Ich lernte Siegfried Forsch kennen, als wir, mein Couleurbruder Werner und ich, uns als damalige Rechtskandidaten herbeiließen, den Abiturientenkommers des Städtischen Gymnasiums mit unserer Gegenwart zu beehren. Wir hatten als alte Städter eine Einladung erhalten und gedachten das Fest zu einer ergiebigen Keile für unsere Frankonia auszunutzen. –
Hans Werner, dem eine stattliche Anzahl von Semestern eine sichere Menschenkenntnis, weniger positives juristisches Wissen eingebracht hatte, behandelte frischgebackene Abiturienten, alias muli, alias Keilfüxe, durchaus individuell und entdeckte schon nach flüchtiger Bekanntschaft, ob bei ihnen überhaupt ‚etwas zu machen war‘ und wie sie sich am besten in die gestellten Schlingen locken ließen. So hatte er denn bei unserem Eintritt in den Festsaal das vorhandene Material, neun gehrockbewaffnete Jünglinge, schnell gemustert und war dann sofort auf Siegfried Forsch losgesteuert, der sich aus der Schar der durch die Examensnöte etwas abgeblaßten Pennälergesichter durch sein frisches, impertinentes Gesicht und einen Kragen von einer beängstigenden Höhe angenehm abhob. Werner, bei uns Franken allgemein in zarter Anspielung auf ‚geistige‘ Neigungen ‚Wuttki‘ genannt, stellte sich vor, nannte dann auch meinen Namen und vermittelte so die Bekanntschaft mit den anderen ‚Herren‘. Seine von liebenswürdiger Teilnahme triefende Unterhaltung im Verein mit seiner starklädierten Quartseite imponierte anscheinend in gewünschter Weise. Dabei fand Wuttki noch Zeit, mir schnell zuzuflüstern…: „Nimm du den Langen mit dem Pastoreneisenschlips auf’s Korn!“ –
Ich tat’s denn auch. Und als das hohe Lehrerkollegium erschien und der Kommers begann, saß plötzlich Siegfried Forsch zwischen uns und links von mir das mir von Wuttki zugewiesene Opferlamm, – nebenbei, er wollte Mathematik studieren und sah auch schon ganz so aus, als ob er beständig Kubikwurzeln aus fünfstelligen Zahlen im Kopf zog. Da ich bald merkte, daß mein Jüngling eine Mensur für eine überflüssige, unzeitgemäße Spielerei hielt, und selbst meine blendendste Beredsamkeit ihn nicht von dem erzieherischen Wert des ‚langen Messers‘ überzeugen konnte, so überließ ich ihn rücksichtslos seinem Stumpfsinn und wandte meine ganze Aufmerksamkeit meinen beiden rechten Tischnachbarn zu.
Wuttki war schon im besten Fahrwasser, erzählte vom Studentenleben, kam vorsichtig auf studentische Verbände zu sprechen, und pries auch bald unsere Frankonia als das Ideal einer Korporation, zählte mit unnachahmlicher Frechheit eine Reihe von Couleurbrüdern auf, die alle, teilweise mit Auszeichnung (!!) in letzter Zeit ihre Examen gemacht haben sollten, ging dann zum Kostenpunkt über und war gerade bei den Vorteilen der Konnexionen durch Alte Herren angelangt, als der Herr Direktor sich zu seiner Festrede erhob. Wuttki und ich entflohen schleunigst und verbrachten die Zeit dieses feierlichen Ergusses am Büffet im Nebenzimmer.
„Du,“ meinte er dabei, „mit dem wird’s was! Der Bengel hat Schneid! Zwar ein eitles Äffchen, aber bildungsfähig!“ Dann lachte er etwas niederträchtig vor sich hin. – „Zunächst muß man diesem Siegfriedchen jetzt etwas schmeicheln, damit er warm wird. Darauf fällt er sicher rein! Am besten ist, du überläßt mir ihn ganz und schwindelst nur an passender Stelle auch noch dein Teil dazu. – Wie steht’s denn mit dem Langen neben dir? – So, also nischt! Schade! Aber es war noch der Dekorativste von der ganzen Gesellschaft außer meinem Herrn Forsch.“
Inzwischen hatte der Direktor seine Rede beendet, und wir konnten unbeschadet unsere Plätze wieder aufsuchen. Siegfried Forsch empfing uns mit den eine ganz nette Aufgeklärtheit verratenden Worten:
„Die Herren haben nichts versäumt! Es war die reine Festhymne für einen alkoholfreien Verein!“ – Aus Anerkennung kam Wuttki ihm dafür den neunten Halben aufs Spezielle, holte dann seine Zigarrentasche hervor, die innen das Wappen der Frankonia zeigte und sicher erst zehn Jahre nach ihrer endgültigen Außerdienststellung bei Dießl in München bezahlt worden ist, und hielt sie Siegfried hin.
„Herr Studiosus, Sie gestatten wohl…!“
Der betrachtete zunächst etwas mißtrauisch die vier fast schwarzen Zigarren mit den goldenen Leibbinden.
„Oh, sie sind zwar ziemlich kräftig“, forderte Wuttki auf, „aber so eine Importe, das ist doch was!! Sie kennen die Marke außerdem sicher, Herr Studiosus! Es sind Heinrich Kleist – pardon Henry Klay meine ich natürlich…“ – Dabei spielte um seine Lippen ein Grinsen, das jeden anderen gewarnt hätte. –
Siegfried Forsch riskierte es. Und mein edler Couleurbruder klappte die schöne Tasche zu, steckte sie wieder weg, zwinkerte mir heimlich zu und … nahm eine von meinen Zigaretten. Denn seine ‚Importen‘ waren ganz gemeine 5 Pfg.–Stinkadores, denen er nur die echte Leibbinde umgelegt hatte.
Während Herr Forsch mit Todesverachtung und stark gemachter Nachlässigkeit den Rauch der schwarzbraunen Giftnudel von sich blies und sich dabei sicher ungeheuer wichtig vorkam, bearbeitete Wuttki ihn weiter. Ich aber habe mir damals den kleinen mulus geradezu mit Hochachtung angeschaut. Denn er brachte wirklich das Kunststück fertig und vertilgte die Henry Klay bis auf einen kleinen Rest, ohne sich irgendwie zu verfärben. Und stolz steckte er sogar nachher das Zigarrenbändchen in die Westentasche. „Ich sammle sie für meine Cousine!“, erklärte er mit der Selbstverständlichkeit des alten Rauchers. Eine zweite ‚Importe‘ bot ihm Wuttki aber doch nicht an. Auch sein Herz war mitunter für mitleidige Regungen zugänglich. –
Als Siegfried Forsch dann gegen ein Uhr leise Anwandlungen von plumper Vertraulichkeit bekam – zu seiner Entschuldigung sei gesagt, daß er sich ganz bierehrlich das Näschen begossen hatte – und Wuttki nur noch ‚Herr Werner‘ statt ‚Herr Kandidat‘ nannte und uns mit weitschweifigen Schilderungen der bei Anfertigung der schriftlichen Examensarbeiten gebräuchlichsten Mogelarten langweilte – der Brave muß gedacht haben, daß wir auf ehrliche Weise zum Maturum gekommen wären!! –, da ging Wuttki zum letzten Sturm über. Und siehe da, die Festung kapitulierte! Übergeben hat sie sich wohl erst später! So wurde Siegfried Forsch Franke, und die Einleitung zu dieser wahrhaftigen Geschichte ist damit zu Ende…
Wir kamen nun fast täglich mit unserem jüngsten Fuchsen zusammen, weihten ihn langsam in die Geheimnisse der Zunft ein und lernten ihn bald … nur zu gut kennen, ihn und seinen übertriebenen Schneid, der sogar uns bisweilen peinliche Augenblicke bereitete. Denn Siegfriedchen litt sehr heftig an dem sogenannten Ramschkoller. Saß man mit ihm in einem Lokal so fühlte er sich schon nach fünf Minuten durch irgend jemand, meist einen harmlosen Ladenjüngling, fixiert, wollte ihn rausbitten usw., – ging man mit ihm über die Straße, so glaubte er sich bald von diesem, bald von jenem Passanten ‚herausfordernd‘ angesehen, – mit einem Wort, er, der noch vor wenigen Tagen der unter Umständen bis zur Verbalinjurie ausartenden Kritik der Lehrer ausgesetzt war, suchte sein junges Studententum durch möglichste Rauhbeinigkeit nach außen hin zu betästigen. Unserer nachdrücklichen Beredsamkeit gelang es ja immer, seinen Blutdurst in eine seine Mitmenschen weniger gefährdende Art von Durst umzuformen. Aber wie das nachher in Königsberg mit ihm werden sollte, wo er sich mehr allein überlassen blieb und weniger geduldige Objekte seiner Krakehlsucht harrten – das war uns vorläufig noch schleierhaft! – Und was wir heimlich schon längst gefürchtet hatten, trat denn auch schon in den ersten Tagen unseres gemeinsamen Aufenthaltes in Königsberg ein – wenn auch in Gestalt eines Erlebnisses, das uns noch lange Zeit Stoff zu ergiebigstem Anöden gab. Der Angeödete aber war stets unser Siegfriedchen.
Wuttki und ich wohnten damals zusammen in der Herbartstraße, weit ab von dem Getriebe der vergnügunssüchtigen Welt, in die wir als arme Examenskandidaten nicht hineinpaßten. An einem Vormittag gegen neun Uhr war’s, als Siegfried Forsch mit seltsam bekniffenem Gesicht bei uns erschien. Wir merkten gleich, daß da irgend etwas nicht in Ordnung war. Und tatsächlich… Nach einigem Zögern berichtete er denn. Er war an dem vorigen couleurfreien Abend allein ins Café Bauer gegangen und hatte dort … geramscht…!
Wuttki, der in einem schon reichlich schäbigen Schlafrock auf dem Sofa saß, meinte mitleidlos: „Das ist dir ganz recht! Hoffentlich vertreibt dir dein Gegner für immer diese lächerliche Empfindlichkeit – um nicht einen anderen Ausdruck zu gebrauchen!“ –
Nach den Einzelheiten fragte er ihn gar nicht. Da mir aber das Füxlein für einen einfachen Fall ohne alle Komplikationen doch zu bedrückt aussah, forschte ich weiter. Und nach der jetzt etwas eingehenderen Schilderung des Vorfalls erschien die Geschichte doch nicht so ganz harmlos. –
Er hatte allein an einem Tisch gesessen und – das kannten wir ja schon! – bald gemerkt, daß er von einem Herren mit verschiedenen Durchziehern im Gesicht höhnisch fixiert wurde.
„Glaubt mir doch“, war er damals ganz erregt zu seiner Verteidigung aufgefahren, „ich habe mir eure Ermahnungen wirklich zu Herzen genommen. Aber der … der Mensch grinste mich unausgesetzt über den Rand seiner Zeitung so unverschämt an, daß mir schließlich die Galle ins Blut trat. Und da uns noch andere Besucher des Cafés beobachteten, habe ich es einfach für meine Pflicht als Couleustudent gehalten, ihn nachher in der Theaterstraße zur Rede zu stellen, und … ja, denkt euch, was tut der … der Mensch: Er lacht mir direkt ins Gesicht, gibt mir auch lachend seine Karte… Ich habe vor Wut gezittert und … viel fehlte nicht, dann hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen…“
Bei Wuttki regte sich jetzt auch das Interesse. „Sind beleidigende Äußerungen gefallen?“, fragte er als alter Praktikus.
„Von seiner Seite nicht. Ich allerdings habe ihn … Flegel … unverschämt genannt – vielleicht sogar noch mehr ihm in’s Gesicht geschleudert. Ich wußte eben nicht mehr, was ich tat… Denn … auslachen lasse ich mich von niemandem…“
Siegfried Forsch meinte es bitter ernst. – Wir beide aber tauschten nur einen Blick aus und verstanden uns: Säbel fine taxierten wir gleichmäßig. Schade – die Lehre war für Siegfriedchen doch etwas zu hart!
„Und weiter?“, fragte Wuttki jetzt kopfschüttelnd.
„Weiter…?! Nun, ich bin heute morgen schon bei Müller und Heinz gewesen, wollte mit ihnen die Sache besprechen, traf sie aber nicht zu Hause… Da kam ich zu Euch…“
„Und was ist denn dein … dein Gegner eigentlich?“, meinte ich kleinlaut.
„Das ist ja eben das … das Schlimmste dabei!“, sagte das Füxlein da ganz niedergebrochen. „Der Herr ist Referendar und außerdem Reserveoffizier, und einen Zirkel hat er auch noch über seinen Namen gemalt…“
Wuttki pfiff leise durch die Zähne.
„Da hast du dir ja eine nette Suppe eingebrockt, mein Jungchen!“, sagte er darauf sehr ernst. Und wieder sahen wir uns nur an. Denn in der Form war die Sache doch recht bedenklich…
„Und wie heißt der Herr? Hast du die Karte da…?“, fragte Wuttki jetzt schon mit dem offiziellsten Kartellträgergesicht.
Siegfried Forsch reichte ihm darauf eine Visitenkarte hin. Und Wuttki überflog sie schnell, fuhr zusammen, las nochmals und … begann zu lachen, so herzlich zu lachen, daß die Sprungfedern des alten Sofas von der Erschütterung knirschten und quietschten. „Weißt du, wen … wen er kontrahiert hat, … wen…?!“ Und wieder prustete er los, unfähig weiter zu sprechen. –
Ich hatte schnell nach der Karte gegriffen.
Dr. jur. Weinhardt,
Referendar,
Leutnant d. Res. des X. Grenadier–Regiments
stand darauf. – Ich lachte nicht, sondern schüttelte nur den Kopf, wollte ernst bleiben … es ging nicht! Und in unser nicht endenwollendes Gelächter schrie Siegfried Forsch jetzt empört hinein…
„Was habt ihr denn nur…?! Ich finde die Geschichte wirklich nicht so…“
„Aber wir … wir finden sie köstlich!“, lachte Wuttki dazwischen. „Füxlein, Menschenskind, das ist ja unser Alter Weinhardt et Borussiae, den du dir da ausgesucht hast… Dem hatten wir ja von dir und deiner fatalen Ramschwut erzählt, und sicher hat er dich schon in Couleur gesehen und wiedererkannt, wollte dir auf diese Weise nur mal eine gute Lehre geben…!! – Na, das ist ja ein nettes Blameusing für dich! Und die Freud von Weinhardt kann ich mir vorstellen, als du so stolz mit seiner Karte von dannen zogst…!“
Siegfried Forsch sah für gewöhnlich nicht über dem Durchschnitt minderbegabt aus. Damals aber…!! In seinem Gesicht spiegelte sich eine ganze Skala wechselnder Empfindungen wider! Zuletzt flutete ihm die helle Röte ins Gesicht…: Er schämte sich…! – Aber diese bittere Pille war erst halb verschluckt. Er mußte ja noch zu seinem ‚Gegner‘ gehen und … um Entschuldigung bitten! Wie dieser Besuch abgelaufen ist, erfuhren wir erst nach einigen Tagen. Da kam er wieder zu uns und erzählte begeistert von der großartigen Aufnahme, die er bei dem Alten Herrn gefunden hatte, von dem Frühstück im Blutgericht mit echten Importen und Kaviar, zeigte uns auch stolz Weinhardts Bild in Uniform, das dieser ihm zum Andenken dediziert hatte. –
Siegfried Forsch ist jetzt lange Referendar, hat eine allerliebste Lebemannsglatze, trägt normale Kragen und sammelt nicht mehr für ‚Cousinen‘ Zigarrenbändchen. Und man munkelt stark, daß er in nächster Zeit den vorbereitenden Schritt zu der ‚Kontrahage auf ewig‘, auch Ehe genannt, in Form einer glücklichen Verlobung tun will. Das wird dann hoffentlich auch seine … letzte Ramsche sein!