Die tolle Yvette.
Novelle von Walther Kabel.
Nachdruck verboten.
Zu den Vätern, die den Schwächen und Fehlern ihrer Kinder gegenüber von einer verblüffenden Blindheit zu sein scheinen, gehörte auch der rundliche Herr François Albagnan. Das behaupteten wenigstens seine zahlreichen Freunde, die öfters Gelegenheit fanden, Fräulein Yvette Albagnan in ihrer ganzen verwöhnten Launenhaftigkeit kennen zu lernen, das behauptete auch das Montmartre-Viertel von Paris, soweit es durch Dienstbotenklatsch von den Vorgängen in dem palastartigen Gebäude des millionenschweren Rentiers etwas erfuhr. Und dieses „Etwas” konnte wirklich den Ansprüchen jedes sensationshungrigen Reporters genügen, falls man eben den Kammerzofen Fräulein Yvettes, die eine die andere nach beängstigend kurzer Zeit ablösten, Glauben schenken durfte. Jedenfalls war es nicht gerade schwierig, sich über die Charaktereigenschaften und Lebensgewohnheiten der aus Vater und Tochter bestehenden Familie Albagnan aufs genaueste zu unterrichten, da sie in den Restaurants, Geschäften und Gesindevermittlungsbureaus der Gegend stets aufs neue ein unerschöpfliches Gesprächsthema bildete.
An einem regnerischen Herbstvormittag saß Herr François Albagnan mit etwas bedrücktem Gesicht seiner Tochter in deren Arbeitszimmer gegenüber – Arbeitszimmer, weil in dem mit unaufdringlicher Eleganz eingerichteten Raume ein nie benutzter Schreibtisch, zwei gewaltige Bücherschränke und merkwürdigerweise auch ein halb in die Wand eingelassenes Panzer-Geldspind standen.
Yvette lag in einem weiten, seidenen Morgenrock auf einem fellbedeckten Diwan und erwiderte auf die fast ängstlich vorgebrachten Ermahnungen ihres Vaters mit erregter Stimme:
„Und du wunderst dich noch, daß ich auf die törichsten Einfälle komme? Ja, was soll ich denn den ganzen Tag über anfangen? Verkehr haben wir nicht, wenigstens nicht in den Kreisen, die für meine Ansprüche passen. Die wenigen Herren, die du in den Weinkneipen unseres Viertels seit den vier Jahren unseres Hierseins kennen gelernt hast, sind alte, verknöcherte Junggesellen, Spießbürger und – recht zweifelhafte Adlige ohne jede wirkliche Vornehmheit und Wohlerzogenheit. Die Angehörigen der besseren Kreise ziehen sich dafür von uns mit einer Auffälligkeit zurück, die direkt beleidigend wirkt und den Eindruck macht, als sei unser Name mit irgendeinem Makel behaftet. Wo ich auch immer versuchte, in einer Altersgenossin mir eine Freundin zu erringen, erfuhr ich die deutlichste Ablehnung. Mit Yvette Albagnan will eben niemand verkehren.”
Das pikante Gesichtchen des jungen Mädchens verzog sich schmerzlich, und die großen, dunklen Augen zeigten jenen feuchten Glanz, der nicht nur durch sehnsüchtige Gedanken, sondern auch durch aufsteigende Tränen hervorgerufen wird.
„Liebes Kind,” meinte Herr Albagnan mit merklicher Verlegenheit und versuchte dabei ihre Hand zu erhaschen, die nachlässig auf dem Eisbärenfell ruhte, „dürftest du nicht selbst schuld daran sein, daß die Leute sich von uns fernhalten? Ich habe dich ja schon immer gewarnt und dir gesagt: Laß deinen Launen und Neigungen nicht zu sehr die Zügel schießen! Wozu mußtest du zum Beispiel den Automobilsport derart übertreiben, daß dein Name aus den Listen der Polizei überhaupt nicht mehr verschwindet und du fast täglich Geldstrafen wegen zu schnellen Fahrens zu zahlen hast? Und schickt es sich wirklich für eine junge Dame, auf der Radrennbahn wie ein Rennfahrer zu trainieren und ihren Ruf durch den Verkehr mit oft recht fragwürdigen Sportsleuten in Gefahr zu bringen? Das ganze Montmartre-Viertel weiß, daß du mit den Dienstboten fast in jedem Monat wechselst, daß du deinen Kammerzofen Fallen stellst, indem du ständig kleinere Geldbeträge herumliegen läßt, um ihre Ehrlichkeit auf die Probe zu stellen. Der Erfolg ist, daß das Personal bei uns nie warm wird, nie, und daß man dich draußen – belächelt.”
François Albagnan schwieg plötzlich erschreckt, denn mit einem Ruck hatte Yvette sich auf ihrem Diwan aufgerichtet und dabei einen Stoß Zeitungen und Bücher raschelnd und polternd zu Boden geworfen.
„Pa! Und das alles sagst du mir, du, der du ganz genau weißt, daß mich erst die Langeweile auf all diese Ideen gebracht hat! Von Anfang an haben uns die Leute hier geschnitten, ja, von Anfang an! Immer war ich allein, immer! Nicht einmal zusammen mit dir konnte ich ausgehen oder ausfahren, da ja einer von uns dieser dummen Diamanten wegen stets zu Hause bleiben muß!”
Und Yvette warf einen wütenden Blick auf den gewaltigen, braunladierten Panzerschrank, der sich wie ein Ungetüm zwischen den leichten Damenmöbeln ausnahm.
„Ich wollte es dir schon lange sagen,” fuhr sie dann ebenso gereizt fort, „warum vertraust du die Steine eigentlich nicht einer Bank an? In einer Stahlkammer sind sie doch wirklich weit sicherer als in unserem Hause, und außerdem hätte ich nicht nötig, regelmäßig den halben Tag hier Schatzhüter zu spielen.”
Albagnan schaute ängstlich nach der Portiere, die die Tür zu dem Nebengemache verdeckte.
„Ich bitte dich, Yvette, mäßige dich und schreie nicht so. Wie leicht könnte uns deine Zofe Ninon belauschen. Und du weißt, ich will nicht, daß jemand erfährt, welche Kostbarkeiten jenes Geldspind birgt.”
In Yvettes Gesicht malte sich eine leichte Verlegenheit.
„Ninon kann uns nicht mehr gefährlich werden,” meinte sie zögernd. „Ich habe sie heute morgen entlassen müssen. Sie hat mich ebenfalls bestohlen, um zweiundfünfzig Franken in einer Woche.”
Der kleine Rentier wagte hierzu nichts zu sagen. Nur leise aufzuseufzen unterstand er sich.
„Ich vergaß vorhin zu erwähnen,” begann Yvette nach einer Weile, „das Viktor Desartelle
sich bei mir melden ließ, als du eben das Haus zu deinem Morgenspaziergang verlassen hattest. Er wollte dich in einer dringenden Angelegenheit sprechen und entschuldigte die frühe Stunde seines Besuches durch seine amtliche Tätigkeit, die ihn von vormittags elf Uhr ab im Kriminalgericht als Verteidiger festhält.”
Der dicke Herr Albagnan kniff plötzlich die in dicken Fettpolstern liegenden Augen ärgerlich zusammen. So sehr er auch seine Tochter fürchtete – in allen Sachen, die diesen Herrn Rechtsanwalt Viktor Desartelle betrafen, zeigte er einen Mut und eine Hartnäckigkeit, die Yvette bisher stets vergeblich zu beugen versucht hatte.
„So – also trotz meines Verbotes hast du den armseligen Schlucker von einem Advokaten abermals empfangen,” meinte er mit einem harten Ton in seiner sonst so vorsichtig flüsternden Stimme. „Wirklich ein starkes Stück, das muß ich sagen!”
Yvette war bei diesem Vorwurf die helle Glut in die Wangen geschossen. Aber sie nahm all ihre Entschlossenheit zusammen, um dieses Mal nicht wieder als Besiegte aus einem Streit mit ihrem in Vorurteilen befangenen Vater hervorzugehen.
„Ich bin leider immer noch nicht alt genug, um über meine Zukunft allein entscheiden zu können,” erwiderte sie kurz. „Nun – in acht Monaten werde ich mündig sein, und dann –”
François Albagnan starrte sein einziges Kind bei dieser Drohung ganz entsetzt an. So hatte Yvette in dieser Angelegenheit noch nie zu ihm zu sprechen gewagt, noch nie. Sein Hirn durchzuckten Befürchtungen und neue Pläne in krausem Wirbel, und, sich völlig vergessend, schlug er sich jetzt mit der geballten Faust wütend auf den Schenkel.
„Tu, was du willst, ungehorsames Kind!” rief er mit überschnappender Stimme. „Heirate diesen Hungerleider von Advokaten, meinetwegen! Aber sage auch deinem Erwählten
beizeiten, daß er auf keinen Sou Mitgift zu rechnen hat, daß ich dich enterben werde, falls du wider meinen Willen eine Ehe eingehst. Sage ihm das nur – dann wird sich seine Liebe wohl sehr bald abkühlen.”
Yvette war plötzlich aufgestanden und reckte sich stolz empor.
„Beschimpfe einen Abwesenden nicht, der sich nicht verteidigen kann,” sagte sie mit eisiger Ruhe. „Wir wollen dieses Gespräch abbrechen, da wir in dem einen Punkt doch nie eine Einigung erzielen werden. Ich erkläre dir heute nur mit aller Entschiedenheit nochmals: Diesen Baron d'Estroux, deinen intimsten Freund, heirate ich nie! Er ist mir in tiefster Seele zuwider. Und – bin ich mündig, so werde ich dem Zuge meines Herzens folgen, auch wenn du mich enterbst! Ich bedaure es als dein einziges Kind tief, daß unsere Lebenswege sich, auf diese Weise sehr bald trennen werden. Meine kindliche Dankbarkeit hätte gern auch weiter noch für dich gesorgt!”
Über François Albagnans feistes, gewöhnliches Gesicht glitt ein höhnisches Lächeln.
„Wirklich merkwürdig, daß dieser solide Rechtsanwalt sich gerade die verrufene, exzentrische Yvette, vor deren Streichen alle Welt täglich spricht, ausgesucht hat. Überlege dir das einmal, Kind. Sollte seine Liebe nicht doch nur dem Stahlschrank dort gehören?” Und er zeigte rückwärts auf das große Geldspind an der Wand.
„Das Montmartre-Viertel wird von heute ab über mich nichts mehr zu sagen wissen – nichts,” meinte Yvette einfach. „Nur die Unzufriedenheit mit meinem eintönigen Dasein hat mich nervös überreizt und zu all dem kindlichen Unsinn verführt. Vor dir steht heute eine andere Yvette, eine ganz andere: Eben – die Braut Viktor Desartelles!”
Der dicke Rentier wäre vor Schreck beinahe von dem niedrigen, goldlackierten Stühlchen gefallen.
„Also so weit sind wir schon, so weit!” keuchte er mühsam hervor, nachdem er sich von dieser für ihn so folgenschweren Neuigkeit etwas erholt hatte. „Nun – wir werden ja sehen!”
Ohne Gruß stürzte er mit hochrotem Kopf davon. Wenige Minuten später hörte seine Tochter ihm ebenso eilig das Haus verlassen.
Ruhelos begann Yvette das Zimmer zu durchqueren. Ihr bisheriges Leben zog, durch die starke seelische Erregung wie durch ein Zauberwort wachgerufen, in mannigfachen Bildern an ihrem geistigen Auge vorüber. Freudige Erinnerungen waren’s nicht, die sich ihr so in jagender Hast aufdrängten. Mit Gewalt suchte sie schließlich ihre Gedanken abzulenken, hin zu dem Tage, an dem sie Viktor Dasartelle vor nunmehr vier Wochen bei den Flugversuchen Delagranges auf dem Marsfelde zufällig kennen gelernt und der dann ihrer Zukunft eine so ganz unerwartete Wendung gegeben hatte.
Jetzt huschte über ihre Züge ein seliges Lächeln. Seit heute besaß sie ja endlich ein Menschenherz, über das sie all ihre so lange Jahre zurückgehaltene Zärtlichkeit ausgießen, dem sie sich rückhaltlos anvertrauen konnte – ein Menschenherz, das dem ihrigen in heißer Liebe entgegenschlug und das Yvette Albagnan, die tolle Yvette, trotz all – all ihrer Fehler und Schwächen so innig begehrte.
In einem der eleganten Cafés des Boulevard Haußmann in Paris saß am Nachmittag desselben Herbsttages in einer Ecknische ein einzelner Herr, den man auf den ersten Blick seiner übermodernen Kleidung und dem scheinbar so gelangweilten Ausdruck seines scharfsgeschnittenen Gesichtes nach für einen jener reichen Nichtstuer halten konnte, wie sie gerade das Pflaster der Seine-Stadt in allen Abarten und Nationalitäten zu sehen bekommt. Für einen schärferen Beobachter lagen aber sowohl in seinen geschmeidigen Bewegungen, in der Bauart der Kinnpartie und dem Blick der stets so vorsichtig, halb zugekniffenen Augen deutliche Anzeichen für rücksichtslose Energie und brutales Zielbewußtsein, gepaart mit einer Körperstärke, die schon das Muskelspiel der wohlgepflegten Hände verriet. Der schöne Charles, wie er in den Kreisen seiner Bekannten genannt wurde, hatte diese Eigenschaften bei seinem nicht ganz gefahrlosen „Beruf” aber auch überaus nötig. Daß, er nebenbei noch sechs lebende Sprachen fließend beherrschte und über tadellose Umgangsformen verfügte, ist bei einem Manne wohl selbstverständlich, der die sämtlichen Großstädte der Welt als seine Heimat und das Feld seiner Tätigkeit betrachtete.
Baron Charles d'Estroux schaute eben das fünfte Mal nach seiner Uhr, atmete dann aber erleichtert auf, als ein kleiner, dürrer Herr, dessen magere Gestalt in einen schwarzen Gehrock fest eingeknöpft war, auf sein Tischchen lossteuerte und ihn schon von weitem durch vertrauliches Kopfnicken begrüßte.
„Wir sind hier ganz unbelauscht und unbeobachtet, Morris,” begann der schöne Charles, nachdem der andere neben ihm Platz genommen hatte. „Sprich aber trotzdem leise. Ich muß bei dem, was ich vorhabe, vorsichtiger denn je sein. Zunächst die Hauptsache: Hast du die bestellten Legitimationspapiere und Zeugnisse mitgebracht?”
„Alles fertig, alter Junge, und natürlich tadellos geraten – wie immer,” versetzte das dünne Männchen eifrig.
„Die Güte deiner Ware brauchst du nicht mehr anpreisen. Wer so famos echt ausschauende Hundertfrancsscheine herzustellen und damit die Banken aller Länder zu überschwemmen weiß, der wird doch wohl ein paar armselige Empfehlungen für eine hochherrschaftliche Kammerzofe zurechtbekommen. Gib mir jetzt die Papiere. Ich habe nicht lange Zeit. Und hier ist deine Bezahlung.”
Er hatte seiner Brieftasche mehrere Scheine entnommen und reichte sie dem Engländer hin. Dieser prüfte jedoch erst jeden einzelnen sehr sorgfältig, bevor er sie in die Westentasche schob.
Wenige Minuten später verließ als erster der elegante Charles das Café. „Es ist besser, man sieht uns nicht zusammen,” hatte er beim Abschiede gesagt. Sie schieden als die besten Freunde – beide mit dem Resultat dieser Zusammenkunft sehr zufrieden.
Charles d'Estroux stieg, leise ein Liedchen vor sich hinträllernd, die Treppen zu seinem aus drei elegant möblierten Räumen bestehenden Junggesellenheim empor. Als er sein Wohnzimmer betrat, prallte er doch etwas erstaunt zurück. Denn aus einem der rotledernen Klubsessel erhob sich bei seinem Eintritt sehr eilig niemand anders als der dicke Rentier Albagnan, und zwar mit einer Miene, die nichts Gutes verriet.
„Ein Glück, daß ich Sie endlich erwische, Charles!” rief Albagnan erregt. „Ich war schon am Vormittag vergebens bei Ihnen und warte jetzt bereits geschlagene zwei Stunden hier, und zwar in einer Laune, die gar nicht schlechter sein kann. Denken Sie nur” – und seine Stimme kletterte bis zu den höchsten Fisteltönen empor: „Yvette hat – hat – hat sich heute morgen mit dem Hungerleider, dem Advokaten Viktor Desartelle verlobt. Verlobt, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, mich um meine Einwilligung zu fragen.”
Charles d'Estroux hatte erst wie versteinert zugehört. Jetzt schaute er Albagnan eine ganze Weile forschend an, bevor er höhnisch hervorstieß:
„So! … So … also verlobt! Nur schade, daß die Freude nicht lange dauern wird, das heißt – falls Sie, mein verehrter Herr, nicht jetzt mit einem Male für diese Verbindung sind.”
„Ich – für diese Verbindung –? Wie kommen Sie nur darauf!” rief Albagnan schnell. „Sie wissen doch, Massac, ich habe Ihnen Yvette zur Frau bestimmt – und dabei bleibt’s! Mein Wort darauf!”
„Wenn ich keine besseren Garantien als nur Ihr Wort hätte, so wäre das verflixt wenig! Doch – Sie kennen mich ja, Albagnan. Ich will nicht wieder drohen. Yvette muß mir gehören, muß! Wie Sie als Vater sie dazu bewegen, das ist mir einerlei –”
Der Herr Baron d'Estroux hatte es sich in einem der Klubsessel bequem gemacht und steckte sich nun umständlich eine Zigarette an, ohne sich um seinen Gast weiter zu bekümmern, der jetzt mit den Händen in den Beinkleidertaschen lautlos wie ein Geist auf dem dicken, großen Teppich hin und her zu gehen begann. Dann machte Albagnan plötzlich in seiner Wanderung vor seinem Peiniger halt.
„Raten Sie mir doch, Massac, helfen Sie mir!” bat er kläglich. „Ihr erfindungsreicher Kopf wird doch ein Mittel wissen, um meiner Tochter diesen Advokaten für immer zu – zu –”
„Sagen Sie ruhig – zu verekeln,” meinte der andere zynisch. „Im übrigen aber heiße ich nicht Massac, sondern Baron d'Estroux, mein Herr!” fügte er schneidend hinzu. „Ihre stete Verwechslung meiner Namen kann mir leicht Unannehmlichkeiten bereiten.”
„Verzeihung, Herr Baron,” beeilte sich Albagnan seinen Zorn zu beschwichtigen. „Ich werde mir alle Mühe geben, daß es nicht wieder vorkommt. Doch können Sie mir nicht angeben, wie man Yvette –”
„Mein lieber Albagnan,” unterbrach der schöne Charles ihn spöttisch, „wie Sie Ihr Kind zur Vernunft bringen – das ist mir gänzlich gleichgültig. Ich sage Ihnen aber nochmals – nur, um Ihnen den Ernst Ihrer Lage recht eindringlich vor Augen zu führen: Heiratet Yvette einen anderen, so muß ich leider der englischen Polizei mitteilen, wohin sich der frühere Aufseher der Diamantgruben von Kimberley mit seinem Raube geflüchtet hat – eine Nachricht, die bekanntlich mit dem netten Sümmchen von rund 100.000 Franken von der um Millionen geschädigten Grubengesellschaft bezahlt wird. Also, mein teurer Freund, seien Sie vorsichtig –”
„Charles,” flehte der Rentier fast weinend und mit dicken Angstperlen auf der Stirn, „haben Sie doch Erbarmen mit mir! Yvette wird ja in nächster Zeit mündig und ist dann meiner Autorität völlig entzogen. Was soll ich nur tun, um sie umzustimmen, was – was? Ich kann sie doch nicht einsperren, nicht mit Gewalt zwingen. Da kennen Sie meine Tochter eben schlecht! Nehmen Sie doch ein Viertel meines Vermögens, Baron, nehmen Sie meinetwegen die Hälfte davon. Aber fordern Sie nichts Unmögliches von mir! Liegt Ihnen denn wirklich an der Person Yvettes so viel, lieben Sie sie wirklich so sehr, daß kein Anerbieten Ihre Wünsche zum Schweigen bringen kann?”
Der sogenannte Baron umging eine direkte Antwort. „Hören Sie, Albagnan, was ich Ihnen für Vorschläge zu unterbreiten habe. Sie glauben gar nicht, welchen Einfluß eine gewitzte Kammerzofe auf ihre Herrin gewinnen kann, besonders wenn sie vorher über Ihr Verhalten in allen Punkten aufs sorgfältigste instruiert ist. Wenn zum Beispiel so eine Zofe es versteht, einen dem Vater unbequemen Liebhaber bei der Tochter zu verdächtigen, allerlei Wahres und Falsches durcheinander zu mischen und daraus ein recht ungünstiges Bild von dem Anbeter zu konstruieren, so wird die Herrin – falls, wie gesagt, die Sache geschickt inszeniert wird – ihrer Geschlechtsgenossin, die doch scheinbar gar kein Interesse hat, den Betreffenden irgendwie anzuschwärzen, wohl zunächst nicht unbedingt Glauben schenken, immerhin aber argwöhnisch und dann durch einen Hauptstreich vielleicht sogar veranlaßt werden, ihrem Verlobten den Laufpaß zu geben. – Haben Sie begriffen, wo ich hinaus will, Albagnan?”
Der dicke Rentier nickte eifrig.
„Ich verstehe alles, Massac, pardon – Herr Baron. Sie wollen eben eine für diese Rolle besonders talentierte Kammerzofe in mein Haus einschmuggeln. Gut, meinen Segen haben Sie! Und was in meiner Macht steht, soll geschehen, um die neue Zofe meiner Tochter aufzuschwätzen. Außerdem – wir haben insofern Glück, als Yvette gerade heute ihre bisherige, etwas diebisch veranlagte Ninon entlassen hat, und die Stelle daher augenblicklich frei ist.”
* * *
Baron d’Estroux war sofort nach dieser Unterredung mit einer Autodroschke nach einem jener zahlreichen Variete-Theater gefahren, die man in den äußeren Stadtvierteln von Paris beinahe an jeder Straßenecke finden kann und deren künstlerische Darbietungen auf einer geradezu erschreckend niedrigen Stufe stehen. Kurz nach halbacht Uhr, als bereits überall die Gaslaternen brannten, langte Charles vor dem Orpheum-Theater an. Eilfertig riß der Portier den Schlag auf und ebenso devot erwiderte er auf die Frage des ihm gut bekanten Barons, ob Fräulein Diana de Berka bereits in ihrer Garderobe wäre, die Künstlerin sei vor einigen Minuten eingetroffen.
Charles wußte im Orpheum-Theater offenbar seit langem Bescheid. Denn ohne Zögern schritt er durch halbdunkle Gänge bis zu einer Tür, an der ein Pappschild mit der Aufschrift „Damen-Garderobe” hing. Er klopfte an und betrat auf das aus mehreren weiblichen Kehlen
ertönende „Herein” mit einem übermütigen „Servus, edle Jüngerinnen der Varieté-Kunst” den langgestreckten Raum, in dem vor vier hohen Spiegeln ebenso viele Künstlerinnen saßen, die eben eifrig mit Schminken beschäftigt waren.
Der Baron wurde von allen Seiten auf das freudigste begrüßt. Offenbar schätzte man ihn hier als einen Kavalier, der für kleine Pumpversuche stets zu haben war. Wenige Minuten später stand Charles mit einer der Damen in eifriger, leiser Unterhaltung hinter den Kulissen an einer Stelle, wo sie nicht belauscht werden konnten.
Diana de Berka war, was niemand ahnte, eine Schwester von Charles Massac, das zweite von den vierzehn Kindern eines ehrlichen Zollaufsehers, das im Leben Schiffbruch gelitten und von Stufe zu Stufe bis hinab ins Orpheum-Theater gesunken war. Allgemein glaubte man der vornehme Baron d'Estroux sei einer der vielen Verehrer der äußerlich ganz bestechend aussehenden Sängerin. Und so fand auch niemand etwas dabei, daß die beiden jetzt so eifrig im Schatten der Kulisse miteinander flüsterten.
Charles teilte seiner Schwester genau mit, welche Rolle er ihr im Hause Albagnans zugedacht und wie sie sich im einzelnen zu verhalten habe. Merkwürdigerweise liefen diese seine Instruktionen auf etwas ganz anderes hinaus als auf die Verabredungen, die er mit dem Rentier getroffen hatte. Davon, daß Viktor Desartelle in den Augen Yvettes möglichst herabgesetzt werden sollte, erwähnte er kein Wort. Im Gegenteil – die Sängerin sollte mit allen Mitteln danach streben, sich möglichst fest in das Vertrauen ihrer Herrin einzuschmeicheln. Der schöne Charles hatte nämlich eingesehen, daß er seine Heiratspläne doch nicht würde durchführen können, und daher einen anderen Entschluß gefaßt: Albagnans Schätze an sich zu bringen.
„Selbstverständlich wirst du bei dem Geschäft mit anständigen Prozenten beteiligt sein. Zunächst hast du hier als Anzahlung tausend Franken. Dafür besorgst du dir gleich morgen früh neue Wäsche und einfache Garderobe. Die Wäsche läßt du mit M. R. zeichnen, Marietta Robinot, ein Name, den du fortan führen wirst – wenigstens so lange, als du bei der Yvette Albagnan Zofe spielst. Und wie gesagt: Tritt bescheiden auf, mach’ keine Dummheiten und lies dir genau diese Papiere durch, damit du dir nicht etwa Blößen gibst, wenn deine Herrin dich nach deinem Vorleben und deinen früheren Stellungen ausfragen sollte. Glückt uns die Sache, so erhälst du hunderttausend Franken und bist dann für alle Zeiten versorgt. Was dein Engagement in diesem Kunsttempel anbetrifft, so kneifst du einfach aus, wirst kontraktbrüchig. In der Kammerzofe Marietta Robinot wird niemand die frühere Diana de Berka suchen, niemand! Und deine auf diesen bescheidenen Dienstbotennamen lautenden Papiere sind ja tadellos gefälscht, daß dir keinerlei Schwierigkeiten entstehen können.”
* * *
Das Bureau des Rechtsanwalts Viktor Desartelle befand sich in der ärmsten Gegend des Montmartre-Viertels im ersten Stock einer noch ziemlich neuen Mietskaserne, die zumeist von kleineren Beamten, Handwerkern und Studenten bewohnt wurde.
An einem der nächsten Abende gegen neun Uhr entließ der junge Advokat seinen letzten Klienten, einen ehrsamen Schuhmacher, der wegen eines Zahlungsbefehls gegen einen Kunden über eine Stunde lang die Geduld Desartelles auf eine harte Probe gestellt hatte. Jetzt drehte der Anwalt die Gaslampe aus und begab sich in seine in derselben Etage gelegenen Privaträume, die er zusammen mit seiner Mutter bewohnte.
Frau Desartelle, eine weißhaarige, stattliche Matrone, begrüßte ihr einziges Kind mit jener stillen, tiefen Zärtlichkeit, die schon Viktors Jugendjahre trotz des entbehrungsreichen Lebens mit einem seltenen Glücksschimmer erfüllt hatte.
„Du kommst spät, Viktor,” meinte die alte Frau, die ihr Kind am Nachmittag nur für kurze Zeit gesprochen hatte, mit leisem Vorwurf. „Du mußt doch schon vollständig überhungert sein. Seit acht Uhr wartet der Abendbrottisch auf dich.”
„Es ging wirklich nicht anders, Mama, wirklich nicht,” sagte Desartelle lächelnd. „Ich hatte viel zu tun – allerdings nur geringfügige Objekte, aber man muß auch damit zufrieden sein.”
Wenige Minuten später saßen Mutter und Sohn sich dann an dem recht bescheiden gedeckten Tisch gegenüber. Während Viktor mit gutem Appetit den Speisen zusprach, berichtete er über die Ereignisse des Tages, was ihm seit dem vor zwei Jahren erfolgten Tode seines Vaters zur lieben Gewohnheit geworden war, da er in seiner Mutter eine verständnisvolle und stets interessierte Zuhörerin und eine in vielen Fällen nicht zu unterschätzende Beraterin gefunden hatte.
„Zunächst das Wichtigste,” hatte er begonnen, wobei er sich eine Portion Krabben auf den Teller legte. „Ich habe heute nachmittag endlich einen Brief von meiner Braut erhalten, der mich allerdings stark beunruhigt. Wenn du ihn lesen willst – bitte, hier ist er.”
Über Frau Desartelles Gesicht huschte bei der Erwähnung Yvette Albagnans ein Schatten. Schweigend nahm sie den Brief entgegen und überflog die engbeschriebenen Seiten. Aber je weiter sie las, desto mehr hellte sich ihr Antlitz auf. Denn aus diesen Zeilen strömte ihr eine so tiefe, scheue Liebe entgegen, wie sie sie der im Montmartre-Viertel so berüchtigten Yvette nie zugetraut hätte.
Als sie ihrem Sohne jetzt das Schreiben zurückreichte, sagte sie weich:
„Dieser Brief, der so gar nichts Gesuchtes an sich hat, spricht sehr für die Verfasserin.”
„Lerne Yvette erst noch persönlich kennen, Mama, und du wirst sie bald ebenso lieben, wie ich es tue. Sie ist eben ein Geschöpfchen, das man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen muß. Hinter all ihren Streichen, die ja sämtlich recht harmloser Natur waren, verbirgt sich ein selten goldenes Herz. Doch ich will nicht weiter zu Yvettes Gunsten sprechen. Morgen nachmittag kommt sie ja zu dir, und dann urteile selbst.”
„Ich freue mich auf ihren Besuch,” meinte Frau Desartelle einfach. „Und Yvette soll in mir, wenn sie es will, eine zärtliche Mutter finden, die ihr die eigene, die sie nie gekannt hat, vielleicht voll und ganz ersehen wird. Nur der sonstige Inhalt ihres Briefes, da hast du vollkommen recht, ist sehr dazu angetan, uns zu beunruhigen. Was sie da über die Vergangenheit ihres Vaters andeutet, läßt die verschiedensten Schlüsse zu. Jedenfalls dürfte diese Vergangenheit nicht so ganz einwandfrei sein. Oder bist du darüber anderer Ansicht?”
„Ehrlich gesagt, – ich habe schon lange den Verdacht, daß des alten Albagnan Geld nicht aus ganz lauteren Quellen stammt. Bestimmtes weiß ich jedoch nicht, hoffe es aber zu erfahren, da ich Yvettes Bitte erfüllen und das Vorleben ihres Vaters, von dem sie selbst so gut wie nichts weiß, nach Möglichkeit aufzudecken versuchen werde.”
Frau Desartelle schaute nachdenklich vor sich hin.
„Eine sehr merkwürdige Rolle in Albagnans Leben spielt zum Beispiel der Baron d'Estroux,” begann sie dann wieder. „Offenbar besitzt er auf den reichen Rentier doch einen sehr großen Einfluß. Yvette schreibt sogar, ihr scheint es, als ob ihr Vater d'Estroux direkt fürchtet.”
„Diesen Eindruck habe ich schon längst. Ich werde daher auch der Person dieses angeblichen Barons, der so hartnäckig als vom Vater bevorzugter Bewerber um Yvettes Hand auftritt, einige Aufmerksamkeit schenken. Wer weiß, welch’ wertvolle Aufschlüsse man über die Beziehungen dieser beiden Männer zueinander dann erhält.”
In demselben Augenblick schellte draußen die Flurglocke. Der Anwalt erhob sich, um zu öffnen, kehrte aber erst nach einer geraumen Weile wieder zurück.
„Ich muß dich für einige Zeit allein lassen, Mama,” erklärte er hastig. „Die über uns wohnende Frau Monistelle war da und bat mich, sofort zu ihrem Zimmerherrn James Morris hinaufzukommen, der soeben durch Kriminalbeamte verhaftet worden ist. Die Pflicht ruft – also entschuldige. Mein erster Hunger ist ja auch gestillt.”
James Morris stand mit gefesselten Händen neben einem Beamten in einer Ecke, während zwei andere die große Stube eingehend durchsuchten.
Als Desartelle eintrat, rief der Engländer, der dem Advokaten bisher nur von Ansehen bekannt war, mit wutverzerrtem Gesicht:
„Ein Glück, daß Sie zu Hause waren, Herr Rechtsanwalt. Man hat mich vor wenigen Minuten unter der unsinnigen Beschuldigung, gefälschte Banknoten in Umlauf gesetzt zu haben, verhaftet. Ich beauftrage Sie mit meiner Verteidigung. Ich bin unschuldig. Der Schein spricht allerdings gegen mich. Entwerfen Sie sofort einen Haftentlassungsantrag. Ich werde Kaution in jeder gewünschten Höhe stellen.”
Jetzt trat einer der Beamten auf Desartelle zu und verbeugte sich leicht. „Kommissar Talbot,” stellte er sich kurz vor. „Ein solcher Antrag hätte gar keinen Zweck,” erklärte er dem Anwalt höflich. „Denn die Beweise gegen Morris, den wir schon seit Wochen heimlich beobachten ließen, sind derart erdrückende, daß der Verhaftete besser täte, ein unumwundenes Geständnis abzulegen. Außerdem dürfte der Mann auch noch mehr auf dem Kerbholz haben. Wenigstens haben wir hier in seinem Schreibtisch Schriftstücke gefunden, die uns vielleicht noch auf die Spur anderer Verbrechen hinführen dürften.”
Morris lachte höhnisch auf.
„Alles Unsinn, Herr Rechtsanwalt,” meinte er frech. „Stellen Sie nur den Antrag. Wir werden sehen, ob man es hier in Frankreich wagt, einen Engländer ohne jeden Grund in Untersuchungshaft zu behalten.”
„Ich habe keine Ursache, Ihre Verteidigung abzulehnen,” erwiderte Desartelle vorsichtig. „Jedenfalls müßte ich mich aber, um den besagten Antrag abfassen zu können, erst in die Tatumstände genau einweihen lassen. Heute dürfte es hierzu zu spät sein. Ich werde Sie daher morgen im Polizeigefängnis aufsuchen. Dort können wir in Ruhe das weitere besprechen.”
Morris war einverstanden.
Eine Viertelstunde später wurde er in geschlossenem Wagen fortgebracht, nachdem die Beamten alle ihnen irgendwie verdächtig vorkommenden Papiere zum Mitnehmen eingepackt hatten.
Gerade als der gefesselte Engländer über den Bürgersteig zwischen einem Spalier von schnell zusammengelaufenen Neugierigen in den harrenden Wagen geführt wurde, ging ein elegant gekleideter Herr vorüber, der beim Anblick des kleinen Engländers erschreckt zurückprallte, dann schnell hinter den Nächststehenden verschwand, um aus sicherer Entfernung die Vorgänge zu verfolgen.
Zehn Minuten darauf trafen sich Charles d'Estroux und seine Schwester, die wirklich mit Hilfe der vorzüglichen Zeugnisse die Stelle als Kammerzofe bei Yvette Albagnan erhalten hatte, an einer versteckten Stelle der Anlagen des Sacre-Coeur-Platzes.
„Gut, daß du da bist, Charles,” begrüßte Diana den Bruder, der merkwürdig aufgeregt und verstört schien. „Ich bringe sehr, sehr wichtige Nachrichten. Gestern abends ist es mir geglückt, das Versteck auszukundschaften, in dem Albagnan den Schlüssel zu seinem Panzergeldschrank aufbewahrt. Freilich, wäre mir nicht der Zufall hold gewesen – nie hätte ich das Geheimnis entdeckt. Denk dir, Charles, als ich in des Alten Arbeitszimmer von dem Sofaumbau einen Leuchter herabnehme, werfe ich eine Kleiderbürste, deren Griff mit eingelegten Steinen reich verziert ist, herunter. Ich hebe sie auf um sie an ihren Platz zurückzulegen, fühle dabei, daß die oberste Holzplatte sich etwas verschoben hat, schaue genauer hin und – sehe in der Höhlung des Griffes Metall aufblinken. Es war der Schlüssel, für den wirklich ein raffinierteres Versteck kaum ausgeklügelt werden konnte. Ich habe die Bürste ja oft in Händen gehabt, aber nie auch nur im entferntesten geahnt, welch’ wertvollen Gegenstand sie verbarg. Nur weil sie beim Herabfallen mit der einen Kante auf den Parkettfußboden hart aufschlug, war der Deckel aus seiner Lage gerückt worden. – Nun, Charles, bist du zufrieden mit mir?”
d'Estroux nickte zerstreut. Er schien an ganz etwas anderes zu denken. Erst nach einer Weile stieß er ärgerlich hervor:
„Ich fürchte fast, daß wir unser Spiel aufgeben müssen. Morris, der mir die gefälschten Papiere für dich geliefert hat, ist, wie ich eben beobachtete verhaftet worden. Das beunruhigt mich außerordentlich. Denn hat er die Korrespondenz, die ich wegen der Zeugnisse und sonstigen Legitimationspapiere mit ihm geführt habe, nicht vernichtet, so droht uns Unheil. In die Enge getrieben, legt er vielleicht ein Geständnis ab, nennt deinen Zofennamen Marietta Robinot, unter dem Albagnan dich ja auch polizeilich angemeldet haben muß – und dann sind wir geliefert.”
Die ehemalige Soubrette zuckte im ersten Augenblick erschreckt zusammen. Dann aber meinte sie beruhigend:
„Gewiß, Charles, die Möglichkeit liegt vor, daß unser feines Plänchen gestört wird. Ich kann mir aber nicht denken, daß Morris so unvorsichtig gewesen sein wird, derart kompromittierende Schriftstücke aufzubewahren. Nun, jedenfalls können wir allen Eventualitäten durch schnelles Handeln begegnen. Yvette Albagnan will morgen nachmittags Frau Desartelle einen Besuch abstatten, und dieser dürfte immerhin einige Stunden in Anspruch nehmen. Diese Gelegenheit müssen wir benutzen. Den Diener François und die Köchin werde ich schon auf irgendeine Weise aus dem Hause entfernen, sagen wir gegen halbfünf. Um dieselbe Zeit stellst du dich ein – und das weitere wird sich dann finden. Mit dem Alten allein können wir beide bald fertig werden.”
Als die Geschwister sich trennten, hatten sie alle Schritte bis in die feinsten Einzelheiten genau verabredet, selbst die Art und Weise, wie sie sich mit ihrem Raube in Sicherheit bringen wollten.
* * *
Am folgenden Nachmittag gegen drei Uhr ließ sich Viktor Desartelle, der bis dahin auf dem Gericht beschäftigt gewesen war, bei dem diensthabenden Kommissar im Polizeigefängnis melden.
„Ich komme wegen des gestern eingelieferten Engländers James Morris,” klärte er den Beamten auf, nachdem er sich als Advokat legitimiert hatte. „Morris hat mich zu seinem Verteidiger bestellt, und ich bitte um die Erlaubnis, meinen Klienten in seiner Zelle besuchen können. Außerdem wäre ich Ihnen auch sehr dankbar, Herr Kommissar, wenn Sie mir mitteilen wollten, auf welche Verdachtsgründe hin der Engländer verhaftet worden ist. Bisher weiß ich von der Angelegenheit nicht das geringste.”
„Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Desartelle. Hier sind die Polizeiakten über Morris zur Einsicht. Sie müssen sie schon hier durchblättern. Mitgeben darf ich sie Ihnen leider nicht. Das ist gegen die Instruktion.”
Während Desartelle die verschiedenen Berichte der mit der Beobachtung des Engländers betrauten Geheimagenten überflog und schon hieraus die Überzeugung gewann, daß Morris sich zum mindesten der bewußten Verausgabung gefälschten Papiergeldes in schlimmster Form schuldig gemacht hatte, meinte der Kommissär so nebenbei:
„Scheint überhaupt ein recht vielseitiger Herr gewesen zu sein, dieser Engländer. Wir haben gestern abend in seinem Schreibtisch zum Beispiel verschiedene Drucksachen gefunden, die darauf schließen lassen, daß er auch die Anfertigung falscher Urkunden als Spezialität betrieb.”
„So, so,” sagte Desartelle ohne viel Interesse und las ruhig weiter in dem dicken Aktenstück.
„Auch seine Freunde sind recht zweifelhafte Existenzen,” plauderte der Kommissar fort. „So besonders ein gewisser Baron d'Estroux, den wir schon längst auf dem Korn haben.”
Viktor Desartelles Kopf flog förmlich empor aus der gebeugten Haltung.
„d'Estroux?” fragte er gespannt.
„Allerdings. Das Adelsprädikat dieses Herrn wird jedoch wohl nicht weit her sein.”
„Wissen Sie genaueres über diesen Menschen, Herr Kommissar?”
„Bisher nicht. Er ist nur des öfteren bei grosartig angelegten Hochstapeleien beteiligt gewesen, ließ dabei aber stets durch Dritte für sich die Kastanien aus dem Feuer holen. Der Mann ist aalglatt, wirklich schwer zu fassen. Vielleicht kann man ihm aber jetzt endlich einen Strick drehen. Wenigstens hat einer unserer Agenten vor etwa einer Woche gesehen, wie Morris dem Baron ein Bündel Papiere in einem Café überreichte – wahrscheinlich ebenfalls falsche Banknoten, die d'Estroux unterbringen sollte. Seitdem haben wir auch dem angeblichen Baron ein paar geschickte Spione an die Fersen geheftet.”
„Und hat diese ständige Beobachtung Erfolg gehabt?”
Der Kommissar zögerte mit der Antwort, „Das ist Dienstgeheimnis, Herr Desartelle. Besonders Ihnen als Verteidiger des Engländers gegenüber darf ich –”
Der Rechtsanwalt unterbrach ihn.
„Ich werde diese Verteidigung jetzt nach Kenntnis der Akten ablehnen, Herr Kommissar. Die Sache ist für Morris gänzlich aussichtslos, und mit faulen Kriminalfällen gebe ich mich grundsätzlich nicht ab.”
„So, das ist etwas anderes. Nun – d’Estroux hat also in den letzten Tagen zweimal in später Abendstunde geheime Zusammenkünfte mit der Zofe einer reichen, jungen Dame gehabt. Wie heist diese doch gleich? Albagnan, richtig, mit der Zofe des Fräuleins Albagnan – einer Dame, die unseren Polizeisäckel recht häufig durch Strafgelder wegen allzu schnellen Autofahrens gefüllt hat. Anscheinend sind wir hier einem recht gefährlichen Verbrecher-Kleeblatt auf die Spur gekommen. Denn aus den in Morris’ Wohnung beschlagnahmten Schriftstücken haben wir ersehen, daß dieser in letzter Zeit gerade für eine herrschaftliche Zofe falsche Ausweispapiere beschafft hat, die auf den Namen Marietta Robinot, und so heisst das neue Kammerkätzchen des Fräuleins Albagnan, ausgestellt sind.”
Viktor Desartelle war bei Meldung des Namens Albagnan erschreckt zusammengefahren. Besonders die letzten Eröffnungen des Kommissars kamen ihm derartig überraschend, das ihm unwillkürlich ein lautes „Unglaublich!” entfuhr.
Der Beamte lächelte dazu etwas überlegen. „Diese Art, ein Verbrechen vorzubereiten, ist uns nicht neu,” meinte er. „Erst wird ein Helfershelfer in der Maske eines Dienstboten in ein Haus geschmuggelt, der das Terrain sondieren soll, und dann wird eines schönen Tages in demselben Hause ein Einbruch verübt, meist natürlich mit Erfolg – falls wir eben nicht wie jetzt vorher aufmerksam geworden sind. Daher wird auch die Firma d’Estroux und Genossen dieses Mal keine goldenen Früchte ernten. Beinahe wie ein Witz berührt jedoch bei dieser Geschichte der Umstand, daß der Vater der Fräulein Albagnan, ein millionenschwerer Rentner, in recht vertrautem Verhältnis zu dem geistigen Oberhaupt der Gaunergesellschaft, diesem Pseudo-Baron, zu stehen scheint – natürlich ohne zu ahnen, welch Geistes Kind dieser elegante Kavalier d’Estroux in Wahrheit ist. Nun, ihm werden bald die Augen aufgehen. Denn die beiden noch in Freiheit befindlichen Mitglieder der Hochstapler-Firma sollen heute abends in aller Stille ebenfalls verhaftet werden – erst heute abends, da man sie bei einer abermaligen Zusammenkunft zu überraschen hofft, wodurch ihnen dann ein Ableugnen ihres gegenseitigen Einverständnisses unmöglich gemacht wird.”
Desartelle beruhigte diese letzte Bemerkung vollkommen. Nachdem er dem höflichen Kommissär für die interessanten Enthüllungen gedankt hatte, verabschiedete er sich, um auf dem kürzesten Wege nachhause zu eilen, wo die Mutter und Yvette ihn schon sicher erwarteten. Für Morris hatte er dem Kommissär noch ein kurzes Schreiben des Inhalts übergeben, daß er es ablehne, seine Verteidigung zu übernehmen.
Es war fast sieben Uhr geworden, als Yvette sich nach drei glücklichen Stunden in dem bescheidenen Heim der Desartelles zum Aufbruch rüstete. Der Abschied fiel ihr unendlich schwer, und immer wieder küßte sie mit Tränen des Dankes in den Augen die Hände der alten Dame, die ihr mit so unendlicher Herzensgüte begegnet war.
Zwei Stunden später – der Anwalt saß noch in seinem Arbeitszimmer über den Akten – schrillte das auf dem Schreibtisch stehende Telephon, und zwar so anhaltend, als ob der Anrufende es höchst eilig hätte. Mit einer unmutigen Bewegung über die Störung warf Desartelle die Feder hin und griff nach dem Hörrohr.
„Hier Rechtsanwalt Desartelle,” meldete er sich.
„Viktor,” – er erkannte Yvettes Stimme ganz deutlich „bitte, komm’ sofort zu uns, Papa ist noch immer nicht heimgekehrt. Auffallenderweise hängen aber sein von ihm gewöhnlich benutzter Hut, Paletot und Rock in der Vorhalle. Wir haben nachgesehen – auch sonst fehlt keiner seiner Hüte. Und – ohne Kopfbedeckung wird er doch nicht ausgegangen sein. Und dann das Unheimlichste: Auf dem Eisbärenfell, das als Decke auf meinem Diwan liegt, befinden sich einige rote Flecke, die wie Blutstropfen aussehen und noch nicht einmal ganz trocken sind …”
Diese roten Flecken waren Blutstropfen, das stellte keine halbe Stunde später nicht nur Viktor Desartelle, sondern auch der Vorstand des nächsten, von dem Anwalt schnell benachrichtigten Polizeireviers fest.
Doch die Nacht und auch der nächste Vormittag vergingen, und das geheimnisvolle Verschwinden des Rentiers Albagnan war ebenso wenig aufgeklärt, wie die Herkunft der blutigen, teilweise halbverwischen Tropfen auf dem Eisbärenfell. Man vermutete hinter diesen auffälligen Anzeichen allerdings ein schweres Verbrechen, aber niemand vermochte etwas über die Vorgänge anzugeben, die sich in dem Hause des Rentiers an demselben Nachmittag abgespielt haben mußten, als Yvette Albagnan bei Desartelles weilte, und der Diener François und Köchin Estrelle mit fraglos fingierten Aufträgen von der seitdem ebenso spurlos verschwundenen Zofe Marietta Robinot für gute zwei Stunden entfernt worden waren.
Die Pariser Mittagszeitungen brachten am nächsten Tage über den bisher unaufgeklärten Kriminalfall spaltenlange Artikel, besonders fettgedruckt aber zwei Steckbriefe mit genauesten Personalbeschreibungen, die hinter dem angeblichen Baron Charles d’Estroux und der Kammerzofe Marietta Robinot von der Behörde erlassen worden waren.
„Die beiden genannten Personen,” hieß es in der öffentlichen Bekanntmachung, „haben gemeinsam gegen fünf Uhr nachmittags das Haus des Rentiers Albagnan verlassen, wußten aber den Geheimagenten dadurch zu entschlüpfen, daß sie in einem Hause der Rue Herbert verschwanden, welches einen zweiten Ausgang nach der Seine zu besitzt. Von da an verlieren sich die Spuren der Flüchtlinge vollständig. Auf ihre Ergreifung setzt der Polizeipräfekt eine Belohnung von 500 Franken aus.”
* * *
Am Nachmittag desselben Tages schrieen die Zeitungsjungen auf den Boulevards mit gellender Stimme Extrablätter aus. „Rentier Albagnan gefunden” – „Die Leiche im Geldschrank” – „Ein Raubmord um Millionen”.
Eines dieser nach frischer Druckerschwärze duftenden Blätter kaufte ein einfach gekleideter Mann, der mit den langwallenden Locken, dem ungepflegten Vollbart und der dunklen Brille vor den Augen aufs Haar einem jener armseligen Musiker glich, wie sie in den Ballsälen der Arbeitervorstädte an einem verstimmten Flügel zum Tanz aufzuspielen pflegen. Der Betreffende schien aber mit der Lektüre des sensationellen Berichtes durchaus seine Eile zu haben. Beinahe gleichgültig schob er den Zettel ungelesen in die Tasche und setzte dann seinen Weg fort, der ihn durch verschiedene Seitenstraßen in eine kleine Sackgasse führte. Hier bog er in einen Torweg ein, durchschnitt erst mehrere von lärmenden Kindern bevölkerte Höfe und verschwand dann in einer Tür, die den Eingang zu einer aus zwei Stuben und Küche bestehenden Wohnung bildete. In dem zweiten Zimmer dieſer mit altem Gerümpel spärlich möblierten Behausung saß an einem Fenster, das auf einen tiefer gelegenen Bauhof hinausging, ein Bursche von vielleicht zwanzig Jahren, dessen gebräuntes, bartloses Gesicht auffallend zarte, fast weibliche Züge aufwies.
Der mit der Brille warf jetzt seinen Schlapphut auf den wackligen Tisch und sagte mit höhnischem Auflachen:
„Weißt du, wie hoch wir beide augenblicklich im Preise stehen, Schwesterlein?”
Diana Massac – denn der junge Mensch war niemand anderes als die sehr geschickt in ein männliches Wesen verwandelte Soubrette – schaute ihren nicht minder geschickt unkenntlich gemachten Bruder verständnislos an.
„Ja. Kind,” klärte dieser sie auf, „hinter uns sind Steckbriefe mit großartgen Signalements erlassen. Außerdem ist dem – ehrlichen Finder unserer interessanten Persönlichkeiten die hohe Summe von 500 Franken zugesagt, pro Kopf also 250 Franken! Ein bisschen wenig für solche Genies, wie wir es sind. Nun, in diesem Versteck, das wir uns als bescheidene Musiker vorläufig gemietet haben, dürften wir so sicher wie in Abrahams Schoß sein. Wenn dann nach ein paar Tagen die erste Aufregung über den Fall Albagnan wieder abgeflaut ist und der Eifer der Polizei nachgelassen hat, können wir in Ruhe Frankreich den Rücken kehren, um im Auslande irgendwo unseren Raub unterzubringen – am besten in Newyork, wo ich noch von früher her Beziehungen zu zahlungsfähigen Edelstein-Hehlern habe. – Hier ist auch das neueste Extrablatt, Diana. Danach scheint man den Alten in seinem stählernen Sarg aufgestöbert zu haben.”
„Rentier Albagnan gefunden! – Die Leiche im Geldschrank! – Ein Raubmord um Millionen!” – Recht pikante Überschriften, nicht wahr? Die Zeitungsjungen haben denn auch mit den Zetteln ein recht gutes Geschäft gemacht. Höre weiter: „In der mysteriösen Angelegenheit Albagnan ist nunmehr eine entscheidende Wendung eingetreten. Was die Polizei gleich vermutete, hat sich bestätigt: Der Rentier ist ermordet und seiner wertvollen Diamantensammlung beraubt worden. Erst heute vormittags bemerkte Yvette Albagnan, daß der Schlüssel zu dem großen Panzergeldspind, der in einem besonderen Versteck aufbewahrt wurde, fehlte. Man lies einen Schlosser kommen, der nach mehrstündiger Arbeit die Tür des Tresors zu öffnen vermochte. Im unteren Teile des Panzerschrankens fand man dann die Leiche des Rentiers in völlig zusammengekrümmter Haltung vor. Sie wies eine Schußwunde auf, die an den Schläfen quer durch den Kopf ging. Das Geldspind selbst ist völlig ausgeraubt. Es fehlen Diamanten im Werte von zwei Millionen, die der Ermordete nach Angabe seiner Tochter aus einer nur ihm selbst bekannten Mine in Südwestafrika gewonnen haben soll. Von dem Mörderpaar” – und das sind wir, Diana – „hat man bisher keine Spur. Doch dürfte ihre Verhaftung nahe bevorstehen, da ein Trödler sich bei der Polizei gemeldet hat, bei dem der angebliche Baron d’Estroux zwei vollständige, sehr schäbige Männeranzüge bereits am Abend vor dem Morde gekauft hat. Wenigstens will der Trödler nach der Personalbeschreibung des Pseude-Barons seiner Sache ganz sicher sein …”
Der schöne Charles hat die letzten Zeilen immer hastiger gelesen. In seinen Zügen malte sich deutlich der Schreck über diese Nachricht, die ihn so vollständig unvorbereitet traf. Auch seine Schwester war unter ihrer braun gefärbten Gesichtshaut leichenblaß geworden.
Wenige Minuten später öffnete Massac das Hinterfenster und kletterte, gefolgt von der Sängerin, in den jetzt nach Feierabend einsam daliegenden Bauhof hinab. Durch den Vordereingang zu flüchten, wagten die beiden nicht mehr. Und das sollte ihr Verderben werden. Denn kaum waren sie hinter einigen Bretterstapeln verschwunden, als zwei mächtige Doggen, die Wächter des Holzplatzes, mit wütendem Gebell auf sie losstürzten und Massac gleich im ersten Anprall umrissen, wobei der kleine Handkoffer, in dem das gestohlene Gut ruhte, ihm entfiel. Den Koffer aufzugreifen und damit in langen Sätzen dem nahen Seinearm zuzueilen, der den Bauhof durchschnitt, gelang Diana Massac nur deswegen, weil die Hunde sich ausschließlich, mit ihrem Bruder beschäftigten.
Ein flaches Boot lag am Ufer, das die Arbeiter zum Herausbringen der geflößten Baumstämme benutzten. Ein Sprung, ein Stoß mit dem Ruder, und der Kahn schwamm inmitten des engen Kanals und wurde schnell von der Strömung der Seine zugetrieben, wo er dann jedoch infolge der ungeschickten Ruderführung der Insassin von einem Vergnügungsdampfer überrannt wurde.
Der Koffer mit den Diamanten verschwand in den trüben Wassern des Flusses, und Diana Massac wurde zwei Tage später als Leiche ans Land gespült.
Ein Zufall wollte es, daß die Geschwister zur gleichen Zeit ohne Sang und Klang zu Grabe getragen wurden. Denn auch der schöne Charles hatte unter den Zähnen der auf den Mann dressierten Doggen ein grausiges Ende gefunden, er war von den Bestien fast bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt worden, ohne Gelegenheit zu finden, über Albagnans bewegte Vergangenheit irgend jemandem Mitteilung machen zu können.
Von der Polizei wurde natürlich mit rastlosem Eifer versucht, den in der Seine versunkenen Koffer wieder ans Tageslicht zu fördern. Aber diese Bemühungen waren vergeblich. Der Flus gab seine Beute nicht mehr heraus, so sehr man auch mit Netzen und mit Hilfe von Tauchern seinen schlammigen Grund durchstöberte.
* * *
Ein Jahr nach diesen Ereignissen fand in der Kirche Sacre-Coeur eine bescheidene Trauung statt, durch die Yvette Albagnan für immer mit Viktor Desartelle verbunden wurde.
Später fand der Rechtsanwalt dann in einem Geheimfach des Schreibtisches seines ermordeten Schwiegervaters verschiedene Aufzeichnungen von dessen Hand, die eine Art Beichte darstellten und Desartelle endlich darüber aufklärten, weshalb der gefährliche Hochstapler Charles Massac einen so großen Einfluß auf Albagnan auszuüben vermocht hatte.
Danach hieß Albagnan mit seinem richtigen Namen Robert Moulin und war früher Oberaufseher in den Kimberley-Diamantenminen gewesen, wo er vor ungefähr zehn Jahren durch einen kühnen Einbruch in das Direktionsgebäude nicht nur Edelsteine von enormem Wert, sondern auch eine Menge Bargeld erbeutet hatte. Zu derselben Zeit hielt sich auch Massac in Kimberley auf, um dort in den zahlreichen Spielhöllen im Trüben zu fischen. Der Zufall wollte es, daß er nach Jahren dem ihm von Ansehen gut bekannten Moulin, der sich nach einer abenteuerlichen Flucht durch aller Herren Länder mit seinem einzigen Kinde in Paris unter falschem Namen niedergelassen hatte, begegnete und sich nun hartnäckig an dessen Fersen heftete, in der Absicht, die gestohlenen Schätze auf irgendeine Weise an sich zu bringen.
Yvette Desartelle hat von diesem traurigen Geschichtchen nie etwas erfahren. Ihr Gatte verbrannte die in dem Schreibtisch entdeckten Papiere, nachdem er sie flüchtig gelesen hatte. Die Schatten der Vergangenheit sollten die selige Gegenwart nicht trüben, die ihm stets von neuem schuf die zu heiterer Daseinsfreude erwachte, in ihrem ganzen Wesen völlig veränderte – tolle Yvette.
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Anmerkung:
Obwohl sich die Charaktere Robert Moulin, Viktor Desartelle und Yvette auch in der Erzählung Unfehlbar wiederfinden, haben beide Texte nur wenig Gemeinsamkeiten.