwarten, daß ich Dir für Deinen letzten frischen Aufguß von Moralin danke. Deine trübselige Standpauke liegt neben mir. Ich habe die einzelnen ‚Verfehlungen‘ zu nummerieren gewagt. Das erleichtert die Rechtfertigung. Als ordnungsliebender Mensch wirst Du ja eine Abschrift der Wüstenpredigt (oder wüsten Predigt?!) zurückbehalten haben. –

zu 1) also: Deine Braut hat nicht aus Eitelkeit, um von sich reden zu machen, sondern im Hotel Adlon auf einem öffentlichen Wohltätigkeitsfest zum Besten invalider Feldgrauer den indischen Bajaderen-Tanz getanzt. – So liegt die Sache. Der anonyme Aufhetzer hat Dich also nur ungenau unterrichtet. – Mein Kostüm war ganz einwandfrei, wenn auch möglichst echt. – Das muß Dir genügen. – –

zu 2) Graf Lagos Spalzöni, Mitglied der nach Berlin beorderten ungarischen Wirtschaftskommission, verkehrt seit vier Wochen bei uns, da er mit Papa geschäftlich viel zu tun hat. Er macht mir nicht den Hof, sondern ist eben nur ein vollendeter Kavalier, von den viele vieles lernen könnten.

zu 3) Den Verlobungsring trage ich deswegen nicht, weil ich ihn auf dem Altar des Vaterlandes (Goldankaufstelle!) geopfert habe und weil der Ersatzring aus Eisen sich neben meinen Brillantringen doch zu komisch ausnimmt.

4) Papa ist in keiner Weise an den dunklen Finanzoperationen der Witwe Messing beteiligt, vielmehr nur einmal von der Kriminalpolizei flüchtig vernommen, da er wegen Kettenhandels denunziert worden war. – Er läßt Dir im übrigen sagen, Du möchtest Dich doch nicht in Dinge mischen, die Dich nichts angehen. –

So, mein ehrenwerter Moralist, – nun verlange ich, daß Du mir schleunigst einen entsprechenden Antwortbrief auf diese tadellose Rechtfertigung schreibst – entsprechend! – Du verstehst mich wohl…! – Ich bin müde. Es ist vier Uhr morgens. Wir waren bei Igelbergs zum einfachen Kriegsabendbrot. Nur fünf Gäste. Es gab nicht mal Austern, was Mama sehr lieb war. Ihr sind die Dinger gräßlich. Mir auch. Aber man muß doch so tun, als ob… – Papa fragt an, ob Du zu Deinem Geburtstag besondere Wünsche hast. Sei nicht bescheiden. Er hat im letzten halben Jahr enorm verdient. Ich bekomme jetzt monatlich dreihundert Mark Kleidergeld. Trotzdem habe ich beim Magazin des Modes unheimliche Schulden. Macht nichts! Meine Frühjahrskostüme sind dafür auch entzückend. Rutschte doch mal Sonnabend her zu uns, damit Du die Pracht bewundern kannst.

Ich sage Dir: Tipp topp! – Ich gähne wieder. – Halt, noch eins! Denke Dir, Mama ist auf die ausgefallene Idee gekommen, das Frühjahr in Malwitzkowo zubringen zu wollen und reist demnächst ab. Meinen Segen hat sie. Ich werde mich hüten, mich auf dem Rittergut, das Papa unlängst gekauft hat (ich schrieb es Dir ja!), zu vergraben. Höchstens könnte es mich reizen, Dich einmal zu überfallen, da man ja mit dem Pillauer Zug Deine Garnison in knapp vierzig Minuten erreicht, wie Papa erzählte.

Jetzt aber Schluß. Gute Nacht, Brummbär! Einen Kuß erst wieder, wenn Du ‚entsprechend‘ geantwortet hast. –

Deine Irma

Der Briefbogen einfiel Doras Händen wie das ätzende Blatt eines Giftsumachs.

Sie lehnte sich mit weiten Augen in den Stuhl zurück, starrte ins Leere. In ihrem Blick lag’s erst wie ungläubiges Staunen; dann wurde daraus Widerwille, Ekel; und wieder nach einer langen Gedankenreihe Mitleid…

Armer Egon…! Also das ist die verführerische Irma Scharbeck, das…?! Das ist die glänzende, vielbeneidete Partie…!

Doras Kopf sank tiefer. Die Augen schwammen ihr plötzlich in Tränen…

 

 

2. Kapitel

Die Streichmusik oben in der kleinen Loge begann einen neuesten Walzerschlager. Hier und da wurde von einem der Offiziere die Melodie leise mitgepfiffen, – leise! denn noch befanden sich dort in der Mitte der langen Tafel die hohen Herrn Gäste, der Kommandeur der stellvertretenden 2. Infanteriebrigade, Generalmajor von Belitz, und andere ‚große Tiere‘.

Mehr nach der Mitte der Tafel zu saßen dem Bataillonsadjutanten, dem hageren Leutnant Gneist, der ‚Oberkrakeeler‘ Oberleutnant Winnig, im Zivil Berliner Magistratsassessor, und der Gerichtsassessor Egon Hellmer gegenüber.

„Meine Herren, glauben Sie mir: die Geschichte in Rußland endet mit einem Riesenkrach!“ verkündete Winnig soeben mit beneidenswerter Lungenkraft. „Das russische Heer war längst für eine Revolution reif. Ganz plötzlich haben sie dann Väterchen Zar einen Tritt vor einen gewissen Körperteil versetzt und die allgemeine Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet, – was natürlich zu einem fürchterlichen Schlamassel führen wird, in dem alle befehlen, aber keiner gehorchen will.

Was halten Sie davon, Hellmer, Sie ernster Philosoph? Der Mensch hat wahrhaftig schon die dritte Flasche Bocksbeutel am Wickel! Hellmer, Hellmer! Ich warne Neugierige! Der Bocksbeutel stammt aus Würzburg und geht durch’s Blut durch! Ein Teufelsgesöff. Man steht Kopp danach!“

„Es ist nur einmal im Jahr Kaisers Geburtstag!“ meinte Hellmer etwas förmlich. „Was aber Rußland anbetrifft: Ganz Ihrer Meinung, Winnig! Die Revolution brach sofort aus, nachdem es nur gelang, den Russen gehörig das Fell zu gerben. Dann richtete sich die allgemeine Wut wegen der Niederlagen gegen den Zaren, die Generäle und das hohe Beamtentum.“

Da mengte sich der Adjutant ein:

„Kinder, hört auf damit! Die leidige Politik ist noch schlimmer als die Komißdrescherei. – Prost, Winnig, – auf das, was wir lieben!“

Hellmer beobachtete Winnig und Gneist – ob etwa der Adjutant an Dora Mühling dachte, – oder gar Winnig?! Möglich war’s schon. Die Hälfte der Hamburger Leutnants schwärmte ja für seiner Wirtin Töchterlein… –

Ein kleiner, breitschultriger Offizier kam jetzt vom anderen Ende der Tafel herüber und flüsterte auf Winnig ein.

„Unten bei Bork – sehr gemütlich – Sie machen doch mit! Uns fehlt der vierte Mann. Ganz harmloser Sextanermauschel! Einsatz zwanzig Pfennig“

„Gut. Machen wir!“ Winnig erhob sich.

Der Adjutant aber brummte:

„Verfl… Jeuerei! Bleibt lieber hier! Wenn’s der Major erfährt, gibt’s ein übles Donnerwetter. Außerdem: Sich gegenseitig Geld abzunehmen, ist doch mehr als Stumpfsinn!“

„Geschmacksache!“ lachte der Oberkrakeler, wie man Winning beim Ersatzbataillon allgemein nannte, da er durch sein lautes Wesen überall auffiel.

Als der Oberleutnant Arm in Arm mit dem blonden Leutnant Heister verschwunden war, sagte Gneist zu Hellmer: „Da steckt wieder der Thiele dahinter! Der kann ohne Mauscheln nicht leben!“

Hellmer nickte und beugte sich dann weit über den Tisch.

„Gneist, läßt sich denn gar kein anderer für den Posten als Bureauoffizier für mich finden?! – Thiele ist mir nicht gerade sehr sympathisch. Seine Spielwut erscheint mir sogar… – Na, – lassen wir das! Aber – wenn Sie einen anderen haben, Gneist, dann erlösen Sie mich von dem süßlichen Herrn. Sprechen Sie doch mal mit dem Kommandeur darüber. Thiele ist viel zu oberflächlich veranlagt, um mir eine wirkliche Hilfe zu sein.“

Der dürre Adjutant, im Privatleben Chemiker und Doktor der Philosophie, zuckte die Achseln.

„Sie verlangen vielleicht eine allzu reichliche Dosis Lebensernst von jedem, Hellmer! – Im übrigen: wir haben jetzt zu wenig dauernd garnisonsfähige Offiziere, um wählen zu können. Sehen Sie zu, wie Sie mit Thiele fertig werden!“

Der Oberleutnant, der die Versorgungsabteilung unter sich hatte, schaute nachdenklich in sein Rotweinglas. Dann beugte er sich abermals über den Tisch.

„Gneist, ist es eigentlich wahr, daß Winnig ein so bedeutendes Vermögen besitzt? Sie kennen ihn doch genauer…“

Der Adjutant zündete sich eine frische Zigarre an. Und nach den ersten Zügen erwiderte er:

„Weshalb fragen Sie danach, Hellmer?“

Der Oberleutnant blickte Gneist scharf an.

„Sie tranken sich vorhin zu, – Sie und Winnig…! ‚Was wir lie–ben…!‘ – Ging das von seiner Seite auf die Tochter meiner Wirtin?“

Gneist lächelte etwas verlegen. „Ich darf nicht aus der Schule plaudern, lieber Hellmer…!“

Des Oberleutnants mageres Gesicht wurde noch ernster. Über der Nasenwurzel erschienen drei feine Fältchen.

„Winnig sollte nicht Hoffnungen wecken, die er vielleicht gar nicht erfüllen will!“ meinte er streng. „Sie haben doch sicher Einfluß auf ihn, Gneist. Er soll Fräulein Mühling gegenüber nicht vergessen, daß es sich um eine Dame handelt.“

Dieses Gespräch wurde hier, was dem Adjutanten sehr gelegen kam, durch eine der Ordonnanzen unterbrochen, die ihn ans Telephon rief. –

Gneist eilte hinaus und besprach sich nachher mit dem Bataillonskommandeur, Major von Vorwart.

Der Major schlug dann an sein Glas. Nach einer Weile trat Stelle ein.

„Meine Herren, so leid es mir tut, die Gemütlichkeit gerade heute stören zu müssen,“ begann er mit seiner hellen Kommandostimme. „Die Pflicht ruft… Soeben ist ein Befehl eingetroffen, daß das Bataillon morgen früh sechs Offiziere als Ersatz für eine Division nach der Westfront in Marsch zu setzen hat. Die Herren…“ – er las sechs Namen von einem Zettel ab – „bitte ich, sich sofort an den Adjutanten zu wenden, der Ihnen das Nähere mitteilen wird. – Wir alle wünschen Ihnen glückliche Reise und im übrigen – – Hals- und Beinbruch!“ –

Der Abschied für die sechs gestaltete sich infolge der gehobenen Stimmung recht geräuschvoll. Auch der Brigadekommandeur drückte jedem noch die Hand.

„Soldatenlos, meine Herren!“ sagte er achselzuckend. „Heute hier – morgen da! Wünsche Ihnen alles Gute!“ – Er hatte selbst zwei Söhne in Mazedonien kurz hintereinander verloren. –

Egon Hellmer wartete, bis die Offiziere, die die Scheidenden bis auf die Straße begleitet hatten, wieder zurück waren, und drückte sich bald. Er hatte ohnehin schon mehr getrunken, als er durfte.

Der Flur war leer. Schnell ließ er sich in den Mantel helfen und stieg die breite Treppe hinab. Die kühle Winterluft draußen tat ihm wohl. Er machte einen Umweg und langte dann vor seiner Haustür an, als es gerade halb elf schlug.

*

Leutnant Bork hauste im einer der beiden im Erdgeschoß des Kasinos gelegenen Offizierswohnungen. In der Mitte des Arbeitszimmers stand unter der einfachen, elektrischen Krone ein Spieltisch. Darum saßen Bork, Winnig, Thiele und Heister.

Die beste Erscheinung der vier war ohne Zweifel der schlanke Leutnant Thiele. In dem schmalen, frischen Gesicht mit dem tadellos gepflegten kurzen Schnurrbart funkelte ein randloses Monokel. Seine sichere, etwas ironisch überlegene Art, die nur Vorgesetzten gegenüber sich in eine streng dienstliche, sehr zuvorkommende Haltung verwandelte, kam auch jetzt beim Jeu wieder zutage.

Eben trat eine Spielpause ein. Bork schickte seinen Burschen nach oben und ließ eine frische Kanne Bier holen. Winnig nahm seinen Stuhl und drehte ihn dreimal um.

„So, vielleicht wird’s nun besser!“ meinte er. Er war abergläubisch wie eine alte Stiftsdame. Nicht nur beim Jeu. – Dann fragte er Thiele:

„Wie kommen Sie eigentlich mit Ihrem Chef aus?“

Der Leutnant zuckte die Achseln.

„Hellmer ist kein angenehmer Vorgesetzter,“ sagte er ausweichend. „Aber er versteht was von seinem Kram. Ich hatte ja keine Ahnung, wie umfangreich die Bureauarbeit in der Versorgungsabteilung ist. Es wird Wochen dauern, ehe ich mich in die Facharbeitersache hineingefunden habe.“

Winnig strich sich den blonden Schnurrbart hoch.

„Weiß der Kuckuck, – warm wird man mit Hellmer nie. Er hat so eine Art: immer drei Schritt vom Leibe! – Ich bin jetzt häufiger in der letzten Zeit bei ihm auf der Bude gewesen. Aber ich merkte stets: lieb waren ihm meine Besuche nicht!“

Der kleine, breitschultrige Heister lachte aus vollem Halse.

„Aha – Dora, du süßer Engel du, Dora, du raubst wir meine Ruh…!“ sang er gröhlend und falsch.

Winnig krauste die Stirn und schaute den Leutnant drohend an.

„Herr Gott, fressen Sie mich nur nicht!“ meinte Heister. „Mein Geschmack ist die Mühling wirklich nicht. Kein Temperament; weich und mild wie ‘ne Madonna!“

„Und arm wie eine Kirchenmaus“ fügte Thiele hinzu. „Übrigens, Herr Oberleutnant, man munkelt hier, Sie seien bereits heimlich verlobt.“

Da kehrte Bork mit der Bierkanne zurück, und Winnig wußte es so einzurichten, daß er einer Antwort überhoben wurde.

Thiele merkte sehr wohl, wie peinlich dem Oberleutnant die Frage gewesen war, und kam nicht weiter auf die Sache zurück. – – –

 

 

3. Kapitel

Frau Hauptmann Maria Bolz hatte ihre beiden Kinder aus der Spielschule abgeholt, ging mit ihnen die Kaiserstraße entlang und begegnete hier dem Oberleutnant Winnig, der ziemlich blaß und angegriffen aussah.

Winnig war so recht in der Stimmung, mit der koketten Frau Bolz ein wenig zu plaudern.

„Morgen, gnädige Frau. – Wie geht’s. – Schlecht? Na nu?! Wie kann es Ihnen schlecht gehen – gerade Ihnen?! – Sie gestatten doch, daß ich mich anschließe…“

„Bitte, sehr gern. – Kinder, – ein paar Schritte voraus…! – Hm, ob es mir schlecht geht?! Sie glauben ja gar nicht, Herr Winnig, was für Sorgen eine Hausfrau jetzt hat! Die Preise – unerhört! Und dabei das Hauptmannsgehalt hier in der Garnison – – schrecklich! Außerdem – Pech habe ich – Pech…! Alle meine Kohlrüben beginnen im Keller zu faulen.“

„Na, davon kann ich auch ein Lied singen, Gnädigste,“ warf der Oberleutnant ein. „Um Kohlrüben handelt’s sich gerade nicht, aber…“

„Sie?! – Die Spatzen von den Dächer pfeifen hier ja Ihren Reichtum aus…!“

„Reichtum – damit hält es sich sehr! Glauben Sie, gnädige Frau, daß es Vergnügen macht, bis morgen sieben Uhr mit dem zweiunddreißigseitigen Gebetbuch sich zu beschäftigen und zum Schluß um achthundert Emmchen leichter von der Sünderbank aufzustehen?!“

„Ah, Sie haben gestern wieder gespielt?“ fragte die blonde, schlanke Frau voller Interesse.

„Leider!“

„Und wer hat gewonnen?“

„‘ne Frage…!“

„Also Thiele…!“

„Natürlich. Gegen dessen Bierruhe und Dusel ist nicht aufzukommen.“

„Um so hohe Beträge spielen – das muß doch sehr aufregend sein…!“

„Für den, der die Nerven nicht in der Gewalt hat, – allerdings! Jedenfalls würde ich Ihnen, Gnädigste, nicht raten, mal zu jeuen. Sie haben zu viel Nerven. Ich auch.“

„Trösten Sie sich über Ihr Spielpech, Herr Winnig. Die Liebe wird Ihnen Ersatz bringen,“ meinte die blonde Frau mit einem klingenden Auflachen.

Winnig entschuldigte sich plötzlich, verschwand in einem Bonbongeschäft und holte für die beiden Kinder des Hauptmanns einige Süßigkeiten. –

Man ging jetzt durch stillere Seitenstraßen dem Kasernenviertel zu. Winnig kam nach einer Weile scheinbar absichtslos auf Dora Mühling zu sprechen.

„Nur gut, daß Hellmer verlobt ist,“ meinte er. „Gerade diese stillen Madonnen sind gefährlich. Beim Bataillon schwärmt mindestens ein halbes Dutzend Leutnants für die ‚blonde Madonna‘, wie Thiele Fräulein Mühling getauft hat.“

„Na – und Sie selbst?“ lachte die Frau Hauptmann, indem sie dabei Winnigs Gesicht scharf beobachtete.

„Zwischen Schwärmen und Verehren ist ein Unterschied, Gnädigste. Ich möchte Fräulein Mühling gern näher kennenlernen. Sehr gern sogar. Ich unterhalte mich am besten dabei, Frauencharaktere zu studieren. Die blonde Madonna ist – na, sagen wir – ist ein Chamäleon. In der Erregung muß sie entzückend sein.“

„Chamäleon – nein, dieser Vergleich…! Das klingt nicht schön!“

„Trifft aber zu. Frauen, die schnell die Farbe wechseln, haben meist Temperament, wenn sie’s auch zu verbergen trachten.“

Frau Bolz trippelte eine Weile schweigend neben Winnig her. Sie hatte einen merkwürdig aufzeizenden Gang. Bei aller Hast der Bewegungen doch eine gewisse müde Lässigkeit. Dazu noch das pikante Gesichtchen mit den großen, dunklen Augen unter stark nachgetuschten Brauen… Sie fiel jedenfalls überall ein wenig auf. Für eine solide Frau Hauptmann fast zu sehr.

Dann sagte sie zögernd: „Mein Mann muß morgen einen Ersatztransport nach Galizien bringen. Vielleicht lade ich Sie mal wieder ein, Herr Winnig, und Fräulein Mühling auch. Aber dann müssen Sie Thiele mitbringen. Er ist doch ein sehr interessanter Mensch.“

„Oh – wenn Sie das tun wollten, Gnädigste…! – Hm – was Thiele anbetrifft, – ich weiß nicht recht, ob… Doch nein, – Sie sollen sich selbst ein abschließendes Urteil bilden.“

„Also abgemacht! – Auf Wiedersehen. Ich muß hier zum Damenfriseur.“ –

Winnig machte kehrt und schritt der Kaiserstraße wieder zu. Gerade an der Ecke begegnete ihm Dora Mühling. Er grüßte überhöflich, zögerte erst ein wenig, eilte ihr dann aber doch nach.

„Gnädiges Fräulein gestatten… Ich wollte mich nur erkundigen, wie Ihnen letztens die zwei Stunden Eisbahn bekommen sind. – Mir offen gestanden, sehr schlecht. Ich hatte scheußliche Schmerzen in den Schenkeln. Ungewohnte Bewegung eben. Sehr schade, daß das Tauwetter eintrat.“

Dora hatte ein recht abweisendes Gesicht aufgesetzt.

„Entschuldigen Sie, Herr Oberleutnant,“ meinte sie kühl, „ich habe es aber sehr eilig.“

„Oh, ich gehe gern schneller…,“ parierte er den deutlichen Wink unverfroren.

In des jungen Mädchens blasses Gesichtchen flutete eine heiße Blutwelle. Nicht aus Ärger über Winnigs Zudringlichkeit, nein – sie hatte die Mutter bemerkt, die eben in der Ferne aufgetaucht war.

Der Oberleutnant redete weiter wie ein Wasserfall, starrte dabei seine Begleiterin ganz verzückt von der Seite an, bis er von Dora ziemlich brüsk unterbrochen wurde, die plötzlich stehen geblieben war.

Jetzt erst bemerkte er eine kleine, hagere Dame mit goldener Brille auf dem winzigen Näschen, die ihm nun als Doras Mutter vorgestellt wurde, denn trotz seiner in letzter Zeit so häufigen Besuche bei Hellmer hatte er die Frau Rat noch nicht kennengelernt. Er war froh, auf diese Weise endlich ihre Bekanntschaft zu machen, zeigte sich sehr achtungsvoll und liebenswürdig und fühlte bald heraus, daß er von der Rätin weit freundlicher behandelt wurde als von der stillen Madonna.

Vor der Haustür Hellwigstraße 19 verabschiedete Winnig sich dann, nicht ohne die Frau Rat zu fragen, ob er ihr nicht gelegentlich seine photographischen Aufnahmen vom Karpathen Kriegsschauplatz vorlegen dürfe, für die sie doch soeben so viel Interesse verraten habe.

„Wir wohnen so sehr bescheiden,“ hatte die kleine Dame etwas verlegen erwidert. „Der Krieg hat auch uns…“

„Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, – wer legt denn heute den Maßstab von Friedenszeiten an…?!“ war Winnigs geschickte Antwort gewesen. – So kam er denn wirklich zu einer Einladung, sogar zu einem Täßchen Kriegskaffee übermorgen…“ – –

Oben im Wohnzimmer legte die Rätin den altmodischen, walzenförmigen Muff sorgsam in die Schachtel zurück, nestelte dann den Hut ab und sagte plötzlich unvermittelt zu Dora, die ihre Tuchjacke in den Flurschrank gehängt hatte und das Zimmer wieder betrat: „Ein reizender Mensch, der Oberleutnant Winnig, – findest du nicht auch, Kind?“

Die Antwort ließ etwas auf sich warten.

„Ein wenig poltrig,“ meinte Dora dann endlich, um sofort hinzuzufügen: „Mutti, mach’ Dich auf eine unangenehme Nachricht gefaßt. – Ich habe keine neuen Aufträge erhalten. Der Geschäftsführer sagt, Stickereien gehen jetzt nicht; er könnte nichts mehr bestellen. – Ich war dann noch in drei anderen Geschäften. Überall dieselbe Ablehnung…“

Die Rätin war ganz entsetzt auf den nächsten Stuhl gesunken.

„Das – das ist ja … schrecklich für uns!“ stöhnte sie auf. „Was nun?! Wir müssen ja hungern, wenn uns die fünfzehn Mark fehlen, die wir beide jetzt monatlich verdient haben…!“

Dora hatte sich an das Fenster gestellt, blickte auf die feuchte, schmutzige Straße hinab.

„Es gibt schon noch einen Ausweg,“ meinte sie festen Tones. „Ich traf vorhin Ilse König. Beide Königs haben sich zum Bureaudienst bei den Homburgern gemeldet und erhalten jetzt neunzig Mark Anfangsgehalt.“

Die Rätin schwieg eine Weile, sagte dann sehr bestimmt:

„Niemals!“

„Und die Stelle als Gesellschafterin?“

„Kind, quäle mich doch nicht! Der Gedanke ist mir unerträglich, dich in dienernder Stellung zu wissen. Lieber hier daheim Säcke nähen, – aber nach außen den Schein bewahren. Und dann – wer heiratet eine Gesellschafterin, ein Aschenbrödel, eine bezahlte Geduldete?!“

Dora dachte an Hellmer. Sie wußte, daß er ganz andere Ansichten über erwerbstätige Frauen hatte. Gelegentlich hatte er hierüber mal eine Bemerkung zu ihr gemacht.

Daher sagte sie jetzt auch: „Sprich doch mal mit Hellmer, Mama. Vielleicht kann er dich bekehren. Du gibst doch so viel auf sein Urteil.“ Dann ging sie in die Küche und besorgte das bescheidene Mittagessen.

Die Rätin saß mit gesenktem Kopf da und sann und sann. Wie ein krankes, armes Vöglein sah sie aus in all ihrer Kümmernis. Tausend Gedanken gingen ihr durch das Hirn… –

Winnig hatte sich doch auf der Eisbahn damals so auffällig um Dora bemüht. Und man erzählte sich, er sei schwer reich. Wenn Winnig ernste Absichten hätte…! Welch ein Glück wäre das für Dora…! Wenn sie nun als Gesellschaftsdame fortging, zerstörte sie ja alle diese Aussichten… Anderseits: die Not drängte zu einem Entschluß. Blieb Dora hier, würde sie bei der mangelhaften Verpflegung schnell hinwelken, alt werden…! –

Ach – es war so schwer, hier das Richtige zu finden…! Was tun – was tun…?! Jedenfalls war es doch wohl wirklich etwas rückständig, Dora einen Erwerb außerhalb des Hauses zu verbieten, denn die Königschen Mädchen waren doch auch Töchter eines verstorbenen Medizinalrates… Ob man Hellmer nicht wirklich mal fragte, wie er über die heikle Angelegenheit dachte…?! Er war ja ein so ernster, gesetzter Mensch…

Die Rätin erhob sich plötzlich, glättete vor dem Spiegel das Haar und lauschte dann… Ja – Hellmer war daheim… Soeben ließ er sein Grammophon spielen. Natürlich wieder die Gralserzählung aus Lohengrin. – –

Egon Hellmer saß in dem grünen, schon leicht verschossenen Plüschsessel und lauschte der vorzüglichen Wiedergabe der prachtvollen Stimme des Hofopernsängers Tänzler vom Karlsruher Hoftheater. – Das Grammophon war ein Geschenk seiner zukünftigen Schwiegereltern, – das beste, was es in dieser Art Sprechmaschinen heute gab.

Hellmer saß ganz regungslos da. Der finstere Ernst in seinen Zügen verwandelte sich bald in einen Ausdruck weihevoller Begeisterung. – Er war Wagner Schwärmer … und Wagner war sein bester Seelenarzt… – Soeben hatte er den Antwortbrief auf Irmas Schreiben entworfen, das er morgens draußen im Briefkasten gefunden hatte, bevor er zum Dienst in die nahe Kaserne gegangen war.

Diese Antwort hatte an seine Selbstbeherrschung reichlich große Ansprüche gestellt. Irmas ebenso oberflächliche wie nichtssagende Rechtfertigung verdiente die schärfste Erwiderung… Hätte sie verdient, hätte…! Aber dann waren seine Gedanken hingeeilt nach dem kleinen pommerschen Städtchen, wo die Mutter und die beiden Schwestern sehnsüchtig auf die Erlösung nach all den Jahren der Entbehrungen harrten, nach all den Opfern, die sie ihm gebracht hatten, damit er sein Studium beenden und als Gerichtsassessor und ‚tadellose Erscheinung‘, wie Schwester Gertrud stets sagte, unter den reichsten Partien wählen könnte…

Da hatten die Fesseln leise warnend geklirrt. – Er hatte den Antwortbrief so gehalten, daß es nicht zum offenen Bruch mit seiner Braut kam, – zum offenen, – denn innerlich hatten sie sich bereits während seines letzten Weihnachtsurlaubs völlig entfremdet. –

Es klopfte schüchtern. Hellmer sprang auf und stellte den Apparat ab. – Es war die Frau Rat, wie er schon an der Art des Anklopfens vermutet hatte.

Er bat sie, Platz zu nehmen. Sie entschuldigte sich, ihn gestört zu haben… „Ich weiß ja, die sehr Sie Wagner lieben, Herr Oberleutnant.“ – Dann begann sie etwas zaghaft ihr Anliegen vorzubringen, sprach von den teuren Zeiten, der kleinen Pension, den wenigen Zinsen des bescheidenen Vermögens und der Notwendigkeit, etwas dazu zu verdienen.

Hellmer, der sehr schnell empfand, was die Frau mit ängstlichen Augen hinter den Brillengläsern eigentlich von ihm wollte, sagte nun in seiner liebenswürdigen, zwanglosen Art, die so wohltuend wirkte, wenn er es wollte:

„Ich verstehe, was Sie zaghaft macht, gnädige Frau, – zaghaft den Erfordernissen unserer modernen Zeit gegenüber. – Sie gestatten, daß ich ganz offen bin. Sie sind wohl in recht strengen Anschauungen erzogen worden, gnädige Frau, haben die Ansicht mit in die Ehe genommen, ein junges Mädchen müßte ängstlich gegen das rücksichtslos pulsierende Leben da draußen abgeschlossen werden, um die reine Seele nicht zu gefährden. – Sehr gut und schön das, gnädige Frau, nur – zwecklos! Denn wer sich nicht selbst vor dem Schmutz der großen Heerstraße, Welt genannt, schützt, den wird fremde Vorsicht nie davor bewahren. Frauen, die sich ihr Geld verdienen, müssen offene Augen für alles haben. Die Pfütze, die ich als solche nicht rechtzeitig erkenne, in die trete ich leicht hinein. Kurz: ein Absperren eines Mädchens gegen die Außenwelt ist ein Fehler. Es wird stets an der einzelnen Persönlichkeit liegen, wie sie im Erbwerbskampf abschneidet. Und die, die solche arbeitenden Damen aus unseren Kreisen über die Achsel ansehen, beweisen nur, daß sie kurzsichtig und beschränkt sind. Wenn ich raten darf, gnädige Frau: das Gesündere ist fraglos Landluft. Um Fräulein Dora wäre es schade, wenn sie zwischen Aktenbündeln und Schreibmaschinengeklapper ihre Jugend zubringen müßte. Nicht jeder eignet sich für Bureautätigkeit.“

Die Rätin erhob sich, reichte Hellmer die Hand und bedankte sich. Ganz zufriedengestellt war sie durch dieses Urteil ihres Mieters nicht. –

Dora hatte inzwischen die gute Gelegenheit wahrgenommen, zu Frau Hauptmann Bolz nach oben zu schlüpfen.

Diese war gerade heimgekehrt, hatte ihren Gatten bereits vorgefunden und dessen infolge leisen Katers von der Kaisergeburtstagsfeier her recht milde Stimmung geschickt und schlau ausgenutz, ihm zwanzig Mark für besondere Ausgaben abzuschmeicheln.

Bolz, im Zivilberuf Amtsrichter in Berlin, ließ sich von seinem koketten Frauchen, die alles andere nur kein Spargenie war, nur zu leicht beeinflussen.

„Ich behalte jetzt gerade noch vier Mark übrig, Mia,“ meinte er, das Kleingeld in der hohlen Hand zählend. „Wenn nun der Schuster Heinz Stiefel schickt, so…“

„…bezahle ich sie,“ vollendete die blonde Gattin den Satz vom Spiegel her, vor dem sie sich eitel hin und her drehte.

„Das sagst du immer, Mia,“ seufzte er etwas kläglich. „Und nachher…?!“

„Hör’ endlich auf – ich bitte dich! Das ist ja gräßlich, dies ewige Nörgeln und Stöhnen! Man wird seines Lebens auch nicht eine Minute froh…!“ fiel sie ihm ins Wort. Seine langsam Art zu sprechen und besonders seine monotone Stimme reizten sie heute mehr als sonst, wo sie eben noch mit Oberleutnant Winnig zusammen gewesen war, dessen frisches Draufgängertum ihrem Temperament weit mehr entsprach.

Zum Glück schlug draußen die Flurglocke an, und der Bursche kam und meldete Fräulein Mühling, die die gnädige Frau zu sprechen wünsche.

Bolz erhob sich schnell und verschwand in dem halbdunklen Schlafzimmer, da er es sich nach dem Vormitagsdienst bequem gemacht hatte. –

Dora trat ein und wurde von Frau Mia überaus herzlich begrüßt, mußte Platz nehmen und erhielt von den Süßigkeiten angeboten, die Winnig für die Kinder gespendet hatte.

„Gnädige Frau, ich komme mit einer großen Bitte,“ begann Dora dann sehr zaghaft. „Ich bin in schlimmer Verlegenheit, da…“

„Liebstes Fräulein Mühling, – alles können Sie verlangen, nur nicht … Geld!“ unterbrach Frau Mia das junge Mädchen mit einem melodischen Auflachen.

„Aber gnädige Frau, – das – das…“

„Dann schießen Sie los, Beste… Genieren Sie sich nicht. – Greifen Sie doch zu…! Die Morsellen sind noch recht gut für Kriegskonfekt.“

„Oh – ich habe nur eine Minute Zeit, – danke wirklich. – Gnädige Frau, ich möchte… – ach, wie soll ich’s nur vorbringen, wo es sich doch um eine Verführung zu einer … einer kleinen Lüge handelt…“

Frau Mia wurde aufmerksam, lehnte sich vor Dora an den runden Eßtisch und schaute die vor Verlegenheit Errötende mit beinahe lauernden Blicken an.

„Ja – um eine kleine Lüge,“ fuhr das junge Mädchen fort. „Wenn … wenn Mama Sie fragen sollte, ob … ob Sie mich mit Ihrem Parfümzerstäuber gestern zum Scherz besprengt haben, so … so … würden Sie mir einen sehr, sehr großen Gefallen tun, wenn Sie dies bestätigen wollten.“

Gott sei Dank – es war heraus…!

Frau Mia lachte wieder scheinbar harmlos und recht belustigt auf.

„Aber gern, Liebste, gern…!“ meinte sie. „Warum auch nicht?! – Ei, ei, Kleines, – wer war denn in Wahrheit der Parfümattentäter, – wie?! Das müssen Sie mir anvertrauen! Es kann sich bei Ihnen ja nur um eine ganz…“

Dora hatte die Hände wie abwehrend erhoben, preßte schnell hervor: „Oh – verlangen Sie nicht die Wahrheit von mir, gnädige Frau, – ich bitte Sie inständig! Ich will nicht noch neue Lügen ersinnen, um … um … eine Sekunde, die ich heute so bitter bereue, fortzutilgen…“

Doras in Tränen schwimmende Augen waren flehend auf das pikante Gesicht der schlanken, blühenden Frau gerichtet. Und Frau Mia nickte dann auch begütigend dem jungen Mädchen zu und erklärte, sie wolle sich wirklich nicht in Doras kleine Geheimnisse eindrängen. –

Als Dora dann ganz atemlos in der Küche der Mühlingschen Wohnung wieder erschien, fragte die Frau Rat, die gerade die Kartoffeln auf den Gasherd setzte, wo Dora denn gewesen sei.

„Bei Frau Hauptmann Bolz. Ich wollte mir das Blusenschnittmuster holen,“ erwiderte das junge Mädchen zögernd. Und durch ihre Seele ging es dabei wie ein neuer Schmerz. Lügen – nichts als Lügen! Der Brief Irma Scharbecks war daran schuld, dieser häßliche Brief!

Die Rätin rührte mit dem Holzlöffel langsam die brodelnde Suppe um.

„Kind, was ich noch sagen wollte,“ fing sie ein wenig unsicher an. „Ich war soeben bei Hellmer. Er meint, eine Stellung auf dem Lande wäre vorzuziehen.“

Dora war plötzlich wie ausgewechselt. „Ach, Mutti, das ist einmal verständig von dir! Ich werde mich also auf die Anzeige hin als Bewerberin um die Stellung der Gesellschaftsdame melden. Hoffentlich laufen nicht zu viel Meldungen ein. – Oh, Mutti, denk’ mal, dann kann ich vielleicht hin und wieder Lebensmittel schicken, und mein Gehalt kann ich sicher ganz dir senden. Ich brauche ja nichts für mich.“ Sie umarmte die Rätin dankbar und küßte sie auf den Mund.

„Hm – noch eins, – vergiß ja nicht in deinem Bewerbungsschreiben zu erwähnen, daß du die Stelle frühestens Ende Februar antreten könntest.“

„Warum das, Mutti?“

„Nun – ich habe meine Gründe.“ Die Rätin dachte an Winnig… Vielleicht – vielleicht… – –

Dora schickte das Bewerbungsschreiben noch an demselben Nachmittag ab.

 

 

4. Kapitel

Im sogenannten Frühstückszimmer des Kasinos der Homburg-Grenadiere saß ein halbes Dutzend Leutnants beim Abendbrot, als der Adjutant, der magere Gneist, erschien und erzählte, er habe soeben die blonde Madonna getroffen – an einem Briefkasten mit einem dicken Umschlag in der Hand. Dann sprach er über die beiden Hönigs, die sich beim Bataillon als Schreiberinnen einstellen lassen wollten. –

Porwitz, der Gerichtsoffizier, rief sofort: „Ich möchte die jüngste für das Gerichtszimmer zugewiesen haben. Es dürfte sich empfehlen, gerade mir eine weibliche Schreibkraft zu geben, von der nicht zu fürchten steht, daß sie allzu viel ausplaudert, was sie dort hört und sieht.“

„Feinschmecker!“ meinte Winnig mit lautem Lachen. „Könnte Ihnen so passen…!“

Worauf der lange, dünne Adjutant erklärte, die Herren möchten diese Einstellung weiblicher Hilfskräfte etwas mehr als streng dienstliche Angelegenheit behandeln. – Gneist konnte sehr kurz angebunden sein. Als Adjutant war er neben dem Kommandeur der ‚mächtigste Mann im Staate‘, und seine Gewissenhaftigkeit und sein verständnisvoller Eifer sicherten ihm auch die volle Unterstützung seines ‚Brotherrn‘, des Majors von Vorwart, so daß selbst die Herren Hauptleute ihn stets mit aller Vorsicht anfaßten.

Vom Anrichtraum her ward plötzlich Hellmers ungewöhnlich scharf klingende Stimme vernehmlich.

„Aha,“ meinte einer der Offiziere, „Hellmer hat wieder die Pahlke vor. Die wird nun wohl bescheidener werden, nachdem er mit zum Kasinovorstand gehört.“

Hellmer, im blauen Überrock, langen Beinkleidern und Lackstiefeln, trat hastig ein. Die Fahnenjunker schnellten hoch.

„‘n Abend, meine Herren. – Gneist, ich werde morgen dem Major vorschlagen, daß der Pahlke gekündigt wird,“ wandte er sich sofort an den Adjutanten. „Die Wirtschaft geht so nicht länger weiter. Die Abendkarte enthält wieder nicht ein einziges warmes Gericht! Lediglich Faulheit von der Pahlke! Außerdem Profitsucht! An belegten Broten verdient sie mehr. Wenn das Kasino ihr als Wirtin monatlich neunzig Mark Gehalt zahlt und ihr freie Wohnung und so weiter gibt, genügt das. Da braucht sie nicht noch an jedem Gericht zu verdienen.“

Er setzte sich neben Gneist an den Tisch und trommelte mit den Fingern gegen eine der silbernen Aschenschalen. – Geist pflichtete ihm bei. „Ich war letztens bei den Pionieren im Kasino, – die zahlen halb so viel wie wir,“ meinte er. „Der Major muß der Pahlke mal gehörig den Marsch blasen! Kann ihr nicht schaden.“ –

In der im Kellergeschoß gelegenen Küche fuhrwerkte Frau Minna wütend mit den Kochtöpfen umher.

„Frau Hauptmann werden mir doch recht geben. Soll ich etwa beim Essen zusetzte,“ rief sie und trat dicht vor Frau Mia Bolz hin, die auf einem Holzstuhl neben dem Herd Platz genommen hatte. „Hier ist die Fleischerrechnung von der Kaisergeburtstagsfeier, Frau Hauptmann. Ein Kind kann sich ausrechnen, daß…“ Und mit ziemlich unklarem Wortschwall verteidigte sie ihre Preise.

Obwohl Frau Mia recht gut merkte, auf welch tönernen Füßen diese Rechtfertigung der Kasinowirtin stand, sagte sie doch ebenso eifrig wie freundlich:

„Sehr richtig, liebe Frau Pahlke, sehr richtig! Die Herren verstehen eben nichts von den jetzigen teuren Zeiten. – Doch – um auf meine Angelegenheit zurückzukommen: Nicht wahr, Sie schicken mir dann für die zwei Wochen, so lange mein Mann auf Transport ist, das Mittag, zwei Portionen genügen für mich und die Kinder. – Und der Preis?“

„Na – weil’s gnädige Frau sind, – sechs Mark, – pro Portion drei Mark. Billiger geht’s wirklich nicht!“

Frau Mia wäre auch mehr schuldig geblieben. Die Hauptsache: sie konnte für vierzehn Tage das Wirtschaftsgeld größtenteils ‚sparen‘. Sie brauchte so notwendig ein paar Lackhalbschuhe… –

Fräulein Anna Pahlke, die einzige Tochter der streitbaren Kasinowirtin, kam vom Dienst nach Hause, begrüßte die Frau Hauptmann mit einem halben Knicks und wurde von Frau Mia huldvoll befragt, wie ihr denn die Tätigkeit als Postaushelferin bekomme.

Die Pahlke hatte für Hellmer ein Stück Dorsch auf der Pfanne. Sie briet es trotz der in ihr lodernden Empörung mit Sorgfalt, wandte sich jetzt aber doch wieder Frau Mia zu und meinte:

„Die Anna vertritt seit dem fünfzehnten den Briefträger für das Neugarten-Viertel, gnädige Frau. Gestern hat der Oberleutnant Hellmer wieder ‘nen Brief von seiner Millionenbraut bekommen. Die Anna sagt, diese Briefe riecht sie schon von weitem, so parfümiert sind sie. Na – wenn ich einem diese goldene Partie nicht gönne, so ist’s der Oberleutnant! Was die reiche Berlinerin nur gerade an dem gefressen hat…?! Ein Mann mit nem Korsett ist überhaupt kein Mann! Und das Gesicht…! Wie’n glattrasierter Pfarrer! Und die Augen – die können einem bei Nacht erscheinen!“

„Aber Mutter, – das Korsett ist doch nur von wegen den Schuß ins Rückgrat,“ verteidigte das blasse, langaufgeschossene Mädchen den also Angegriffenen. „Man bloß als Stütze, hat mir der Sanitätsfeldwebel Gerbig erzählt. – Zum Spaß trägt er’s doch nicht!“

„Wenn schon! – Gib mir die vorgewärmte Platte, Anna, – bißchen fix, damit der Hellmer nicht wieder durch den Speisenaufzug runterbrüllt, er kriegt alles kalt vorgesetzt! – Muß ich mich wirklich hinstellen und ihm extra Fisch braten!“

Die Pfeife des aus dem Anrichteraum bis in die Küche hinabgehenden Sprachrohrs ertönte. – Anna nahm die neue Bestellung entgegen.

„Fahnenjunker von Schönaich – gebratener Dorsch,“ rief sie der Mutter zu.

„Da haben wir’s ja!“ schalt die Pahlke grimmig. „Natürlich – nun auch noch die Junker…! – Anna, ruf zurück: Dorsch is alle!“

Während die Kasinowirtin für Hellmer zwei Stückchen Gurke zu dem Fisch auf die Platte legte, fragte Frau Mia die Postaushelferin:

„Also wirklich – so stark parfümiert sind die Briefe?“

„Ja, gnädige Frau. Wenn ich den Umschlag nur anfasse, riechen mir die Finger noch stundenlang.“

„Hellmer korrespondiert wohl sehr eifrig mit seiner Braut, Fräulein Anna?“

„Oh nein! Seit dem fünfzehnten waren’s nur zwei Briefe, für ‘n Brautpaar doch sehr wenig. Wenn ich verlobt wäre, so müßte mir Meiner jeden Tag schreiben, und ich würd’s ihm sehr übel nehmen, wenn er so gleichgültig wäre, Briefe von mir einfach die ganze Nacht über im Kasten stecken zu lassen.“

„Wie meinen Sie das, Fräulein Anna? – Hat Oberleutnant Hellmer das getan?“ – Frau Mia war dieses Thema hochinteressant. Aus verschiedenen Gründen…

„Gnädige Frau dürfen aber um Gottes willen zu niemandem darüber sprechen,“ entgegnete das junge Ding leise und sehr wichtig tuend. „Gestern abend warf ich wieder so einen wohlriechenden Brief bei Mühlings in den Kasten. Gnädige Frau bekamen ja auch noch ein Reklameheft aus Berlin. Na – und der Brief war heute morgen noch drin…“ Anna Pahlkes Gesicht wurde hier plötzlich sehr nachdenklich. „Hm – mir fällt da eben ein,“ fuhr sie noch leiser fort, „– Frau Amtsgerichtsrat hat doch den Brief gleich aus dem Kasten genommen, weil ich doch wie immer kurz geklingelt hatte. Ich kam gerade wieder die Treppe herab. – Komisch – und heute morgen war doch derselbe Brief wieder im Kasten. Ich roch’s, daß er’s war, als ich für den Herrn Oberleutnant ‘ne Feldpostkarte reinwarf.“

„So – so! Na, vielleicht hat die Frau Rat den Brief übersehen,“ meinte Frau Mia und erhob sich. „Ich muß jetzt gehen, liebe Frau Pahlke. Also dann morgen um eins – zwei Portionen. – Gute Nacht… Und Sie, Fräulein Anna, – beeilen Sie sich, daß Sie sich verloben. Die Männer sind jetzt knapp…“

Die blonde Frau Hauptmann trippelte davon. Und die Pahlke sagte zu ihrer Tochter: „‘ne große Ehre, daß sie Mittag bestellt…! Beim Bäcker Klauß sind sie das Brot schon seit zwei Monaten schuldig…! – In der Ehe hat ‚Er‘ auch nichts zu sagen…! ‚Sie‘ verpulvert ordentlich Geld!“ – –

Die ausrückenden Mannschaften, zweihundertundschtzog Mann, standen am folgenden Tage zu offenem Viereck formiert mitten auf dem Kasernenhof. Die Musik hatte sich am rechten Flügel aufgebaut.

Als Major von Vorwart nahte, kommandierte der Transportführer Hauptmann Bolz „Stillgestanden!“ und meldete: „zweihundertundzweiundsechzig Mann, sechzehn Unteroffiziere, zwei Offiziere abmarschierbereit.“

„Danke, lieber Bolz.“ – Der Kommandeur hielt dann eine kurze, kernige Ansprache, die in ein ‚Hurra‘ auf den obersten Kriegsherrn ausklang. Die Musik spielte einen Vers von ‚Heil Dir im Siegerkranz‘, und der Transport rückte in Gruppenkolonne ab.

Hauptmann Bolz eilte noch schnell zu seiner Frau hin, die zusammen mit Dora Mühling unten mehreren Offizieren dicht neben der Musik sich aufgestellt hatte.

„Auf Wiedersehen, Mia! Langweile dich nicht zu sehr und grüße die Kinder…!“ Noch ein letzter Händedruck, dann schwang er sich auf das bereitstehende Pferd. Bis zum Verladebahnhof war es eine gute Stunde Marsch, und der Major wünschte, daß jeder größere Transport von einem berittenen Offizier durch die Stadt geführt wurde.

„Gnädigste sind jetzt also Strohwitwe,“ meinte Leutnant Thiele, indem er seinem Zigarettenetui eine ‚Unser Kronprinz‘ entnahm. „Dürfte man vielleicht behilflich sein, die Langeweile ein wenig zu bannen? Gnädigste wollten sich doch, wie Winnig erzählte, so etwas im harmlosen Jeu, Vierblatt alias Mauscheln vervollkommnen?“

„Sie scheinen ja ein sehr böser Verführer zu sein, Herr Thiele,“ lächelte Frau Mia vergnügt. „Übrigens, ich habe mir die Mahnung des Majors, daß die verheirateten Herren des Bataillons die Junggesellen mehr im Familienkreise ‚zähmen‘ sollen, zu Herzen genommen. Wollen Sie heute mein Gast sein zu einer Tasse Kaffee?“

„Tausend Dank, gnädige Frau. Ich weiß bereits Bescheid. Winnig übermittelte mir die liebenswürdige Einladung. Natürlich bin ich pünktlich zur Stelle.“

Frau Mia schritt dem Kasernentor zu, neben ihr Thiele, der in seinem Pelz und den nagelneuen braunen Stiefeln wieder fast zu friedensmäßig aussah. Ihnen folgte Dora mit Winnig und dem Gerichtsoffizier.

Winnig sprach von den schmerzlichen Abschiedsszenen, die man hier beim Ausrücken jedes Ersatztransportes immer wieder erlebte.

„Sehen Sie nur dort die junge Frau mit dem kleinen Mädel auf dem Arm, gnädiges Fräulein; wie die Ärmste weint…! In solchen Augenblicken wünschte ich mir den Herrn Lloyd George in Armlänge vor mir…!“ Durch seine Worte klang so starkes Mitgefühl warm hindurch, daß Dora ihn ganz überrascht anschaute. – War das noch der poltrige Winnig, der Krakeeler…?!

Vor dem Hause, in dem die beiden Damen wohnten, verabschiedeten sich die Offiziere. – Frau Mia bat Dora dann noch, nachmittags bereits um halbvier Uhr zu kommen. „Sie müssen mir helfen, den Kaffeetisch zu decken, Kleines…“

Bei Mühlings gab es heute zu Mittag die Wochenfleischportion, mit Nudeln gekocht. – Die Frau Rat lächelte vielsagend, als Dora erzählte, daß Winnig und Porwitz sie heimbegleitet hätten.

„Der Oberleutnant scheint ein sehr weiches Gemüt zu haben, Mutti,“ meinte sie nachdenklich. „In manchen Menschen täuscht man sich doch sehr. Er macht doch sonst eigentlich einen etwas brutalen Eindruck…“

Die Frau Rat nickte eifrig. „Sehr richtig, Kind, sehr richtig, – nur nicht vorschnell urteilen! Mir hat Winnig gleich sehr gut gefallen.“

Dann kam die Anzugfrage an die Reihe. „Natürlich ziehst du heute nachmittag die hellblaue Seidenbluse an, Kind. Die steht dir am besten.“

„Wird das nicht zu ausgeputzt aussehen, Mutti?“ wandte Dora ein.

„Aber bewahre! – Ob Frau Bolz auch Hellmer eingeladen hat?“

„Nein. Er ist ihr viel zu ernst! Heute nannte sie ihn den Ekkehard in Uniform.“

Die Rätin war froh, daß ihr Mieter dieses Zusammentreffen mit Winnig nicht störte.

 

 

5. Kapitel

Hauptmann Bolz hatte die über der Mühlingschen gelegene Dreizimmerwohnung von einer Kriegswitwe möbliert gemietet einschließlich der ganzen Kücheneinrichtung. –

Dora suchte aus dem altmodischen Büffet Tassen heraus.

„Soll ich diese mit dem Blumenmuster nehmen, gnädige Frau?“ fragte sie Frau Mia, die einen mageren Kriegsstritzel in feine Stücke zerschnitt und diese mit Marmelade bestrich.

„Ja, bitte, Liebste. – Einen Augenblick noch. Ich bin hier gleich fertig. Dann können wir den Tisch decken. – Mir fällt eben ein, ich hätte doch auch Hellmer bitten sollen. Oder – ist er Ihnen nicht sympathisch?“

Aha – Dora war rot geworden…!

Frau Mia ging einen Schritt weiter. Sie hatte sich schon vorher zurechtgelegt, wie sie die kleine Madonna fangen könnte.

„Verzeihen Sie die indiskrete Frage, Dorchen,“ fügte sie schnell hinzu. „Hellmer wohnt bei Ihnen. Da werden Sie nicht gern über ihn sich auslassen wollen. Mir gefällt er sehr. Ich liebe Charaktere, die schwer in eine Schablone passen. Und Hellmer ist alles andere als ein Schablonenmensch. Genau so wie Thiele. Ich kann es sehr gut begreifen, daß auch ein schwerreiches und gleichzeitig hübsches Mädchen – und beides trifft bei seiner Braut ja zu! – sich in ihn verliebt. Ob er diesen Goldfisch wohl aus reiner Neigung erobert hat, Kleines, – was meinen Sie?“

Dora war dieses Gespräch eine Pein.

„Wie soll ich das wissen, gnädige Frau?“ erwiderte sie kurz. „Hellmer spricht nie über seine Braut.“

„Ich glaube, er sei ziemlich mitteilsamer Natur, wenn er erst mal aufgetaut ist.“

Frau Mia sprach das alles so hin wie ohne besonderes Interesse. Und Dora war eine viel zu harmlose Natur, um irgendwie argwöhnisch zu werden. Dies war auch dann nicht der Fall, als die blonde, kokette Frau sehr bald abermals über Hellmer sich äußerte und geschickt herauszuhorchen suchte, ob das junge Mädchen etwa eine heimliche Neigung zu dem ernsten Offizier gefaßt hätte.

In diesem so ungleichen Kampf – auf der einen Seite weltkluge Raffiniertheit, auf der anderen scheue Befangenheit und Harmlosigkeit – mußte Dora notwendig unterliegen. Frau Bolz benutzte dann sehr geschickt das, was sie in der Kasinoküche über den parfümierten Brief erfahren hatte, zu einem ganz unerwarteten Überfall, indem sie sagte:

„Kleines, – um nochmals auf die Parfümgeschichte zurückzukommen: die Briefe von Hellmers Braut sollen ja so stark duften, daß… – aber – was haben Sie denn, bestes Dorettchen…?! Sie sind ja ganz blaß geworden…?!“

Dora wäre der Teller mit den Marmeladenschnittchen beinahe aus der Hand gefallen. Nachdem sie ihn glücklich auf der Tischplatte untergebracht hatte, tastete sie nach der Lehne des nächsten Stuhles und ließ sich langsam auf den rohrgeflochtenen Sitz sinken. All das sah so rührend hilflos aus, daß jeder andere Mitleid mit dem hübschen Kinde empfunden hätte.

„Kleines – beruhigen Sie sich doch nur…! So arg schlimm ist doch die Sache wirklich nicht… Hellmer wird ja nie erfahren, daß der Brief bereits abends im Kasten gelegen hatte. – Ich kann schweigen, liebes Dorettchen, – – wie das Grab! Nun setzen Sie schnell wieder ein anderes Gesicht’l auf – bitte bitte!“

Dora schaute mit tränenverschleiertem Blick ganz fassungslos die intrigante Frau Hauptmann an, brachte nur stotternd hervor…:

„Woher – woher – wissen Sie denn, daß…“ Dann schossen ihr die Tränen in die Augen, perlten immer reichlicher, tropften auf die hellblaue Seidenbluse, hinterließen lange Spuren…

Frau Mia hatte es nicht leicht, die Ärmste zu trösten und den Tränenstrom zum Versiegen zu bringen. Aber desto leichter wurde es ihr, alles aus dem ahnungslosen Kinde herauszulocken, was sie noch nicht wußte. In ihrer Seelenpein ging Dora sogar jetzt so weit, der ‚mütterlichen Freundin‘ anzuvertrauen, daß sie Hellmer heimlich liebte.

Frau Mia heuchelte Teilnahme und Bestürzung.

„Aber Dorettchen – was soll denn nur daraus werden…?! – Hellmer ist verlobt… Und seinen Goldfisch von Braut wird er nie aufgeben. Oder meinen Sie, daß er Ihre Gefühle ebenso leidenschaftlich erwidert, daß er sich dazu verstehen könnte, die Verlobung zu…“

Dora krümmte sich förmlich vor Herzensweh zusammen, preßte ihr Tüchlein fest vor die Augen und stöhnte abwehrend…

„Oh – nicht weiter, liebe Frau Hauptmann, – nicht weiter…! Nie soll Hellmer erfahren, daß ich … daß ich… Nein – nie – nie!“ Mit aller Gewalt nahm Dora sich jetzt zusammen, erhob sich hastig, trocknete die geröteten Augen und machte sich dann hier und dort Arbeit, nur um zu verhüten, daß das Gespräch nochmals diesen für sie peinvollen Gegenstand berührte.

Frau Mia gönnte ihr denn auch Ruhe, nachdem sie so auf der ganzen Linie gesiegt hatte, brachte ihre Puderschachtel, half die letzten Tränenspuren tilgen und schien Hellmer ganz vergessen zu haben. –

Als erster fand sich dann der geschniegelte Leutnant Thiele ein. Winnig traf etwas später ein und entschuldigte sich damit, daß er erst im vierten Blumengeschäft etwas hätte auftreiben können, was der Damen würdig gewesen wäre. Frau Mia überreichte er zwei langstielige blaßrosa Chrysanthemen, Dora erhielt drei prachtvolle, dunkelrote Rosen.

Dies veranlaßte die Frau Hauptmann, Dora zuzuflüstern: „Wenn sie doch von Hellmer wären, Kleines…!“ – eine Bemerkung, die dem jungen Mädchen das Blut in heißer Welle ins Gesicht trieb.

Dora, die bei der Kaffeetafel zunächst noch etwas bedrückt und unfrei war, vergaß bald die quälenden Selbstvorwürfe und die lähmende Angst vor weiteren Folgen jener übereilten Verletzung des Briefgeheimnisses, da Frau Bolz sie halb und halb gezwungen hatte, mit ihr und den Herren ein paar süße Liköre mitzutrinken, die zunächst in dem jungen Mädchen ein Gefühl der Gleichgültigkeit gegen alles hervorriefen, dann aber mithalfen, daß Leutnant Thieles ausgelassene Fröhlichkeit auch in ihr Herz wie ein Strom verführerischen Leichtsinns überfloß.

Oberleutnant Winnig belegte sie dann bald völlig mit Beschlag, ließ sich von ihr auf dem etwas stark ausgespielten, gemieteten Pianino allerlei schwermütige Lieder vorspielen, die Dora bei ihrem guten musikalischen Gehör sämtlich auswendig kannte, und verstand es auch weiterhin, sich mit ihr sozusagen ganz abzusondern, obwohl man nur den einen Raum in der kleinen Kriegswohnung zur Verfügung hatte.

Inzwischen ließ Frau Mia sich, mit Thiele in den Rohrsesseln am Fenster sitzend, von dem weitgereisten Offizier allerhand exotische Abenteuer erzählen, die Thiele angeblich selbst erlebt haben wollte – in Indien, auf Ceylon, auf Java und in Australien.

Er besaß zusammen mit einem Freunde ein Gut in Pommern, schien aber für das Ausland weit mehr Interesse zu haben als für die heimische Scholle. Sehr fein wußte er anzudeuten, daß er leider bei seinen großangelegten Unternehmungen in Ostasien zumeist infolge allzu großer Ehrlichkeit Pech gehabt, Riesensummen gewonnen und wieder verloren habe. Um seine Person schwebte überhaupt ein gewisser Hauch des Geheimnisvollen, den er eher zu verstärken als zu zerstreuen trachtete. Daß er die halbe Welt kannte, stand außer Zweifel. Im Offizierskorps des Bataillons gab es zwei ältere Herren, die selbst in Indien und den Nachbargebieten längere Zeit gelebt hatten und daher in der Lage waren, die Angaben des gewandten Erzählers nachzuprüfen. Bei all seinem sicheren Auftreten wußte Thiele sich wiederum doch stets bescheiden zurückzuhalten, fiel jedenfalls mehr durch seine Erscheinung als durch ein beabsichtigtes Vordrängen seiner Person auf. Er war ohne Frage ein sehr interessanter Mensch, und Frau Mia hörte ihm denn auch heute wieder mit blinkenden Augen zu, wie er ihr von den märchenhaften Schönheiten jener Länder sprach, in denen er viele Jahre zugebracht hatte, halb als Vergnügunsreisender, halb als Geschäftsmann, der zugriff, wo sich ihm eine Möglichkeit zum Verdienst bot.

Frau Mia glaubte sich in eine andere Welt versetzt. Wie armselig und eintönig war doch ihr Leben gegenüber den seltsamen Erlebnissen und Erfahrungen, die Thiele im fernen Orient gesammelt hatte und jetzt hier vor ihr ausbreitete wie einen schillernden Teppich, an dem sie sich nicht satt sehen konnte und dessen leuchtende Farben ein unruhiges Sehnen in ihr hervorriefen…! Ganz plötzlich sagte sie dann:

„Wie alt sind Sie eigentlich, Herr Thiele?“

Sie merkte nicht, daß er ein wenig mit der Antwort zögerte, als müsse er sich erst auf seine Lebensjahre besinnen.

„Achtundzwanzig, gnädige Frau,“ sagte er nun. „Wäre ich draußen an der Front gefallen, hätte ich mich aber trotz dieser erst achtundzwanzig Jahre gelassen trösten können: die fünf letzten habe ich fünffach gelebt! Vielleicht – vielleicht wäre das auch die beste Lösung gewesen!“ fügte er leise mit der Spur eines rätselhaften Lächelns hinzu.

„Wie soll ich das verstehen?“ forschte sie unsicher, denn sie fühlte Thieles Überlegenheit.

„Als Warnung!“ erwiderte er noch leiser, indem er sich weit vorbeugte und ihr scharf ins Gesicht sah. „Sie sind ein Mensch, gnädige Frau, der wie ich durchaus aus dem Alltäglichen heraus will, dem die Welt zu eng scheint, dem oft ganz merkwürdige Gedanken die innere, aufgezwungene Gelassenheit stören. Ich könnte noch mehr hinzufügen auf Grund dessen, was ich damals auf der Terrasse des Kasinos beobachtete, als ich Sie kennenlernte.“

Inzwischen war es im Zimmer recht dunkel geworden. Dora schob jetzt hastig den Klavierstuhl zurück, stand auf und trat hinter Frau Mias Korbsessel, indem sie etwas gepreßt fragte:

„Soll ich das Licht einschalten, Frau Hauptmann?“

Die blonde Hausherrin mußte sich erst auf ihre Umgebung besinnen, bevor sie erwiderte:

„Ganz recht, Liebste… Wir haben lange genug Dämmerstunde gehalten…“

Dora eilte nach der Tür, neben der sich der Lichtschalter befand. Dabei strich sie dicht an Winnig vorüber. Wieder haschte er nach ihrer Hand – wie eben vorhin am Klavier. Sie riß ihre Finger aus den seinen und – war doch nicht empört über diese neue Zudringlichkeit. In ihrem stillen Dasein hatte sie bisher so wenig Huldigungen von Männerseite erfahren, hatte so ohne jedes Ahnen von den Erregungen einer aufgerüttelten Weiberseele dahingelebt, daß sie sich heute wie in einem Rausch befand. Die sehnsüchtigen Klänge wehmütiger Liebeslieder, das allmählich in dunklere Schatten übergleitende Zwielicht, dazu noch Winnigs körperliche Nähe, das werbende Flüstern seiner Stimme und ein unbestimmtes Verlangen, sich selbst über die eigene Gewissenspein hinwegzutäuschen, – alles das hatte zusammengewirkt und bei ihr einen ihr fremden Zustand eines eigentümlichen Rausches erzeugt, in dem ihr wahres Wesen unter ganz neuen Empfindungen halb erstickte.

Das Licht flammte auf. – Die plötzliche Helle der vier Glühbirnen der einfachen Krone über dem noch gedeckten Kaffeetisch tat den Augen weh. Unwillkürlich schlossen die vier Menschen, die eines Weibes spielerische Ränkesucht hier vereint hatte, für Sekunden die Lider.

„Schade!“ sagte Leutnant Thiele dann laut. „Es gibt nichts, das die Stimmung so schnell tötet, als gerade elektrisches Licht. Wenn wir doch rotes Seidenpapier…“

Wenige Minuten später hatte er die Birnen geschickt mit Stücken eines roten Kreppapier-Tischläufers umhüllt… –

Sieben Uhr. Die beiden Offiziere wollten sich verabschieden. Aber Frau Mia ließ sie nicht fort. Man kam überein, eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Inzwischen sollten der Bursche und das Mädchen den Abendbrottisch decken.

Dora eilte die Treppe hinab und fragte die Mutter, ob sie noch den Abend über bei Frau Bolz bleiben dürfe. Sie hatte Winnigs Rosen mitgenommen, die die Rätin sogleich in eine Vase stellte, indem sie bereitwilligst ihrer Einzigen die Erlaubnis gab.

Während Dora ihren Mantel im Flur anzog, begann in Hellmers Zimmer das Grammophon zu spielen: das Gebet aus Rienzi…

Und mit einem Male sanken Dora da die Arme schlaff herab. Eine große Ernüchterung überkam sie. Urplötzlich schien ein schillernder Vorhang sich aufzurollen und ihr das eigene Innere wie ein Bild Grau in Grau zu enthüllen. Regungslos stand sie da und lauschte – lauschte auf die langsamen Schritte, die hinter Hellmers Tür laut wurden, glaubte ihn vor sich zu sehen, wie er auf und ab schritt mit gesenktem Kopf, die Augen halb geschlossen, ernst, fast finster, in Gedanken versunken.

Aber die Rätin, die Vase mit den Rosen noch in der Hand, erschien nun in der Wohnstubentür, trieb zur Eile…

„Viel Vergnügen, Kind, – viel Vergnügen! – So geh’ doch…! Da – die anderen sind schon auf der Treppe…“

Und Dora ging. – Winnig schaute sie prüfend an.

„So ernst, mein Freund? Ich kenne dich nicht mehr?!“ scherzte er mit störendem Auflachen.

Die blonde Madonna senkte den Kopf, unterdrückte einen qualvollen Seufzer.

Draußen ein frischer Wind, flimmernde Sterne. Frau Mia und Thiele gingen voraus, schlugen die Richtung auf das Osttor der alten Befestigungswerke ein und bogen nachher links ab, wo das baumbestandene Vorgelände des Wallgrabens unter seiner dünnen Schneeschicht einen winterlichen Wald vortäuschte. Man begegnete einsamen Liebespaaren, meist Soldaten mit ihren ‚Bräutchen‘, die schnell die enge Umschlingung lösten und die Offiziere grüßten. Auch hier starrten Äste und Zweigen in dickem Rauhreif. Der Schnee knirschte. Der Wind säuselte in den Wipfeln der entlaubten Bäume. Stille ringsum. Frau Mias helles Lachen kam durch diese Stille wie eine Entweihung des klaren Winterabends.

„Hier sollte man schweigen,“ sagte Winnig leise. „Ah – dort erscheint nun auch der Mond zwischen den Stämmen. – Es war ein guter Gedanke von Thiele, ein wenig kalte Luft zu schnappen.“ Er betonte das ‚kalte‘ und fügte hinzu: „Fanden Sie’s nicht auch recht schwül im Zimmer, gnädiges Fräulein?“

Dora ahnte, daß seine Worte eine Nebenbedeutung hatten. Ausweichend erwiderte sie: „Ja – recht warm…“ Sie war noch immer wortkarg und in sich gekehrt. Schon zweimal hatte Winnig wissen wollen, was ihr denn die Stimmung verdorben hätte. Und jetzt beugte er sich zu ihr herab und sagte fast schüchtern:

„Zürnen Sie mir, daß ich mich dazu verleiten ließ, die Dämmerstunde ein wenig auszunutzen und…“

Da überkam Dora eine Bitterkeit, die ihr ungewollt Worte über die Lippen drängte wie eine letzte verzweifelte Abwehr gegen das Fremde, das heute sich in ihrer Seele eingenistet hatte…

„Ein armes Kirchenmäuschen hat kein Recht zum Zürnen, hat zu naschen, wo es etwas zu naschen gibt…“

Er verstand sie sofort. Etwas wie Scham fühlte er plötzlich, weil er seine eigenen Gedanken am besten kannte, weil er sich mit einemmal klar wurde, daß dieses Mädchen keine jener angekränkelten Treibhauspflanzen war, wie sie der schlüpfrige Boden des Berliner Gesellschaftslebens gewisser Kreise hervorbrachte, in denen er seine ersten Erfahrungen über junge Damen und solche, die es sein wollten, gesammelt hatte.

Er hätte gern etwas erwidert. Aber er fand keine passende Antwort. Schweigend gingen sie weiter nebeneinander her.

Als man dann auf dem Rückwege vor dem Kasino halt machte, da Frau Mia den Leutnant Thiele gebeten hatte, Bork noch als vierten Mann für das beabsichtigte kleine Jeu einzuladen, verschwand auch Winnig plötzlich hinter der schweren, eichenen Eingangstür, um nach wenigen Minuten mit einer Ordonnanz zurückzukehren, die in einem Weidenkorb drei Flaschen Sekt und drei Flaschen Rotwein trug.

„Sie müssen mir schon gestatten, gnädige Frau,“ meinte er vergnügt zu Frau Mia, „daß ich für die Getränke sorge. – Bork sitzt übrigens oben im Frühstückszimmer und wird mit Freuden Ihrer liebenswürdigen Einladung Folge leisten.“

 

 

6. Kapitel

Frau Mühling mußte bis gegen halb zwölf auf Doras Heimkehr warten. Zu ihrem Erstaunen erschien das junge Mädchen dann mit hochroten Wangen und seltsam leuchtenden Augen.

„Mutti, – es war wirklich riesig nett bei Frau Bolz,“ berichtete Dora sofort, indem sie sich der Mutter gegenüber an den Tisch setzte. „Riesig nett…! Sogar Sekt haben wir getrunken… Und Leutnant Bork kam auch noch, um beim Mauscheln den vierten Mann abzugeben…“

„Wobei?“ fragte die Rätin kopfschüttelnd. „Beim Mauscheln…?! – Was heißt das…?“

Dora lachte hell auf. Sie war wie ausgewechselt. Die Mutter stellte das mit leiser Unruhe fest. Diese Munterkeit hatte etwas Unnatürliches an sich. Sicherlich war der ungewohnte Weingenuß daran schuld…!

„Mauscheln, Mutti, – das ist ein Kartenspiel, so ein halbes Glücksspiel,“ erklärte Dora eifrig. „Frau Bolz ist ganz versessen darauf… Ich habe nur zugesehen. Aber es war sehr interessant.“ Wieder lachte sie fast zu laut in Erinnerung an manche Einzelheiten dieses weinfrohen Abends. „Erst saß ich neben Thiele, – nein, besser hinter ihm. Aber ich brachte ihm Pech. Dann mußte ich neben Winnig Platz nehmen. – Mutti, ich sag’ dir, – auch er verlor – verlor immerzu, und doch mußte ich bei ihm sitzen bleiben. Frau Bolz hat bisher am meisten gewonnen. Sie glühte förmlich vor … ja, vor Spielleidenschaft. Wer weiß, wann die vier aufhören. Ich konnte ja nicht länger bleiben, wußte, daß du mich erwartetest…“

Die Frau Rat rückte ihre Brille zurecht.

„Also scheint sich Winnig doch um dich recht viel gekümmert zu haben,“ meinte sie mit einem forschenden Blick auf ihrer Einzigen erregtes Gesicht.

Doras Mienen wurden für einen Moment merkwürdig starr. Dann nickte sie kurz und erwiderte, indem sie die Achseln zuckte…: „Er machte mir in ziemlich aufdringlicher Weise den Hof. Aber ich habe ihn in seine Schranken zurückverwiesen, als wir durch das Glacis spazieren gingen. Das hat geholfen. Er weiß jetzt, woran er mit mir ist. Diese Berliner Herren muß man mit Vorsicht behandeln, meinte Frau Bolz.“

Die Rätin glättete etwas nervös die Tischdecke mit ihren mageren Händen, deren Fingern man die grobe Hausarbeit trotz aller Pflege nur zu sehr anmerkte.

„Ganz recht, Kind, ganz recht,“ sagte sie zögernd. „Man darf den Herren nicht zu sehr entgegenkommen. Andererseits aber – hm, ja – andererseits muß ein junges Mädchen ohne Vermögen heutzutage auch nicht zu schroff sein, wenn die Herren in angeregter Stimmung vielleicht zu sehr aus sich herausgehen. Die heutige Zeit will verstanden sein. Der ganze Umgangston ist ein anderer geworden. Die Männer verlangen jetzt wohl meist von den jungen Damen ein gewisses flottes, wenig zimperliches Wesen. Wer da nicht mitmacht, wird als ‚Provinz‘ belächelt.“

Doras Gesicht war wieder seltsam ernst geworden. Sie wußte, weshalb die Mutter gerade heute Ansichten vor ihr entwickelte, die niemals einer ehrlichen Überzeugung entspringen konnten. Der Krieg hatte bei der Mutter, besonders seit Eintritt der allgemeinen Teuerung eine geradezu krankhafte Angst vor einem plötzlichen Tode und vor einem unversorgten Zurückbleiben ihres einzigen Kindes hervorgerufen. Und diese Angst hatte dann wieder den heißen Wunsch geboren, Dora baldmöglichst durch eine gute Heimat sicherzustellen. Jetzt dachte die Mutter offenbar nur noch an Winnig als den Retter aus dieser Bedrängnis, opferte dieser stillen Hoffnung bereits ihre strengen Grundsätze über den Umgangston der beiden Geschlechter und suchte zu verhüten, daß sie – Dora – nicht etwa durch Prüderie und kleinstädtisches Gebaren sich die glänzenden Aussichten dieser Partie verscherzte.

Dora lachte bitter auf. „Ich verstehe dich vollkommen –: ein armes Kirchenmäuschen muß zusehen, wo es ein Körnchen findet!“ sagte sie und erhob sich. „Ich bin müde, Mutti. Wir wollen zu Bett gehen.“

*

Egon Hellmer lehnte sich in dem plumpen Rohrstuhl zurück und schaute zum Fenster hinaus.

Auf dem Kasernenhof exerzierten die Rekruten des 1. Depots. Winnig, der den abwesenden Kompagnieführer Hauptmann Bolz vertrat, ging zwischen den Korporalschaften auf und ab. Jetzt nahm er selbst ein Bajonettiergewehr zur Hand und zeigte den Leuten Auslage und einzelne Stöße. – Auch Bork war zugegen. Dann kam der lange Adjutant über den Hof gestelzt, ohne Mantel, beide Hände in den Taschen des grünen Feldrocks vergraben, sprach erst mit Winnig, dann noch mit Bork und verschwand wieder.

Hellmer wandte sich seiner Arbeit wieder zu, nahm den Tintenstift und überflog ein Versetzungsgesuch. Das Bureau hatte so weit in der Sache vorverfügt, daß Hellmer nur noch ‚befürwortet‘ hinzuzufügen und ein ‚H‘ als Gegenzeichnung danebenzuschreiben brauchte.

In zierlicher Damenhandschrift war die Verfügung geschrieben, – sauber, übersichtlich, wie gestochen. Seit drei Tagen fand Hellmer diese Schrift auf allen Eingängen, die ihm als dem Leiter der Rentenabteilung aus Zimmer 211 vorgelegt wurden.

Alix Königs Schrift! – Ein Sprühteufel, die Kleine, aber sehr brauchbar. Porwitz hätte sie sehr gern für sein Gerichtszimmer gehabt, aber Gneist witterte hier sich anbahnende zarte Beziehungen und war hart genug gewesen, Porwitz die ältere der Schwestern, Gusti, zuzuweisen, die mit ihren schmachtenden Augen und lässigen, müden Bewegungen wie eine mißverstandene Gräfin aus einem französischen Schauspiel wirkte. –

Hellmer war mit den Unterschriften für den Kommandeur fertig, nahm die Mappe unter den Arm und ging auf den Flur hinaus. Das Zimmer des Bataillonsführers lag dem seinen schräg gegenüber. Vor der Tür stand der sogenannte Anmelder, ein Grenadier namens Proszciniak, der infolge schweren Nervenschocks durch Verschüttung an Gesichtszucken litt.

„Ist der Major frei, Proszciniak?“ fragte Hellmer.

„Nein, Herr Oberleutnant. Herr Adjutant is drin.“

Hellmer schritt vor dem Kommandeurzimmer wartend auf und ab. Hier war ein stetes Gehen und Kommen, da sämtliche Bureaus des Ersatzbataillons in diesem Flügel der Kaserne lagen.

Offiziere kamen vorüber, begrüßten Hellmer und verschwanden wieder. Alle hatten es eilig. In den Vormittagsstunden herrschte hier stets ein lautes Treiben.

Dann tauchten Winnig und Bork auf, beide jetzt im Helm.

„Na nu – so feierlich?“ meinte Hellmer, Winnig die Hand reichend.

„Weiß der Kuckuck, was wieder los ist,“ polterte der Krakeeler, nur schlecht seine Unruhe verbergend. „Der Major hat uns beide und auch Thiele um elf im Dienstanzug bestellt. – Haben Sie eine Ahnung, Hellmer, worum es sich handeln kann?“

„Bedaure wirklich…“

Leutnant Gneist, der Adjutant, kam aus dem Zimmer des Kommandeurs heraus, winkte Hellmer zu und rief: „Jetzt sind Sie dran!“

Hellmer klopfte an und trat ein. –

„Morgen, Hellmer. – So – danke.“ Der Major nahm ihm die Mappe ab. „Was Besonderes?“

„Nein, Herr Major.“

„Schön. – Sagen Sie mal, Hellmer, wir ist da zu Ohren gekommen, daß einige unserer Offiziere ziemlich hoch hasardieren sollen. Wissen Sie was darüber? – Ich frage Sie dienstlich.“

„Mir ist nur gelegentlich etwas erzählt worden, Herr Major. Selbst beobachtet habe ich nichts.“

„So so. Sie gehen ja auch selten ins Kasino, leben mehr für sich. – Jedenfalls muß die Jeuerei aufhören – ein für allemal! Das dulde ich nicht. Ich mache die älteren Offiziere, also auch Sie, dafür verantwortlich, daß das verd… Mauscheln unterbleibt. Ich kann nicht jeden Tag Polizei spielen. – Hm – sind vielleicht die Herren Winnig, Bork und Thiele schon draußen?“

„Jawohl, Herr Major. Wenigstens die beiden ersteren.“

„Dann schicken Sie sie mir bitte herein. – Morgen, Hellmer. – Noch eins. Sie sehen heute wieder sehr blaß aus, lieber Hellmer. Wollen Sie nicht mal Erholungsurlaub einreichen? – Was macht denn das angeknackste Rückgrat?“

„Danke gehorsamst, Herr Major. Die Schmerzen werden ständig geringer. Das Korsett hilft ohne Frage. – Wenn Herr Major gestatten, möchte ich Ostern Urlaub nehmen. Erst müßte ja Leutnant Thiele für mich als Vertreter genügend eingearbeitet sein, bevor ich für längere Zeit wegkann.“

„Hm, ja, – der Thiele…“ Major von Vorwart sog an seiner Zigarre und paffte ein paar dicke Wolken in die Luft. „Wohl ein Windhund, wie?!“ fragte er dann kurz.

„Ich kenne Thiele noch zu wenig, Herr Major, um mir ein Urteil zu erlauben.“

„Sie sind vorsichtig, Hellmer. – Dann also bitte die drei Herren…“ –

Eine halbe Stunde später ging Hellmer zu dem Oberzahlmeister Mauk hinüber, um mit ihm über die Gehaltszahlung an die Zivildienstpflichtigen zu sprechen.

Die beiden Bureaus der Kassenverwaltung lagen eine Treppe höher in einem vorspringenden, turmähnlichen Anbau der Kaserne. In dem ersten Zimmer saßen die Schreiber, in dem anstoßenden, das recht behaglich eingerichtet war, hauste der würdige, graubärtige Herr Mauk. Hier stand auch der halb in die Wand eingelassene Geldschrank.

Hellmer fand Thiele und noch einen Leutnant bei dem Oberzahlmeister vor, der jeder fünfzig Mark Vorschuß für März ‚losgeeist‘ hatten und sich gerade von Mauk mit vielen Dankesworten verabschiedeten. Als sie gegangen waren, meinte der Oberzahlmeister seufzend zu Hellmer:

„Es ist ein Elend mit den beiden, wahrhaftig! Heute am vierten Februar Vorschuß! – Gibt man nichts, so heißt’s gleich: der ungefällige Mauk!“

Hellmer lächelte ein wenig und deutete auf das halb offene Panzerspind, in dem man ganze Bündel Papiergeld aufgehäuft sah.

„Der Anblick ist zu verführerisch! Seien Sie froh, Herr Oberzahlmeister, daß Sie mit fünfzig davongekommen sind…!“ – Dann besprachen sie die Gehaltsfrage der Zivilangestellten.

Als Hellmer in sein Bureau zurückkehrte, traf er mit Winnig zusammen, der gerade aus dem Zimmer des Gerichtsoffiziers kam.

„Na, ich sage Ihnen, Hellmer, – der Major ist vorhin schön mit uns abgefahren von wegen der Jeuerei…!“ knurrte Winnig ärgerlich. „Ich wette, daß die Pahlke ihm die Geschichte zugetragen hat. Das Weib ist geradezu gemeingefährlich, horcht die Ordonnanzen aus und benutzt dann…“ Er schwieg plötzlich, da der lange Gneist auf der Bildfläche erschien.

Hellmer verschwand schleunigst in seinem Zimmer, schloß hinter sich ab und ließ sich aufstöhnend in den Schreibtischstuhl fallen. Wer ihn jetzt so gesehen hätte mit diesem schmerzverzerrten, bleichen Gesicht, das plötzlich um ein Jahrzehnt gealtert schien, mit diesen matten Augen, die wie hilfesuchend im Raume hin und her eilten und dann schließlich auf dem herben Charakterkopf eines Hindenburgbildes haften blieben, – wer dieses Zucken der Hände, dieses Zittern der halb ausgestreckten Füße beobachtet hätte, der mußte sich sagen, daß er hier einen Schwerkranken vor sich hatte.

Hellmers Augen schienen aus den eisernen Zügen des großen Feldherrn förmlich erhöhte Widerstandskraft herauszusaugen, bohrten sich in die Einzelheiten dieses seltenen, einen stahlharten Willen verratenden Antlitzes. Aber der wahnwitzige Schmerz, der von der Schußwunde am Rückgrat aus bis in den Hinterkopf sich hinaufzog, war stärker als die erprobte Energie dieses stillen Kämpfers. Hellmers Hand tastete nach der verschlossenen Schreibtischschublade. Der Schlüsselring klirrte, quietschend schob sich der Einsatz nach vorn. Und dem darin ängstlich verwahrten Kästchen entnahm der Gefolterte eine zierliche Spritze, zog den linken Ärmel der grünen Feldbluse hoch und … wußte nun, daß alsbald Linderung eintreten würde.

Wenige Minuten später klopfte es. Hellmer schloß schnell auf, öffnete. Es war der Bataillonsarzt Dr. Gell mit ein paar Aktenstücken…

„Morgen, Verehrtester, – wie geht’s? – Hm, Sie schaun etwas bläßlich drein. Urlaub nehmen, mindestens sechs Wochen! Aber – Sie wollen ja nicht.“

Hellmer log wie vorhin beim Kommandeur.

„Ich habe nur schlecht geschlafen, Herr Stabsarzt,“ meinte er, bereits mit einem zwanglosen Lächeln in dem schmalen Gesicht, von dem manche Offiziere des Bataillons behaupteten, es hätte etwas vom Asketen an sich. „Die Angewohnheit, im Bett noch zu lesen, werde ich streichen müssen. Dann hoffe ich bestimmt auf einen richtiggehenden Ratzen Schlaf. – Was bringen Sie, Herr Stabsarzt?“

Doktor Gell setzte sich, indem er zu Hellmers Worten eine sehr skeptische Miene aufsetzte.

„Mein Lieber, – Sie spielen Komödie,“ sagte er dann eindringlich. „Seien Sie doch ehrlich. Die Anfälle wiederholen sich häufiger seit einiger Zeit, nicht wahr? – Weshalb suchen Sie mich eigentlich zu täuschen?! – Mann, Sie gehören in eine Klinik, ohne Frage! Und wenn Sie nicht Vernunft annehmen, dann…“

„…dann kriegen Sie nie wieder eine anständige Zigarre von mir!“ vollendete Hellmer mit sorglosem Auflachen. Seine Augen hatten jetzt Leben, seine Gesichtsmuskeln Beweglichkeit und Spannkraft.

Der Stabsarzt schüttelte den Kopf. „Aus Ihnen mag der Deubel klug werden! – Na – ich lehne jede Verantwortung ab…“

 

 

7. Kapitel

Die blonde Frau Mia Bolz kam aus einem Schuhgeschäft, wo sie für den ‚Überschuß‘ des Kaffeekränzchens mit nachfolgendem Spielchen sich die seit langem heiß begehrten Lackschuhe gekauft hatte.

In der Kaiserstraße traf sie mit Hellmer zusammen, der langsam auf der ‚Tugendseite‘, dem Menschenstrom ausweichend dahinschlenderte.

Frau Mia stellte heute fest, daß Egon Hellmer von den Homburg-Offizieren doch fraglos die interessanteste Erscheinung war. Wenn er nur nicht stets so gräßlich einsilbig und zugeknöpft gewesen wäre…! Und – wenn es ihr doch nur gelingen würde, gerade ihn in den Kreis ihrer Gefolgschaft einzureihen, die dank ihrer versteckten Koketterie und etwas großzügigen Anschauungen und Umgangsformen sich jetzt fast täglich vermehrte…! Aber – Hellmer ließ sich so leicht nicht einfangen. Der besaß wohl zu viel Menschenkenntnis, vielleicht ebenso viel wie dieser Thiele!

Hellmer wollte mit höflichem Gruß an Frau Mia vorüber. Doch das gelang ihm nicht. Die schlanke, auch heute wieder in ihrer ganzen Aufmachung etwas stark auffallende Gattin des milden Karlchen steuerte auf ihn zu, streckte ihm in ihrer gekünstelt burschikosen Art die Hand hin und sagte:

„Tag, Herr Hellmer. Ich soll Ihnen Grüße von meinem Manne bestellen. Denken Sie, er ist jetzt in Budapest…“

„Verbindlichsten Dank für die Grüße, gnädige Frau,“ meinte Hellmer förmlich. „Sie gestatten, daß ich mich verabschiede. Ich wollte gerade nach der Kasse des Schauspielhauses. Es gibt abends ‚Wenn der junge Wein blüht…‘. Vielleicht bekomme ich noch einen Logenplatz.“

„Oh – ein guter Gedanke. Vielleicht gibt es noch … drei Logenplätze, zwei für mich, einen für Sie…“ Sie lächelte ihn an. Aber in ihren Augen glitzerte es wie eine versteckte Drohung. Sie merkte heute wieder, daß Hellmer sie nicht schätzte, ihre Oberflächlichkeit wohl durchschaute. Sie würde sich rächen… Mia Bolz ließ sich nicht ungestraft übersehen…

An der Theaterkasse war kein großer Andrang.

„Famos, daß wir zusammensitzen!“ meinte die Frau Hauptmann und schob ihre beiden Eintrittskarten in ihr Geldtäschchen. Dann fügte sie neckisch hinzu: „Abends wird es noch eine Überraschung für Sie geben.“

„Ich liebe keine Überraschungen; die guten sind zu selten,“ sagte Hellmer kühl. Er hatte keine Ahnung, wer das zweite Billet benutzen sollte, ahnte nur, daß die Überraschung sich hierauf bezog.

Frau Mia ging heim, begleitete Hellmer dann sogar noch bis zum Kasino. Unterwegs sprang sie in ihrer fahrigen Art von einem Thema zum andern…

„Denken Sie, ich habe festgestellt, daß ich Ihre Braut kenne, Herr Hellmer. – Ah, da setzen Sie ein erstauntes Gesicht auf! Wir sind mal zusammen in einem Basarkomitee gewesen. Ich ‚mache‘ viel in Wohltätigkeit. Eine Marotte von mir. Übrigens: zu dieser Braut kann man wirklich gratulieren. Schön, geistreich und auch ‚geistreich ohne Geist‘“ – sie belachte das Wortspiel über Gebühr! – „außerdem Temperament und moderne Anschauungen, – was gibt es da noch zu wünschen…?! Nichts – nichts!“

Egon Hellmer schwieg und schaute nach ein paar Kindern hin, die sich schneeballten. Es hatte langsam zu schneien angefangen, und die weißen Flökchen auf Frau Mias blauem Gesichtsschleier sahen wie eingestickte Muster aus.

Sie blickte ihn prüfend von der Seite an. Sie erinnerte sich an den spärlichen Briefwechsel, an das, was die Tochter der Kasinowirtin ausgeplaudert hatte. Mit der Liebe schien es bei diesem Verlöbnis nicht weit her zu sein…

„Wie, Herr Hellmer, sie stimmen in mein Loblied auf Fräulein Scharbeck nicht mit ein?!“ meinte sie, die Entrüstete spielend. „Schämen Sie sich! Sie müßten doch schwärmen wie ein Primaner – bei so viel glücklichen Eigenschaften der Erwählten!“

Hellmer nickte – aus Höflichkeit und Klugheit.

„Tue ich auch, gnädige Frau, – aber mehr innerlich! Für laute Gefühlsäußerungen bin ich nicht. Bei jedem Sturm wird das Meer auch nur anscheinend an der Oberfläche aufgerührt, – anscheinend; in Wirklichkeit zieht die Bewegung der Wasser bis in die tiefsten Tiefen hinab.“

Sie verstand ihn nicht ganz, war aber für Geistreicheleien nicht zu haben, wenn sie Nachdenken kosteten.

In sehr förmlicher Weise verabschiedete er sich dann vor dem Kasino. Als er die läuferbelegte Treppe emporstieg, blieb er plötzlich stehen. Da waren sie wieder, diese wahnsinnigen Schmerzen, die von der Schußverletzung im Rücken nach allen Seiten ausstrahlten… Er stöhnte; Schweiß trat ihm auf die Stirn. – Gleich darauf verschwand er im Waschraum und führte die kleine Spritze in die Unterarmhaut ein, – – atmete auf…

Morphium – ein Freund, ein Wohltäter, – – ein gefährlicher Feind! –

Bei der Mittagstafel feierten die ‚Jeubrüder‘, die Major von Vorwart mit drei Tagen Stubenarrest bestraft hatte, ‚Abschied vom Studentenleben‘, wie Winnig sich ausdrückte. Sie hatten Gneist zu ihrer billigen Bowle eingeladen. Aber der lange Adjutant hatte abgelehnt. –

Nur Thiele schien diese Bestrafung nahe zu gehen. Er saß verstimmt da und war recht kratzbürstig.

Winnig zog ihn etwas mit einer ‚gewissen blonden verführerischen Frau‘ auf, womit Mia Bolz gemeint war.

Thiele zuckte die Achseln. „Was soll das?!“ fragte er scharf.

„Na – na – nur nicht gleich beißen!“ raunte der Oberkrakeeler ihm zu. „Ich müßte mich doch verdammt geirrt haben, wenn ich nicht gestern und vorgestern im Glacis vor dem Osttor Sie und eine gewisse Jemand erkannt haben sollte…! Das milde Karlchen sollte ahnen, welch ein Fuchs um seinen Hühnerstall schleicht!“

Thieles stahlgraue Augen, die meist etwas schläfrig blasiert dreinschauten, wurden hart. Sein ganzes Gesicht veränderte sich einen Moment. Das war nicht mehr der Monokel-Thiele, den man hier kannte, das war ein ganz anderer, einer, der in jeder Linie seines Gesichts brutale Energie und Willenskraft verriet. Aber diese Enthüllung seines wahren Wesens dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Nur ein Zucken, ein Anspannen aller Muskeln war es gewesen. Immerhin sagte er dann noch ziemlich scharfen Tones zu dem Oberleutnant, sich dicht zu ihm hinabbeugend:

„Und Ihre Braut in Berlin sollte wissen, daß Sie versuchen, eine gewisse blonde Madonna zu betören…!“ Er hatte leise gesprochen. Aber der ihnen gegenüber sitzende Hellmer hatte die Worte doch halb verstanden, halb von Thieles Lippen abgelesen.

Winnig verfärbte sich. Die Augen der beiden Offiziere kreuzten sich wie Degenklingen. Dann versuchte der Krakeeler zu lächeln. Es wurde aber nur ein verlegenes Grinsen. Und ebenso unsicher klang auch seine Erwiderung:

„Braut…?! Sie machen Witze, mein Lieber, – schlechte Witze…!“

Thiele flüsterte ihm jetzt einen Namen zu.

Abermals zuckte Winnig zusammen. – „Woher – woher wissen Sie…?“ fragte er stockend.

Der Monokel-Thiele antwortete nicht, nahm sein Bowlenglas und trank dem Oberleutnant zu –: „Prosit – auf gute Kameradschaft!“

In diesem Augenblick erschien der Kommandeur im Speisesaal in Begleitung eines Hauptmanns, der sich heute bei ihm als zum Ersatzbataillon versetzt dienstlich gemeldet hatte.

„Die Herren gestatten,“ stellte der Major den Neuling vor –: „Herr Hauptmann Müller, heute zum Bataillon getreten.“

Neben Hellmer war noch Platz. Und so bekam er denn den Hauptmann mit dem Sammelnamen als Nachbar. – Müller hatte einen scharfsinnigen Charakterkopf, fast wie ein Schauspieler, und war etwas korpulent. Hellmer sagte sich bei seinem Anblick sofort: ‚Den kennst du!‘ Grübelte dann darüber nach, wo er mit diesem Herrn, der sehr schweigsamer Natur, dabei aber von einer feinen, zwanglosen Höflichkeit war, schon zusammengetroffen war. Er kam aber nicht dahinter. Nur eine Beobachtung machte er: Hauptmann Müller nahm offenbar ein großes, wenn auch geheimes Interesse an dem Monokel-Thiele.

Hellmer besaß ja überhaupt die Gabe, unauffällig eine große Gesellschaft beobachten zu können. Er hatte sich schon als junger Referendar während seiner Ausbildungszeit zum Untersuchungsrichter und bei der Staatsanwaltschaft daran gewöhnt, seine Augen gebrauchen zu lernen, hatte sogar freiwillig an einem Kursus teilgenommen, den ein berühmter Kriminalkommissar über praktische Kriminalwissenschaften abhielt. Seiner ernsten Natur entsprach es durchaus, in größerem Kreise mehr den aufmerksamen Zuhörer als den anregenden Gesellschafter zu spielen. Er mischte sich selten in die Unterhaltung. Das, was er dann aber einwarf an kurzen Bemerkungen, waren stets scharfdurchdachte, oft geistvolle und im Ausdruck feingeschiffene Sätze. Deshalb auch fand er überall Beachtung trotz seines stillen Wesens, deshalb war auch Irma Scharbeck auf ihn aufmerksam geworden, hatte erst nur an dem ‚steinernen Gast‘, wie er vielfach genannt wurde, ihre koketten Künste versucht, war dann jedoch in jäher Leidenschaft für den kühlen, förmlichen Assessor entbrannt, der jungen Damen gegenüber stets so tat, als sei er über weichere Gefühle und Liebesgetändel völlig erhaben. Vielleicht war es bei Irma nur der Wunsch gewesen, diesen ‚steinernen‘, trotzdem überall gern gesehenen und bevorzugten Gast für sich zu erringen, um ein Gefühl der Eitelkeit zu befriedigen. Wie weit ihr Herz dabei beteiligt war, wußte sie wohl selbst kaum. Sie gehörte eben zu den komplizierten Naturen, denen es ein leichtes ist, sich Empfindungen selbst zu suggerieren, geradezu einzureden und eine Weile dann auch an deren Echtheit zu glauben.

Hellmer merkte also, daß der neue Hauptmann ohne Zweifel dem Monokel-Thiele mehr Beachtung schenkte als dessen äußere, freilich recht ansprechende Erscheinung es verdient hätte. Nach Tisch brachte es der Zufall mit sich, daß Hellmer und Müller allein im Lesezimmer zusammensaßen und ihren Kaffee tranken. Der Oberleutnant meinte dann nach einer Weile, als Müller mit ihm ein Gespräch angeknüpft hatte: „Wir sollten uns kennen, Herr Hauptmann… Aber woher nur?“ –

Zu Hellmers Erstaunen erfolgte darauf die Antwort:

„Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie nicht schon bei Tisch hierauf zu sprechen kamen. Es hätte für mich unangenehm werden können.“

Hellmer sah den anderen verwundert an. Der beugte sich in seinem Klubsessel jetzt weit vor und redete ganz leise auf den Oberleutnant ein…

 

 

8. Kapitel

„Ach, ich bin Ihnen ja so dankbar, liebe, liebe Frau Bolz,“ sagte Dora freudig bewegt. „Wann komme ich mal ins Theater – wann…?!“

„Kleines – nur keine unnützen Worte darüber machen!“ meinte Mia Bolz lächelnd und fuhr sich mit der Puderquaste über das Gesicht, indem sie sich im Handspiegel eitel von allen Seiten betrachtete. „Es wird jetzt aber höchste Zeit… Wir müssen aufbrechen…“

Draußen im Vorflur wurden plötzlich erregte Stimmen laut. Das Mädchen kam, winkte Mia hinaus und flüsterte ihr zu: „Der Bäcker mit der Rechnung!“

Mia zuckte geringschätzig die Achseln. Sie hatte für ihren abwesenden Gatten das Gehalt empfangen, und wenn sie ein paar Hundertmarkscheine besaß, konnte sie gegen Lieferanten sehr unangenehm werden. – Der Bäcker wurde bezahlt und das Mädchen erhielt noch in seiner Gegenwart die Anweisung, anderswo fortan einzukaufen.

Dann machten sich Mia und die blonde Madonna auf den Weg nach dem in der nahen Kaiserstraße gelegenen Schauspielhaus. – Der Vorhang hob sich gerade, als sie ihre Loge betraten. Trotz der schwachen Beleuchtung erkannte Dora sofort in dem Offizier, der vorn an der Brüstung saß, Egon Hellmer. Ihr Herzschlag stockte, ihre Füße hafteten am Boden. Da schob Frau Bolz sie vorwärts…

„Nur keine Angst, Kleines… Freuen Sie sich doch, daß Sie neben ihm sitzen – stundenlang.“

In der ersten Pause ließ Mia die beiden in der Loge allein und begrüßte nebenan die Frau des Stabsarztes Doktor Gell, eine stattliche Brünette, die ihrem Manne neben einem großen Vermögen auch ehrliche Liebe und treue Kameradschaft mit in die Ehe gebracht hatte. Gell’s nannte man in der Garnison nur das ‚ewige Brautpaar‘. Er lächelte glücklich dazu, wenn dieses Wort fiel, nickte und sagte stets: „Ja – ja, meine Anni…!“

Hellmer begann mit Dora, die ihre Verlegenheit kaum verbergen konnte, eine gleichgültige Unterhaltung. Als er vorhin gesehen, für wen Frau Mia das zweite Billet erstanden hatte, war in ihm sofort der so naheliegende Gedanke aufgezuckt: ‚Hier will die kokette Frau irgendwie Vorsehung spielen. Die blonde Tochter deiner Wirtin scheint also wohl für dich ein stärkeres Interesse zu haben. Aber – weiß Frau Mia denn nicht, daß du verlobt bist, daß es also ein frivoles Spiel wäre, diesem zarten Kinde, der blonden Madonna, noch Gelegenheit zu geben, mit dir zusammenzukommen…?! Ja – sie weiß es, und deshalb ist dieser Frau gegenüber mehr denn je Vorsicht geboten. Sie spielt Vorsehung – aber sicherlich nicht in guter Absicht!‘

Hellmer sah, wie Dora sich alle Mühe gab, harmlos zu erscheinen. Heute zum erstenmal eigentlich betrachtete er sie genauer, zerlegte ihr feines Gesichtchen, fand es ohne Tadel, beobachtete ihr sich Geben, ihre Sprache, ihr ganzes Benehmen. Die Überzeugung, daß er ihr nicht gleichgültig sei, machte sie ihm interessant. Das war so verständlich. Bisher hatte er über Dora sozusagen hinweggesehen. Sie war für ihn nur die Tochter der Frau Rat gewesen, bei der er den Salon gemietet. Jetzt hatte sich dies geändert. Und er wunderte sich über sich selbst, daß er trotz der Beachtung, die die Homburg-Offiziere dem schönen Mädchen stets schenkten, sich noch nie eingehender mit ihrer Person beschäftigt hatte, obwohl ihm doch dazu leicht Gelegenheit gegeben war.

Doras Unsicherheit deutete er sehr richtig: es war dies die Folge des Alleinseins mit ihm, das Frau Mia vermittelt hatte. –

In der Loge war sonst niemand während dieser ersten Pause anwesend. Hellmer tat die blonde Madonna leid. Sie war so nervös, so zerstreut. Vielleicht fürchtete sie, daß er vermuten könnte, sie wisse um diese von Frau Mia beabsichtigte Begegnung.

Er täuschte sich in dieser Beziehung nicht. Dora war jede Freude an diesem erst so jubelnd begrüßten Theaterbesuch genommen. In ihrer scheuen Mädchenseele lebte nur die eine Angst: ‚Er denkt, daß du dieses Zusammensein gewollt hast!‘ – Sie war froh, als der Vorhang wieder hochging.

Die Vorgänge auf der Bühne nahm sie kaum wahr. Sie fühlte geradezu Hellmers körperliche Nähe. Wenn er sich bewegte, zuckte sie zusammen. Ihr Herz klopfte unregelmäßig, ihr Atem ging schnell. Ihre stille Schwärmerei wurde in dem Halbdunkel des Zwischenraumes zur sehnsüchtigen Leidenschaft. Ihre Gedanken umkreisten ihn ohne Unterlaß. Sie wußte, daß er mit der anderen, deren Ring er am Finger trug, einen Ring mit einem Herzen von kleinen Brillanten und einem ‚J‘ in der Mitte, nie glücklich werden würde; diese Gedanken verloren sich ins Uferlose. Wurden allmählich zu eifersüchtigen Quälerei, zu sinnlosen Wünschen und Hoffnungen.

Auch er beschäftigte sich mit ihr. Und – seltsamerweise – er verglich dieses schöne, stille, bescheidene Kind, diese Verkörperung aller guten Eigenschaft des deutschen Weibes, mit Irma, ihrem Flattersinn, ihren ganzen übermodernen Anschauungen. Seine Braut schnitt nur zu schlecht dabei ab. –

Dann dachte er an die Mutter und die Schwestern dort im pommerschen Landstädtchen, die auf diese reiche Heirat sehnsüchtig warteten, auf die Mitgift, von der er ihnen dann zurückzahlen konnte, was sie sich abgedarbt hatten – seinetwegen. Das waren die Fesseln, die er stets fühlte: Geld – – Geld – der elende Mammon! –

In der nächsten Pause verschwand Frau Mia abermals. Dora war jetzt gefaßter, sicherer. Er schlug einen etwas vertrauteren, halb brüderlichen Ton an; das Gespräch zwischen ihnen wurde zwangloser. Sie ging mehr aus sich heraus, vergaß ganz, daß er ihr doch eigentlich ein Fremder war. Ganz offen sprach sie über ihre kleinen Sorgen, über dies und jenes, ließ ihn unbewußt einen tiefen Blick in ihre Seele tun. Er fühlte, wie vertrauensvoll sie sich ihm gegenüber gab. Und wußte, weshalb, sagte sich ohne Eitelkeit, mit stillem Bedauern: Sie liebt dich! – –

Als sie dann zu dreien heimgingen, er in der Mitte zwischen der reifen Frau und dem zarten, lieben Mädel, fühlte er bitteren Groll gegen Frau Mia, die in die Herzen zweier Menschen Unruhe und aufkeimende Wünsche hineingepflanzt hatte durch diese Stunden, die so schnell, zu schnell verflossen waren. –

Frau Mia stieg eine Treppe höher, und Dora und Hellmer betraten die Wohnung der Rätin. Diese hatte auf ihr Kind gewartet, war aber über einer Stickarbeit fest eingeschlafen.

Dora verabschiedete sich im Vorflur von Hellmer. Reichte ihm die Hand, sagte verträumt:

„Es war ein schöner Abend…“

„Ja … und doch ist es besser, wir verleben keinen solchen mehr. – Gute Nacht…“

Er verschwand in seinem Zimmer.

Dora schaute ihm nach. Was war das eben gewesen – was sollten diese Worte…?… „…besser, wir verleben keinen solchen mehr…!“

Langsam, nachdenklich ging sie ins Wohnzimmer, sah hier die schlafende Mutter, der die Brille bis auf die Nasenspitze gerutscht war, machte kehrt, zog im Flur die Jacke aus, nahm den Hut ab…

Da trat Hellmer aus seinem Zimmer, stutzte.

„Ich wollte mir Wasser aus der Küche holen, Fräulein Dora,“ sagte er erklärend. Er hatte die Karaffe und ein Licht in der Hand.

Dora nahm ihm das Glasgefäß ab. Dann standen sie in der kleinen, eiskalten Küche, deren Fenster dick mit Eisblumen bedeckt war.

„Mutti ist eingeschlafen,“ meinte Dora entschuldigend. „Deshalb hat sie die Karaffe nicht gefüllt. – Ach, sie ist stets so müde jetzt. Die schlechte Kost, … und kräftig war sie nie. Hoffentlich kann ich ihr nun bald etwas vom Lande schicken – Schleichware…!“ Sie lächelte. „Mutti muß sich pflegen. Da werde ich gern zur Gesetzesübertreterin.“ Sie drehte den Hahn der Wasserleitung auf. Der Strahl rauschte in die runde, grüne Flasche.

„Sie gehen fort?“ fragte Hellmer, und leises Bedauern war in seiner Stimme.

„Ja. Heute nachmittag erhielt ich Antwort aus Malwitzkowo von dem Gutsverwalter – sogar telegraphisch. Ich wollte erst Ende Februar die Stellung als Gesellschafterin antreten, aber die Dame – ich weiß noch nicht einmal ihren Namen! – verlangt mich schon zum fünfzehnten spätestens. Wenn ich mich aber schon am zehnten melde, erhalte ich noch das volle Monatsgehalt. Daher werde ich also bereits heute nach einer Woche abreisen. Eine Reise ist es nicht – nein, nur eine kurze Fahrt. Das tröstet Mutti auch…“

Hellmer glaubte sich verhört zu haben, fragte:

„Malwitzkowo?“

„Ja, so heißt das Rittergut. Es liegt bei Malguhnen an der Strecke nach Pillau.“

Er schaute zu Boden. ‚Seltsamer Zufall!‘ dachte er. ‚Die blonde Madonna wird also die Gesellschaftsdame meiner Schwiegermutter…‘

Laut aber sagte er: „Ich kenne das Gut dem Namen nach. Mein … mein Schwiegervater hat es vor kurzem gekauft und auch gleich übernommen.“

Krach – die Wasserflasche zerschellte am Boden, war Dora aus der Hand gefallen. Und ganz entgeistert starrte sie ihn nun an.

„Frau Scharbeck also … Frau Scharbeck…?!“ sprach sie vor sich hin. „Hätte ich das gewußt, dann…“

„Nun – dann?“ fragte er schnell.

Sie bückte sich, las die Scherben auf.

In demselben Augenblick erschien die Rätin in der Küchentür. Der Knall der in Splitter gehenden Karaffe hatte sie geweckt.

„Dora!“ rief sie ärgerlich. „Was tust du hier?“

Hellmer schrak ebenso zusammen wie die arme blonde Madonna, gab dann aber sofort die nötigen Aufklärungen. – –

„Also Hellmer war ebenfalls im Theater?!“ meinte die Rätin nachher im Wohnzimmer zu Dora. „Hast du das vorher gewußt?“

„Nein, Mutti.“ Und die Madonna wurde feuerrot.

Die Frau Rat seufzte. „Kind – Kind … ich fürchte, daß du … daß du dein Herz womöglich an jemand verloren hast, der … der…“

Dora versteckte den Kopf hinter der erhobenen Abendzeitung, schwieg…

Wieder seufzte die Rätin. „Denk’ an Winnig, Kind, – vergiß nicht, daß du … du gezwungen bist, mehr den Verstand sprechen zu lassen. – Ach – wenn ich dich nur erst verheiratet sähe, Dora…! Mir ist jetzt zuweilen so schwer zumute, so … als ob ein Unglück bevorstände. Ich habe heute Patience gelegt, – – es ging nie auf…“

Dora ließ die Zeitung sinken, sagte fest:

„Mutti, du sollst wieder froh werden…! Noch acht Tage… Da kann viel geschehen!“ Ihre Lippen zuckten, ihre Augen starrten ins Lampenlicht. Ihr Herz hatte soeben alles in einem kleinen Winkel fortgedrängt, was der heutige Abend hatte erstehen lassen. Sie war erwacht. Die rauhe Wirklichkeit war wieder um sie her. Sie dachte an den reichen Winnig, der gestern im Glacis zu ihr gesagt hatte: ‚Ich habe Sie fast zu spät kennengelernt, – fast! Aber – noch ist es Zeit!‘ – Und da hatte sie gesagt: ‚Was meinen Sie damit, – ich verstehe Sie nicht…!‘ –

„Sie werden mich schon verstehen,“ war seine leise Erwiderung gewesen; und er hatte ihre Hand genommen und in der seinen so hart gedrückt, daß sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß…

Daran erinnerte sie sich jetzt, an dieses ‚Noch ist es Zeit!‘ Und sie deutete es sich in ihrer Ahnungslosigkeit nur halb richtig. – –

Hellmer saß vor dem Schreibtisch. Irmas Photographie hatte er mit der Bildseite nach unten gelegt. Es störte ihn heute. Er überdachte die soeben verflossenen Stunden.

Die Reinheit hatte neben ihm gesessen in der Loge des Schauspielhauses… Die blonde Madonna mit ihrer Seele voll unverfälschter Gefühle…

„Blinder Tor!“ murmelte er vor sich hin. „Daß du nicht früher gemerkt hast, wie es um sie steht! Wenn du offene Augen gehabt hättest, wäre dir diese kleine Herzenstragödie nicht verborgen geblieben… Sonst siehst du so viel, – alles, zu viel, – durchschaust die Menschen so schnell! Hier – hier wurdest du erst heute sehend!“

Und nach einer Weile…: „Was bezweckt nur jene Frau da oben, diese Intrigantin – was – was?! Welches Interesse nimmt sie an mir und der blonden Madonna?! – Ach – wie richtig sie die Wirkung dieses Abends vorausberechnet hat! Gerade ich mit dieser Herzensleere, dieser steten Sehnsucht nach einem Weibe, die mir alles sein sollte – Freundin, Vertraute, Geliebte! –, gerade ich werde an diesem Abend zu tragen haben, – lange – lange! Es wird einen harten Kampf kosten mit der Vernunft, die ja siegen muß – muß – des Geldes wegen! – Arme, kleine Madonna … du und ich – wir könnten sicher überglücklich werden, wenn – wenn… Aber – – dort in Pommern – – ja, sie haben’s verdient, die Meinen, daß ich tottrete, was da an zarten Blüten aufkeimen will…!“

Er fuhr mit der Hand über die Stirn hin, streckte diese Hand dann aus und stellte seiner Braut Bild wieder aufrecht… – – –

Frau Mia war nur zum Schein die Treppe zu ihrer Wohnung emporgestiegen, hatte oben vor ihrer Flurtür gewartet und war dann wieder auf die Straße hinabgeeilt. Den Theaterschal vor das Gesicht gezogen, ging sie nun hastig durch die stillen, nächtlichen, weißen Straßen, wich ängstlich allen ihr Entgegenkommenden aus und verlangsamte dann plötzlich ihre Schritte, blieb stehen, wollte umkehren…

Noch nie war sie trotz all ihrer Leichtfertigkeit einen Weg gewandelt wie diesen… Noch nie hatte sie ein kokettes Spiel so weit getrieben wie jetzt, noch nie den Versuch gemacht, die Mittel zur Befriedigung ihrer Genuß- und Prunksucht auf solche Weise zu verschaffen…

Ein Rest von Ehrlichkeit in ihrem Herzen raunte ihr zu: ‚Kehre um … kehre um! Denke an deine Kinder, an den Mann, dessen Namen du trägst! Wie leicht kannst du ihn bloßstellen, wie schnell werden böse Zungen dafür sorgen, daß selbst das Harmlose in häßlichen Verdacht verwandelt wird.‘

Ach – dieser Rest von Gutem war nur zu klein! Andere Stimmen wurden laut: ‚Was ist denn dabei, daß du dich zu bereichern trachtest auf eine Weise, wie tausende es tun, – was ist dabei, daß du zu diesem Zweck heimliche Pfade gehst…?!‘ –

Wenige Minuten später klopfte Frau Mia dreimal leise gegen das erleuchtete Fenster einer Erdgeschoßwohnung.

Thiele schlug den Vorhang beiseite. Dann ließ er sie ein. Etwas verlegen schaute sie sich in seinem Wohnzimmer um. Sie sah auf dem Mitteltisch Sektgläser, Süßigkeiten, Obst, Kaviar, Brotschnittchen… Er hatte für den Empfang seiner Vertrauten alles verschwenderisch hergerichtet. Auch Blumen fehlten nicht.

Er benahm sich dann überaus zurückhaltend, höflich und feinfühlig, erleichterte ihr die Situation nach besten Kräften. – Ihre Verlegenheit schwand, als sie merkte, daß er sie ganz als Dame behandelte. Nicht die geringste Vertraulichkeit erlaubte er sich. Eigentlich war sie hierüber doch etwas enttäuscht. Ihre Eitelkeit hätte es lieber gesehen, wenn er in ihr auch das begehrenswerte Weib vor sich, bei sich hatte.

Sie hatte Theatermantel und Schal abgelegt. Er schloß jetzt die Innenläden der beiden Fenster, reichte ihr Feuer für ihre Zigarette und sagte dann:

„Würden Sie mich für zehn Minuten entschuldigen, Frau Mia? Ich möchte gern noch aus einer Weinkneipe eine Flasche Sekt holen. – Bitte – widersprechen Sie nicht. Sie sind hier ganz sicher. Niemand wird Sie hier stören. Dort habe ich Ihnen ein Album mit eigenen Aufnahmen von Ceylon zurechtgelegt…“

Mia war allein. Stand auf und drehte nun auch den elektrischen Kronleuchter an. Dieses möblierte Zimmer sah aus wie ein Raritätenkabinett. Thiele, infolge seines Armschusses dauernd nur noch garnisondienstfähig, hatte es mit den Andenken all seiner Orientreisen verschwenderisch ausgeschmückt. Frau Mia ging hin und her, schaute sich die indischen Götzen, die Seidendraperien, die Waffen und all das andere an, das offenbar mit Geschmack und vollem Beutel ausgewählt war.

Dann setzte sie sich wieder in den Klubsessel, naschte von den Süßigkeiten, die sicher sündhaft teuer waren, und begann in dem Album zu blättern, errötet, lächelte… Szenen aus dem Leben der Singhalesen zeigten die Photographien zumeist, gutgewachsene Frauen und Mädchen im Bade, Liebespärchen, offenbar heimlich geknipst mit der Momentkamera…

Frau Mia atmete schneller. Dieser Thiele…! Ihr solche Bilder vorzulegen – – wirklich stark! Ihr Mann hätte das nie getan, der gute Karl… Mit Thiele ließ er sich allerdings nicht vergleichen. Thiele war Weltmann, ihr Gatte so hausbacken, so … so nüchtern – altfränkisch, auch in seiner Liebe…

Auf dem Schreibtisch stand eine altertümliche Uhr, schlug jetzt zwölf mit tiefem Glockenton.

Frau Mia wurde unruhig. Thiele war nun schon gut zwanzig Minuten fort…

Ah – endlich! Er kam. Er trug über dem grauen Militärmantel einen langen Umhang. Begrüßte sie lächelnd, ging in sein Schlafzimmer und war nach wenigen Minuten wieder bei ihr.

„Hoffentlich hat niemand Sie gesehen,“ meinte sie, ihm mit dem Finger drohend. „Sie haben doch Stubenarrest, und deshalb dürfen Sie ja Ihre Wohnung gar nicht verlassen…!“

„Auch nicht Besuch empfangen, – selbst so schönen nicht!“ fügte er gutgelaunt hinzu. „So – nun werde ich die mitgebrachte Flasche Sekt öffnen. Sie ist unterwegs bei den zwölf Grad Kälte draußen gerade trinkbar geworden.“

Dann stieß er mit ihr an. „Auf gutes Gelingen!“ sagte er, goß gleich zwei Gläser des herben Vix Bara1 hinunter.

„Wie haben Ihnen die Ceylonbilder gefallen?“ meinte er nun, sich aus seiner Sofaecke näher zu ihr hinbeugend.

„Ganz nett…“

„So – ich denke: Sehr nett, sehr interessant! Das braune Völkchen da unten versteht zu leben und zu lieben! Anders wie die biederen Deutschen…“

Er erzählte Erlebnisse, die den Bildern an Deutlichkeit in nichts nachstanden, lächelte Mia an, zwang sie zum Trinken.

Sie wurde ängstlich. Er war jetzt so ganz anders als vorhin. Zudringlich fast. Seine Augen forderten…

„Hören Sie auf!“ rief Frau Mia und gab sich alle Mühe ihm zu verbergen, daß ihre Phantasie durch diese bunten Schilderungen nur rege geworden war. Sie hielt sich die Ohren zu, sagte wieder: „Aufhören – oder – ich gehe!“

Er verbeugte sich ironisch. „Wie Gnädigste befehlen.“

„Ja – ich befehle! – Und nun – bitte – das andere!“

„Ach so – das Geschäft! – Schade, daß Sie so wenig Sinn für meine Abenteuer haben, Frau Mia, daß nun das nüchterne Geld die Liebe verdrängen soll.“

Er haschte nach ihrer Hand. „Bitte – stillhalten, – nicht so prüde sein…“ Er küßte das Handgelenk. „Nein – Ihre Seife, Frau Mia, taugt nichts. – Warten Sie…“

Er holte aus einem chinesischen Schränkchen ein winziges Fläschchen, aus Achat geschnitzt, öffnete den mit Wachs verklebten Stöpsel, träufelte ihr nur zwei Tropfen in die offene Hand.

„Verreiben! Schnell…!“ sagte er.

Sie tat’s. Es war ein ganz seltsamer Wohlgeruch, der nun sehr bald das ganze Zimmer erfüllte.

„Köstlich – wundervoll!“ rief Mia. Aber bald merkte sie, wie gefährlich dieses indische Parfüm war.

Er hatte sich hinter ihren Sessel gestellt, auf die Lehne gestützt, sich über sie gebeugt…

So sprach er von dem Spiel an der Börse, von der Möglichkeit schnellen Geldverdienens, von Minenpapieren, Aktien, von so vielem, was sie nicht verstand und was er ihr nur in seiner Wohnung hatte anvertrauen wollen… Sagte jetzt, daß fünfhundert Mark als Anfangskapital genügen würden, daß diese fünfhundert Mark vielleicht schon in drei Tagen zu zwei–dreitausend geworden sein könnten.

Als sie ihm kleinlaut eingestand, daß sie zur Zeit nur etwa zweihundertundfünfzig Mark zur Verfügung hätte, winkte er nachlässig mit der Hand.

„Dann nehmen Sie die fünfhundert eben von mir als Darlehn an. – Nein – nicht verlegen werden, Mia, – es ist doch nichts als ein Geschäft. Ich verlange auch Zinsen und einen Schein, – damit es so hergeht, als ob wir nur Geldleute sind, und für Sie jede Peinlichkeit fortfällt.“

Er schrieb auf einen halben Bogen Briefpapier eine Schuldverschreibung, und Mia unterzeichnete sie unter Lachen, da er den Vorgang durch scherzhafte Bemerkungen würzte.

Den Schein schloß er weg. Dann erklärte er ihr, er würde gleich morgen Papiere kaufen, Spekulationswerte, bei denen er eine schnelle Kurssteigerung erwartete. – Er stand wieder hinter ihr, drückte ihr das Sektglas in die Hand…

„Trinken wir nochmals auf gutes Gelingen!“

Seine Augen ängstigten sie wieder. Sie erhob sich schnell… „Ich muß jetzt gehen…,“ sagte sie verwirrt, als er sie so flehend ansah.

Er nahm ihre beiden Hände, hielt sie an den Gelenken fest. Sie fühlte, welche Kräfte er besaß. Sah, daß dieser Thiele hier vor ihr nicht mehr der süßliche, blasierte Leutnant war, vielmehr ein Mann, stark, selbstbewußt, herrisch…

„Bleiben Sie doch, Mia,“ bat er und zog sie näher. „Bleiben Sie noch… Ich liebe Sie…! Sie dürfen so nicht von mir gehen… Ich verlange nichts… Nur ein einziges Mal möchte ich Sie … küssen Mia, … küssen, ganz brav …, ich verspreche es Ihnen!“

Sie lag jetzt schon halb an seiner Brust…

Draußen vor den Fenstern knirschte der Schnee unter den Schritten eines Menschen. Die Schritte machten halt…

Blitzschnell hatte Thiele die Stehlampe auf dem Sofatisch ausgedreht.

Sie standen nun im Dunkeln. „Still,“ flüsterte er. „Ganz still…!“ Er schlich zum Fenster. In dem einen Laden war ein Guckloch. Er schob die Blechscheibe, die es bedeckte, hoch, spähte hinaus. Die Vorhänge schlossen hier nicht dicht.

Draußen auf dem Bürgersteig stand ein Offizier, den Pelzkragen hochgeschlagen, steckte sich eine Zigarette an, ging weiter.

Thiele atmete auf, schaltete die Lampe wieder ein. Als Mia sich nun zum Gehen fertig machte, half er ihr sofort, holte dann einen Zivilmantel aus seinem Schlafzimmer, ebenso einen weichen Filzhut und erklärte, er würde sie so als Zivilist heimbringen.

Mia sah, wie er das Monokel beiseite legte und eine Brille mit runden Gläsern und Horneinfassung aufsetzte.

Sie lachte. „Wie ein Schulmeister schaun Sie jetzt aus.“

Er nickte. „Meinetwegen! Wenn man mich nur nicht erkennt!“

Sie war wieder so ein ganz klein wenig in ihrer Eitelkeit gekränkt. Vorhin hatte er von seiner Liebe zu ihr gesprochen. Jetzt schien das ganz vergessen zu sein.

Doch nein! Ehe sie sich’s versah, hatte er sie umfaßt, den Schal hochgezogen und sein Gesicht dem ihren ganz dicht genähert. Seine grauen Augen ruhten fest auf ihrem Gesicht… „Einen Kuß, Mia, – nur einen…,“ flüsterte er.

Sie schloß die Lider. Der Wein, das indische Parfüm, seine Nähe, seine Kraft – alles wirkte zusammen. Sie war machtlos – wollte es sein, … wartete auf seine Lippen…

Und er … er berührte jetzt nur flüchtig ihre Stirn in fast ehrerbietigem Kuß, gab sie dann frei… –

Frau Mia schlich in ihre Wohnung hinauf. Legte im Wohnzimmer langsam, nachdenklich Mantel und Schal ab, – – sehr nachdenklich…

Ein wunderlicher Mensch…! So genügsam…! – Und doch: sie war froh darüber. Jetzt wieder allein, war sie ihm sogar dankbar. Sie war einer großen Gefahr entronnen… – Ein Ehrenmann, dieser Thiele…!

Und sie ging ins Schlafzimmer, schaute auf die Betten ihrer Kinder, lächelte glücklich…

Ein Ehrenmann…

 

 

9. Kapitel

Oberzahlmeister Mauk rannte über den Kasernenhof in den Seitenflügel, stürmte zu Porwitz ins Zimmer und fiel hier atemlos in den Stuhl, den Gusti Hönig ihm schnell hinschob.

„Ich – ich bin bestohlen worden – – bestohlen!“ stotterte er, ganz weiß im Gesicht. „Der Geldschrank ist leer … fünfunddreißigtausend Mark lagen drin … fünfunddreißigtausend Mark!“

Porwitz fuhr ordentlich hoch.

„Nicht möglich?!“ rief er. „Das – das…“

„Es ist so.“ Und Mauk berichtete, sich mühsam zusammennehmend, wie er soeben den Diebstahl festgestellt hätte, nachdem er kaum eine viertel Stunde in seinem Zimmer anwesend gewesen wäre.

Porwitz als Gerichtsoffizier traf sofort alle Maßnahmen, die dieser Diebstahl, der so manche rätselhaften Begleitumstände hatte, verlangte. Gusti Hönig und der zweite Schreiber, ein Gefreiter, mußten tiefstes Stillschweigen geloben. Als Major von Vorwart gegen zehn Uhr in der Kaserne erschien, hatte die Kriminalpolizei bereits unauffällig den Tatort untersucht und die Ermittlungen eingeleitet.

Porwitz meldete dem Kommandeur den unangenehmen Vorfall, berichtete, daß der Panzerschrank fraglos mit einem Nachschlüssel geöffnet sei und daß als Dieb nur eine Militärperson in Betracht komme, die allein erfahren haben könnte, daß gestern dem Bataillon von der Regierungskasse fünfunddreißigtausend Mark zur Auszahlung an einen Bauunternehmer überwiesen worden wären.

Der Major ließ – was Porwitz sehr auffiel – sofort durch eine Ordonnanz den Hauptmann Müller holen, der jetzt das Rekrutendepot des ‚milden Karlchen‘ an Stelle Winnigs führte.

Damit war die Sache für Tage erledigt. Der Major sprach kaum noch davon. Porwitz merkte, daß irgend etwas im Gange war. Was, wußte er nicht. Er fühlte sich zurückgesetzt und äußerte dies auch im Kasino beim Mittagessen, worauf Winnig erklärte, der seinen Stubenarrest ebenso wie die anderen Jeubrüder glücklich hinter sich hatte: „Ja, mein Lieber, der Major weiß eben, daß es keine Kasernengeheimnisse gibt, daß alles, was dort passiert, weitergetratscht wird, – und das läßt sich kaum vermeiden. Daher schweigt er.“

Der lange Gneist lächelte vielsagend. Er wußte Bescheid. Er konnte schweigen. Und schwieg auch jetzt.

Hellmer, der sich mit Hauptmann Müller inzwischen stark angefreundet hatte, ließ seine Blicke die Tischrunde entlanggehen. Wenn die Kameraden geahnt hätten, was ihm, Gneist und wenigen anderen über den Diebstahl anvertraut worden war…! Niemand vermutete etwas derartiges. Das zeigte die harmlose Fröhlichkeit, die gerade heute herrschte, da Winnig seinen Geburtstag feierte und eine Riesenbowle ‚geschmissen‘ hatte.

Thiele saß am Klavier, das in den Saal gerollt worden war, und spielte einen Walzer. Soeben hatte Müller als Tischältester Mahlzeit gesagt und damit die Erlaubnis zum Rauchen gegeben.

Hellmer beugte sich zu Müller hin und flüsterte:

„Wann platzt die Bombe?“

„Bald – vielleicht morgen!“

Der dicke Heister und ein Fahnenjunker tanzten Walzer. Andere Paare schlossen sich an. Thiele am Klavier sang: „Heimlich bei Nacht ist die Liebe erwacht, die Liebe mit süßem Verlangen…“

Er sang nicht schlecht. „Zum Operettentenor an einer kleinen Bühne langt’s,“ meinte Müller. „Schade, daß er so vielseitig ist.“

Hellmer brach auf. Im Flur half ihm eine Ordonnanz in den Pelz. Er sah nach der Uhr. – Halb drei, – er mußte sich beeilen.

Am Tor auf der Wallpromenade wartete Dora. Sie begrüßte ihn etwas scheu.

„Ein so trübes Gesichtel, Fräulein Dora?“ fragte er teilnehmend.

„Ich … ich muß gleich wieder nach Hause,“ erwiderte sie gepreßt. „Mama hat Winnig, der heute doch Geburtstag hat, zum Kaffee eingeladen. Da gibt es daheim zu tun. Außerdem – ich fürchte, sie ahnt, daß wir uns ein paarmal getroffen haben. Sie will nichts von dieser Freundschaft zwischen uns wissen… Und … es ist doch nur ehrliche Freundschaft – nichts weiter!“

„Ja – nichts weiter!“ wiederholte er leise.

Auf der Wallpromenade war es um diese Zeit ganz einsam. Schweigend gingen die beiden Menschen nebeneinander her, waren schon glücklich, nur beisammensein zu dürfen – diese beiden, die einer den andern zu täuschen suchten, Freundschaft heuchelten und doch die Herzen voller Liebe hatten, die aber zu treu waren gegen das, was sie sich vorgenommen, um in diesem Kampf gegen heiße Wünsche und nie gestilltes Sehnen je nachzugeben, feige zu weichen.

Sie gingen und hatten sich so viel – so viel zu sagen, schwiegen doch aus Furcht, daß ein unbedachtes Wort den Wall einreißen könnte, den sie gegen den andern vor sich errichtet hatten – gegen den andern und das Sehnen…

Dann sagte Hellmer, indem er stehen blieb:

„Also selbst diese kleine Freude, diese harmlosen Spaziergänge sollen uns verwehrt werden…?! Wie ist doch die Welt so schlecht, das Leben so grausam! Noch vier Tage, Dora, dann reisen Sie ab, dann … hört alles auf. Wenigstens diese vier Tage hätte man uns noch gönnen können.“

„Es ist vielleicht besser so…,“ meinte sie, und ihre Stimme klang wie zerbrochen. „Werden sie auch Ihr Versprechen halten?“ fügte sie mit Betonung hinzu.

„Ja, Dora. Ich werde in ein Sanatorium nach Berlin gehen, mich behandeln lassen und mir das Morphium abgewöhnen. Doktor Gell hätte das nicht bei mir erreicht. Sie haben’s, kleine Madonna!“

„Ich bin so froh darüber.“

„Sie sind eine Madonna – so gut – so zart – so…“

„Nein, nein, ich bin nicht gut, sagen Sie das nicht, – gerade Sie nicht! Sie kennen mich nicht. Ich bin schlecht sogar, ich … ich habe manches schon getan, was häßlich ist … ich werde noch mehr tun, weshalb ich zu verachten bin, – ich muß es tun … muß… Doktor Gell ist ja bei uns Arzt. Mutti soll im Frühjahr in ein Trinkbad – nach Salzuflen, und…“ Sie schwieg plötzlich. Zwei Tränen rannen ihr über die Wangen. Verstohlen wischte sie sie fort.

„Werden Sie … werden Sie Winnig erhören, wenn er um Sie anhält?“ fragte Hellmer schnell, dem ihre Tränen ganz entgangen waren.

„Ja!“

„Und … werden Sie auch glücklich mit ihm werden?“

„Er ist kein schlechter Mensch, hat wie jeder seine guten Seiten.“

Dora bog in eine Straße ein, die ihrer Wohnung zuführte. Auch diese Straße war menschenleer. Sie lief zwischen Speichern und Lagerschuppen hin.

Hellmers Herz war wie erstorben. Dieser seit Tagen währende Kampf gegen eine übermäßige Liebe, die so plötzlich über ihn gekommen, hatte ihn völlig zermürbt.

„Dora,“ begann er wieder, „ich fürchte, daß Ihrer Mutter Wünsche hinsichtlich Winnigs nie in Erfüllung gehen werden. Ich darf Ihnen das nicht länger verschweigen. Winnig soll bereits … verlobt sein.“

„Ich kenne dieses Gerücht,“ meinte sie tonlos. „Frau Bolz hat mir davon erzählt. Aber – ich glaube es nicht. Ein so … so großer Schurke ist Winnig nicht, eine andere und mich zu betrügen.“

„Ich wollte, mußte Sie warnen…! Ich habe im Kasino zufällig gehört, wie Thiele Winnig sogar den Namen der Braut nannte…“

„Oh…! Dann – dann… Doch nein, so schlecht kann kein Mensch sein! Vielleicht war er verlobt, – war!“ Sie sagte auch dies so müde, so gleichgültig…

„Hoffen wir es…!“

Dora blieb stehen, streckte ihm die Hand hin.

„Auf Wiedersehen!“

Er lachte bitter auf. „Wann – wo…?! Wenn andere dabei sind! Was hilft das mir?! Ich möchte meine Freundin noch einmal allein für mich haben.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es darf nicht sein. Ich habe Mama heute nochmals versprochen, Ihnen auszuweichen. Sie hat geweint… Sie meint es ja nur gut mit mir.“

Er hielt ihre Hand fest.

„Leben Sie wohl, Dora –, ich wünsche Ihnen…“ Das Würgen in seiner Kehle erstickte das Weitere.

Und Dora eilte wie gehetzt davon. – – –

Die Rätin stellte den selbstgebackenen Napfkuchen auf den zierlich gedeckten Kaffeetisch.

„Kind – es fehlt noch das Milchkännchen,“ sagte sie nach einem prüfenden Blick über ihr Werk, das sie mit so viel stillen Hoffnungen aufgebaut hatte. Sogar eine bekränzte Tasse für Winnig fehlte nicht.

„Ja, Mutti, – ich hole es…“ Und Dora eilte in die Küche.

Die Flurglocke schlug an. Es war Winnig – mit zwei Blumensträußen. Für die Rätin hatte er mattgelbe Nelken gewählt, für Dora Rosen – herrliche dunkelrote Rosen.

Die Frau Rat ließ die beiden im Wohnzimmer allein. Vielleicht…, Wer konnte wissen…! Ach – wenn’s doch nur geschähe, wenn er doch nur anhielte…! Sie hatte ja eine so ungewisse Angst im Herzen, daß diese Hoffnung sich zerschlagen könnte, daß dieser … dieser Hellmer stärker wäre als die kluge Einsicht ihres Kindes…

Leider klingelte es bereits wieder, jetzt sehr anhaltend. So meldete sich nur Frau Mia an.

Seit gestern strahlte sie geradezu, sprudelte über vor Lebensfreude und Heiterkeit, denn Thiele hatte ihr gestern nachmittag runde zweitausend Mark gebracht – Börsengewinn, dabei noch mehr in Aussicht gestellt.

Die Rätin war bitter enttäuscht. Die Frau Hauptmann hätte auch zehn Minuten später kommen können…

Bald fanden sich dann auch die übriger Gäste ein: die beiden Schwestern Hönig, Thiele, Bork und Porwitz. Die Stimmung war von Anfang an glänzend, wofür besonders Thiele gesorgt hatte, der nicht minder gutgelaunt war als seine Verbündete Frau Mia. Nur einmal gab es ein verlegenes Schweigen für einige Minuten oder doch nur krampfhaft gesuchte Redensarten: als Alix Hönig die Rätin fragte, weshalb eigentlich Hellmer nicht erschienen sei, denn eingeladen sei er doch wohl sicher worden. –

Da hatte die Frau Rat ein sehr strenges Gesicht gemacht, um ihre Unsicherheit zu verbergen, und geantwortet: „Ich wußte nicht, ob ihm mit einer Einladung gedient war. Er ist doch verlobt und hätte sich ohne seine Braut hier vielleicht gelangweilt.“

Da es nun offenes Geheimnis war – und daß dem so war, hatte Frau Mia absichtlich verschuldet –, wie unklar die Beziehungen zwischen Hellmer und Dora waren, die jedenfalls doch der Vermutung Raum gaben, Dora könnte an den ernsten Oberleutnant mehr wie der Sachlage zuträglich ihr Herz verloren haben, mußte diese durchsichtige Verlegenheitsantwort der Rätin notwendig für Minuten den Gedanke der Anwesenden eine andere Richtung geben. –

Aber auch diese peinliche Gesprächspause überwand dann Thiele durch einen flotten Walzer, den er unaufgefordert zu spielen begann, freilich auf einem alten und dünnklingenden Instrument, das schon hochbetagt war.

Um sechs Uhr unternahm das junge Volk dann einen Spaziergang. Inzwischen wollte die Rätin den Abendbrottisch herrichten. Jeder der Gäste hatte seine belegten Stullen der Not der Zeit angemessen mitgebracht, die nun appetitlich auf Tellern geordnet wurden. Außerdem hatte die Frau Rat einen Kartoffelsalat und Kriegstee gespendet. Mehr konnte sie zu diesem Abendessen nicht beisteuern.

Aber – Winnigs Aufmerksamkeit sollte dann doch der Mahlzeit ein mehr festliches Gepräge geben. Kurz vor sieben Uhr erschien die Tochter der Kasinowirtin mit einem großen Korbe, der allerlei gute Dinge enthielt. Bald darauf eine Ordonnanz, die eine Batterie Flaschen ablieferte.

Als die Jugend vor dem Hause auf Frau Mia wartete, die sich erst noch zum Ausgehen oben bei sich fertig machen mußte, nahm Thiele den Oberleutnant Winnig beiseite und raunte ihm zu: „Ich warne Sie nochmals allen Ernstes: Geben Sie das unwürdige Spiel mit Dora Mühling auf! Sollte ich merke, daß Sie die Sache auf die Spitze treiben, werde ich Sie bloßstellen! Sie wissen, daß ich es kann!“ –

Worauf Winnig ironisch lächelnd sehr von oben herab erwidert hatte: „Und ich sage Ihnen, daß … Hauptmann Bolz erfährt, wo seine Frau vor sechs Tagen zur Nachtzeit gewesen ist, wenn Sie sich weiter in Dinge mischen, die Sie nichts angehen!“

Das war endlich eine offene Kriegserklärung zwischen den beiden, die schon seit jenem Mittagsgespräch im Kasino heimliche Gegner waren. –

Thieles Kopf war bei der Andeutung Winnigs hochgefahren. Seine Augen bekamen wieder jenen harten Glanz, der die müde Blasiertheit des Monokel-Leutnants Lügen strafte. Aber – er sagte nichts, trat zurück und bildete dann mit Frau Mia den Nachtrab, – die Ehrengarde, wie er lachend sagte.

Frau Mia erlebte auf diesem Spaziergang jedoch nicht gerade Angenehmes. Thiele fragte wie ein Untersuchungsrichter, dies und jenes. Wenn sie Ausflüchte machte, wurde er sehr energisch. – „Wir sind Verbündete. Da gibt es keine Winkelzüge. Ich will klarsehen – in allem!“ Sie fühlte wieder, einen wie großen Einfluß er auf sie besaß; merkte, daß all diese Fragen, die ihre kleinen und großen Intrigen bloßlegten, einen bestimmten Zweck hatten; wollte wissen, was er beabsichtigte und erhielt zu ihrer Überraschung die Antwort: „Das werden Sie noch heute abend erfahren – in Ihrer Wohnung! Sie werden mich, Winnig und Hellmer unter irgendeinem Vorwand nach Beendigung des kleinen Festes zu sich bitten. Sagen Sie meinetwegen, Ihr Mann hätte Sie beauftragt, uns dreien eine dienstliche Angelegenheit mitzuteilen.“

Kein Wunder, daß Frau Mia darauf ständig nachgrübelte, was Thiele im Schilde führte, und daß langsam ein Gefühl ungewisser Angst sich ihrer bemächtigte. Sie wurde sehr schweigsam und war froh, als man wieder bei Mühlings war, wo sie durch eine krampfhafte Lustigkeit die Stimmen quälender Furcht vor etwas Unbekanntem zu übertönen suchte.

Kurz nach zehn Uhr gab sie dann bereits das Zeichen zum Aufbruch. Vorher hatte sie Winnig gebeten, Hellmer davon zu verständigen, daß sie auch ihm von ihrem Manne etwas Dringendes auszurichten hätte.

Als das muntere Völkchen gegangen war, fragte die Rätin Dora sofort, ob Winnig sich erklärt habe.

„So halb und halb, Mutti. Er sagte, er müsse erst noch einen Brief aus Berlin abwarten, dann werde er endlich ganz deutlich werden können.“ –

Die blonde Madonna sprach dies leise hin, monoton wie ein Automat, und mit einem so wehen Ausdruck in dem liebreizenden Gesicht, daß die Rätin sie in die Arme nahm und ihr Mut zusprach. –

„Kind, du wirst ihn lieben lernen, glaube mir. Man sieht ja, wie stark seine Leidenschaft für dich ist! Nutzt du das klug aus, wird er sich leiten lassen, wie du es willst…“

Dora tropften die Tränen über die Hand, mit der sie ihr Gesicht verhüllte. Wie ein Schrei war ihre Entgegnung, wie ein Ruf des Abscheus: „Gerade seine Leidenschaftlichkeit widert mich an. Ich merke, wie er sich kaum beherrschen kann, wie alles in seinen Augen flimmert…“

Die Rätin rang die Hände. Ihr Mutterherz wand sich in Zweifeln und Kümmernissen. Sie wollte Doras Zukunft gesichert sehen, sie aber auch nicht unglücklich werden lassen. All diese Gedanken wurden dann plötzlich zu bitterem Groll gegen den Störenfried, gegen Hellmer. Und heute war sie einmal ganz rücksichtslos offen in ihrer Seelennot, rief: „Ich weiß, du liebst den da, – den, der einer anderen gehört…! Wäre der Mensch nie über meine Schwelle gekommen! Er hat dich betört mit seiner Duldermiene, seinem ganzen seltsamen Gehabe…!“

Da ging Dora still hinaus in die Küche, begann die Tassen und Teller zu reinigen. Sie ahnte nicht, daß eine Treppe höher über ihr Geschick entschieden wurde.

 

 

10. Kapitel

Im Bolzschen Wohnzimmer saßen die vier Menschen, die Thieles halber Befehl hier zusammengeführt zu so ungewöhnlicher Stunde, um den Sofatisch herum.

Thiele hatte auf einem der Plüschsessel Platz genommen, diesen etwas vom Tisch abgerückt und rauchte nun, vor sich hinstarrend, hastig seine Zigarette zu Ende. Frau Mia hatte Winnig und Hellmer darüber aufgeklärt, daß diese Zusammenkunft nicht von ihr ausgegangen sei. Jetzt harrte sie mit ebenso großer Spannung auf das, was Thiele zu sagen hatte, wie die beiden Oberleutnants.

Hellmer glaubte allerdings zu wissen, welchen Zweck diese Zusammenkunft hatte, konnte andererseits sich aber nicht über die Gründe klar werden, die Thiele zu dem, was nun vielleicht erfolgen würde, veranlaßt haben könnte.

Thiele legte den Zigarettenrest in den Aschbecher, richtete sich auf…

„Ich habe Sie etwas lange auf die Folter gespannt. Ich wollte mir aber nochmals vorher überlegen, was ich Ihnen mitteilen will. Ich tue nichts ohne reifliche Überlegung, nichts!“ Er war jetzt wieder der Thiele, der nicht die Maske der Blasiertheit vor dem Gesicht trug. War kurz und energisch; seine Sprache hart und scharf; sein Gesicht verwandelt, voller Energie und Leben.

„Bevor ich beginne, erbitte ich von Ihnen dreien das Versprechen, auf meine Erklärungen hin nichts gegen mich zu unternehmen, bis ich in meiner Wohnung bin,“ fuhr er dann fort.

Winnig und Frau Mia sagten zu, was er verlangte. Hellmer zögerte erst, tat dann aber doch ein gleiches.

„So – nun habe ich freie Bahn…,“ meinte Thiele mit einem seltsamen Lächeln. – „Hören Sie mich an:

Ich bin nicht der, für den ich mich hier ausgebe. Ich heiße in Wahrheit Harald von Thal. In Indien war’s vor fünf Jahren, als in meinen Armen der starb, dessen Namen ich mir dann mit Hilfe seiner Papiere zugelegt habe, um diesen Krieg mitmachen zu können. Einem früheren Zuchthäusler wäre dies ja versagt geblieben. – Ja – ein Zuchthäusler bin ich, ein internationaler Abenteurer und Hochstapler. Von Jugend an schlummerte in mir trotz strenger Erzielung ein unüberwindlicher Hang danach, im Leben eine besondere Rolle zu spielen. Mehr noch – ich fühlte mich stets befähigt, meine Mitmenschen zu beherrschen, ihre Schwächen auszunutzen. Es gab für mich nichts Erhebenderes als das Gefühl des Triumphes, den Leuten gezeigt zu haben, daß ich schlauer war als sie. –

Als Student habe ich den ersten Schritt vom Wege der Ehrlichkeit getan! Bei Gott – nicht um mich zu bereichern, nein! Ich habe nie aus meinem verbrecherischen Tun Vorteil gezogen – niemals! Was ich erschwindelte, überwies ich anonym wohltätigen Anstalten. Die Belege finden sie unter meinen Papieren. –

Also als Student war’s, als ich einem reichen Herrn, der stets mit den Sicherheitsmaßnahmen prahlte, die er zum Schutz seines Eigentums, seiner wertvollen Sammlungen getroffen hätte, nach und nach das Wertvollste stahl. Einzelheiten übergehe ich. Die Freude, die ich empfand, wenn er ahnungslos in meiner Gegenwart ganz verzweifelt jetzt den geheimnisvollen Dieb verwünschte, war grenzenlos. Aber – ich war zu sicher geworden, zu unvorsichtig durch meine Erfolge: Ich wurde abgefaßt, setzte mich zur Wehr, verwundete einen Beamten – und wanderte für zwei Jahre ins Zuchthaus.

Meine Familie sagte sich von mir los. Nach Verbüßung der Strafe ging ich ins Ausland, wurde … Abenteurer, Hochstapler. Vielleicht der vornehmst auftretende, gerissenste, erfinderischte, den es je gegeben hat. Ich lebte überall und nirgends, trat in den verschiedensten Masken auf, verübte Streiche, die die Polizei der ganzen Welt in Atem hielten. Ein wahrer Legendenkranz wob sich um meine Person. Ich selbst empfand stets mit Wollust den Rausch verbrecherischer Erfolge.

Aber – ich habe auch ehrlich gearbeitet, freilich stets nur, wo es sich um größere Unternehmungen handelte. Ich habe mir durch Spekulationen über eine Million redlich erworben. Auch hierüber habe ich Buch geführt. An dieser Million klebt kein Makel. –

Dann kam der Krieg. Ich war gerade in Kairo, als die politische Lage in Europa sich bedrohlich gestaltete. Ich eilte nach Deutschland. Ich wußte, daß mein Freund Thiele bei seinem Regiment als Offizier nie geübt hatte, daß er dort unbekannt war, da er sich dahin hatte versetzen lassen, bevor er ins Ausland ging. So zog ich als Leutnant d.R. Thiele den bunten Rock an, fand mich schnell in die neue Aufgabe hinein, kämpfte wie jeder ehrliche Mann für mein Vaterland, wurde verwundet und tauchte dann hier auf … als der Monokel-Thiele.

Eine geraume Zeit ließ mir die krankhafte Sucht nach verbrecherischem Tun Ruhe. Dann begann ich … zu jeuen, Glücksspiele zu veranlassen, bei denen ich den Zufall etwas korrigierte, das heißt: betrog! Ich habe es aber stets so eingerichtet, daß nur Kameraden beim Spiel verloren, die es vertragen konnten, daß Verluste Unbemittelter wieder ausgeglichen wurden. Meinen Gewinn führte ich an den hiesigen Verein für Volksküchen ab. Sie, Winnig, waren vielfach der Leidtragende. Trösten Sie sich. Ihr Geld hat Arme satt gemacht.“

Da rief dieser dazwischen: „Wollen Sie uns hier zum Besten halten, Thiele! Das alles glaubt Ihnen doch kein Mensch…!“

Hellmer aber warf nun seinerseits ein: „Es ist die Wahrheit. Ich weiß es…!“

Frau Mia schlug die Hände vor ihr bleiches Gesicht, begann zu weinen… Sie schämte sich. Also ein Hochstapler, ein Dieb ihr Vertrauter…! – Aber Thiele ließ ihr keine Zeit, diesen Gedanken weiter nachzuhängen.

„Hier in der Garnison lernte ich aber auch,“ fuhr er hastig fort, „das Mädchen kennen, die mein Schicksal werden sollte – Dora Mühling! Ich habe sie geliebt, seit ich sie zum ersten Male gesehen, habe diese Leidenschaft aber ängstlich geheimgehalten. – Ich – ich durfte nicht lieben! Ich bin ein Unwürdiger, Verworfener. Aber etwas anderes durfte ich: Über sie wachen, sie schützen, ihr helfen! Vielleicht bin ich der erste von uns gewesen, der merkte, wie es um ihr Herz stand. Ich bin ein trefflicher Beobachter und Menschenkenner. Ich sah, daß sie liebte, daß sie an … Hellmer ihr Herz verloren hatte. –

Ja, Winnig, – Sie werden hier manches hören müssen, was Sie als Demütigung empfinden. Es muß sein! Sie waren es, der, obwohl verlobt, wie ich durch allerlei Schliche herausbekam, Dora nachzustellen begann. Heimlich verlobt sind Sie, Winnig, mit einer Jugendliebe, mit Anna Kersten, einem braven Mädchen, das an Ihnen mit jeder Faser seiner Seele hängt. Für Ihr Verhalten gibt es nur eine Entschuldigung: die Größe Ihrer sinnlosen Leidenschaft für Dora, unsere blonde Madonna! Sie wissen, daß ich Sie schon vor einer Woche warnte, von Dora abzulassen. Und ich wieder wußte, daß Sie stets den Brief bei sich trugen, Ihr Verlöbnis zu lösen. Ich habe den Brief in Händen gehabt, geöffnet. –

Sie warteten, bis Sie Doras Jawort hatten, mit der Absendung, – besser, hatten sich dies vorgenommen zunächst. Dann schickten Sie gestern doch den Brief ab. Wie es mir gelang, ihn abzufangen, ist meine Sache. Ich verfüge über Hilfsmittel und Helfer, von denen Sie nichts ahnen. Bestechung macht viel… – Ich habe den Brief hier bei mir. Da ist er!“

Er warf ihn Winnig mit verächtlicher Gebärde in den Schoß.

„Sie dürfen mir danken, daß ich Sie vor einer Torheit bewahrt habe. Dora liebt Sie nicht. Nur Ihr Geld verschaffte Ihnen die Unterstützung einer sorgenden Mutter, der guten Rätin, dieser verschüchterten Seele. – So, damit wären Sie vorläufig abgetan. –

Nun zu Ihnen, Frau Mia. Sie haben mir gegenüber heute folgendes zugegeben: Sie sind neidisch auf die frische blühende Schönheit Doras, Sie sind herrschsüchtig, eine Intrigantin! Sie wollten eingreifen in Menschenschicksale, Unfrieden stiften, wollten besonders die demütigen, die Sie stets mit heuchlerischer Herzlichkeit behandelt haben. Ihr Charakter ist wohl vielen ein Rätsel. Mir nicht! Ich verstehe Sie! Ich sagte Ihnen ja gelegentlich: Wir sind verwandte Naturen. –

Aber eins trennt uns. Ich habe nie gesündigt, um Menschen unglücklich zu machen! Das aber beabsichtigten Sie mit Dora Mühling. Sie entlockten ihr das Geheimnis einer kleinen Schuld. Unsere Madonna hatte einen an Hellmer gerichteten Brief seiner Braut geöffnet, gelesen. – Nun hatten Sie Macht über das arme Kind! Aber Sie gaben sich damit nicht zufrieden. Auch Hellmer hatte sich Ihre Feindschaft zugezogen. Sie wollten auch ihn Ihre Macht fühlen lassen. Sie wußten es schlau einzurichten, daß Doras stille Neigung ihm offenbar wurde, daß er sich ebenfalls in sie verliebte. Schon vor jenem Theaterabend war ich jedoch entschlossen, Ihnen entgegenzuarbeiten, Sie zu strafen. Sie sind als Weib gemeingefährlich, als Gattin leichtfertig und verschwenderisch, herzlos und genußsüchtig. Ihr Mann ist der beste, gütigste Mensch unter der Sonne. Ich wollte ihn von Ihnen befreien, da ich fürchtete, Sie würden ihn pekuniär und seelisch zu Grunde richten. Sie gingen mir blind in die Falle, in der als Köder das lockende Gold – schneller Reichtum! – lag. Ich überredete Sie, mich in jener Nacht zu besuchen, – in derselben Nacht, als ich Sie dann allein ließ, in die Kaserne ging und … die fünfunddreißigtausend Mark stahl – –mit Hilfe eines nach einem Wachsabdruck gefertigten Nachschlüssels! –

Ja – Sie warteten auf meine Rückkehr, ahnten nicht, daß ich mir vorgenommen hatte, Sie als Zeugin dafür zu benennen, daß ich nicht der Offizier gewesen seien könne, der zwischen zwölf und ein Uhr nachts in die Kaserne kam und den keiner der Leute der Wache erkannte, da ich falschen Bart und Brille trug. Zeugin sollten Sie sein, angeben, daß wir während dieser ganzen in Betracht kommenden Stunde zusammen gewesen in meiner Wohnung! Ich hätte Sie gezwungen, dies auszusagen und meine Abwesenheit zu verheimlichen, hätte Ihnen gedroht, Sie als meine Geliebte hinzustellen, wenn Sie sich nicht fügten. Sie sehen, ich hatte Sie ganz in meiner Gewalt. –

Aber vielleicht verstehen Sie mich noch nicht ganz. Ich muß etwas nachholen. Schon vor dem Diebstahl der fünfunddreißigtausend Mark war hier in der Maske eines Hauptmanns Müller ein Berliner Kriminalkommissar aufgetaucht. Wem der nachspürte, war für mich festzustellen ein leichtes: Mir selbst! Er suchte den berühmten Hochstapler, Grafen von Lingen, alias Baron von Bernau, alias Fürst Ipitzki, alias Marquis von Ricardmond – usw… Wie er mir auf die Spur gekommen, ahne ich sehr gut: Durch mein in der ‚Woche‘ veröffentlichtes Bild als Ritter des Eisernen erster Klasse! Die Photographie war eben zu ähnlich! Heister hatte sie ohne mein Wissen eingeschickt, wollte mir mit der ‚Woche‘ dann eine Überraschung bereiten. Seitdem war ich stets auf meiner Hut.“

Er holte tief Atem, ließ eine Pause eintreten. Diese benutzte Hellmer sofort, um zu erklären: „Sie haben recht! Durch das Bild wurde man auf den Leutnant Thiele aufmerksam, durch das Monokel, das Sie im all Ihren Rollen stets trugen.“

Frau Mia saß noch immer regungslos da, die Hände vor das Gesicht gebreitet, den Kopf tief gesenkt. Wie vernichtende Keulenschläge hatten Thieles Anklagen sie getroffen. Zum erstenmal tat sie jetzt einen Blick in den Abgrund von moralischer Verwahrlosung, in dem sie entlanggewandelt war, sah in diesen Abgrund von oben herab, von der Höhe des moralischen Empfindens anderer Menschen, die nicht waren wie sie. Ohnmächtige Wut, grenzenlose Scham und die Angst vor dem, was Thiele gegen sie noch planen könne, stritten in ihr. Am stärksten aber war doch das Gefühl der Scham! Hier vor Winnig und Hellmer zerlegte dieser Elende ihre Seele, zeigte die faulen Stellen darin, ging mit ihr um, als habe er eine Verbrecherin vor sich. Sie stöhnte leise auf unter dem Ansturm all dieser ihr ganzes Innere aufpeitschenden Empfindungen, wollte sich verteidigen, suchte nach Worten, – fand nicht ein einziges!

Da sprach Thiele auch schon weiter.

„Müller war hinter mir her. Ich wußte es. Trotzdem wagte ich den frechen Streich, stahl das Geld aus dem Zimmer des Oberzahlmeisters. – Nebenbei: Ich habe es auf der Filiale der Ostbank niedergelegt in meinem Schrankfach. –

Ich stahl es, um … mit einem letzten Geniestückchen, würdig meiner früheren Taten, von der Weltbühne abzutreten, um … zu verschwinden, nachdem Frau Mia mich wenigstens in dieser letzten Sache hätte heraushauen müssen, – denn das, was vordem auf mein Schuldkonto kam, hatte ich im Auslande begangen, konnte mir kaum nachgewiesen werden. Und ich wäre auch sicher noch rechtzeitig entschlüpft. Ich verstehe mich darauf – sehr gut! Ja, Sie, Frau Mia, sollten für mich eintreten, mein Alibi beschwören! Und dann würde mit an die Öffentlichkeit gedrungen sein, daß ich für Sie Geldgeschäfte besorgt hatte, daß ich Ihr Gläubiger war, Ihnen Geld geliehen hatte, dann würde auch Ihrem sanftmütigen Gatten der Geduldsfaden gerissen sein, – er hätte Sie fortgejagt, sein Haus gereinigt von Ihnen! – –

Das wollte ich alles. Aber – es wurde nicht ausgeführt. Warum? – Nur Doras wegen, um meiner großen, stillen Liebe willen. –

Nein – ich will mich doch nicht schlechter machen als in bin. Auch deswegen verzichtete ich auf diese Vergeltung, weil ich nicht gemein genug war, so gegen eine Frau vorzugehen. Ein Rest von anständiger Gesinnung erhob warnend und mahnend in mir seine Stimme. Ich hörte auf sie…! –

Ich werde Ihnen nichts mehr anhaben, Frau Mia. Mag Ihr eigenes Gewissen Sie richten. Winnig und Hellmer werden über diese etwas seltsame Geburtstagsfeier schweigen. Mein Wort – das Wort eines Lumpen darauf: Ich schweige ebenfalls!“

Da schnellte Frau Mia empor. Ihr Gesicht war verzerrt. Völlig sinnlos vor Wut zischte sie hervor:

„Oh – Sie denken mich besiegt zu haben! Sie befinden sich im Irrtum! Einen Brief haben Sie abgefangen: den an Winnigs Braut. Aber der, den ich an Irma Scharbeck schrieb, der ist Ihrer teuflischen Schlauheit doch entgangen. Irma ist seit heute morgen hier, hat Hellmer vorher schon überwachen lassen durch einen Detektiv, weiß von den Spaziergängen im Glacis, und … wird die Verlobung lösen! Nun mag Hellmer die blonde Madonna doch heiraten – nun können sie zusammen hungern…!“ Sie lachte schrill auf.

Die Wirkung dieser geifernden Sätze auf die Hörer war sehr verschieden.

Hellmer stieß ein „Elende Intrigantin!“ hervor, atmete aber doch befreit auf. Er war frei – frei! Nun mochte werden, was da wolle. Eine Lösung würde sich schon finden!

Winnig wieder zeigte völlige Teilnahmslosigkeit.

Und Thiele lachte ironisch.

„Sie befinden sich gleichfalls in einem Irrtum, Frau Mia,“ sagte er kalt und schneidend. „Ich kannte den Brief. Ich habe ihn gelesen. Ich wollte, daß er abging. – Weshalb – das erfahren Sie später!“

Er erhob sich. „Ich habe hier nichts mehr zu tun. Ich werde mir einen besseren Wirkungskreis suchen. – Leben Sie wohl, Hellmer und Winnig! Werden Sie beide glücklich. Das wünsche ich Ihnen von Herzen.“

Auch die beiden Oberleutnants standen auf, folgten ihm. Schweigend gingen die drei die Treppe hinab.

Hellmer schloß die Haustür auf. Ohne Gruß eilte Thiele von dannen.

Winnig reichte Hellmer die Hand. „Schließen wir Frieden,“ sagte er leise. „Ich muß meiner Sinne nicht mehr ganz mächtig gewesen sein. Ich gönne Ihnen Dora und bereue aufrichtig.“

*

Thiele saß in seinem Wohnzimmer vor dem breiten Diplomatenschreibtisch. Die Stehlampe mit der grünen Glasglocke brannte.

Vor ihm lag ein großer, vielfach gesiegelter Briefumschlag. Darauf stand: Mein letzter Wille.

Er saß weit zurückgelehnt in den Ledersessel da. Seine Augen schienen in endlose Fernen gerichtet; er sah wunderbare Landschaftsbilder voller tropischer Üppigkeit, sah phantastische indische Fürstenschlösser, braune Menschen, festliche Umzüge mit bunt herausgeputzten Elefanten.

Die letzten Jahre seines Lebens zogen nochmals blitzschnell mit ihren wechselvollen Erlebnissen im Geiste an ihm vorüber. –

Er hörte dumpfen Geschützdonner, Gewehrgeknatter, Gebrüll der handgemein gewordenen Gegner, wilde Aufschreie; sah sich selbst mit einem Lächeln, das der Todesgefahr spottete, seiner Kompagnie vorausstürmen.

Und der, der Einsame, lächelte jetzt wieder; er hatte seine Pflicht getan dem Vaterlande gegenüber. Daß er’s gedurft hatte, wenn auch unter fremdem Namen, machte ihn glücklich.

Jetzt eilte sein Blick zu einer kleinen Photographie hin, einer Liebhaberaufnahme. Sie zeigte Dora auf der Eisenbahn vor einer hohen Schneeschanze.

Thiele nahm das Bildchen, küßte es, rieb ein Streichholz an, verbrannte es.

Dann zog er den Waffenrock über mit dem Kreuz von Eisen auf der linken Brustseite, dem schwarzweißen Band im Knopfloch.

Die altertümliche Uhr schlug zwei.

Der Knall eines Pistolenschusses war wie ein schauriges Echo dieser letzten Stunde des Lebens eines Verspielten. –

Thiele wurde mit militärischen Ehren bestattet. Hellmer hatte dem Major in vertraulicher Aussprache alles mitgeteilt, was das Tun des seltsamen Mannes in ein milderes Licht rückte. Der Diebstahl der fünfunddreißigtausend Mark wurde vertuscht. Das Geld fand sich vollzählig vor.

Thieles Testament, das nach einem Zettel in dem Umschlag erst nach seiner Beerdigung geöffnet werden sollte, brachte dann noch viele Überraschungen. Es war eine Urkunde, wie sie wohl kaum noch einmal einem Richter zu Gesicht kommen wird.

Es stellte sich jetzt heraus, daß Thiele im Auslande nicht nur eine Million, sondern weit mehr ehrlich erworben hatte. Sein Vermögen war bei einem Berliner Bankhause deponiert. Er hatte bestimmt, daß davon alle die voll entschädigt werden sollten, die die Opfer seiner krankhaften Hochstaplerleidenschaft geworden waren. Der Rest, etwas über eine Million Mark, hatte er – Dora Mühling vermacht unter ausdrücklicher, genau begründeter Enterbung seiner erbberechtigten Verwandten. –

Durch dieses Testament wurde nun auch offenbar, was er damals bei jener Abrechnung mit Winnig und Frau Mia in der Bolzschen Wohnung mit der Bemerkung gemeint hatte, daß er die intrigante Frau Doras wegen zu schonen sich entschlossen hätte. Wäre er tatsächlich, wie er zuerst beabsichtigt gehabt hatte, nach Bloßstellung Frau Mias geflohen, so hätte er der blonden Madonna nicht zu seinem Reichtum verhelfen, ihr nicht die Wege zur Verfügung ihrer Herzenswünsche ebnen können.

Er mußte sterben, damit sie in Frohsinn weiterleben durfte. Von Thiele, dem flüchtigen Abenteuer, hätte sie kein Geschenk angenommen; eines Toten letztes Vermächtnis würde sie nicht ablehnen!

So starb er, um ihr eine lichte Zukunft zu schaffen.

*

Zwei Monate später steht ein junges Paar Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, im lachenden Frühlingssonnenschein an dem Grabe dessen, der zweier Menschen Glück begründet hat.

Dora weint leise in sich hinein.

Hellmer blickt auf den großen, welken Lorbeerkranz zu Füßen des Hügels, auf die breite, schwarzweiße Schleife mit dem Namenszug der Homburg-Grenadiere. Darunter steht in Goldlettern:

Ihrem Kameraden Harald v. Thal,

einem guten Menschen,

die Offiziere des Ersatzbataillons Homburg

Und Hellmers Augen heben sich weiter zu der Aufschrift auf dem neuen Gedenkstein, den Dora dem müden Erdenpilger hat setzen lassen:

Ihr sollt nicht richten, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!

Harald von Thal

+ 7. Februar 1917

Langsam verläßt das seit gestern vermählte junge Paar den Friedhof.

In der Kaiserstraße begegnet es Hauptmann Bolz. Er bleibt stehen, gratuliert, geht müde weiter, ein gebrochener Mann. Frau Mia hatte am Börsenspiel Geschmack gefunden, hatte ihn in unsinnige Schulden gestürzt. Nun standen sie in Scheidung. –

„Der Ärmste,“ sagt Dora leise.

Hellmer nickt. „Ja – und doch ist es gut, daß er von der Frau befreit wird!“ Er preßt der blonden Madonna Arm an sich. „Weg mit all den trüben Gedanken, Liebling! Unser Toter dort unter den Trauerweiden hat sicher nicht gewollt, daß wir so ernst und nachdenklich unsere junge Ehe beginnen; er wollte uns glücklich sehen – restlos glücklich.“

Sie lächelt.

„Das sind wir ja auch, Egon, – und werden es bleiben!“

 

 

Fussnoten:

1Vix-Bara: Eine alte Champagnermarke aus Epernay, die 1863 gegründet wurde.