Die vollkommen rechtsverbindliche Verheiratung von Kindern durch ihre Eltern mit gleichaltrigen Kindern des anderen Geschlechts ist eine schon dem Altertum bekannte Sitte. In den meisten Ländern, wo die Kinderehe vorkommt, läßt sie sich auf patriarchalische Einrichtungen zurückführen. Familien, die ihre Beziehungen enger zu knüpfen wünschen, verloben ihre Kinder miteinander, wie es noch heute bei Juden, Mohammedanern, Serben und Albanesen vorkommt, die ihre Kinder schon in der Wiege verloben. Hieraus entwickelte sich dann im Laufe der Zeit bei Völkern, deren Kultur nur langsam vorwärtsschritt, die gültige Ehe zwischen Kindern, wodurch nichts anderes als eine möglichst unlösliche Verbindung zweier Familien aus irgend welchen Interessen hergestellt werden solle. Diese Kinderehen werden unter den für die Erwachsenen üblichen Hochzeitszeremonien vollzogen, nur daß die Kinder natürlich sofort nach der Eheschließung wieder in das Elternhaus zurückkehren. Bei manchen Stämmen ist sogar der gesellige Verkehr dieser noch im Kindesalter stehenden Ehegatten starken Beschränkungen unterworfen, so z. B. auf Neuguinea, wo sich die Eheleute nicht sehen dürfen und die Frau sich vor ihrem zufällig vorübergehenden Manne verbergen muß. In China hatte das Unwesen der Kinderehen eine solche Verbreitung angenommen — meist um große Kapitalien in einer Hand zu vereinigen, daß der Staat dagegen kürzlich ein strenges Verbot erlassen mußte. In Indien besteht die Kinderehe noch heute, und es gilt dort als sündhaft, im Hause eine unverheiratete Tochter zu haben. Als letzter Termin für die Verheiratung der Tochter ist in Indien das zwölfte, als untere Grenze das vierte Jahr durch Gewohnheitsrecht festgesetzt. Bis die Tochter erwachsen ist, bleibt sie im Hause der Eltern. Dann erst findet die zweite, eigentliche Hochzeit statt. Stirbt der Gatte, bevor er seine jugendliche Frau auch nur gesehen hat, so treten für diese alle Konsequenzen der indischen Witwenschaft in Wirksamkeit. So wurden, bevor die englisch Regierung mit aller Strenge gegen die Witwenverbrennungen einschritt, früher sogar Mädchen von ganz jungem Alter dem Scheiterhaufen überliefert. Heute darf die aus einer Kinderehe zurückbleibende Wittwe nur keine neue Ehe eingehen. In den nordwestlichen Provinzen Indiens waren z. B. im Jahre 1900 im Alter von 8-14 Jahren neun Zehntel aller Mädchen verheiratet. — Ähnliche Verhältnisse findet man auch bei den kirgisen Stämmen der russischen Steppen. Hier ist aber besonders das eigenartige Institut der Schwiegertochter-Ehe verbreitet, bei dem der Vater seinen acht- bis neunjährigen Sohn mit einem um 10-15 Jahre älteren Mädchen verheiratet, dann aber mit diesem Mädchen selbst in ehelicher Gemeinschaft lebt, während die Kinder als diejenigen des Sohnes gelten. Auch diese merkwürdige Schwiegertochter-Ehe, die in gleicher Form in Bulgarien und in den Karpaten bei Huzulen und Pokutiern üblich ist, findet ihre Erklärung in dem Bestreben, durch Heirat größere Vermögen in eine Hand zu bringen.