1. Kapitel
In dem Arbeitszimmer des Referendars Doktor Homs Ottkens standen die Fenster weit offen. Man hörte das Branden der nahen See wie ein ununterbrochenes, an- und abschwellendes Rauschen, dazu das Wispern der hohen Linden des Vorgartens, deren Blätterschmuck der Abendwind leicht erschauern ließ. Und aus dem Nebenhause klang der halblaute, melancholische Gesang eines polnischen Dienstmädchens herüber, das am Fenster stand, und mit sehnsüchtigen Augen in die flammende Röte des Himmels starrte – dorthin, wo die Sonne soeben hinter den bewaldeten Höhen verschwunden war. –
Diese wunderbare Abendstimmung, der der kleine Referendar mit dem etwas hochmütigen Knabengesicht sich auch heute träumerisch hingab, störte jetzt plötzlich der bellende Ton der Sirene eines Torpedobootes, das regelmäßig um diese Zeit vom Stranddorfer Steg abfuhr und die Post zu der auf der Altstädter Reede liegenden Flotte beförderte.
Homs Ottkens war aus seinem Sinnen aufgeschreckt. –
Während seine Hand die Pastellstifte über das graue Papier gleiten ließ und aus dem flüchtigen Entwurf sich immer deutlicher das Bild eines über die erregte See durch die Gewitterböen dahinjagenden Fischerkutters herausarbeitete, waren seine Gedanken doch nur bei der ihn beunruhigenden Depesche geblieben, die ihm für heute abend den Besuch seines Freundes Pollnow ankündigte.
Das Depeschenformular lag noch neben ihm auf dem Schreibtisch. Und als er jetzt seine Zeichenutensilien langsam zusammenzupacken begann, streifte sein Blick abermals diese ihm unverständlichen Zeilen, die da in ihrer blauen Farbe so rätselhaft auf dem gelblichen Papier lagerten.
‚Ankomme abends. Erwarte mich allein zur Rücksprache in sehr dringender, beunruhigender Sache. Gruß Pollnow.‘
‚Beunruhigende Sache!‘ – Darüber kam Ottkens nicht hinweg! – Er kannte den um mehrere Jahre älteren Freund zu gut, als daß er annehmen konnte, Pollnow würde auch nur im geringsten übertreiben. Und weiter sagte er sich sehr richtig, daß nur ein schwerwiegender Grund den jungen Gutsbesitzer um diese Zeit zu einer immerhin stundenlangen Eisenbahnfahrt veranlassen konnte, besonders da er sein Gut Johannistal allein ohne Inspektor, nur unterstützt von einem Volontär bewirtschaftete und die fortwährenden Regengüsse der letzten Zeit seine Anwesenheit daheim dringend erforderlich machten. Hatte ihm Pollnow doch noch vor einer Woche geschrieben, er würde zu der Stranddorfer Sportwoche auf keinen Fall herüberkommen, da die Ernteaussichten in diesem Jahre so trostlos seien, daß er – ganz abgesehen von seiner Unabkömmlichkeit – auch nicht die nötige Stimmung habe, um sich im Kreise der alten Bekannten einige Tage zu vergnügen. Und jetzt dieses Telegramm, das am Nachmittag eingetroffen war und dessen Andeutungen er trotz allen Grübelns nicht enträtseln konnte.
Homs Ottkens hatte den Schreibtischstuhl zurückgeschoben und war aufgestanden. Er legte das halbfertige Bild vorsichtig in eine Mappe und wandte sich dann dem großen, vor dem Paneelsofa stehenden Tisch zu, der bereits für das Abendessen gedeckt war. Seine etwas pedantische Ordnungsliebe zwang ihn, noch hier und da einen Teller zurechtzurücken, die geschliffenen Biergläser prüfend gegen das Licht zu halten und das Obst in der Schale etwas dekorativer zu ordnen. Auch in seinem Schlafzimmer, das er seinem Gast eingeräumt hatte, schaute er noch schnell nach dem Rechten. Aber auch hier hatte seine langjährige Wirtin ihm alles nach Wunsch hergerichtet. So konnte er der Ankunft des Freundes mit Ruhe entgegensehen. Denn er hielt es stets für eine vornehme Pflicht, seinen Besuchern den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, ihnen zu zeigen, daß er nicht nur inbezug auf seine eigene, kleine Person Ansprüche an das Leben stellte.
Die hohe Wanduhr in dem reichgeschnitzten, eichenen Gehäuse schlug jetzt mit ihrem langsamen, wohlklingenden Schlage acht. Ottkens stand gerade vor dem Spiegel und zog sich seinen Selbstsbinder zurecht, als es kurz an die Tür klopfte und gleich darauf ein schlank gewachsener Herr ins Zimmer trat.
„Tag, Homs, wie geht’s dir…?“ klang’s schon von der Türschwelle her. –
Die beiden schüttelten sich die Hände, Max Schüler warf dann Hut und Stock auf das in der Ecke stehende Sofa und ließ sich aufstöhnend in einen Sessel fallen. –
„Hab’ ich einen Kater…!“ klagte er laut und fuhr mit der vom Tennisspielen dunkelgebräunten Hand über die Stirn und das spärliche, blonde Haar hin. –
„Der Abend gestern im ‚Rheingold‘ war aber doch famos! Und dann der Sonnenaufgang auf dem Stege, wenn so aus der bleigrauen Dämmerung langsam die Umrisse des Kurhauses, das ganze Strandbild hervortauchen und…“ –
Da fiel sein Blick auf den gedeckten Tisch, und in seiner quecksilbrigen, fahrigen Art, die ihn nie lange bei demselben Gegenstand verweilen ließ, fragte er sofort: „Du erwartest Besuch?… – Famos! Zu der Abendtafel bin ich gerade zurecht gekommen! Die geräucherten Flundern sehen ja großartig aus!… – Weintrauben – auch nicht schlecht!“ – Und ungeniert griff er in die Schale und begann behaglich eine Traube zu zerpflücken. Erst als Ottkens schweigsam blieb, schaute er prüfend zu ihm auf und lachte dann herzhaft:
„Du machst ein Gesicht, Homschen, ein Gesicht! Da steht so deutlich drin geschrieben: Ich wünsch’ dich zu allen Teufeln!… – Welch hochgestellte Persönlichkeit erwartest du denn, daß du dich mit meiner geringen gesellschaftlichen Stellung zu blamieren fürchtest?“
Homs Ottkens hatte unmutig die Stirn gekraust und dem Kopf noch um eine Kleinigkeit mehr nach rückwärts gebogen. Und nicht gerade sehr freundlich klang seine Erwiderung:
„Pollnow hat sich angemeldet. Er muß gleich hier sein. Wir haben etwas Dringendes zu besprechen.“
„Das heißt kurz und bündig: ‚Bitte – verschwinde‘,“ lachte Schüler wieder. – Dann wurde er plötzlich ernst. Und nach einer Weile sagte er:
„Ich möchte nur mal wissen, ob du andere auch so ganz ohne Umstände hinauskomplimentieren würdest?! Ich glaube kaum!… Du hast überhaupt mir gegenüber eine Art!“
Nun war es an Ottkens, den anderen kopfschüttelnd zu unterbrechen: „Wenn du dir nur dieses törichte Mißtrauen abgewöhnen wolltest! – Ich denke gar nicht daran, dir gegenüber an meiner Art mich zu geben etwas zu ändern! Außerdem meine ich, wir beide kennen uns doch so gut, daß du mir meine nur durch besondere Umstände bedingte – zarte Andeutung nicht übelnehmen kannst. – Da, lies das Telegramm – vielleicht begreifst du dann!“
Max Schüler legte die Weintraube, von der er trotz seiner augenscheinlichen Mißstimmung ruhig weiter gespeist hatte, aus der Hand und überflog das Formular. Schweigend reichte er es dem Referendar wieder hin und erhob sich dann.
„Bist doch ein guter Kerl, Homschen!“ meinte er in seiner treuen Art. – „Aber daß ein Mensch in meiner Lage argwöhnisch ist, sich leicht zurückgesetzt fühlt … das kannst du wohl verstehen, nicht wahr?“ – Darauf nahm er Hut und Stock und verabschiedete sich. Als er draußen über den Vorplatz ging, hörte Ottkens ihn schon wieder gellend einige Takte aus ‚Bajazzo‘ pfeifen…
„Wunderlicher Mensch!“ dachte er. Und dann schaute er in den hohen Spiegel, sah seine Knabenfigur darin und … beneidete Max Schüler um den schlanken, großen Körper, um seine abgerundeten, eleganten Bewegungen, die trotz aller Lebhaftigkeit nie anders als vornehm wirkten. –
Max Schüler war vielleicht in dem eine ganze Menge von Originalen bergenden Juristenkreise die eigenartigste Erscheinung. Sein Kopf mit dem fast zu stark entwickelten Unterkiefer, der hohen Stirn und den lebendigen Augen unter ein paar starken Augenbrauen ließ auf eine große Energie schließen, auf einen Menschen, dem alle sentimentalen Neigungen fremd waren, der nichts war, als eine rücksichtslose Kraftnatur. Aber selten täuschte ein Äußeres so wie hier. Max Schüler hatte trotz seiner siebenundzwanzig Jahre nichts erreicht, war zweimal durch das Referendarexamen gefallen und bereitete sich jetzt – wie er sagte – für den dritten Versuch vor, da ihm einflußreiche Verwandte schon die ministerielle Genehmigung zu diesem letzten, dritten Versuch besorgt hatten. – Seine Eltern lebten in Stranddorf, waren zum Glück – oder zum Unglück – in der Lage, dem etwas lockeren Lebenswandel des Sohnes die nötigen Mittel zu spenden und vergötterten den begabten Menschen, der bei einiger Energie sicher mit Leichtigkeit vorwärts gekommen wäre. Aber diese Energie fehlte eben… Schüler trieb nur schöne Künste, spielte fertig Klavier, komponierte, dichtete, war im Besitz einer nicht ungeschulten Stimme, konnte sich aber zu einer intensiven Tätigkeit, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war, nicht mehr aufschwingen. Trotzdem war er überall gern gesehen, da seine gesellschaftliche Gewandtheit und sein sprühender Humor seine Charakterschwächen vergessen ließen. – Anwandlungen eines moralischen Katers gingen bei ihm ebenso schnell vorüber, wie die Anfälle von Mißtrauen, in denen er sich vernachlässigt, übersehen glaubte. Er lebte in den Tag hinein mit einem fast gewissenlosen Leichtsinn, ohne Zukunftsgedanken. Und alle Versuche seiner wohlmeinenden Bekannten, ihn auf eine andere Bahn zu bringen, schlugen fehl. Jetzt dachte niemand mehr daran, ihm ins Gewissen zu reden. Man nahm ihn als Original hin, manche schüttelten wohl auch verstohlen über ihn den Kopf, mußten aber ebenso anerkennen, daß er bei all seinen Fehlern eine grundehrliche Natur war, jederzeit bereit, für einen Freund einzuspringen. –
Das war Max Schüler, der soeben den kleinen Referendar Ottkens verlassen hatte. –
Aber der Zufall wollte es, daß er bald zurückkehrte. Als er gerade aus der Wäldchen- in die Seestraße einbog, stieß er auf Erich Pollnow, der eben von der Bahn kam.
Pollnow, der mit Schüler seinerzeit die Bänke des Strasburger Gymnasiums zusammen gedrückt und für den merkwürdigen Menschen wohl nur deshalb ein so großes Interesse behalten hatte, weil sie so ganz verschiedene Charaktere waren, schien durchaus nicht damit einverstanden zu sein, daß Schüler von Ottkens so kurzer Hand fortgeschickt worden war. Nachdem sie sich beinahe herzlich begrüßt hatten, sagte Pollnow in seiner ehrlichen Weise, ohne daß dabei der sorgenvolle Zug aus seinem frischen Gesicht verschwand: „Was ich mit Homs zu besprechen habe, kannst du ruhig mit anhören. – Allerdings verlange ich, daß du über die Angelegenheit schweigst,“ setzte er sehr ernst hinzu. – „In meiner Lage kann mir der Rat jedes Freundes etwas nützten und so ganz blind bist du ja auch nicht durch das Leben gegangen!“
Der reich gedeckte Tisch in Homs Ottkens Arbeitszimmer sollte aber vorläufig unberührt bleiben. Mit ernsten Gesichtern saßen die drei auf der weinumrankten Veranda. Pollnow erzählte mit halblauter Stimme, die öfters vor Erregung leicht zitterte, von dem, was ihn aus Johannistal fort zu dem Freunde getrieben hatte.
Schüler hatte sich in den Schaukelstuhl gestreckt und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Die Dämmerung war angebrochen… Die Gesichter der drei verschwammen immer mehr. Und der Zigarettenrauch zog in langen Schwaden zu den offenstehenden Verandafenstern hinaus.
„Ihr wißt,“ hatte Pollnow ohne Umschweife begonnen, „daß meine Schwester Ellen sich seit dem Frühjahr in Altstadt aufhält, hauptsächlich um ihre Malstudien fortzusetzen, die sie nach dem Tode unserer Eltern etwas vernachlässigt hatte, dann aber auch, um bei der schnellen und günstigen Eisenbahnverbindung von Altstadt hierher Seebäder zu nehmen und die Saison möglichst mitzumachen. Du, Homs, bist ja auch so liebenswürdig gewesen, sie bei deinen Verwandten hier in Stranddorf einzuführen, hast auch auf den hiesigen Festlichkeiten dich ihrer angenommen, indem du für Tänzer sorgtest.“
„Verzeih, daß ich dich unterbreche,“ war ihm hier Ottkens ins Wort gefallen – „von Tänzer besorgen, kann keine Rede sein. Da unterschätzt du deine Schwester doch etwas sehr! Im Gegenteil! – Die Herren haben sich förmlich an mich herangedrängt und um Vorstellung gebeten – sogar dein ‚Freund‘ Lauenburg umschwärmte sie auffällig.“
Über das sorgenvolle Gesicht des jungen Gutsbesitzers war bei dem Namen Lauenburg ein offenbarer Ausdruck des Mißbehagens gehuscht. Aber seine Gedanken waren anderweitig so in Anspruch genommen, daß er diese unangenehme Empfindung schnell überwand. – Er hatte als Antwort für Ottkens berichtigenden Einwurf nur eine abwehrende Handbewegung; dann fuhr er hastig fort:
„Wie sehr wir, Ellen und ich, aneinanderhängen, kann nur der verstehen, der eben keine Eltern und keine weiteren Geschwister mehr hat. Ellens große Vorzüge habe ich jetzt erst schätzen gelernt, wo wir allein auf einander angewiesen waren und uns in den langen Wintermonaten in unserer Einsamkeit auf Johannistal wie zwei gute, nein die besten Freunde über die Eintönigkeit des Landlebens hinweghelfen mußten. Da ist mir erst der rechte Sinn für all die Kleinigkeiten eines verfeinerten Lebensgenusses aufgegangen, die anderen vielleicht nur das eigene Weib, mir schon die geliebte Schwester als guter Kamerad, treuer Helfer und Berater vermittelte.“
Homs Ottkens große, etwas vorstehende Augen hatten nun schon eine ganze Weile beharrlich den Blick des Freundes gesucht. Aber die Dämmerung war aus den Winkeln der Veranda immer weiter hervorgeschlichen und hatte des kleinen Refrendars Kopf für den in der Nähe des Freundes sitzenden Pollnow in eine graue Nebelflut gehüllt, so daß er das runde Gesicht mit dem etwas impertinenten Stupsnäschen nur noch wie einen verschwommenen Fleck sah. Er merkte nichts von diesem prüfenden Blick, der zugleich eine Erklärung zu fordern schien.
Und daher sagte jetzt Ottkens mit feinem Lachen:
„Nach dieser für deine sonstige Schweigefreudigkeit recht ansehnlichen Rednerleistung kann ich nur annehmen, lieber Erich, daß deine ganzen Sorgen sich um ein, – um das Weib drehen, die du jetzt als Hausfrau in ‚die Einsamkeit von Johannistal‘ zu verschleppen gedenkst! Denn ‚Kleinigkeiten eines verfeinerten Lebensgenusses vermitteln‘, – das klingt doch sehr nach – Heiratsabsichten, um es kurz zu sagen.“
Max Schüler, dessen lange Gestalt bisher fast bewegungslos in dem Schaukelstuhl gelegen hatte, fast – denn an dem glimmenden Mundstück der Zigarette konnte man bemerken, wie oft und mit welch beinahe nachdenklicher Langsamkeit er sie zum Munde führte – setzte jetzt den Stuhl in Bewegung und sagte, sich mehr gegen das Licht vorbeugend: „Du bist ein mäßiger Menschenkenner, Homschen! In einer Angelegenheit, in der es sich um eine Frau handelt, hätte Pollnow dich doch zu allerletzt um Rat gefragt. Denn bei deiner bekannten Abneigung gegen alle rocktragenden Geschöpfe wäre deine freundschaftliche Auskunfterteilung doch nichts als eine episodengeschmückte Warnung geworden.“
„Du magst recht haben,“ klang’s recht kurz aus dem Zwielicht heraus. Und Schüler konnte sich, aus dem Klang von Homs Ottkens Stimme mit Leichtigkeit das Gesicht herauskonstruieren, mit dem der kleine Referendar jetzt gerade aufgerichtet in der Ecke des Rohrsofas saß.
„Und doch handelt es sich um ein weibliches Wesen,“ fuhr Erich Pollnow in seiner etwas langsamen Sprechweise fort, – „wenn allerdings auch weder von – Verloben, noch von Heiraten die Rede sein kann.“
Schülers Schaukelstuhl war wieder unbeweglich geworden. Und jetzt hörte man sein herzhaftes, ungeniertes Gähnen. Dann schien er sich zu besinnen, daß dieses Zeichen eines geringen Interesses Pollnow vielleicht verletzen könne; er klappte beinahe hörbar den Mund zu und rief in das Schweigen ein störendes ‚Pardon!‘ hinein.
Der junge Gutsbesitzer hatte kaum darauf geachtet und inzwischen seiner Brieftasche einen Zettel entnommen, den er gegen das Licht hielt und zu entziffern versuchte.
„Ich will euch nicht länger im Unklaren lassen,“ begann er wieder und seine Stimme klang unruhig, als ob er eine gewisse Scheu überwinden mußte. „Hier dieser Zeitungsausschnitt, der der Mittwochfrühausgabe der ‚Altstädter Zeitung‘ entnommen ist, besagt alles.“ – Und mit halblauter Stimme las er jetzt folgendes vor:
„Ein seltsamer Vorfall, der im Interesse der öffentlichen Sicherheit sehr der Aufklärung bedarf, hat sich gestern abend gegen zehn Uhr in der wenig belebten Straußgasse abgespielt. Eine junge, elegant gekleidete Dame wurde, als sie gerade den Fahrdamm überschreiten wollte, von einem aus der Richtung von Langgarten daherrasenden Automobil überfahren. Der Kraftwagen hielt sofort, und die beiden Insassen, zwei in ihrer Automobiltracht völlig unkenntlichen Herren bemühten sich um die anscheinend schwer Verletzte. Plötzlich hoben sie die Dame auf, trugen sie in den Wagen und fuhren in schnellstem Tempo davon, bevor noch die wenigen Augenzeugen irgendwie einschreiten konnten. Wohin die Dame gebracht worden ist, haben weder unsere noch die sofort polizeilicherseits angestellten Ermittlungen ergeben. Jedenfalls hat sich die anfängliche Annahme, daß die Verletzte in ein Krankenhaus oder zu einem Arzt überführt sei, nicht bestätigt. Die Nachforschungen in dieser Angelegenheit werden noch dadurch besonders erschwert, daß keiner der Augenzeugen sich die Nummer des Automobils gemerkt hat, da der ganze Vorfall sich in wenigen Sekunden bei der ungewissen Laternenbeleuchtung abspielte. Die Augenzeugen haben nur übereinstimmend angegeben, daß der Kraftwagen, der ein Verdeck trug, sehr groß und hellgestrichen war, vorn außer zwei Laternen und zwei Scheinwerfer führte und daß an der Rückwand im Innern des Wagens zuerst eine kleine Lampe, anscheinend eine Glühlampe, brannte, die aber in demselben Augenblick verlöschte, als die Dame in das Automobil gehoben wurde. Es dürfte leider sehr schwer fallen, gerade zu dieser Zeit den leichtsinnigen Fahrer, der sich seines Opfers wahrscheinlich an irgend einem einsamen Orte entledigt hat, zu entdecken, da aus Anlaß des im Verlaufe der Stranddorfer Sportwoche stattfindenden Automobilrennens jetzt schon in Stranddorf und Altstadt gegen fünfzig fremde Fahrzeuge versammelt sind.
Daß die überfahrene junge Dame recht schwere Verletzungen davongetragen haben muß, behauptet einer der Augenzeugen, der aus dem Fenster eines der Häuser der Straußgasse mitangesehen haben will, wie das Automobil in voller Fahrt die Dame anrannte und die beiden linken Räder über ihren Körper hinweggingen. –
Wir hoffen unsern Lesern noch heute weitere Einzelheiten berichten zu können und werden auch unsererseits alles tun, um die brutalen Verüber dieses Verbrechens der strafenden Gerechtigkeit in die Arme zu liefern.“
„Die Sache kenne ich,“ sagte jetzt Homs Ottkens, als Pollnow kaum zu Ende gelesen hatte. – „Etwas rätselhaft ist die Geschichte ja, … aber … daß … hm … gerade dich diese in echtem Revolverdeutsch abgefaßte Notiz angehen soll?“
Da erklang Max Schülers merkwürdig ernste Stimme beinahe vorwurfsvoll: „Du solltest nie Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt werden, Homs! Denn Kombinieren scheint nicht deine starke Seite zu sein! Schwer zu erraten ist’s doch wirklich nicht, daß diese junge Dame niemand anders ist als – Pollnows Schwester!“
Da löste sich aus der grauen Dämmerung des kleinen Refrendars Gestalt heraus und trat nahe an den Gutsbesitzer heran… Und die schmale Knabenhand Ottkens legte sich jetzt wie schützend auf des jungen Gutsbesitzers Schulter…
„Ist das wahr? – Deine Schwester ist die überfahrene Dame,“ kam’s nur stotternd heraus. Und dann beugte sich Ottkens tiefer herab, um dem Freunde ins Gesicht zu sehen.
Der nickte nur traurig.
Und dann klang es wie ein schmerzliches Stöhnen durch den halbdunklen Raum. „So sprich doch, Erich,“ sagte der Referendar ganz aufgeregt. „Du wirst doch noch mehr von der Sache wissen… Und wann soll’s geschehen sein? – Am Dienstag? – Und heute haben wir Freitag. – Was ist denn in der Zwischenzeit passiert? – Spanne mich doch nicht auf die Folter!“ –
Und seine Hand rüttelte beinahe ungeduldig die Schulter des Freundes.
„In der Zwischenzeit? – Nichts, leider nichts! Doch wenn ihr mir raten, helfen sollt, muß ich euch wohl einen genauen Bericht der Angelegenheit geben, wie sie heute steht. Leicht wird mir das nicht. Ich lebe ja seit Tagen in einer solchen Angst, kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen und bin durch die Aufregungen, durch die schlaflos verbrachten Nächte so nervös geworden, – ich, der nie wußte, was Nerven sind! – Aber mit Klagen und Grübeln ist hier nichts geholfen. Also hört: Am Mittwoch den 3. Juli abends gegen sieben Uhr erhielt ich von der Frau Professor Schreiber, bei der Ellen sich in Altstadt in Pension begeben hat, einen Eilbrief. Ich habe ihn hier noch bei mir. Darin schrieb sie mir, daß meine Schwester seit Dienstag nachmittag nicht nach Hause gekommen ist und teilte mir auch unter Hinweis auf die Zeitungsnotiz sehr vorsichtig ihre Befürchtungen mit, die eben darauf hinausliefen, daß Ellen die verunglückte Dame sein könne. Ich telegraphierte sofort an den Kriminalkommissar Hubert, der wie ich Reserveoffizier des Altstädter Feldartillerieregiments ist und dem ich während zweier Übungen näher getreten bin, und bat ihn, für mich vorläufig die nötigen Schritte zu tun, und besonders auch die Zeitungen zu veranlassen, daß der Name meiner Schwester nicht genannt wird.
Leider muß ich gestehen, daß ich vorgestern, Mittwoch abend, noch nicht recht glauben wollte, daß gerade Ellen die betreffende junge Dame sein müßte. Ich suchte mich mit allen möglichen Annahmen zu trösten und über den Ernst der Sachlage hinwegzutäuschen, wollte mir einreden, daß sie vielleicht Verwandte in Altstadt getroffen habe und mit diesen auf kurze Zeit verreist sei. Gerade wenn die Angst um ein geliebtes Wesen einen peinigt, ist man ja nur zu leicht bereit, an das Entferntestliegende als aufklärende Möglichkeit zu denken. So ging es mir auch. Außerdem hatte mich noch am Mittwoch abend der Vertreter der Deutzer Maschinenfabrik aufgesucht, wir verhandelten wegen Ankaufs einer neuen Dresch- und Mähmaschine, dann brannten in der Nacht noch zwei meiner Insthäuser ab – jedenfalls kam ich eigentlich nicht dazu, das Furchtbare voll auf mich wirken zu lassen. Am Donnerstag mittag langte auch ein beruhigendes Telegramm des Kommissars an, in dem auch er die Möglichkeit andeutete, daß es sich bei dem rätselhaften Vorfall um eine andere weibliche Person handeln könne.
So verging der Donnerstag. Da erhielt ich heute früh gegen neun Uhr, als ich gerade vom Felde kam, ein zweites Telegramm von Hubert, das in seiner vorsichtigen Fassung mir die ganze schreckliche Wahrheit sagte. Hubert depeschierte nur: ‚Jetzt leider gewiß! Womöglich herkommen.‘ Und ich habe alles stehen und liegen lassen und bin hergeeilt, nachdem ich dich zuvor benachrichtigt und mir den Kommissar in Altstadt auf den Bahnhof bestellt hatte. Hubert hat mir in den zehn Minuten, die wir noch bis zum Abgang des Vorortzuges zusammen waren, leider recht wenig Tröstliches mitteilen können. Alle Nachforschungen sind bisher vergeblich gewesen – man hat weder von jenem Automobil noch von meiner Schwester eine Spur entdeckt. Die Sache ist, wie der Kriminalkommissar mir ehrlich zugab, völlig auf dem toten Punkt angelangt. Eine nach Elbing hindeutende Spur hat sich als falsch erwiesen. Und dabei soll – was ich gern glaube – nichts unversucht gelassen sein, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Aber das Schlimmste ist eben, was die Zeitungsnotiz ja auch erwähnt, daß zu dem Rennen jetzt gegen achtzig Automobile hier eingetroffen sind, daß weiter weder Nummer, Farbe noch Bauart des Wagens sich feststellen lassen.“
Pollnow machte eine Pause und fuhr dann aufseufzend fort: „Wie mir zu Mute ist, könnt ihr euch garnicht denken! Daß auch gerade mich, mich das Unglück treffen muß!“… Seine Stimme erstickte in dem Übermaß der quälenden Befürchtungen…
Homs Ottkens hatte sich neben den Freund an das Fenster gelehnt. Jetzt streckte er ihm in einer Aufwallung tiefen Mitleids die Hand hin…
„Das ist ja fürchterlich!“, meinte er leise. „Und Ellen – gerade sie! Ich habe ja noch am letzten Samstag mit ihr auf dem Ball getanzt – und jetzt! – Nein, es ist nicht auszudenken!“ Und vorsichtig setzte er hinzu: „Wie denkt denn eigentlich der Kommissar über die Sache – er muß doch irgendwelche Vermutungen haben, ob…“ Aber das weitere sprach Homs Ottkens nicht aus. Denn den Gedanken, daß Ellen Pollnow vielleicht tot sein könne, wollte er nicht in sich aufkommen lassen.
Trotzdem hatte Pollnow ihn verstanden. „Ob Ellen bei dem Zusammenstoß getötet worden ist?, wolltest du wohl sagen? Hubert hat mir zwar diese Annahme auszureden versucht, aber – liegt sie nicht gerade am nächsten? Wenn Ellen nur verletzt worden wäre, hätten die – Elenden sie sicherlich einfach liegen lassen und wären davon gefahren. Gerade daß sie sie mitnahmen, zeigt, wie sehr sie eine Entdeckung fürchteten, wie sie eben auf jede Weise die Spuren ihres Verbrechens verwischen wollten!“
Pollnows Stimme war den zitternden Klang während dieser ihn peinigenden Überlegungen nicht mehr losgeworden. Nur mit allergrößter Anstrengung hatte er sich bis jetzt beherrscht. Nun war es mit seiner Fassung zu Ende. Erst ging’s wie ein Beben durch seinen Körper – dann schlug er die Hände vor das Gesicht und hinter den schützenden Fingern kam’s hervor die ein wildes, halbunterdrücktes Weinen…
Schülers Zigarette war längst erloschen… Die Dunkelheit hüllte jetzt die drei Gestalten völlig ein. Und aus dem Nebenhaus erklangen wieder die halblauten Töne jener ungeschulten Mädchenstimme, die schon vorher das melancholische Lied gesungen hatte… Dazu das Rauschen der See, das Wispern der Blätter der alten Linden – und aus der Ferne einige Walzertakte, die der Wind vom Kurgarten herübertrug…
Da stand Max Schüler plötzlich auf. Und während er den Schaukelstuhl energisch zurückschob, sagte er mit seiner harten, selbstbewußten Stimme, die zu seinem Charakter so gar nicht paßte: „Lieber Pollnow, ich habe mir die ganze Sache bisher ruhig mitangehört. Deine Befürchtungen kann ich nicht teilen. Meiner Ansicht nach spricht sogar alles gegen die Annahme, daß deine Schwester bei dem Unfall schwer verletzt worden ist. Wahrscheinlicher ist es doch, daß –“. Er unterbrach sich plötzlich, schien einem neuen Gedanken zu folgen, und fuhr dann nach einer Weile fort: „Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Hier die Zeit mit dem Abwägen von Möglichkeiten hinzubringen, fördert die Angelegenheit in keiner Weise. Ich würde dir raten, nach Berlin an eines der großen Privatdetektivinstitute zu telegraphieren und dir einen gewandten Detektiv umgehend herzubestellen. Inzwischen will ich, wenn du nichts dagegen hast, auf eigene Faust Nachforschungen anstellen. Ich habe da eine Idee, wie sich die Geschichte vielleicht anfassen läßt –“
„Wie? – Du hättest etwa – Verdacht auf jemanden?“ fiel ihm Pollnow schnell ins Wort.
„Nein, keinen Verdacht! Nur einen Plan habe ich mir zurecht gelegt, wie ich die Nachforschungen beginnen will. Er wird wahrscheinlich von dem Untersuchungssystem der Polizei sehr abweichen. Aber ich bin hier in Stranddorf und auch in dem nahen Altstadt so gut bekannt, habe so alle möglichen Verbindungen in Sportskreisen, daß ich auch mit anderen Mitteln arbeiten kann als der Kommissar. Besonders jetzt während der Sportwoche werde ich als Mitglied des Ausschusses für das Tennisturnier sicher auch mit vielen Automobilisten zusammenkommen – vielleicht hilft auch der Zufall etwas nach – na und jedenfalls kann ich meine Zeit ja garnicht besser als für dich in dieser Art verwenden! Denn daß ich zum Examen arbeite, glaubt mir ja doch keiner!“
„Und willst du mir nicht etwas von deinem Plan mitteilen? Vielleicht kann ich dir behilflich sein?“ nahm der Gutsbesitzer den Gedanken mit Eifer auf.
„Nur dadurch vielleicht, daß du mir einige Zeilen an den Kriminalkommissar mitgibst, sozusagen als Legitimation für meine Person. Außerdem wirst du wohl auch auf meinen anderen Vorschlag eingehen und dir einen Detektiv telegraphisch herbeordern.“
„Ja gewiß – wo erfahren wir aber die Adresse eines solchen Instituts? – Ich kenne keins!“
„In der ‚Woche‘ habe ich kürzlich, wenn ich mich recht besinne, eine Annonce gelesen. Ich werde sofort einmal nachsehen –“
Damit ging Schüler in das Arbeitszimmer und drehte dort das elektrische Licht an. Pollnow und Ottkens folgten ihm.
Nachdem man die Adresse des Detektivs dann gefunden und auch den Wortlaut des Telegramms aufgesetzt hatte, gelang es dem kleinen Referendar endlich, seine Gäste zu Tisch zu nötigen. Aber während er und Pollnow eifrig ihre Meinungen über das bisher unaufgeklärte Vorkommnis austauschten, präparierte sich Schüler gedankenvoll eine der goldbraunen, würzig duftenden Räucherflundern. Als er gerade die Gräte aus dem zarten, weißen Fleisch löste, schaute er plötzlich auf. Und rücksichtslos die Unterhaltung der beiden anderen störend, fragte er nachdenklich:
„Wie ist denn eigentlich die Frau Professor so schnell auf die Vermutung gekommen, daß gerade deine Schwester die auf so rätselhafte Weise verschwundene junge Frau sein könne?“
Pollnow dachte einen Augenblick nach, ehe er antwortete: „Ja, richtig, so war’s ja! – Hubert hat mich darüber aufgeklärt, daß er inzwischen öfters mit Frau Professor Schreiber in der Angelegenheit Rücksprache genommen hat. – Von vornherein hat Frau Schreiber natürlich auch nur gemutmaßt, daß es Ellen gewesen sein könne, da meine Schwester so plötzlich ohne jede Entschuldigung die Nacht von Dienstag zu Mittwoch fortblieb. Und Mittwoch vormittag hat dann eine der Damen aus dem Pensionat die Frau Professor auf die Notiz in der Zeitung aufmerksam gemacht. Man hatte natürlich vorher schon das plötzliche Wegbleiben Ellens besprochen. So ging dann Frau Schreiber eiligst zur Polizei, um dort nachzufragen, da die Zeitungsnotiz sie doch sehr beunruhigt hatte. Und dort hat Hubert ihr den Rat gegeben, an mich zu schreiben – ihr aber auch sofort vorgeschlagen, die Nachricht möglichst vorsichtig zu fassen, weil es doch durchaus nicht gewiß sei, daß das Automobil in der Straußgasse gerade meine Schwester überfahren habe. Und erst am Donnerstag abend hatten die polizeilichen Nachforschungen einwandfrei festgestellt, daß die zu Schaden gekommene junge Dame ein graues Tuchkleid, dazu einen kleinen englischen Strohhut mit schwarzem Band und einen weißen Sonnenschirm getragen hatte – daß es also wirklich nur Ellen sein konnte, da sie an demselben Tag um die in Frage stehende Zeit von dem Besuch einer in der Straußgasse wohnenden Freundin in dem von den Augenzeugen beschriebenen Anzug zurückgekommen war. Darauf hin schickte Hubert mir dann auch das Telegramm, das mich so schnell hierher getrieben hat… Weitere Einzelheiten kann ich Euch nicht angeben – glaube auch nicht, daß die Polizei schon viel mehr herausbekommen hat. Sonst hätte mir der Kommissar doch wohl davon erzählt.“
Pollnow hatte sich bei dieser Schilderung hauptsächlich an Schüler gewandt, der rechts von ihm saß. Homs Ottkens schien es nicht recht zu sein, daß seine Person bei dieser Angelegenheit fast ganz ausgeschaltet wurde. Und ein Gefühl etwas kleinlichen Neides ließ ihn jetzt mit einem etwas ironischen Lächeln das Wort an den ewigen Rechtskandidaten richten – wie man Schüler, ohne ihn damit kränken zu wollen, getauft hatte.
„Also du willst dich in dieser Sache als Detektiv versuchen? – Überlaß das doch lieber den Leuten von Beruf!… Wie leicht kann eine unkundige Hand etwas verpatschen, vielleicht gerade die Fäden verwirren! – Deine Idee mit dem Detektivinstitut Greif war ja recht gut – aber das andere? – Laß lieber deine Finger davon!“
Max Schüler war nun ein besserer Menschenkenner, als der kleine Referendar vermutete. Die Antwort kam daher in einem Ton heraus, der trotz aller Höflichkeit doch eine merkliche Portion von spöttischer Überlegenheit enthielt…
„Es tut mir wirklich leid, Homschen, daß gerade mir von uns beiden dieser Gedanke mit den Nachforschungen auf eigene Faust gekommen ist. Ich gebe ja zu, daß du vielleicht vorsichtiger und überlegender sein würdest, weil dir doch eben schon etwas Gerichtspraxis zur Seite steht, aber … trotzdem werde ich mein Glück versuchen! Ehrlich gesagt – ich wäre nie darauf verfallen, wenn mir nicht in Pollnows Schilderung manches aufgestoßen wäre, was meinen Verdacht – hm – ja –“
Schüler hüstelte leicht, als ob er den Satz absichtlich nicht beenden wollte. Dann fuhr er aber ohne jede Verlegenheit fort:
„Um dich aber zu beruhigen, lieber Ottkens – ich verspreche, daß ich meine Nachforschungen rein privatim vornehmen will und daher auch auf eine Legitimation von Pollnow für den Kriminalkommissar verzichte. – Wenn du allerdings –“ wandte er sich jetzt mit prüfendem Blick an den jungen Gutsbesitzer – „etwas dagegen haben solltest?“…
„Bewahre,“ beruhigte der ihn eifrig. „Mir ist es sogar eine Beruhigung, daß ich nun auch mir nahestehende Freunde beteiligt weiß… Ich sagte dir ja schon vorhin auf der Straße, Schüler, – ich halte gerade dich deiner Welt- und Menschenkenntnis wegen für gar keinen schlechten Berater, wenn du auch für das Wohl deiner eigenen Person bisher nicht übermütig gut gesorgt hast –“
In des ‚ewigen Rechtskandidaten‘ etwas verlebtem Gesicht zeigte sich jetzt sehr deutlich ein Ausdruck leiser Ablehnung.
„Ich wollte dich durch meine letzte Bemerkung nicht kränken,“ sagte Pollnow daher schnell und streckte ihm persönlich die Hand hin.
„Laß nur,“ wehrte der andere resigniert ab. „Ich bin daran gewöhnt, daß man bei mir mit allerlei Vorhaltungen so etwas wie ein Reuegefühl – moralischen Kater! – wachrufen will, nehme diese Ergüsse freundschaftlich geneigter Seelen auch gern hin, nur – auf die Dauer wird’s eben langweilig, wenn man immer dieselben Anspielungen nur in etwas veränderter Form zu hören bekommt. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, und der alte, beinahe abgedroschene Erfahrungssatz, daß jeder so verbraucht werden muß, wie er ist, paßt auf mich leider zu. – Ich kann mich eben nicht ändern! Man biete mir nur ein geeignetes Feld der Tätigkeit – und ich werde bei dessen Beackerung wohl gerade so viel leisten wie ihr, die ihr mit eurer von Pflichtbewußtsein halb ausgedörrten Gehirnsubstanz doch auch nur die ausgetretenen Pfade einer euch durch die Überlieferung vorgezeichneten Lebensbahn dahin – ich wollte fast sagen – dahindöst!“
Und dann öffnete Schüler den Patentverschluß einer vollen Bierflasche, der mit lautem Knall aufsprang, goß sein Glas voll und prostete dem kleinen Ottkens mit etwas übertriebener Zuvorkommenheit zu. Das Referendarchen hatte während Schülers langem Monolog mit seiner Gabel nervös in den auf seinem Teller verstreuten Salzhäufchen gestochert und dankte jetzt für den Zutrunk mit einem etwas verlegenen Neigen des Kopfes.
Pollnow starrte in Gedanken versunken mit sorgenvollem Gesichtsausdruck vor sich hin und schien auf die letzten Vorgänge gar nicht geachtet zu haben.
Zwischen Ottkens und Schüler lag’s wie ein Gewitter in der Luft. Und wie eine Erlösung klang jetzt das Schlagen der Wanduhr in die etwas peinliche Stille hinein.
„Zehn!“ – Ottkens hatte die Schläge mitgezählt und fuhr jetzt beinahe erschreckt auf. „Du, Schüler,“ wandte er sich an den ‚ewigen Rechtskandidaten‘ – „ich hatte es beinahe vergessen – wir müssen heute ja noch in die ‚Ewige Lampe‘. Wichowski feiert heute seinen Abschied!“
Schüler schaute nur schnell zu Pollnow hinüber. Aber der kleine Referendar verstand den Blick. Und zögernd begann er dann dem jungen Gutsbesitzer auseinanderzusetzen, daß der Stranddorfer Juristenklub, der den etwas außergewöhnlichen Namen ‚Ewige Lampe‘ führte, am heutigen Abend den bisher am Amtsgericht beschäftigten Assessor Dr. Wichowski mit einer Bowle ‚wegtrinken‘ wollte und daß er und Schüler unmöglich von dieser Feier fern bleiben könnten.
„Laßt euch nicht stören,“ meinte Pollnow darauf gleichmütig, „geht nur ruhig hin. Von mir könnt ihr aber nicht verlangen, daß ich mitkomme, dazu fehlt mir die Stimmung. Außerdem bin ich auch müde. Ich werde noch einmal über den Steg gehen, möchte noch etwas Seeluft genießen. Und wenn’s euch recht ist, können wir aufbrechen. Ich muß auch noch das Telegramm besorgen. Und vergiß mir nicht den Haus- und Korridorschlüssel zu geben – Homs!“
Zu Ottkens Erstaunen, der die Ablehnung einer Einladung von seiten Pollnows für vollständig richtig hielt, mischte sich jedoch Schüler wieder ein:
„Und trotzdem, lieber Pollnow, möchte ich dich – im Interesse unserer Angelegenheit bitten, dich uns anzuschließen. Ich hoffe durch deine Anwesenheit bei der heutigen Abschiedsfeier etwas herauszubekommen, was vielleicht einen schon in mir aufgestiegenen Verdacht bestärken kann und meinen Nachforschungen dann eine bestimmte Richtung gibt. Daß du nicht in der Stimmung bist, um den etwas geräuschvollen Trubel dort mitzumachen, glaube ich ja gern, jedoch – es muß sein!“
Ottkens und Pollnow saßen eine ganze Weile wie erstarrt da. Erst langsam begriffen sie die ganze Bedeutung von Schülers Worten. Der erste, der seinem Erstaunen Ausdruck gab, war der kleine Referendar. – „Wie – du spricht da von … von einem Verdacht? – – Dann denkst du also schon an eine bestimmte Person als Täter?! – So erkläre dich doch, du siehst doch wohl ein, daß auch Pollnow sich mit den Andeutungen von dir nicht zufrieden geben kann!“
Aber Schüler schüttelte jetzt sehr energisch den Kopf.
„Ich sage nichts weiter, darf es nicht, da – – na, – jedenfalls kann ich keine weiteren Aufklärungen geben, tue es auch auf keinen Fall! Und Pollnow wird’s mir nicht verargen, wenn ich schweige. Glaubt mir – es ist besser so! Denn ihr beide müßt unbefangen bleiben, – dem gegenüber, auf den ich eben Verdacht habe – nein – besser gesagt von dem ich annehme, daß er mir den eigentlichen Täter, den Besitzer des unbekannten Automobils, in die Hände spielen wird!“
„Mystische Worte,“ lachte da Homs Ottkens wieder spöttisch. – „Meinetwegen!“ setzte er hinzu, „wenn Pollnow sich dabei beruhigt?“ – Der winkte nur. Aber ein langer fragender Blick traf dabei Schüler, der eben den Rest seiner Flasche in das Glas goß.
Auf dem Wege nach dem Postamt schienen Pollnow aber doch wieder Bedenken zu kommen, ob er sich den Freunden anschließen und mit in die ‚Ewige Lampe‘ gehen sollte.
„Ich treffe da vielleicht Lauenburg,“ meinte er zögernd, „und ihr wißt ja, daß wir – Feinde sind, daß ich dem Assessor die Geschichte aus seiner Referendarzeit nicht vergessen kann. Er hat sich damals für mein Empfinden doch zu wenig kavaliermäßig benommen.“
Schüler und Ottkens kannten das Jahre zurückliegende Vorkommnis, das die beiden auseinander gebracht hatte. Aber der ‚ewige Rechtskandidat‘ wußte Pollnows Bedenken schnell zu zerstreuen.
„Zunächst fürchte ich, daß Lauenburg gar nicht da sein wird, um dann…“
„Wie, du fürchtest?“ unterbrach Ottkens ihn argwöhnisch.
„Nein, nein – ich wollte sagen: hoffe ich – natürlich,“ verbesserte Schüler sich schnell. „Ich bin heute zerstreuter denn je,“ fügte er entschuldigend hinzu. – „Also ich hoffe, daß Lauenburg nicht teilnehmen wird, da er ja seit Tagen schon völlig unsichtbar geworden ist. Wenigstens am Stammtisch habe ich ihn seit … ja mindestens seit Dienstag nicht mehr bemerkt! – Na – und wenn er auch wirklich kommt – du übersiehst ihn einfach. Das geht bei der Menge von Herren doch ganz gut!“
Der Gutsbesitzer schien einverstanden. Und nachdem man noch das Telegramm aufgegeben hatte, gingen die drei dem Hotel ‚Schelling‘ zu, wo die ‚Ewige Lampe‘ in einem großen, reservierten Zimmer ihre Klubabende abhielt.
2. Kapitel
‚Die ewige Lampe‘, der Klub der Stranddorfer Juristen, war vor ungefähr drei Jahren von den am dortigen Amtsgericht beschäftigen Referendaren gegründet worden. Die eigenartige Geschichte dieser Gründung, die von einem der damals Beteiligten in Form einer Erzählung niedergeschrieben wurde, wird noch heute in dem als ein in Schweinsleder gebundenes Büchlein aufbewahrt.
Von einem literarischen Kränzchen mit schöngeistigen Bestrebungen, wie es die erste Anregung zu dieser Gründung im Auge hatte, hat niemand an den Klubabenden je etwas bemerkt. Ihres geistigen Nimbus entkleidet brennt das Symbol des Klubs, eine hohe, altertümliche Bronzelampe, in deren Bassin auf einer Ölschicht ein Schwimmerchen glüht, an jedem Freitag abend in dem reservierten Zimmer des Hotels ‚Schelling‘ mitten auf einem kleinen Tische, der gerade unter dem Kronleuchter steht. Und rechts und links von diesem Symbol sind zwei große Ziegelsteine aufgestellt, in die kreuz und quer Namen tief eingekratzt sind, die Namen derer, die die Ehre haben, der ‚E. L.‘ anzugehören.
Für den Stranddorfer Bürger aber bilden diese Klubabende bei ‚Schelling‘ noch immer ein nie zu erschöpfendes Gesprächsthema. Denn von den Statuten, den Aufnahme– und sonstigen Zeremonien der ‚E. L.‘ weiß man in uneingeweihten Kreisen so gut wie nichts. Nur sonderbare Gerüchte schwirren umher und umgeben diesen exklusiven Kreis mit dem Reiz des Geheimnisvollen. Man weiß nur, daß der bedienende Kellner sehr häufig das Klubzimmer verlassen muß, daß die Türen dann fest verschlossen werden, hat nur auf Umwegen erfahren, daß die Mitglieder sich mit eigentümlichen Namen anreden, und in einem großen, eisernen Schrank schwarze, talarartige Gewänder hängen sollen, die nur Löcher für die Augen haben und daß der Vorsitzende – ‚Der große Prophet‘ genannt, zu Beginn jeder Sitzung unter Absingung eines monotonen Liedes über einer Flamme wohlriechendes Harz verbrennt. –
Das glauben die Stranddorfer von der ewigen Lampe zu wissen. Eines aber wissen sie bestimmt, daß die Aufnahmebestimmungen sehr streng sind und außer akademisch Gebildeten jedem der Eintritt in den Klub versagt ist. –
Die Uhr des Rathausturmes schlug gerade halb elf, als Pollnow und seine beiden Begleiter durch einen Seiteneingang das Hotel ‚Schelling‘ betraten. Sie durchschritten einen langen Korridor und öffneten dann die Tür zu einem kleinen Vorzimmer, in dem an den Kleiderständern schon eine ganze Anzahl von Hüten und Spazierstöcken, auch einige Paletots hingen. –
Schüler hatte schnell die Reihe der Spazierstöcke überflogen und wandte sich nun an Pollnow, der sich vor einem großen Spiegel mit einer Taschenbürste das Haar glattstrich.
„Du kannst ohne Sorge sein, Pollnow! – Lauenburg ist nicht hier. Sein Stock mit der silbernen Krücke fehlt und ohne den geht er nie aus!“
„Mir wahrhaftig angenehm,“ meinte der, steckte die Bürste wieder ein und folgte dann Ottkens, der bereits das Klubzimmer betreten hatte. –
Die drei kamen zu ziemlich ungelegener Zeit, da der ‚große Prophet‘, Referendar Reimer, soeben mit der Festrede beginnen wollte und jetzt durch das Erscheinen des Gastes – Pollnow war nicht Mitglied der ‚E. L.‘ – gezwungen wurde, den feierlichen Akt etwas hinauszuschieben. Nach der allgemeinen Begrüßung, wobei der junge Gutsbesitzer sich noch verschiedenen unbekannten Herren vorstellen mußte, erklang Ruhe fordernd der dreimalige Schlag eines Gongs, worauf sofort Stille eintrat und der schwarze Kellner umgehend das Zimmer verließ.
Dann begann der ‚große Prophet‘ seine Abschiedsrede für das scheidende Mitglied, den Assessor Dr. Wichowski. Zum Schluß der kurzen markigen Rede sagte er:
„Unserem Brauche gemäß fordere ich die Anhänger des Propheten und die, so sich heute zur ‚E. L.‘ bekennen auf, ihr Glas zu leeren. Wichowski! – Salem aleikum! – Im Anschluß daran singen wir das Klublied: ‚Wir sind zwar nicht Mongolenscharen…‘ Der Bey von Stranddorf mag die Weise vorspielen!“
Der Bey von Stranddorf, kein anderer als der ‚ewige Rechtskandidat‘ Max Schüler, setzte sich an das Piano und schlug einige Akkorde an, den Anfang einer eigenartigen Marschmelodie, die er selbst eigens für den Klub komponiert hatte.
Nachdem das Lied beendet war, erschien auch wieder der schwarze Kellner, ein Neger von der deutschen Kamerunküste, und begann die hohen Bowlengläser aufs neue zu füllen.
In dem großen Zimmer, das durch alte Waffen, reichen Bilderschmuck und grellbunte Schals aufs anheimelndste dekoriert und durch viel buntfarbige Laternen nur mäßig erhellt war, mochten ungefähr fünfundzwanzig Herren versammelt sein, die zwanglos um einzelne Tische auf allen möglichen Sitzgelegenheiten sich niedergelassen hatten. Nur an der etwas größeren Tafel, die vor dem hohen Paneelsofa stand, hatten neben dem ‚großen Propheten‘ ausschließlich die ‚Paschas‘ Platz genommen, der Amtsgerichtsrat Steiner, Amtsrichter Hilfreich, zwei Ärzte und noch einige ältere Herren, darunter auch Assessor Wichowski. Der Klubsitte entsprechend, mußte sich auch Pollnow dieser Tischgruppe zugesellen. Denn dieses war der Ehrentisch, der nur für die zum ersten, zum Pascha-Grade gehörenden Mitglieder der ‚E. L.‘ bestimmt war. Diese Paschas bildeten auch zugleich den Vorstand des Klubs. Unter ihnen war wieder der ‚große Prophet‘ der erste, der Vorsitzende, dem auch die eigentliche Leitung der Klubabende oblag. Diese Stellung durfte satzungsgemäß nur ein Referendar bekleiden, der von allen Mitgliedern immer auf ein Jahr gewählt wurde und mit seiner Wahl, unter Überspringung der unteren Grade, sofort in den Pascha-Grad aufrückte und dort auch selbst nach der Niederlegung seines Amtes verblieb. Den niederen Graden aber, Beys, Agas und Muftis, mußte jeder eine gewisse Zeit angehören, bevor er in den nächst höheren aufrückte. Die einzelnen Grade unterschieden sich durch verschiedene Vorrechte von einander, die besonders in der Höhe der zu zahlenden Beiträge und Strafgelder, sowie in gewissen Trinksitten zum Ausdruck kamen.
Schüler, der es bereits bis zum Bey von Strandorf gebracht hatte, verhandelte jetzt mit dem blonden Referendar Dekel, Bey von Graudenz, über eine Bier-Oper, die sie nachher zu Ehren des scheidenden Paschas Wichowski in Szene setzen wollten. Diese Bier-Opern der beiden waren in der ‚E. L.‘ direkt berühmt. Meist wählten sie eine bekannte Oper, die sie dann vortrefflich aus dem Stegreif zu parodieren wußten, wobei jeder von ihnen ungefähr drei verschiedene Rollen spielte und sang. Da sie über leidlich geschulte Stimmen und eine große Portion recht drastischen Humors verfügten, so bildete dieser Vortrag stets den Höhepunkt des Abends. Als der Bey von Stranddorf und der von Graudenz sich nach längerer Beratung endlich einig waren – es sollte ‚Bajazzo‘ gegeben werden – nahmen sie wieder an dem kleinen Tischchen Platz, an dem zumeist jüngere Referendare, Muftis noch, saßen. Daß die beiden sich gerade diese jugendlichen Muftis als Gesellschaft ausersehen hatten, mußte seinen guten Grund haben. Und den kannten die Mitglieder der ‚E. L.‘ nur bei Dekel. Denn der war dafür bekannt, daß er gern eine Korona andächtig lauschender ‚Jünglinge‘ mit möglichst unverdorbenen Herzen um sich versammelte, denen er dann mit großer Lebendigkeit seine Abenteuer auftischte. Er mußte sich schon dazu die Neulinge, eben die Muftis, aussuchen! Denn schon die Agas benutzen jede Gelegenheit, um den blonden Kollegen mit seinen eigenen Geschichten aus ‚Tausend und einer Nacht‘ aufzuziehen!
Des Bey von Graudenz Anhänglichkeit an den ‚Jünglingstisch‘ war demnach aufgeklärt. Aber weshalb sich Schüler heute unter die Muftis gesetzt hatte, dafür fand Homs Ottkens keine Erklärung. Und er zerbrach sich doch schon eine ganze Weile darüber den Kopf! – Außerdem – auch das war dem mißtrauischen Ottkens nicht entgangen – hatte der sonst so ausgelassene Bey von Stranddorf heute eine merkwürdig zerfahrene Art an sich. Selbst sein so herzliches Lachen klang erkünstelt, als ob seine Gedanken nicht dabei waren.
Der kleine Ottkens konnte es nicht vergessen, daß Schüler es gewesen war, der Pollnow die besten Ratschläge gegeben hatte. Und wie er jetzt so in dem tiefen Ledersessel zusammengesunken dasaß und kaum auf das Gespräch der anderen hinhörte, die gerade über eine juristische Frage stritten (oft kam das in der ‚E. L.‘ nicht vor!), da schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, der ihn sich schnell aufrichten und prüfend zu dem Nebentisch hinüberschauen ließ, wo gerade Schüler mit dem erst vor wenigen Wochen zum Referendar ernannten und an das Amtsgericht in Stranddorf überwiesenen Mufti Seebach ein sehr eifriges Gespräch führte.
Und langsam und vorsichtig wußte Homs Ottkens seinen Sessel zum Nebentisch hinzuschieben, ganz unauffällig, so Zentimeter um Zentimeter, bis er verstehen konnte, was Schüler und Seebach da so interessant verhandelten. – Mit einem Wort: Homs Ottkens hatte soeben seine Detektivtätigkeit begonnen, die er der Aufdeckung des Falles ‚Pollnow‘ widmen wollte. Und diese Tätigkeit begann er damit, daß er zunächst Schüler einmal scharf auf die Finger sehen wollte! Denn als er vorhin vergebens eine Erklärung für dessen plötzliche Schwärmerei für den Mufti-Tisch gesucht hatte, und dabei die Ereignisse des heutigen Abends nochmals durchging, stieß er überall auf Momente, die dafür sprachen, daß man Schülers Benehmen in doppelter Weise deuten könnte! Und da war ihm so ganz plötzlich ein Verdacht gekommen, den er zunächst selbst als töricht von sich weisen wollte. –
Aber je länger er grübelte, je mehr er das Für und Wider erwog, desto stärker verdichtete sich in ihm das Bild einer Reihe leicht zu überschauender Kombinationen, desto klarer glaubte er zu sehen. –
Und nun horchte er mit angestrengtester Aufmerksamkeit auf jedes Wort, das Schüler da trüben zu Seebach sprach. Eben hörte er, wie der Bey von Stranddorf zu dem kleinen Mufti sagte: „Also Ihnen ist es auch aufgefallen, daß Lauenburg in den letzten Tagen so sehr verstimmt ist?“
„Gewiß – er ist ja plötzlich wie umgewandelt,“ konnte Ottkens den kleinen Seebach verstehen.
„Früher haben gerade wir bei uns in der Strafabteilung immer die vergnügtesten Vormittage erlebt, natürlich dabei auch gearbeitet. Unter Lauenburgs Regiment läßt sich das gut vereinen, Frohsinn und Tätigkeit! Aber – ja, richtig, ich weiß es noch genau, seit Mittwoch ist’s aus damit. – Ich sage Ihnen, edler Bey von Stranddorf, am Mittwoch kam der Assessor mit einem Gesicht auf die Behörde, daß wir ordentlich einen Schreck kriegten. Er sah ganz übernächtigt aus, sagte uns kaum guten Morgen und stierte dann in die Akten, ohne eine Zeile zu lesen. Und alle unsere Versuche, ihn aufzuheitern, schlugen fehl. Er gab auch auf unsere teilnehmenden Fragen kaum Antwort und rannte schon nach einer halben Stunde wieder fort, trotzdem das Dezernat noch lange nicht erledigt war. – Ich weiß wahrhaftig nicht, was dem so plötzlich in den Kopf gefahren ist! Denn gestern und heute war’s ganz dieselbe Geschichte: besonders gestern bei…“
Das weitere entging Ottkens, da der ‚große Prophet‘ plötzlich an ihn herantrat. Außerdem interessierte er sich auch nicht weiter für dieses Gespräch, dessen Inhalt ihn nur enttäuscht hatte. Denn die Person Lauenburgs stand mit dem so plötzlich in dem kleinen Referendar aufgestiegenen Verdacht in keinerlei Beziehung. – Reimer, der ‚große Prophet‘, Beherrscher der Gläubigen, beugte sich jetzt etwas zu Ottkens herab und sagte in seiner gezierten, näselnden Sprechweise: „Pascha von Olivia,“ – der kleine Referendar, war im vorigen Jahre Vorsitzender der ‚E. L.‘ gewesen – „Steiner hat soeben angeregt, ob wir Pollnow, der doch schon einigemal Gast bei uns gewesen ist, nicht aufnehmen wollen. – Du kennst ihn ja am besten von uns – was meinst du dazu?“
Ottkens hatte sich langsam erhoben und wollte eben antworten, als die Tür sich öffnete und ein Herr von vielleicht dreißig Jahren in das Zimmer trat, der sofort von allen Seiten lebhaft begrüßt wurde. Es war Assessor Lauenburg – eine große, fast auffallende Erscheinung, mit energischem, schöngeschnittenem Gesicht, aus dem ein paar dunkle, lebhafte Augen jetzt schnell die Anwesenden überflogen.
Ottkens hatte unwillkürlich zu Pollnow hingesehen, der sich schnell wieder wegwandte, nachdem er den Eintretenden erkannt hatte. Und jetzt – der Assessor war zunächst an den Paschatisch getreten, um dem alten Amtsgerichtsrat guten Abend zu sagen – jetzt erst bemerkte Lauenburg den jungen Gutsbesitzer. Niemandem außer Ottkens und – Schüler fiel es auf, wie plötzlich eine fahle Blässe des Assessors frisches Gesicht überzog und er dann anscheinend in höchster Verwirrung und mit seltener Hast die anderen begrüßte, harmlos erscheinen wollte und doch nur mit Mühe die äußere Haltung bewahrte. Aber die beiden, die diesen Zwischenfall allein beobachteten, taten, als ob sie nichts bemerkt hätten.
Pollnow, der kaum aufsah, als Lauenburg ihm eine knappe Verbeugung machte, begann sich in diesem ausgelassenen Kreise jetzt immer ungemütlicher zu fühlen. Vergebens hatte er gehofft, hier eine Ablenkung zu finden. Er wurde die Gedanken nicht los, die immer wieder jenen rätselhaften Vorfall vom Dienstag abend umkreisten, der ihm eine solche Last von Sorgen aufgebürdet hatte. Nur zerstreut antwortete er auf die Fragen des neben ihm sitzenden Rechtsanwaltes Mirau, der sich so eingehend nach den Ernteaussichten, nach den Viehpreisen und anderem erkundigte. Hin und wieder hatte Pollnow auch wie fragend nach Schüler hinübergeschaut, als ob der ihm jetzt Aufklärung geben sollte, warum er ihn denn eigentlich hier in die ‚E. L.‘ mitgenommen hatte. Aber der Bey von Stranddorf schien sich mit Pollnow und dessen Angelegenheiten kaum zu beschäftigen. Er war bei Lauenburgs Eintritt wie absichtslos aufgestanden, hatte aber mit größter Aufmerksamkeit die Begrüßung zwischen dem Gutsbesitzer und jenem beobachtet und dann dem Assessor seinen Platz auf dem einen Diwan eingeräumt, den Lauenburg auch trotz der wiederholten Aufforderung an den Paschatisch zu kommen, annahm. Der Kellner brachte ein neues Glas, schenkte es voll und stellte es vor den Assessor hin auf den kleinen Tisch. Dieser nickte ihm nur zu und schaute dann wieder wortlos vor sich hin. Von den Nebentischen wurde ihm zugerufen, man begann ihn wegen seiner Solidität in den letzten Tagen aufzuziehen – er aber hörte kaum darauf. Und ihm gegenüber hatte sich jetzt Schüler auf einen Stuhl gesetzt und ließ kein Auge von ihm, schaute ihn mit Blicken an, die selbst Lauenburg schließlich auffielen.
„Sag’ nur, Bey,“ meinte er beinahe ärgerlich, „was starrst du mich so unverwandt an?“ – Aber vor des ‚ewigen Rechtskandidaten‘ seltsam prüfendem Auge schlug er doch schnell wieder den Blick zu Boden.
Da beugte sich Schüler weit über den Tisch und sagte beinahe weich: „Weil du mir leid tust, Fritz, nur deswegen!“
Lauenburg fuhr bei diesen Worten zusammen. Und beinahe stotternd kam es heraus:
„Ich – dir – leid tun? – Was soll das heißen? Ich verstehe –“
Aber der andere unterbrach ihn. „Dir muß irgend etwas Unangenehmes passiert sein, Fritz! Uns allen ist es aufgefallen, daß du dich seit Tagen vollständig zurückziehst. Du bist nirgends mehr zu sehen – und, selbst wenn mir’s der kleine Seebach nicht erzählt hätte, – mir wäre ebenfalls dieser plötzliche Umschlag in deiner Stimmung aufgefallen.“
Lauenburgs Stirn hatte sich beinahe finster gekraust. „Was hat dir denn Seebach da vorgeschwatzt?“ fuhr er auf. „Dem paßt es wohl nicht, daß ich auf seine Kindereien nicht mehr eingehe!“
Schüler sah sich schnell um. „Zum Glück hat niemand diesen Ausfall gehört, Fritz! Wie nervös du nur geworden bist,“ meinte er langsam, fast lauernd. – Der Assessor hatte sein Glas ergriffen und leerte es auf einen Zug.
„Wenn du mir nichts Besseres zu erzählen weißt, werde ich mich lieber wo anders hinsetzen,“ sagte er schroff und begann dann den schwarzen Kellner herunterzukanzeln, weil der nicht sofort sein Glas wieder gefüllt hatte. – Schüler schüttelte jetzt wie bedauernd den Kopf. „Und du willst noch ableugnen, daß –“
Doch der Assessor ließ ihn nicht ausreden. „Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Sachen, lieber Schüler,“ klang es sehr scharf, fast drohend. „Du hast’s wahrhaftig nötigt!“
Der ‚ewige Rechtskandidat‘ verstand es sehr gut, den Verletzten zu spielen. Er lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sagte dann mit sehr offiziellem Gesicht: „Verzeih! – Aber ich dachte, wir beide stehen uns als halbe Verwandte nahe genug, daß ich mir auch einmal eine etwas besorgte Frage erlauben darf! – Doch um von etwas anderem zu reden – Du wirst doch wohl das Automobilrennen am nächsten Montag mitmachen, nicht wahr? Du versprachst mir ja auch, mich mitzunehmen. Ich denke, die Geschichte wird ganz interessant werden, besonders wo so viele Anmeldungen eingelaufen sind.“
Lauenburg war bei dem Wort ‚Automobilrennen‘ wirklich zusammengezuckt. Seine Stirn furchte sich wieder. Aber er nahm sich zusammen und antwortete gleichgültigen Tones: „Nein, ich beteilige mich nicht, ich habe meine Meldung schon zurückgezogen.“
„Nanu – weshalb denn?“ fragte Schüler anscheinend sehr interessiert. Dabei hafteten seine Blicke aber wieder so forschend in dem Gesicht seines Gegenübers.
Dem Assessor entfiel plötzlich die Zigarette und rollte unter den Diwan. Er bückte sich schnell danach. Als er sich dann wieder aufrichtete, war ihm das Blut deutlich zu Kopfe gestiegen und zögernd nur klang’s zurück: „Weil… Ja richtig, du weißt ja noch nichts davon… Weil ich meinen Wagen … verkaufen will.“ Und hastig setzte er hinzu: „Ich stehe schon seit Mittwoch deswegen mit Dr. Scharnhorst in Unterhandlung.“
Schüler hatte jetzt seine grauen, durchdringenden Augen beinahe ganz mit den Lidern bedeckt. Und ohne den Assessor anzusehen, sagte er mit auffallender Gleichgültigkeit: „Du hast ihn dir aber doch erst im Frühjahr angeschafft. – Und jetzt willst du, doch sicher mit großem Verlust, das teure Ding schon wieder losschlagen? – Ist dir denn die Fahrerei über?“
„Mehr wie das – mehr wie das,“ sagte Lauenburg schnell. „Außerdem wird’s mir auch zu teuer.“
Da lachte Schüler laut auf. „Fritz, das kannst du einem andern erzählen! – Dir zu teuer!“ – Und nach einer Weile meinte er dann wieder ohne jede Betonung: „Merkwürdig, da scheint doch dieser Automobilverkauf mit deiner Verstimmung irgendwie in Zusammenhang zu stehen! Denn Seebach sagte mir, daß ihm diese große Veränderung bei dir auch gerade Mittwoch zum erstenmal aufgefallen sei und – seit Mittwoch stehst du auch mit Scharnhorst in Unterhandlung! – Wirklich – merkwürdig!“
Schüler hatte seine Augen noch mehr zusammengekniffen. Und er öffnete sie erst weit, beinahe triumphierend, als der Assessor sich jetzt erregt zu ihm hinbeugte und fast heiser fragte: „Was soll das heißen, Max, – die Ausfragerei? – Daß mich auch gerade mein…“ – Doch der laute Ton des Gongs schnitt ihm das weitere ab. Nur noch ein mißtrauischer, zweifelnder Blick traf Schüler, der gleimütig eben sein Glas zum Munde führte. Dann wandte Lauenburg sich um und schien nur noch auf das zu hören, was der ‚große Prophet‘ der ‚E. L.‘ mitteilte.
Es handelte sich dabei um nichts anderes als die Aufnahme Pollnows und eines jüngeren Offiziers des in Altstadt stehenden Grenadierregiments in den Klub, über die Sonntag abend in einer für zehn Uhr anberaumten Vorstandssitzung beraten werden sollte. Im Anschluß daran würde dann auch sofort die Aufnahme stattfinden.
Schüler hatte, als der ‚große Prophet‘ den Namen des jungen Gutsbesitzers als ‚Renoncemufti‘ der ‚E. L.‘ nannte, wieder verstohlen zu Lauenburg hinübergesehen, als ob er feststellen wollte, wie dieser die Ankündigung hinnehmen würde. In demselben Augenblick aber schaute auch Lauenburg auf, und die Blicke der bisherigen Feinde ruhten jetzt einige Zeit in einander. Es war, als ob sich zwei Gegner vor dem Kampfe gegenseitig taxierten. Mit einer fast heftigen Bewegung wandte der Assessor dann den Kopf zur Seite, erhob sich und ging zu dem Tisch hinüber, wo Ottkens jetzt gerade den Leutnant Sperber etwas in die geheimnisvollen und von den Stranddorfer Bürgern mit einem ganzen Sagenkranze umwobenen Aufnahmezeremonien einweihte.
Lauenburg hörte eine Weile zerstreut zu und verließ dann möglichst unauffällig das Zimmer, nahm draußen Hut und Stock und ging gedankenvoll durch den langen Korridor auf die menschenleere Seestraße. Hier blieb er stehen, schob den Hut weit zurück und ließ sich die frische Abendluft um die heiße Stirn streichen. Quälende Gedanken schienen ihn zu belästigen, denn er seufzte mehrmals tief auf; dann schritt er langsam dem Kurgarten zu, bog auf den Seesteg ein und promenierte hier einige Male auf und ab. Er sah nichts von der silberglänzenden Bahn, die der Mond wie eine Schar gleißender, hin und her schießender Schlangen auf die leicht bewegte See zeichnete, merkte nichts von dem Zauber dieser Sommernacht, dem er sich sonst mit so träumerischem Wohlbehagen hingegeben hätte. Als er endlich heimkehren wollte und dabei den dunklen Kurgarten wieder passierte, sah er schon von weitem durch den hell erleuchteten Eingang zwei Herren ihm entgegenkommen. Und da er in dem einen Schüler erkannte, trat er schnell hinter den großen Warenautomaten, um die beiden vorüberzulassen. Er war nicht bemerkt worden.
Jetzt schallte durch die Stille der Nacht eine ihm nur zu wohlbekannte Stimme herüber, die des Gutsbesitzers Erich Pollnow, der gerade zu Schüler sagte: „Es soll ja ein sehr großer Wagen mit hellem Anstrich gewesen sein. – Ich würde dir doch raten, nochmals in der Straußgasse nachzufragen, vielleicht…“
Weiter verstand Lauenburg nichts. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Er hörte nur noch Schülers hartes Organ, dann verschwanden die beiden Gestalten auf dem Stege. –
Der Assessor aber fuhr sich halbbetäubt mit der Hand über die Stirn, auf die feine Schweißperlen getreten waren. Fast schleppenden Ganges schritt er dann weiter, verließ den Kurgarten und bog in die Nordstraße ein.
3. Kapitel
Die Uhr von der Erlöserkirche in Stranddorf schlug zwei, als Schüler sich von Pollnow, den er noch bis zu Ottkens Wohnung begleitet hatte, verabschiedete. Sie waren einigemale den Steg auf- und abgegangen und hatten nochmals das rätselhafte Verschwinden von Ellen Pollnow besprochen. Aber so sehr sich der junge Gutsbesitzer auch bemühte, von Schüler etwas über die Erfolge des Abends zu erfahren, er brachte aus dem merkwürdig einsilbigen Freunde nichts heraus. Und als er schließlich etwas verstimmt wurde und meinte, daß es doch eigentlich Schülers Pflicht sei, zu sprechen, da hatte dieser ruhig geantwortet:
„Allerdings habe ich dich zu einem besonderen Zweck mit in die ‚Ewige Lampe‘ genommen! Aber ich kann dir jetzt wirklich nur sagen, daß – ja, daß ich mit dem Erfolg deiner Anwesenheit am heutigen Abend sehr zufrieden bin. Worin dieser Erfolg besteht, das muß ich allerdings für mich behalten. Und glaube mir, es ist besser so – aus verschiedenen Gründen, die du später erst wirst richtig würdigen können.“
Mit diesen Andeutungen hatte Pollnow sich zufriedengeben müssen. Als die beiden sich jetzt vor der Gitterpforte zum Abschied die Hand schüttelten, sagte Schüler aber doch noch aus freien Stücken:
„Lieber Pollnow – also morgen vormittag sehen wir uns dann gegen elf Uhr im Nordbad wieder. Und – sei versichert: Ich werde deine Schwester wiederfinden, das kann ich dir heute schon versprechen. – Frage nichts weiter, bitte! Die nächsten Tage werde ich mich ausschließlich diesen Nachforschungen widmen und hoffe, dir bald etwas Gewisses mitteilen zu können.“
Aber Pollnow ließ jetzt den alten Bekannten doch nicht gehen. Er hielt dessen Hand noch in der seinen und drückte sie fest, während er zaghaft sagte: „Und – du hast Hoffnung, daß – daß wir Ellen noch – lebend wiederfinden?“
Schüler zögerte einen Augenblick mit der Antwort. „In dieser Hinsicht glaube ich dich völlig beruhigen zu können. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß deine Schwester bei dem Unfall nur verletzt worden ist – nichts weiter.“
„Anzeichen,“ sagte der Gutsbesitzer hastig. „Du sprichst schon von Anzeichen, während du anderseits so tust, als tapptest du doch noch im Dunkeln! – Wie soll ich das nur wieder verstehen?“
„Darüber morgen – vielleicht – etwas näheres. – Doch nun – leb’ wohl!“ – Damit hatte Schüler nochmals des Freundes Hand geschüttelt und war schnell davon gegangen.
Erich Pollnow lag noch lange wach. Und als er endlich einschlief, quälten ihn wirre Träume, in denen sich seine sorgenvollen Gedanken verdichteten. Sein Schlaf war so leicht, daß er plötzlich aufwachte, als nebenan in Ottkens Wohnzimmer ein Stuhl gerückt wurde. Der Morgen graute schon. Pollnow stand auf und öffnete vorsichtig die Tür. Der kleine Referendar war soeben zu Bett gegangen und las noch bei dem Licht der elektrischen Stehlampe die Abendzeitung.
„Komm nur herein, Erich,“ rief er den Freund halblaut an. „Ich möchte sowieso noch etwas mit dir besprechen.“ –
Und dann saßen die beiden wohl noch eine halbe Stunde beisammen. Was sie hier verhandelten, während schon die Vögel in den alten Linden zu zwitschern begannen und das fahle Licht der Morgendämmerung immer heller wurde, drehte sich hauptsächlich um Max Schülers Person.
„Ich kann dich nur vor ihm warnen,“ sagte Ottkens jetzt, nachdem er Pollnow seinen Verdacht mitgeteilt hatte. „Meiner Ansicht nach ist Schüler selbst in die Sache irgendwie verwickelt. Ich argwöhne, daß er dir seine Hilfe nur deswegen aufgedrängt hat, um deine Schritte überwachen, dich vielleicht auch von der rechten Spur abbringen zu können. Nimm dich jedenfalls vor ihm in Acht! Denn um dir’s nochmals vorzuhalten: Weshalb hat Schüler mich gerade in der letzten Zeit fast zweimal täglich besucht? – Er weiß eben mehr von den Vorfällen des Dienstags, als er nur zugibt, kennt womöglich den Besitzer jenes Automobils selbst! Seine Besuche bei mir hatten nur den Zweck, mich als deinen besten Freund auszuhorchen, was ich über die Sache denke, festzustellen, ob du nicht selbst nach Altstadt kommen würdest, um die Nachforschungen zu fördern.“
„Hat er mit dir denn in diesen letzten Tagen über jene Zeitungsnotiz auch gesprochen?“ unterbrach Pollnow hier den kleinen Referendar, der sein von reichlichem Alkoholgenuß hochgerötetes Gesicht in die rechte Hand gestützt hatte und dessen Stimme bisweilen bedenklich schwankte und im Eifer sich zu hohen Fisteltönen steigerte.
Ottkens starrte jetzt den Freund aus halbverglasten Augen eine Weile an.
„Hm – ja – gesprochen? – Um ehrlich zu sein – ich glaube nicht! Nein, ich weiß es sehr genau. Wir haben nicht über diese Zeitungsnotiz geredet. – Aber – trotzdem! Ich wette, er ist nur so oft zu mir gekommen, um hier herumzuspionieren. Daß er nicht direkt etwas fragte – dazu ist Schüler eben zu schlau! – Er hat ja seinen Zweck jedenfalls erreicht! Du hast ihm heute ohne Argwohn all das gesagt, was ihm wissenswert sein kann! Schade, daß es geschehen ist! Wie konnte mir dieser Verdacht aber auch erst so spät kommen? Und dann, Erich, war doch auch seine Art, wie er dir seine Hilfe anbot, etwas – merkwürdig! Er, der doch von Kriminalistik keine Ahnung hat, er gibt dir Ratschläge, versichert dich seiner Unterstützung, sucht dich durch Andeutungen eines zu erwartenden Erfolges vertrauensselig zu machen! – Kurz und gut: Sei vorsichtig! Ich habe dir ja auch schon erzählt, daß ich ihm eben noch, als er in die Seestraße einbog, begegnete bin. Er sah mich nicht, ich ging ihm nach und habe ihn beobachtet. Was hatte er dort in der Parkstraße das ‚Dom Polski‘ so zu umschleichen, wohin verschwand er so plötzlich zwischen den Villen? – Er kann nur in eines der Häuser gegangen sein, die zu der polnischen Kolonie gehören! Was hat er da zu so früher Stunde zu tun, wo er doch in einem ganz anderen Viertel wohnt? – Ich sage dir, Erich: Schüler wandelt auf faulen Pfaden! – Und wenn du ihn morgen vormittag triffst, sei klug und beobachte ihn und seine Reden genau, beobachte aber auch dich, damit dir deine – Vertrauensseligkeit keinen schlechten Streich spielt!“
Pollnow aber schüttelte nur wieder bedenklich den Kopf. „Ich kann das nicht annehmen, Homs! Denn so, so heucheln –! Da wäre er ja mehr wie charakterlos –, einfach ein Lump, nichts weiter!“
Ottkens lachte kurz auf. „Ich kenne Schüler besser als du, glaube mir! Die anderen Bekannten halten ihn nur für leichtsinnig! Ich habe ihn aber schon seit langem anders beurteilt. – Doch wozu ihn heute schlecht machen, wo ich dir bald Beweise dafür liefern werde, daß er ein Doppelspiel treibt! Denn – auch sein Benehmen heute in der ‚Ewigen Lampe‘ war so merkwürdig. Er, der sonst nie vor dem letzten von uns nach Hause geht und bei solchen Repartitionsbowlen stets am meisten trinkt, ist heute wunderbar mäßig, setzt sich zu den Muftis an den Tisch, die er sonst kaum kennt, zankt sich nachher mit Lauenburg herum – alles Sachen, die ihm früher nie eingefallen sind! Ich kann mir nicht helfen: Das ist ein Interesse bei ihm für diesen Unglücksfall, das weit über ein freundschaftliches hinausgeht! – Doch nun – gute Nacht, Erich! Es ist bereits einviertel auf fünf – unglaublich! Und um neun Uhr muß ich schon auf der Staatsanwaltschaft in Altstadt sein!“
Doch Ottkens hatte Pollnow den Schlaf vollständig vertrieben. Der junge Gutsbesitzer öffnete daher das Fenster seines Schlafzimmers und setzte sich in dem leichten Nachtgewand auf das Fensterbrett, schaute hinaus auf die grünen Blätter der leise rauschenden Linden und suchte sich zurechtzufinden in all den Einrücken, die in dieser Nacht sich ihm aufgedrängt hatten. Die Straße war menschenleer. Kein Laut, nur in der Ferne das Branden der See. Dann kam ein Schritt die Straße herauf. Neugierig beugte Pollnow sich vor. Der, der da unten vorüberging, war niemand anders, als der ‚ewige Rechtskandidat‘ – Max Schüler. – Er schaute nicht auf, sondern schlenderte anscheinend tief in Gedanken weiter. Pollnows Augen folgten ihm, bis seine Gestalt hinter der Wand der Häuser verschwand. Der Anblick des anscheinend noch immer ruhelos Umherirrenden hatte bei Pollnow das Mißtrauen noch vergrößert. Ottkens zur Vorsicht mahnende Worte fielen ihm wieder ein, und sein durch die Aufregungen der letzten Tage überanstrengtes Hirn verarbeitete nur immer denselben Gedanken, daß er von Schüler also wirklich schmählich getäuscht war, sich hatte in unvorsichtiger Weise aushorchen lassen. –
Dann störte ihn ein leises Kichern, das aus einem Bodenfester des Nachbarhauses ertönte, aus seinen trüben Überlegungen auf. Da oben sah er schnell emporblickend zwischen den geblümten Gardinen einen lachenden Mädchenkopf, der eben verschwand. Erich Pollnow zog sich hastig zurück, lehnte die Fensterflügel an und ließ die Vorhänge herunter. – Aber auch jetzt wollte der Schlaf nicht kommen. Er hörte die Uhr in Ottkens Arbeitszimmer noch fünf schlagen, bevor er schlief. –
Als Pollnow am Vormittag gegen elf Uhr das Restaurant des Nordbades betrat, schaute er sich vergeblich nach Schüler um. Er hatte sich, während er allein auf des Freundes Veranda Kaffee trank – der kleine Referendar war längst auf die Behörde gefahren – genau überlegt, wie er sein ferneres Verhalten Schüler gegenüber einrichten wollte. Jedenfalls konnte er ihm nicht zeigen, daß er ihm mißtraute. Damit hätte er alles verderben können. Vielmehr beabsichtigte er jetzt den Spieß umzudrehen und jenen durch den aus Berlin erwarteten Detektiv beobachten zu lassen. Ebenso gedachte er auch dem Kriminalkommissar seinen Verdacht mitzuteilen. So hoffte er am ehesten, den durch seine Vertrauensseligkeit begangenen Fehler wieder auszugleichen. Und – Schüler müßte es doch schon sehr schlau anfangen, wenn er diesem Aufgebot von Aufpassern gegenüber sich nicht einmal irgendwie verraten wollte.
Pollnow hatte noch einen unbesetzten Tisch dicht an dem großen Fenster gefunden, durch das man die zahlreichen Badenden beobachten konnte. Gerade diese Plätze wurden von den Kurgästen am meisten gesucht, da das abwechslungsreiche Bild, das sich ihnen da so dicht vor ihren Augen am Strande und in der See darbot, eine angenehme Beigabe zu den anerkannt guten Speisen und Getränken war, die der Pächter des Restaurants – nebenbei war’s der Inhaber des Hotels Schelling – seinen Gästen vorsetzte. Aber selbst das Leben und Treiben um ihn her konnte des jungen Gutsbesitzers verdüsterten Sinn nicht von seinen Sorgen ablenken. Er machte sich schon Vorwürfe, daß er diese Verabredung überhaupt getroffen hatte, da es ihm doch richtiger schien, wenn er sofort am Morgen nach Altstadt gefahren wäre und dort nochmals mit dem Kommissar die Vorfälle des Dienstags besprochen hätte.
So trank er denn, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, in Gedanken versunken die Flasche Porter leer, sog an seiner längst ausgegangenen Zigarre und schaute nur einmal flüchtig auf, als eine junge Dame sich einige Tische seitwärts von ihm niederließ. Und einige Augenblick lang überlegte er sogar, wo er dieses eigenartig schöne Gesicht mit den großen, grauen Augen schon einmal gesehen hatte. Aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Teilnahmslos starrte er dann wieder vor sich hin und fuhr aus seinem Grübeln erst auf, als Schülers wohlbekanntes, hartes Organ an sein Ohr schlug.
Als er aufblickte, sah er ihn an dem Tischchen jener jungen Dame stehen, die vorhin auf kurze Zeit seine Gedanken in Anspruch genommen hatte. Und jetzt hörte er, wie Schüler sagte: „Ich wußte gar nicht, daß du in Stranddorf bist! Fritz hat mir nichts davon erzählt, obwohl wir gestern abend in der ‚Ewigen Lampe‘ zusammen waren.“
Was die junge Dame antwortete, konnte Pollnow nicht verstehen. Er sah nur, wie ihr eine verlegene Röte in das zarte Gesicht stieg und ihre schmale Hand nervös nach dem Streichholzbehälter griff und die Hölzchen wie spielend ordnete. Schüler hatte sich zu ihr herabgebeugt und sprach jetzt leise auf sie ein. Dann drehte er sich plötzlich zu Pollnow hin, nickte ihm grüßend zu, kam aber erst nach einer ganzen Weile zu ihm an den Tisch.
„Verzeih, daß ich dich habe warten lassen,“ meinte er entschuldigend. „Aber ich mußte mit Dita Lauenburg noch einiges besprechen.“
„Dita Lauenburg? – Des Assessors Schwester etwa?“ fragte Pollnow schnell.
„Ja! – Kennst du sie denn nicht? – Sie wenigstens sagte mir soeben, daß ihr einmal auf einem Gartenfest bei Schreibers in Groß Okonin zusammengewesen seid.“
„Gewiß – natürlich, jetzt besinne ich mich!“ sagte Pollnow merkwürdig gepreßt. „Es war ja damals, als ich das Renkontre mit ihrem Bruder hatte! Sie war damals noch fast ein Backfisch, wollte… Doch wozu die alten Geschichten wieder aufrühren!“ Und Pollnow strich hastig ein Streichholz an und setzte seine Zigarre wieder in Brand. Schüler hatte aber doch aufgehorcht.
„Bitte, sprich nur weiter, Pollnow!“ meinte er interessiert. „Was wollte denn Dita damals?“
Aber der Gutsbesitzer schüttelte ablehnend den Kopf. „Du kennst die Sache ja! Und ob du noch einige Einzelheiten mehr erfährst, ist jetzt nach vier Jahren doch gleichgülig!“
„Vielleicht doch nicht so ganz! – Aus reiner Neugierde habe ich nicht danach gefragt, das kannst du mir schon glauben. Denn ich meine, wir beide haben heute doch ernsteres vor, als hier längst begrabene Vorfälle auszukramen.“
„Ja – aber welches Interesse kann es denn für dich haben zu wissen, welche Rolle Dita Lauenburg bei jener Szene im Okoniner Herrenhause gespielt hat?“…
Schüler antwortete nicht sogleich. Dann sagte er leise: „Weil Dita mich eben gebeten hat, dich ihr vorzustellen. Sie will … etwas mit dir besprechen, sagte sie mir nur. Was es ist – ich habe keine Ahnung!“
„…Besprechen?,“ meinte Pollnow erstaunt und schaute schnell zu der jungen Dame hinüber, die jetzt in einer illustrierten Zeitschrift blätterte.
„Mit mir etwas besprechen?“ Er lachte kurz auf. „Was hätte Fräulein Lauenburg mir wohl zu sagen? Will sie etwa – eine Versöhnung zwischen ihrem Bruder und mir herbeiführen? – Das wäre doch das einzige, woran man denken könnte. Sonst – sonst haben wir doch kaum gemeinsame Interessen.“
Schüler strich langsam die Asche seiner Kyriazi an dem Aschenbecher ab.
„Vielleicht doch!“ sagte er mit eigenartiger Betonung. „Jedenfalls würde ich dir raten, ihrer Bitte nachzukommen.“
Pollnow lehnte sich jetzt beinahe heftig in seinen Stuhl zurück.
„Hoffentlich hat Fräulein Lauenburg diese etwas sonderbare Bitte in eine Form gefaßt, die es mir ermöglicht, sie ihr abzuschlagen, ohne dir damit Unannehmlichkeiten zu bereiten. Denn ich habe jetzt keine Lust, Damenbekanntschaften zu machen! Und mit Lauenburg mich auszusöhnen – davon kann überhaupt keine Rede sein!“
Unwillkürlich hatten Pollnows Augen dabei wieder Dita Lauenburg gesucht. Und – da sah er ihren Blick, der mit ängstlicher Bitte in seinem Gesicht zu forschen schien. Nur einen Augenblick schauten sie sich so an. Aber ihm war’s, als ob ein seltsames Gefühl ihm das Herz durchzuckte – vielleicht Bedauern, daß er ihren Wunsch eben so schroff abgelehnt hatte, vielleicht etwas anderes, das er in seiner ganzen Bedeutung noch nicht begreifen konnte.
Schüler erwiderte jetzt mit großer Gleichgültigkeit: „Mir Unannehmlichkeiten? – Nicht im geringsten! Denn Dita hat mir es ja auf die Seele gebunden, nur auf Umwegen deine Stimmung zu sondieren. Daß ich dir die Bitte unumwunden vortragen sollte – na dafür ist sie doch zu sehr junge Dame, um sich derart über die Anforderungen des guten Tones hinwegzusetzen. Doch wenn es dir recht ist, wollen wir jetzt aufbrechen. Ich möchte dir den Vorschlag machen, mit mir nach Altstadt zu kommen. Wir wollen zusammen zu deinem Bekannten, dem Kriminalkommissar – Hubert, richtig, Hubert, gehen und ihn um die Adresse der von der Polizei ermittelten Augenzeugen bitten und dann die betreffenden Personen nochmals ausforschen. Mir liegt sehr viel daran, daß ich selbst einige bestimmte Fragen stelle! – Was meinst du zu meinem Vorschlag?“
Pollnow hatte den Kopf gesenkt. – Alle möglichen Gedanken stürmten auf ihn ein. – War das etwa eine neue Falle, die Schüler ihm hier stellte? Verfolgte jener nicht vielleicht wieder andere Absichten, als sie aus seinen so grundehrlich klingenden Worten zu entnehmen waren? – Und dann schaute Erich Pollnow auf und Schüler gerade ins Gesicht. In seinen Augen mußten die ihn quälenden Zweifel, das Mißtrauen deutlich zu lesen sein. Denn jetzt nahm des anderen Gesicht einen erstaunten, fast unwilligen Ausdruck an. Und Wort für Wort kam’s dann dem ‚ewigen Rechtskandidaten‘ über die Lippen:
„Pollnow, – was sollte dieser Blick eben? – Soviel verstecktes Forschen, eine solche Unsicherheit lag darin, als ob – als ob du – aber das ist ja Unsinn,“ fügte er hastig hinzu, „was mir soeben durch den Kopf schoß!“
Und Schüler suchte wieder in dem Gesicht seines Gegenübers zu lesen. Aber wie schuldbewußt wandte Pollnow den Kopf zur Seite, um diesen Augen auszuweichen. – Eine peinliche Pause entstand. Dann schien Schüler mit sich ins klare gekommen zu sein. Und mit einer Stimme, aus deren Klang ehrliche Empörung sprach, sagte er:
„Hat Ottkens Mißtrauen es also wirklich fertig bekommen, dich so gegen mich einzunehmen, daß es dir heute leid tut, mich in deine Sorgen eingeweiht, mir Vertrauen geschenkt zu haben?“
In demselben Augenblick rief Pollnow den Kellner herbei, so daß Schüler sich wohl oder übel unterbrechen und ebenfalls zahlen mußte. Erst als sie draußen auf der sonnenbeschienenen Promenade waren, sagte der Gutsbesitzer herzlich:
„Lieber Schüler, nimm mir diese plötzliche Störung nicht übel. Wir wurden aber schon von den Nebentischen beobachtet, da du deine Stimme leider nicht genug gedämpft hattest. Und – solche Auseinandersetzungen lassen sich auch besser – auf dem Wege nach dem Bahnhof als in dem menschenüberfüllten Lokal erledigen!“
Damit schob er seinen Arm in den des langen Rechtskandidaten und beide gingen durch den Nordpark der Seestraße zu.
Schülers erste Erregung war etwas abgeebbt. Aber je länger er jetzt in ruhigster Weise auf Pollnow einsprach, desto mehr sah dieser ein, daß er dem alten Bekannten Unrecht getan hatte. Und als offener, ehrlicher Charakter bemühte er sich auch sofort, ihn wieder zu versöhnen, erzählte ihm ganz offen, was Ottkens zu beobachten geglaubt hatte und welche Schlüsse von ihm daraus gezogen waren, sprach auch darüber, daß er ihn in der frühen Morgenstunde in der Wäldchenstraße an Ottkens Haus hatte vorübergehen sehen und wie sehr ihm gerade dieses aufgefallen sei. – Dann sagte er noch zum Schluß:
„Du würdest es verstehen, daß ich trotz unserer langjährigen Freundschaft so schnell an dir irre werden konnte, wenn du dich in der gleichen Lage befinden würdest, wenn du wie ich seit Tagen vor all den Befürchtungen kaum einen klaren Gedanken hättest fassen können! Da büßt man sogar die Fähigkeit ein, unbefangen über Menschen und Verhältnisse zu urteilen, läßt nur alle Eindrücke stumpfsinnig auf sich wirken, ohne sie irgendwie auf ihren Wert zu prüfen. – So ist es mir ergangen. – Aber“ – hier machte Pollnow eine Pause – „du selbst tust Ottkens offenbar Unrecht, siehst dort nur Schatten, wo sehr viel Licht ist. Denn Homs meint es wie du nur gut mit mir! Lediglich aus dem Grunde hat er mich gewarnt, glaube mir!“
Aber Schüler hatte hierfür nur ein etwas zweifelndes Lächeln.
„Ich kenne unser Homschen besser,“ meinte er ohne jeden scharfen Ton in seiner Stimme. „Doch – darüber mag sich jeder seine eigene Ansicht behalten.“ Und ärgerlich auflachend fuhr er fort: „Hätte Ottkens diese scharfe Beobachtungsgabe gar nicht zugetraut! Nun – die Mittel, durch die man Freunden helfen will, sind eben verschiedener Art! – Damit ist die Sache abgetan!“
Als sie dann im Zuge saßen und an Pollnows Augen das wunderbar anziehende Bild der Altstädter Bucht vorüberzog, das er durch das offene Fenster des Abteils wie in einem Wandelpanorama beobachten konnte, da hingen beide schweigsam ihren Gedanken nach. Und plötzlich war’s dem jungen Gutsbesitzer, als ob da über der blauschimmernden Fläche der nahen See wie eine Fata Morgana ein blonder Mädchenkopf erschien und ihn aus einem ernsten Gesichtchen ein Paar graue Augen so flehend anblickten…
4. Kapitel
„Ich erlaube mir, mich Ihnen vorzustellen, meine Herren. – Alfred Meier, Privatdetektiv der Weltfirma ‚Greif‘, Detektivinstitut Berlin.“ –
Das elektrische Licht beschien ein jugendliches, frisches Gesicht, dessen Quartseite die Spuren früherer Mensuren in Form von drei tadellosen Durchziehern zeigte.
Pollnow und Ottkens starrten jetzt den, dem dieses Gesicht gehörte, beinahe verblüfft an. Denn als der kleine Referendar vor wenigen Sekunden auf ein energisches Klopfen an seiner Tür ‚Herein‘ rief, hatten sie jeden anderen erwartet, nur nicht den Detektiv, waren aber noch mehr erstaunt, als sie jetzt einen Herrn vor sich sahen, der mit seinem eleganten Äußeren und der zerhauenen Quartseite eher ein fünfsemestriger Korpsbursch als ein Angestellter eines Detektivinstituts sein konnte.
Die beiden Freunde hatten sich erhoben und stellten sich ebenfalls vor. Aber in Pollnows Zügen malte sich jetzt eine gewisse Enttäuschung.
Homs Ottkens zeigte sich der Lage mehr gewachsen. Nachdem er nochmals prüfend die Erscheinung dieses Herrn gemustert hatte, bat er ihn, Platz zu nehmen.
Der Detektiv schaute sich suchen nach einem Kleiderhaken um, legte dann Stock und Hut ungeniert auf den Diwan und zog auch seinen kurzen, hechtgrauen Sportpaletot aus. Dabei wandte er sich an Ottkens: „Sie gestatten wohl, Herr Doktor! – Aber unsere Besprechung dürfte sich in Kürze kaum erledigen lassen!“ –
Dann setzte er sich zu den beiden an den Tisch, nachdem er ihnen nochmals eine leichte Verbeugung gemacht hatte – all das mit einer so nonchalanten Sicherheit, daß Homs Ottkens unwillkürlich seinen Kopf ablehnend noch mehr zurückbog. Ihm behagte das Auftreten dieses Herrn Meier nicht. Er war ihm zu selbstbewußt, – schien ganz zu vergessen, daß er doch nur eine bezahlte Hilfskraft war. Jedenfalls wollte Ottkens den Detektiv den gesellschaftlichen Unterschied doch etwas fühlen lassen.
Leider sollte ihm diese Absicht gründlich vorbeigelingen. Denn nach einem flüchtigen Blick in Ottkens etwas hochmütiges Gesicht begann Meier jetzt in leichtem Plauderton mit liebenswürdigster Miene: „Zunächst muß ich die Herren um Entschuldigung bitten, daß ich hier so formlos eingedrungen bin. Der Korridor ist jedoch nicht erleuchtet, nur mit Hilfe meiner Taschenlampe fand ich mich zurecht, – sah aber leider niemanden, der mich anmelden konnte.“
Dann wandte er sich Pollnow zu: „Damit Sie, Herr Pollnow, über meine Person orientiert sind – hier ist meine Legitimation.“
„Oh – bitte,“ wehrte dieser ab, nahm aber doch die Karte und überflog sie schnell. Dann schaute er fragend auf.
„Sie wundern sich,“ kam ihm der Detektiv zu Hilfe, „daß auf meiner Legitimation ein anderer Name steht. – Alfred Meier bin ich auch nur hier in Stranddorf, so lange ich mit Ihrer Angelegenheit zu tun habe. Nachher verwandle ich mich wieder in Dr. Ernst Ritterweck, wie ich eigentlich heiße.“
Ottkens hatte aufgehorcht. „Verzeihung – Herr…“
„Bitte, ruhig Meier – Meier mit ‚ei‘, wie ich mich auch im Hotel Schelling eingeschrieben habe,“ meinte Ritterweck lächelnd.
„Ich wollte nur fragen, Herr Meier,“ fuhr Ottkens fort, „Dr. jur. oder phil.?“
„Dr. jur.,“ antwortete Meier ohne jede Verlegenheit – „ich habe nach zweimaligem vergeblichem Versuch, das Referendarexamen zu machen, es doch noch glücklich bis zur Promotion gebracht, mußte aber – ich bin Waise und hatte mein kleines Vermögen aufgebraucht – zunächst aus Not, meinen jetzigen Beruf ergreifen. – Doch das dürfte die Herren kaum interessieren.“ – Dann wandte er sich wieder an Pollnow: „Würden Sie mir jetzt zunächst auf einige Fragen antworten, die mir unsere Angelegenheit noch etwas mehr aufklären sollen. Ich möchte keine Zeit verlieren! Denn leider liegen jetzt über drei Tage zwischen dem – Unfall und dem Beginn meiner Nachforschungen, für eine Untersuchung etwas reichlich viel!“
Beide, Pollnow und Ottkens, konnten ihr Erstaunen nicht verbergen. „Wie…? Sie wissen schon, um was es sich handelt?“ fragte der Gutsbesitzer überrascht.
„Jawohl! Ich bin völlig eingeweiht, brauche eben nur noch einige Details, die Sie mir wohl werden geben können.“
Des Detektivs Gesicht war bei dieser Antwort völlig unbeweglich geblieben.
„Sie haben sich also schon auf der Polizei in Altstadt erkundigt?“ meinte Pollnow. Aber Herr Meier schüttelte den Kopf.
„Nein! – Nur wenn’s durchaus nicht anders geht, nehmen wir die Hilfe der Behörden in Anspruch.“
„Aber wer hat Ihnen denn –?“ wollte der Gutsbesitzer weiterfragen. Der Detektiv unterbrach ihn jedoch.
„Das muß vorläufig – Geschäftsgeheimnis bleiben! Ich hoffe Ihnen aber bald die nötige Aufklärung geben zu können – auch darüber, was mit Ihrem Fräulein Schwester geschehen ist. Zunächst gestatten Sie mir jetzt, daß ich meine Kenntnisse etwas ergänze.“
Damit holte er ein dünnes Notizbüchlein hervor und blätterte darin, bis er die betreffende Seite gefunden hatte. Nachdem er flüchtig seine Notizen eingesehen, wandte er sich an Pollnow, indem er dabei seinen Stuhl wie unabsichtlich etwas zurückrückte, so daß er auch Ottkens bequem beobachten konnte. – –
„Sie werden meine Fragen, die ich jetzt an Sie richten muß vielleicht etwas sonderbar finden. Aber seien Sie überzeugt, daß ich sie nur stelle, weil sie mit unserer Untersuchung in engem Zusammenhang stehen.“ Meier räusperte sich und fuhr dann fort: „Haben Sie vielleicht einen Feind, ich meine, gibt es einen Menschen, der aus irgend welchen Ursachen Ihnen absichtlich Unbequemlichkeiten bereiten würde, wenn es in seiner Macht stände?“
Der Gutsbesitzer schaute überrascht auf, verneinte dann aber entschieden.
„Haben Sie auch die Vergangenheit lückenlos übersehen, als Sie mir antworteten?“ fragte Meier nach einer Weile nochmals eindringlich.
Pollnow zauderte etwas. „Ja, mir fällt da eben ein – ich habe mich allerdings mit einem Herrn einmal entzweit, aber – irgendwelche Schlechtigkeiten traue ich dem Betreffenden auf keinen Fall zu.“
„Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir über dieses Ereignis nähere Auskunft zu geben. Wir in unserem Beruf dürfen selbst an den scheinbar unwichtigsten Vorfällen nicht achtlos vorübergehen. Oft genug laufen die Fäden eines Verbrechens bis weit in das Einst zurück.“
In Pollnows Gesicht flutete jetzt eine auffallende Röte. Ihm war dieses Zurückgreifen auf frühere Geschehnisse sichtlich unangenehm. Und zögernd begann er: „Ich habe keinen Grund, mich über jenes, jetzt ungefähr vier Jahre zurückliegende Erlebnis auszuschweigen, fürchte aber, daß Sie enttäuscht sein werden, Herr Meier. Denn der betreffende Herr, der jetzige Assessor Lauenburg, scheidet doch für unsere Angelegenheit vollkommen aus.“
Der Detektiv bückte sich hier wie zufällig und stäubte anscheinend ein Fleckchen von seinem Beinkleid ab. Und doch glaubte Ottkens bemerkt zu haben, wie bei Pollnows letzten Worten ein blitzschnelles Lächeln um seine Mundwinkel flog. Als Meier sich wieder aufrichtete, zeigte sein Gesicht jedoch nur denselben liebenswürdig interessierten Ausdruck wie vorhin.
„Ich will ja nicht weiter in Sie dringen, Herr Pollnow,“ meinte er dann höflich, „besonders da ich auch einiges über jenen Vorfall zu wissen glaube. Der Zwist entstand doch bei Gelegenheit eines kleinen Jeus, nicht wahr?“
Pollnow und Ottkens schauten überrascht auf. „Wie – das wissen Sie?“ stotterte der Gutsbesitzer.
Der Detektiv nickte nur. „Wie gesagt – ich kenne nur die großen Umrisse jenes Vorfalls und wollte mir eigentlich von Ihnen noch einige Details ausbitten, begnüge mich jetzt aber mit der Frage, aus welchem Grunde damals zwischen den Herren keine vollkommene Aussöhnung Zustande gekommen ist?“ –
Pollnow antwortete nicht gleich. Seine Gedanken suchten noch schnell das Rätsel zu lösen, woher dieser ihm bisher unbekannte Herr derart genaue Kenntnis von einem Ereignis haben konnte, das für niemanden als die zunächst Beteiligten von Interesse gewesen war. Und plötzlich überkam ihn bei dieser Überlegung ein Gefühl der Unsicherheit, etwas wie ein Unbehagen. Ihm war’s, als könnte der Detektiv seine geheimsten Gedanken erraten. Und daher sagte er jetzt ohne Zaudern der Wahrheit gemäß: „Weil der damalige Referendar Lauenburg für meine Anforderungen an kavaliermäßiges Benehmen zu wenig – anständig gehandelt hat. Ich habe es ihm nie vergessen, daß er es – allerdings in recht animierter Stimmung – wagte, meine Gepflogenheiten beim Spiel zu kritisieren. Und wenn er sich auch nachher entschuldigt hat und der Sache ein harmloses Mäntelchen umzuhängen suchte – für mich gibt es eben Charakterzüge, die ich bei solchen Personen nie mehr übersehen kann – nie!“
Pollnow hatte sich in eine Erregung hineingesprochen, die ihm deutlich anzumerken war. Denn, nach einer Pause, setzte er ruhiger hinzu: „Doch ich weiß wirklich nicht, weshalb wir hier alte Geschichten aufwärmen, die uns keinen Nutzen bringen können! Oder – sollten Sie etwa – den Assessor Lauenburg irgendwie in Verdacht haben, daß er –“
Aber Meier winkte schnell ab. „Nein, Herr Pollnow – Verdacht ist zuviel gesagt. Aber sehen Sie, wir Detektivs finden bisweilen so eingestreut in unsere Spürhundtätigkeit – zartere Missionen vor, die uns zwingen, auch abseits vom Wege zu suchen! – Doch, Sie haben recht“ – er zog seine Uhr und verglich dann die Zeit mit der Zeigerstellung der großen Wanduhr – „ich muß mich etwas beeilen, habe nachher noch eine dringende Verabredung in unserer Sache, und –“ er sah wieder sein Notizbuch ein – „bin auch sofort fertig. – Wollen Sie mir nur noch sagen, ob vielleicht von Herrn Lauenburgs Seite jemals der Versuch gemacht worden ist, sich Ihnen wieder zu nähern?“
Pollnow nickte ergeben. Er sah ein, daß der Detektiv doch nicht locker ließ.
„Ja – im vorigen Sommer suchte er hier in Stranddorf bei Gelegenheit eines Pferderennens eine Aussprache mit mir herbeizuführen, die ich aber vereitelte. Ehrlich gesagt – mir ist der Herr noch immer höchst unsympathisch!“
Meier hatte sein Taschenbuch zugeklappt und wieder fortgesteckt. Er schaute eine Weile sinnend vor sich hin. Dann erhob er sich. „Ich hoffe, Ihnen spätestens Montag eine bestimmte Nachricht geben zu können,“ meinte er wie beiläufig. „Die Herren müssen mich jetzt entschuldigen.“ – Damit zog er seinen seidengefütterten Paletot an und verabschiedete sich. –
Die beiden waren gleichfalls aufgestanden. Und Ottkens, der sich die ganze Zeit über vergeblich bemüht hatte, hinter die tiefere Bedeutung der Fragen dieses Herrn Meier zu kommen, sagte jetzt merklich unsicher: „Und was denken Sie denn eigentlich von dieser rätselhaften Geschichte, Herr Doktor?“
Der Detektiv lächelte fein. „Nicht ‚Herr Doktor‘, meine Herren! Hier muß ich schon ‚Meier‘ bleiben. – Bankbeamter Meier, wie ich auch im Fremdenbuch bei Schelling eingetragen bin, Bankbeamter und alter Studienfreund von Ihnen, Herr Doktor Ottkens. Für etwaige Fragen: Wir kennen uns von Greifswald her, wo Sie doch seinerzeit studiert haben, und durch Sie habe ich auch Herrn Pollnow kennen gelernt. Um Ihnen aber noch schnell eine Antwort zu geben: Fräulein Ellen Pollnow befindet sich außer aller Gefahr, das steht schon jetzt fest. Meine Aufgabe wird es nun sein, die Täter in einer für alle Teile befriedigenden Weise zu überführen.“
Und ehe der Gutsbesitzer noch Zeit fand, weitere Fragen, die sich ihm jetzt förmlich aufdrängten, zu stellen, hatte Meier nach kurzem „Guten Abend, meine Herren! – Morgen vielleicht auf Wiedersehen!“ das Zimmer verlassen.
Die beiden Zurückgebliebenen schauten sich eine ganze Weile stumm an. Dann ließ Ottkens sich wieder in seinen Sessel fallen und Pollnow begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Keiner wagte es, seine Gedanken auszusprechen. Beide waren arg enttäuscht; sie hatten von dem Detektiv mehr erwartet, – nicht diese rätselhaften Fragen und Andeutungen. Schließlich meinte der Referendar kopfschüttelnd: „Das ist nun der erste von dieser – berüchtigten Menschengattung ‚Detektiv‘, den ich kennen lerne. Äußerlich ist ja an dem verkrachten – Herrn Kollegen nichts auszusetzen, aber sonst! – Der scheint wirklich eine ganz besondere Untersuchungsmethode zu haben! Bist du denn aus seinem Verhalten auch nur so halbwegs klug geworden, Erich?“
Pollnow hatte sich auf die hohe Lehne des anderen Sessels aufgestützt und blickte nicht gerade sehr vertrauensvoll vor sich hin.
„Klug geworden?“ – Er zuckte die Achseln. „Was er nur von Lauenburg gewollt haben mag, und – woher kann er nur erfahren haben, was ich damals mit dem Assessor vorhatte? – Außerdem – auch den Vornamen meiner Schwester wußte er schon? Fragte auch garnicht nach dem, was ihm doch zunächst hätte wissenswert sein müssen!“
Ottkens griff nach einer frischen Zigarette. „Und dabei tat er doch jetzt beim Abschied so sicher,“ spann er diese Reflexionen fort.
„Ja,“ ergänzte Pollnow seine Worte, – „so als ob es an der ganzen Geschichte gar nichts mehr aufzuklären gäbe. Und dabei, wenn man’s sich überlegt, – was haben wir bisher gewonnen? – Nichts, nichts! Ich habe mich sowohl von Schüler als auch von diesem Dr. Ritterweck mit tröstlichen Versicherungen abspeisen lassen müssen. Das ist alles! Meine Sorgen lasten noch immer auf mir wie zuvor! Denn die Frage, wo Ellen sich eigentlich befindet, hat mir noch niemand beantwortet!“
5. Kapitel
Meier war inzwischen langsam dem Hotel Schelling zugewandert und dann die zwei Treppen zu seinem Zimmer emporgestiegen. Er öffnete die Doppeltür, drehte das elektrische Licht an, hing seine Sachen an den Kleiderhaken und klingelte nach dem Zimmerkellner.
Die Flügel des Türfensters, das auf einen kleinen Balkon hinausführte, standen weit offen und ließen die frische Abendluft ungehindert ein. Der Detektiv trat jetzt auf den Balkon hinaus und ließ sich aufseufzend in den bequemen Rohrstuhl fallen. Er war mit dem Erfolge der soeben gehabten Unterredung nicht ganz zufrieden. – ‚Vielleicht war meine Taktik doch falsch,‘ dachte er mißmutig. ‚Ich hätte wohl vorsichtiger sein sollen! Denn dieser kleine Referendar scheint ein argwöhnisches Kerlchen zu sein.‘ –
In das Licht, das aus dem Zimmer durch die Tür in breiten Streifen auf den Zementboden des Balkons fiel, trat plötzlich ein Schatten. Meier blickte auf. Es war der Kellner, der sich nach den Wünschen des Gastes erkundigen kam.
„Bringen Sie zwei Flaschen Chateau la Rose herauf, zwei Gläser und einige Zigarrensorten zum Auswählen,“ fertigte er ihn ab.
„Sehr wohl, mein Herr!“ dienerte dieser. „Außerdem sollte ich Herrn Schüler melden.“
„Schon da?“ entfuhr es Ritterweck unwillkürlich. Dann erhob er sich eilig und nötigte seinen Besuch selbst hinein.
„Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns auf den Balkon, Herr Schüler,“ sagte er dann, nachdem sie sich ganz freundlich begrüßt hatten. „Allerdings werden wir etwas leise sprechen müssen.“
„Mir durchaus angenehm,“ meinte der ‚ewige Rechtskandidat‘ bereitwillig. „Ich für meine Person liebe frische Luft – und derartige Abendstunden wie heute muß man auskosten. – Oft sind sie uns in diesem naßkalten Sommer noch nicht geboten worden.“
Als dann der alte Rotwein in den Gläsern duftete und der Rauch der Henry Clay in hellblauen Streifen in der lichtbewegten Luft zerfloß, begann Schüler, nachdem er eine Weile starr vor sich hingeblickt hatte:
„Ich habe eben geträumt, war weit weg mit meinen Gedanken. Diese Stille und das einschläfernde Rauschen der See leitet das Denken ab; mir kommen dabei immer Kindheitserinnerungen.“
„Sie sind so eine halbe Poetennatur,“ sagte Dr. Ritterweck lächelnd. „Aber heute müssen wir uns nun schon leider mit ganz nüchternen Dingen beschäftigen. – Nüchtern ist vielleicht doch nicht ganz der richtige Ausdruck,“ setzte er dann nachdenklich hinzu. „Denn ich habe meinen jetzigen Beruf noch nie – uninteressant, alltäglichen gefunden. Im Gegenteil – gerade wir Detektivs gewinnen ja in so viele Lebensverhältnisse einen Einblick, der anderen nie vergönnt ist. Da wird man auch so etwas Philosoph, Träumer, – leider aber auch Pessimist. Das bißchen Lack, mit dem mancher die schwächeren Stellen seines Charakters kunstgerecht überzogen hat, um seinen wahren Wert oder Unwert den lieben Mitmenschen zu verbergen, bröckelt vor prüfenden Blicken nur zu leicht ab. – Doch nun zu unserer Angelegenheit! Der Fall läßt sich nach einer handwerksmäßigen Schablone jedenfalls niemals zu einem glücklichen Ende führen. Es sind so viele Verwicklungen eingetreten, daß wir mit größter Vorsicht werden vorgehen müssen, um zum Ziel zu gelangen.“
Schüler nickte nur.
„Ich bin wie verabredet,“ fuhr Ritterweck nach kurzer Pause fort, „gegen acht Uhr bei Dr. Ottkens gewesen, habe mit voller Absicht dann bei der Besprechung einen etwas zielbewußten Ton angeschlagen, eben so getan, als ob der Fall überhaupt keine Schwierigkeiten mehr bietet. Leider bin ich aber mit dem Resultat dieser Besprechung nicht ganz zufrieden. Ich fürchte, Dr. Ottkens oder auch Pollnow haben gemerkt, daß Assessor Lauenburg in diesem Drama doch eine Rolle spielt. Und das wäre sehr schade, da die beiden Herren viel verderben können. Daran ist nun aber nichts mehr zu ändern. Dann aber – und das ist beinahe noch deprimierender: Pollnow will von einer Aussöhnung nichts wissen, scheint die alte Geschichte noch immer nicht vergessen zu haben. Diese Beharrlichkeit macht uns einen großen Strich durch unsere Rechnung!“
„Leider!“ pflichtete ihm Schüler bei. – Aber,“ meinte er dann langsam, „wer weiß, ob meine bisherigen Kombinationen wirklich alle richtig sind? Nur dann würde von Pollnows Versöhnlichkeit etwas abhängen!“
„Um diese Kombinationen nochmals nachzuprüfen und die Sachlage auch zu besprechen, sind wir ja jetzt zusammengekommen,“ sagte Ritterweck in seiner bestimmten Art. „Ich meine allerdings, daß Ihre Überlegungen schon richtig sein werden! Sie haben eben Talent zum Detektiv, Herr Schüler!“
„Wie ich viele andere Talente auch noch habe,“ spann der ‚ewige Rechtskandidat‘ mit ironischem Bedauern in der Stimme die Unterhaltung fort. – „Talente! – Was nützten die mir? Nichts! Keinen Pfifferling verdient man damit! Ich sehne mich nach so einer Tätigkeit, die mir zusagt, würde – dann wohl auch – etwas leisten.“
„Werden Sie doch dasselbe wie ich,“ meinte Ritterweck nachdrücklich. „Sie mit Ihrem Auftreten, Ihrer allgemeinen Bildung wären sicher jedem Detektiv-Institut willkommen. Allerdings müßten Sie zunächst für ein minimales Gehalt arbeiten und außerdem – erst mal eine Probe Ihres Könnens geben. Wenn Sie wollen, – werfen Sie doch Ihre Juristerei beiseite, ich werde Sie bei uns empfehlen. – Da haben Sie gleich eine Tätigkeit!“
Schüler hatte sich in dem bequemen Rohrstuhl plötzlich aufgerichtet.
„Donnerwetter,“ entfuhr es ihm, „daran habe ich noch garnicht gedacht!“
Dann versank er eine ganze Weile in tiefes Sinnen.
Meier rauchte unterdessen ruhig seine Zigarre weiter. Als ihm diese Pause aber doch zu lange dauerte, sagte er plötzlich: „Sie könnten mir jetzt eigentlich nochmals kurz erklären, wie bei Ihnen der Verdacht, daß Lauenburg damals der Automobilfahrer gewesen, entstanden ist. Denn bevor wir unseren für heute geplanten nächtlichen Erkundigungszug beginnen, möchte ich mich doch auch vergewissern, daß dieser Plan auch wirklich einen Zweck hat – dies um so mehr, als Sie selbst von der Richtigkeit Ihres Verdachtes nicht so ganz fest überzeugt zu sein scheinen.“
Schülers Zigarre war beinahe erloschen. Er tat schnell einige kräftige Züge, ehe er antwortete: „Ich habe dem, was ich Ihnen schon nachmittags auf dem Bahnhof sagte, kaum noch etwas hinzuzufügen. Jedoch – wenn Sie es wünschen… – Zunächst fiel mir also schon verschiedenes auf, als Pollnow uns gestern abend in Ottkens Veranda die Zeitungsnotiz vorlas. Es war da von einem großen, hellgestrichenen Wagen die Rede, der nur zwei Insassen hatte. Schon das stimmte ziemlich auf Lauenburg und seine Nr. 12. Denn gewöhnlich fährt er nur in Begleitung seines Chauffeurs, besonders am Nachmittag; und sein Wagen ist ein großer, hellgrün gestrichener, vierzylindriger Mercedes.“
„Verzeihen Sie eine Zwischenfrage! – Aus welchem Grunde betonen Sie gerade den Nachmittag als die Tageszeit so, in der der Assessor gewöhnlich nur seinen Chauffeur mitnimmt? – Knüpfen Sie an diesen Umstand, der Ihnen doch aufgefallen zu sein scheint, irgendwelche Vermutungen?“
Schüler überlegte kurze Zeit. Dann sagte er offen: „Auch das sollen Sie erfahren, Herr Meier. Ich werde es Ihnen im Interesse unserer Angelegenheit nicht vorenthalten können, trotzdem – Lauenburg dadurch in ein etwas eigentümliches Licht gerückt wird. Ja, mir stieß es schon im Frühjahr auf, daß Lauenburg, wenn er überhaupt nachmittags ausfuhr, stets jede Begleitung von guten Bekannten ablehnte. Und da ich nun schon immer wie einem inneren Zwange folgend versucht habe, außergewöhnliche Geschehnisse auf ihre Ursachen hin zu untersuchen, so wollte ich auch hinter den Zweck dieser fast geheimnisvollen Nachmittagsausflüge kommen.“ –
Schüler schwieg plötzlich und schaute den Detektiv prüfend an.
„Bevor ich fortfahre, Herr Doktor, Pardon, Herr Meier, möchte ich Sie aber doch bitten, mir vollkommenste Diskretion zuzusichern,“ fuhr er dann zögernd fort. „Denn Lauenburg hat, wie ich bestimmt annehme und auch beweisen kann, sich bei diesen Ausflügen gegen gewisse Paragraphen des Strafgesetzbuches vergangen.“
Bei den letzten Worten hatte Meier nur langsam genickt, als ob ihn nichts in Schülers Mitteilungen überraschte.
„Selbstverständlich verspreche ich Ihnen Stillschweigen, trotzdem ich jetzt auch schon aus mir selbst heraus weiß, welche Paragraphen des Strafgesetzbuches das gewesen sind – eben ungefähr 292 bis 295, nicht wahr?“
In Schülers Gesicht zeigte sich jetzt deutlich eine leichte Verlegenheit. Da lachte Ritterweck vergnügt auf.
„Ach so,“ meinte er, seine Heiterkeit bezwingend. „Ich vergaß, daß Sie noch nicht so weit in die Geheimnisse des hochnotpeinlichen Rechtes eingedrungen sind, Herr Leidensgenosse! In den §§ 292 und folgenden werden die – Jagdvergehen behandelt.“
Der ‚ewige Rechtskandidat‘ mußte wohl oder übel mitlachen. Aber bei dem Wort ‚Jagdvergehen‘ stutzte er doch.
„Wie, Sie wissen also wirklich?“
Über des Detektivs bartloses Gesicht glitt ein stolzes Aufleuchten, das von Schüler aber nicht bemerkt wurde.
„Ich weiß,“ sagte er dann ohne jede Spur von Wichtigtuerei. – „Sie sprachen mir gestern davon, daß Ihr entfernter Verwandter allerlei Sport betreibt, erwähnten auch ganz kurz eine große Jagdleidenschaft. Da nun das ewig Weibliche bei diesen einsamen Ausflügen nach Ihrer Schilderung von Lauenburgs Herzensangelegenheiten nicht in Frage kommen konnte, war der Rückschluß auf – die Paragraphen 292 und folgende sehr leicht, wenn auch etwas unsicher. Aber – was sollte der Assessor wohl sonst für einen Zweck bei diesen Ausflügen verfolgt haben? Sagen Sie selbst! – Die Lösung war also höchst einfach!“
„Allerdings – scheinbar! Jedenfalls zeigt sie mir, wieviel ich noch meinen verehrten Verstandskasten trainieren muß, bis er auch so prompt auf kleine Andeutungen einschnappt.“
„Das bringt die Übung mit sich,“ sagte Meier so nebenbei. Und dann etwas bestimmter: „Aber nun zu unserer Sache zurück. Denn die Jagdleidenschaft des Assessors interessiert uns vorläufig weniger. Sie sprachen davon, daß es Ihnen zunächst auffiel, daß in der Zeitung als Insassen des unbekannten Automobils nur zwei männliche Personen genannt wurden, und die Größe und Farbe des Wagens auch so ziemlich übereinstimmte. Und weiter nun?“
Schüler warf das Ende seiner Zigarre in den Aschenbecher und fuhr dann fort: „Wie gesagt – so wurden meine Gedanken ganz zufällig auf die Person Lauenburgs hingeführt. Und die Gedanken ließen mich auch nicht wieder los. Denn was ich von Pollnow weiter hörte, verdichtete sich zu einem bestimmten Verdacht. Die Augenzeugen wollen bekanntlich gesehen haben, daß das Automobil das Verdeck aufgestellt hatte, und daß an der Rückwand dieses Verdecks im Innern des Wagens eine kleine Lampe brannte – und zwar anscheinend eine Glühbirne, die dann plötzlich verlosch, als der eine der Herren Ellen Pollnow in den Wagen hob. Nun bin ich an jenem Dienstag abend gegen halb elf Uhr…“ – Schüler zögerte wieder, um dann mit verlegenem Lächeln weiterzusprechen – „gegen halb elf Uhr durch die ziemlich abgelegene Rickertstraße gegangen. Ich kann’s Ihnen ja auch sagen – ich brachte eine junge Dame aus dem Kurgarten nach Hause. Die Rickertstraße mündet aber ziemlich nahe an Lauenburgs kleiner Villa in die Nordstraße. Damals fuhr nun ein Automobil in sehr scharfer Gangart an uns vorüber und ich habe, darüber gibt’s keinen Zweifel, Lauenburgs Wagen erkannt, und – der Wagen fuhr mit Verdeck!“
„Und haben Sie nur zwei Personen darin bemerkt?“ unterbrach ihn der Detektiv.
„Ja – nur zwei – das heißt, so weit ich überhaupt etwas von den Insassen sehen konnte. – Und dieser unbedeutende Zwischenfall hat dann meinen Argwohn natürlich noch verstärkt. Denn alles stimmte – heller, großer Wagen, Verdeck, zwei Insassen und – auch die Zeit. – Denn Stranddorf ist von Altstadt aus bei der tadellos gehaltenen Straße in zwanzig Minuten bequem zu erreichen!“
„Ja – ja,“ meinte Meier, „da sieht man wieder, aus wie geringfügigen Ereignissen sich so ein Kettchen für die Herren – Verbrecher schmieden läßt.“ Und nach einer Pause: „Besinnen Sie sich, ob damals am Dienstag abend die Glühlampe an dem Automobil brannte, als es an Ihnen vorüberfuhr?“
„Sie brannte nicht! – Ja, da fällt mir jetzt noch mehr auf! Lauenburg ist ja öfters mit Verdeck gefahren, aber nie, ohne das Innere des überdachten Wagens beleuchtet zu haben, ist auch nie – daß ich daran nicht früher gedacht habe! – die Rickertstraße entlang gefahren, sondern hat stets die taghell erleuchtete Seestraße benutzt!“
„Auch diese Beobachtung reiht sich sehr gut in das Bisherige ein,“ sagte Meier bedächtig. „Und Lauenburgs Wagen führte also bestimmt eine solche Glühbirne an der Rückwand?“
„Das weiß ich ganz sicher. Ich bin ja selbst zweimal nachts mit Lauenburg von Altstadt zurückgefahren.“
„Schön! Und nun der weitere Verlauf?“
„Ja – wie ich nun erst überhaupt auf des Assessors Person gekommen war, da fielen mir noch andere Beobachtungen ein, die ich in den vorigen Tagen gemacht hatte. Lauenburg war seit dem letzten Dienstag für unseren hiesigen Bekanntenkreis unsicher geworden, kam nicht an den Stammtisch, ließ sich nicht im Kurgarten sehen und als ich am Mittwoch nachmittag ihn besuchen wollte, da fertigte sein alter Drache von Haushälterin mich schon in etwas aufgeregter Weise im Flur ab, während sie mich sonst anstandslos in die Wohnung einließ und ich oft genug lange Zeit auf Lauenburg allein gewartet habe. – Nachdem ich mir das alles hübsch aneinandergereiht hatte, wollte ich dann gestern abend sozusagen die Probe auf mein Exempel machen. Daher habe ich Pollnow gebeten, mit in die ‚Ewige Lampe‘ zu kommen. Meine Beobachtungen sind dort ja, wie Sie schon wissen, nicht uninteressant gewesen. Zunächst erzählte mir einer der am hiesigen Amtsgericht beschäftigten Referendare, daß Lauenburg seit Mittwoch in merkwürdig schlechter Laune, beinahe verstört ist, und dann erfuhr ich auch von ihm selbst, daß er sein Automobil verkaufen, sich nicht an dem Rennen beteiligen will. Kurz, sein ganzes Benehmen bestätigte meinen Verdacht in jeder Weise. Als ich dann Pollnow gestern nacht – es war schon mehr Morgen – nach Hause gebracht hatte, kam mir Ottkens – ich hab’s auch schon erwähnt – nach, und ich wurde ihn nur dadurch los, daß ich einen ihm wohl unbekannten Durchgang beim Dom Polski benutzte. Ich ging darauf zur Post und gab die Depesche an Ihr Institut auf, in der ich um Mitteilung Ihrer Ankunft an mich bat. – Das wäre nun alles,“ setzte Schüler aufatmend hinzu. Befriedigt nahm er sein Glas und trank dem Detektiv zu.
„Prosit!“ tat ihm dieser Bescheid, um dann fortzufahren: „Nicht alles, Herr Schüler! Weisen Sie denn zum Beispiel der heutigen Unterredung mit Fräulein Dita Lauenburg gar keine Wichtigkeit bei?“
Der andere blickte sein Gegenüber unsicher an. „Ja – aufgefallen ist mir in Ditas Benehmen doch einiges. – Aber ich habe es mir nicht zusammenreimen können, was zum Beispiel dieser Wunsch, Pollnow kennen zu lernen, mit Ellen Pollnows Unglücksfall zu tun haben sollte?“
„Da kann ich Ihnen zu Hilfe kommen! Fräulein Lauenburg hat ebenfalls beabsichtigt, Pollnows Stimmung auszuforschen – gerade so, wie ich’s heute abend getan habe.“
Schüler stimmte nicht gleich zu. Er schien sich die Einzelheiten des Vormittags erst nochmals ins Gedächtnis zurückzurufen.
„Na, das wird es wohl gewesen sein,“ – meinte er dann. „Aber der Zweck dieser versuchten Sondierung – wie denken Sie darüber?“
„Vorläufig kann ich nur ganz ungewisse Mutmaßungen aufstellen, trotzdem ich mir auch diesen Punkt von allen Seiten beleuchtet habe. Klar werden wir in dieser Beziehung erst sehen, wenn – ja, wenn wir genau wissen, wo Ellen Pollnow sich befindet.“
„Wie? – Sie glauben also nicht, daß die junge Dame in Lauenburgs Villa ist?“ fragte Schüler erstaunt.
Meier schüttelte den Kopf. „Nein! – Ich nehme niemals etwas als feststehend an, wofür ich nicht ganz bestimmte Beweise habe. Ich vermute es allerdings gleichfalls – aber glauben? – Nein, soweit sind wir noch nicht! Denn für diese Vermutung spricht bisher weiter nichts als das – ungezogene Benehmen von Lauenburgs Wirtin, die Sie scheinbar möglichst bald los sein wollte! Und das genügt mir nicht!“
„Aber wo soll Ellen Pollnow denn sonst sein?“ warf Schüler beinahe ungeduldig ein.
Der Detektiv zuckte die Achseln. „Das werde ich schon noch herauskriegen,“ sagte er mit größter Seelenruhe und nachdenklich setzte er hinzu: „Ja – ich möchte sogar eher annehmen, daß sie sich nicht in des Assessors Villa befindet. Rechnen Sie nach: Der Unfall in der Straußgasse in Altstadt passierte ziemlich genau um halb zehn Uhr abends. – Sie haben das Lauenburgsche Automobil gegen halb elf Uhr gesehen, also eine ganze Stunde später! Und für den Weg von Altstadt nach Stranddorf sollen zwanzig Minuten genügen! Wo ist Lauenburg da in der Zwischenzeit gewesen? – Was hat er in den vierzig Minuten getan, die ihm noch übrigblieben?“
Schüler machte dieser Einwurf doch zweifeln. „Allerdings! Dieser Umstand wirft meine Vermutungen scheinbar um,“ sagte er kleinlaut.
„Aber auch nur scheinbar,“ fügte Meier schnell hinzu. „Denn das eine wie das andere, sowohl das Benehmen der Wirtin als die Zeitdifferenz, sind einfache Tatsachen ohne alle erklärenden Nebenumstände und können daher als Unterlage für eine so wichtige Mutmaßung niemals dienen! Wir müssen uns eben auf andere Weise Gewißheit verschaffen. Und da bin ich mit Ihrem Plane vollständig einverstanden, wenn ich mir auch sage, daß er nicht ganz ungefährlich ist – insofern, als wir uns unser ganzes Spiel damit stören können, wenn – wenn wir eben entdeckt werden.“
„Die einzige Gefahr droht uns von Lauenburgs Terrier ‚Lump‘, der sehr wachsam ist. Aber – der Köter schläft ja nachts immer in seines Herrn Schlafzimmer. Und daß er uns bis draußen wittern sollte, ist kaum anzunehmen.“
„Und der Chauffeur?“ forschte der Detektiv vorsichtig.
„Wohnt als verheirateter Mann nicht im Hause, auch nicht in dem Stallgebäude, in dem das Automobil steht, sondern im Oberdorf in der Bergstraße. Es bleibt also als einzige männliche Person in der Villa ‚Klein aber Mein‘ Fritz Lauenburg allein übrig!“
Meier-Ritterweck hatte seine Uhr gezogen.
„Es sind fünf Minuten nach zehn. Wann meinen Sie, können wir aufbrechen?“
„Lauenburg saß vorhin im Strandhotel zusammen mit Doktor Heinzelt und einigen Referendaren. Es ist schwer zu sagen, wann er nach Hause gehen wird.“
Der Detektiv überlegte kurze Zeit. „Wir haben heute eine ziemlich dunkle Nacht,“ sagte er dann aufblickend. „Der Himmel ist stark bewölkt – sehr günstig für uns! Am besten wird sein, wir sehen uns sofort das Terrain einmal an. Vielleicht“ – fügte er leise hinzu – „ändere ich unseren Plan auch noch ab, und –. Doch dazu muß ich zunächst die Örtlichkeit kennen.“
Er hatte sich erhoben, war an das Gitter des Balkons getreten und schaute eine ganze Weile auf die Straße hinab, wo der Schein einer Bogenlampe beinahe Tageshelle verbreitete.
„Wie die Motten um das Licht spielen! Welche Unzahl von kleinen Faltern dort auf der Glocke hin und her kriechen,“ sagte er hart auflachend und wies auf die Straßenlaterne hin. „Man könnte da so gut Vergleiche mit dem menschlichen Dasein anstellen, nicht wahr?“
Schüler schaute dem neben ihm Stehenden prüfend in das unbewegliche Gesicht.
„Nanu – auch Sie ein – Träumer?“ meinte er erstaunt. „Ich dachte, daß Sie von derartigen Stimmungen verschont bleiben? – Mir kommen sie ja bisweilen – mir, dem – leichtsinnigen – gewissenlosen – ewigen Rechtskandidaten!“ – In seiner Stimme aber zitterte trotz dieser Selbstverhöhnung ein anderer Unterton.
„Sie haben’s ja in Ihrer Macht, Ihr Leben umzugestalten!“ sagte der andere herb. „Tun Sie es doch – was hindert Sie?“
„Niemand!… Oder vielleicht doch dieser letzte Rest von Eitelkeit, der nach dem schönen Titel ‚Referendar‘ lechzt!“ – Dann drehte sich Schüler beinahe schroff um und trat in das Zimmer zurück.
6. Kapitel
Ritterweck folgte Schüler. Aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck wie Mitleid.
„Bitte bedienen Sie sich doch noch,“ sagte er dann, auf die Schale mit Zigarren weisend. „Ich werde nun inzwischen mein Handwerkszeug versuchen.“ – Er trug seinen mittelgroßen, eleganten Reisekoffer an den Tisch, stellte ihn auf einen Stuhl und öffnete ihn. Schüler sah erstaunt zu, wie Meier-Ritterweck dann aus einem länglichen Blechkasten, der mit einem Kunstschloß versehen war, ein dunkles Tuch heraushob, in dem eine ganze Anzahl von bräunierten, sehr sauber gearbeiteten Instrumenten lagen: Meißel, mehrere seltsam geformte Sägen, Nachschlüssel und Zangen; auch einige Stück Draht in verschiedenen Stärken waren dabei.
„Das ist ja das reine Diebeshandwerkszeug,“ sagte er erstaunt und nahm einen länglich geformten Gegenstand heraus, dessen Zweck er sich gar nicht erklären konnte.
„Ein Stahlbohrer,“ erklärte Meier bereitwillig. „Sowohl zum Betriebe mit der Hand eingerichtet, als auch an eine elektrische Leitung schnell anschließbar. Hier werden die Drahtenden eingefügt. – Das ist hier die kleine Dynamomaschine. Mit dem Apparat greifen Sie den härtesten Panzerstahl an wie weiches Blei.“
„Und – benutzen Sie denn die Instrumente bisweilen?“ fragte Schüler noch immer ganz verwundert.
„Gewiß! Wenn auch nicht gerade oft. Aber es gibt doch Fälle, in denen man auch zu den Mitteln greifen muß. Wenn es Sie interessiert, berichte ich Ihnen einmal bei Gelegenheit ein Erlebnis, wobei gerade dieser Bohrer eine Rolle spielte.“
Damit packte Ritterweck die Sachen wieder fort, nachdem er zuvor zwei Drahtstücken und eine feine Säge in die Innentasche seines Jacketts hatte gleiten lassen.
„Wozu?“ wollte Schüler wieder fragen. Aber der Detektiv kam ihm zuvor.
„Ich will mir doch einmal das Lauenburgsche Automobil in der Nähe ansehen. – Und ohne meine Instrumente würde ich wohl kaum in die Remise hineinkommen! – Damit nahm er eine kleine, elektrische Lampe vom Nachttischchen, ließ sie einigemale probeweise aufflammen und schob sie dann ebenfalls in die Tasche.
Schüler hatte bereits Hut und Stock in der Hand und zündete sich gerade eine neue Zigarre an, als Meier ruhig fragte:
„Nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich Sie jetzt bitte, Ihren Spazierstock hierzulassen. Ebenso entfernen Sie auch aus Ihrer Tasche, besonders den Westentaschen, die Gegenstände, die leicht herausfallen können, Bleistift, Nagelbürste usw. – Am besten auch Schlüsselbund und Geldbeutel, falls Sie eben nicht im Westenfutter eine Geldtasche zum Zuknöpfen haben. Man kommt bei einem derartigen Unternehmen, wie wir es vorhaben, nur zu oft in die Lage, in höchster Eile über Zäune klettern zu müssen, kann auch genötigt sein, längere Zeit am Boden hinzukriechen; dabei verliert man sehr leicht irgendwo eine Kleinigkeit, die etwaigen Verfolgern über unsere Person Aufschluß geben könnte. Ich gebe ja zu, daß diese Vorsicht gerade für heute etwas übertrieben sein mag – aber – ich habe mich einmal daran gewöhnt, bei meinem Beruf auch das noch so belanglos Scheinende zu beachten.“
„Oh, ich verstehe es vollkommen, Herr Meier,“ pflichtete ihm der andere bei. „Ich werde den Inhalt meiner Taschen in die Geldtasche in der Weste einknöpfen… So! – Und meinen Stock kann ich mir ja morgen abholen. Dann können wir wohl gehen! Außerdem besten Dank für die liebenswürdige Bewirtung, Herr Doktor!“
„Sie sollen doch nicht ‚Doktor‘ sagen,“ meinte der Detektiv in komischer Verzweiflung. „Hier bleibe ich – der Bankbeamte Alfred Meier!“
Sie stiegen die breite Hoteltreppe hinab.
„Daß Sie sich aber auch gerade diesen Sammelnamen aussuchen mußten,“ sagte Schüler lächelnd.
„Bitte – etwas leiser!“ raunte Ritterweck ihm schnell zu. „Wie leicht hätte jemand Sie hören können!“
Der lange Rechtskandidat senkte beschämt das Haupt.
„Ich glaube, ich eigne mich doch nicht zu diesem Beruf, bei dem man jederzeit so sehr jedes Wort, jeden Blick prüfen muß, ob man damit auch nicht anderen etwas verrät. – Ich bin wohl zu impulsiv veranlagt – leider!“
„Ist Ihnen denn diese ständige Selbstbetrachtung trotz Ihres Temperaments, wirklich etwas so unbekanntes,“ meinte Ritterweck in etwas ironischem Tone. Sie waren gerade aus dem Portal des Hotels auf die Straße hinausgetreten.
„Ich meine,“ fuhr der Detektiv fort, „unser Gesellschaftsleben zwingt jeden, aber auch jeden dazu, mit einer Maske vor dem Gesicht herumzulaufen. Wer heute ehrlich geradezu ist, wird in den meisten Kreisen für einen – na sagen wir Bauer ohne jedes Benehmen angesehen und auch danach behandelt. Es ist, als ob die sogenannten Gebildeten eine Genossenschaft auf gegenseitiges Betrügen gegründet haben! Und wer da nicht Mitglied mit einer Stammeinlage in Höhe desselben kühlen Reserviertheit wird, kann getrost eine ganze Treppe tiefer steigen, wo er dann zu dem sogenannten guten Bürgerstand kommt. Eine Etage höher wird er nicht mehr gelitten.“
Schüler lachte jetzt sein etwas meckerndes Lachen, das aber so wohltuend ehrlich klang.
„Geben Sie mir die Hand, Meierchen,“ rief er, ganz einem augenblicklichen Gefühl nachgebend. „Sie sind mein Mann! Ich denke über die Geschichte ganz genau wie Sie, ganz genau! Und wenn –“
Aber der Detektiv unterbrach ihn hier.
„Sie sagten doch vorhin, daß Lauenburg im Strandhotel sitzt. Wollen Sie nicht noch einmal schnell durch das Lokal gehen, um festzustellen, ob er noch da ist. Für uns dürfte dies doch sehr wertvoll sein.“
Sie waren vor dem hellerleuchteten, weißgestrichenen Prachtbau stehen geblieben. Auf der sich vor dem Gebäude hinziehenden, überdeckten Veranda war auch nicht ein Plätzchen mehr zu haben. Auf den Tischen brannten die elektrischen Lampen mit den buntfarbigen Glocken, aus dem Saale tönte verschwommen die einschmeichelnden Melodien aus der Operette ‚Ein Walzertraum‘ herüber und mischte sich in das summende Geräusch der heiter plaudernden Badegäste. –
Es war, als ob der sorglose Frohsinn, die heitere Lebensfreude, die dieses Nachtbild widerzuspiegeln schien, sich auf Ritterweck übertragen wollte. Leise pfiff er jetzt, wartend einige Schritte auf und ab gehend, die Walzertakte mit. Und er fuhr beinahe erschreckt zusammen, als ein kleiner Junge ihn plötzlich ansprach.
„Herr – das soll ich Ihnen geben,“ sagte der Junge hastig und steckte ein Briefchen in des Detektivs zögernde Hand. Und ehe dieser noch etwas fragen konnte, war der Bote schon um die Ecke in der Nordstraße verschwunden.
Dieser kleine Vorfall aber hatte Meiers Lebensgeister schnell wachgerüttelt. Blitzschnell eilten seine Gedanken… Und dann begann er wieder seine Promenade, riß langsam den Umschlag auf und schien nur noch Interesse für das blaugraue Briefchen zu haben. – Schien – denn in Wirklichkeit musterte er scharf seine Umgebung, suchte nach irgend einer Person, die ihn wohl jetzt beobachten würde. Und diese Person mußte eine – Dame sein, das hatte sich Meier auch sofort gesagt, als der das zierliche Format und die Farbe des Briefes sah und seine geübten Fingerspitzen die etwas rauhe Oberfläche des Umschlags prüfend befühlten. „Feinstes Büttenpapier,“ hatte er taxiert. Und dann war ihm noch ein ferner, kaum merklicher Duft von Parfüm in die Nase gekommen. –
Da hatte der Detektiv nur gelächelt. Er wußte eben Bescheid. – Und jetzt suchten seine Augen die Absenderin dieser geheimnisvollen Botschaft, die doch sicherlich irgendwo in der Nähe war, um zu sehen, ob der Junge auch den Auftrage richtig ausführte, vielleicht auch um weiter festzustellen, was der Empfänger nach Einsicht des Inhalts des graublauen Umschlags tun würde.
Meiers Augen wanderten unablässig hin und her. Da, gerade in demselben Augenblick, als der lange Rechtskandidat wieder zu ihm trat, hatte er an einen einem der Schaufenster auf der anderen Straßenseite halb verborgen hinter einer Plakatsäule eine Dame entdeckt, die jetzt anscheinend mit großem Interesse die dort ausgestellten Waren musterte, soeben aber noch verstohlen zu ihm hingesehen hatte.
Der Detektiv ließ das Briefchen unauffällig in die Tasche gleiten und wandte sich dann an Schüler.
„Nun, war Lauenburg noch dort,“ fragte er, ohne die Dame aus den Augen zu lassen.
„Nein! Er soll vor kaum fünf Minuten fortgegangen sein. Aber Pollnow und Ottkens sitzen am Stammtisch. Die wollten mich durchaus dabehalten.“
Sie waren inzwischen weitergegangen, und Meier schritt jetzt quer über die Straße der Plakatsäule zu. Da verließ die Dame ihren Beobachtungsposten und kam den beiden entgegen. Der Detektiv hätte jetzt bereits das Mitgrüßen vergessen, als Schüler plötzlich den Hut zog und dem sehr elegant gekleideten jungen Mädchen im Vorübergehen freundlich zurief:
„N’ Abend – Dita!“
„Wer war denn das?“ fragte Ritterweck hastig.
„Das – war Lauenburgs Schwester,“ lachte Schüler.
„Pardon – ich wollte natürlich sagen: Wer war denn die junge Dame? – Verzeihen Sie die…“
„Nun hören Sie aber auf, Bester,“ rief der ‚ewige Rechtskandidat‘ und schob seine Arm vertraulich in den seines Begleiters. „Auf derlei Kleinigkeiten gebe ich wirklich nichts, – besonders nicht bei Ihnen, da ich eben weiß, daß Ihre Nonchalance keine versteckte Absicht enthält.“
Der Detektiv blieb jetzt anscheinend ohne Grund plötzlich an der Ecke stehen und drehte sich so, daß er die Straße wieder hinaufsehen konnte. „Dieses Auftauchen von Fräulein Lauenburg hier paßt mir eigentlich recht wenig,“ meinte er nachdenklich. „Mir wäre es lieber gewesen, wenn die Einwohner der Villa ‚Klein aber Mein‘ sämtlich schon zu Hause gewesen wären. Denn jetzt müssen wir abwarten, bis –“
„Dita geht sicher sehr bald heim,“ fiel Schüler ihm ins Wort. „Es ist ja schon zehn Uhr durch – also für eine junge Dame selbst in einem Badeort nicht mehr recht passend, sich allein auf der Straße zu zeigen.“
Meier nickte nur zerstreut. Dann zog er den Brief aus der Tasche.
„Entschuldigen Sie bitte einen Moment – ich muß nur schnell einige Zeilen überfliegen, die ich schon – längere Zeit bei mir trage und an die ich erst jetzt gedacht habe.
Da an der Straßenkreuzung eine große Bogenlampe hing, las Ritterweck ohne Anstrengung die offenbar mit verstellter Handschrift eilig hingeworfenen Worte. In seinem Gesicht zuckte dabei keine Miene. Gleichgültig faltete er den Brief wieder zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und – knöpfte ihn trotzdem sehr sorgfältig in die Innentasche der Weste ein. Dann schaute er wie zufällig die Seestraße entlang und ließ seinen Blick nur einen Augenblick auf derselben Plakatsäule ruhen, die Dita Lauenburg vorhin als Deckung benutzt hatte.
„Doktor Ottkens wird mit seinem Spionieren nicht viel Glück haben,“ sagte er spöttisch. „Kommen Sie, wir wollen weiter gehen!“
„Was meinen Sie,“ fragte Schüler erstaunt. „Ottkens – spionieren?“
„Er schleicht hinter uns her,“ lachte Ritterweck. „Wird ihm aber nicht viel nützten! Ich denke, wir schütteln ihn an derselben Stelle ab, wo Sie ihn gestern nacht schon einmal – verfehlt haben. – Bitte, drehen Sie sich nicht um,“ fügte er schnell hinzu. „Sie können es mir schon glauben – er ist hinter uns!“
„Donnerwetter, müssen Sie aber Augen haben,“ sagte Schüler anerkennend. Sie bogen gerade in den Südpark ein.
„Im Gegenteil, meine Augen sind gar nicht so berühmt. Aber was Ihnen an Sehschärfe abgeht, ersetze ich durch Kombinieren. Ich habe mir gleich gedacht, als Sie mir erzählten, daß Ottkens und Pollnow im Strandhotel säßen, ob nicht der Referendar versuchen würde, Ihnen heimlich zu folgen. Denn Ihre Weigerung, am Stammtisch Platz zu nehmen, hat ihn sicher wieder argwöhnisch gemacht. Und – leider wird wohl etwas von diesem Mißtrauen gegen Sie auch auf Pollnow abfärben!“
„Aber ich bitte Sie, bester Herr Meier, ich habe doch heute vormittag bei Pollnow alle Zweifel derart zerstreut, daß es doch –“
„Ja, daß es doch – besonders bei seiner geringen Selbständigkeit im Denken – immer noch möglich ist, ihn wieder entgegengesetzt zu beeinflussen!“
Schüler lachte ärgerlich auf. „Wenn er nicht zu kurieren ist, mag er meinetwegen auch…“ Er brach mitten im Satz ab. „Hören Sie mal,“ sagte er schnell, „mir fällt da eben etwas ein: Jetzt sieht uns ja Ottkens zusammen! Wird er daraus nicht falsche Schlüsse ziehen?“
„Wenn er nicht zu kurieren ist, mag er meinetwegen etc.,“ meinte Ritterweck ganz vergnügt, die Worte Schülers wiederholend. „Aber jetzt führen Sie uns, bitte, den Weg, der uns am schnellsten von unserem Herrn Verfolger trennt.“
Sie waren inzwischen bis man das Ostende des Süd-Parkes gekommen. Schüler bog plötzlich vom Wege ab und bahnte sich zwischen den hier ziemlich dicht angepflanzten Büschen einen Weg auf einige niedrige Villen zu.
„Das ist die polnische Kolonie da vor uns,“ flüsterte er dem Detektiv zu. „Der Durchgang durch die Höfe nach der Südstraße ist für einen Uneingeweihten gar nicht zu finden, besonders jetzt in der Dunkelheit.“
Dann eilten sie zwischen den Häusern dahin, öffneten mehrere Gartenpforten, kamen dicht an einer hellerleuchteten Laube vorüber und standen dann in der Südstraße gegenüber der Westfront des Hotels Schelling.
Meier schaute sich aufmerksam um. „Den Weg muß ich mir merken,“ sagte er lachend. „Eine schönere Versetzanstalt gibt es ja kaum! Aber nun – vorwärts nach der Nordstraße. Ich habe für diese Nacht noch viel vor. Und die Villa ‚Klein aber Mein‘ und ihre Geheimnisse locken mich jetzt mehr wie zuvor!“
7. Kapitel
Sie schlenderten darauf die Nordstraße entlang, langsam, beide in Gedanken. Je näher sie aber ihrem Ziele kamen, desto unbehaglicher wurde Schüler zu Mute. Er wollte es sich nicht eingestehen – und doch empfand er etwas wie Furcht, merkte auch, daß sein Herz schneller zu schlagen begann. Ritterweck dagegen summte leise einige Töne vor sich hin. Er schien an das Bevorstehenden gar nicht zu denken.
Die Straße wurde immer einsamer, je weiter sie sich aus dem Zentrum des Badeortes entfernten. Nur wenige Menschen schritten vorüber, einmal auch eine größere Gesellschaft, die ziemlich animiert zu sein schien, mehrere Damen darunter, die hinter sich eine Dunstwolke von süßlichem Heliotrop zurückließen. Da blies Ritterweck nun angewidert die Luft von sich, wehte sie auch mit der Hand weg. Aber er sprach kein Wort. Jetzt sang er wieder leise vor sich hin, erst undeutlich, dann verstand Schüler die einzelnen Worte:
„Leise, ganz leise klingt’s durch den Raum,
liebliche Weise, Walzertraum…“
Den langen Rechtskandidaten machte das ganz nervös. Er schüttelte sich erst bescheiden, dann aber sagte er mit leisem Vorwurf in der Stimme: „Daß Sie noch singen können!“
„Warum nicht? Passieren kann mir doch bei dieser Streife nichts! Oder – haben Sie etwa – Angst?“
Schüler schwieg verlegen. Dann meinte er zögernd: „Nein – Angst ist das nicht. Aber ich fühle in meinen Nerven so ein merkwürdiges Kribbeln. – Na, Sie kennen ja das Gefühl vor einer Mensur – so ähnlich ist’s!“
Meier lachte gutmütig vor sich hin. – „Daran gewöhnt man sich. – Und – das da vor uns dürfte doch wohl Fräulein Lauenburg sein?“
Schüler sah erst jetzt eine dunkle Gestalt, die ungefähr achtzig Schritte vor ihnen herging und gerade den hellen Fleck unter einer Laterne passierte.
„Scheint so –, ja, gewiß, das ist Dita. Sie geht nach Hause,“ bestätigte er.
Ritterweck war plötzlich stehen geblieben. – „Ich bin doch noch ein Anfänger,“ sagte er ärgerlich wie zu sich selbst. „Daß mir der Gedanke nicht früher gekommen ist! – Eine Frage, Herr Schüler. – Wissen Sie bestimmt, daß Assessor Lauenburg noch in seiner Villa wohnt?“
Der andere schaute ihn verdutzt an. „Natürlich wohnt er noch da! – Wo denn sonst?“
„So natürlich ist das gar nicht,“ meinte der Detektiv bedeutungsvoll. „Oder aber Sie halten Lauenburg für einen Menschen, dem es völlig gleichgültig ist, ob er eine von ihm zu Schaden gefahrene junge Dame noch aufs schwerste kompromittiert, indem er sie eben in seiner Villa verbirgt und trotzdem noch dort bleibt.“
Jetzt erst verstand Schüler den Detektiv. „So meinen Sie das! – Ja – hm“ – Er hatte den Hut ins Genick geschoben und fuhr sich jetzt mit der Hand über die Stirn, als ob er seine Gedanken sammeln wollte. „Nein, wissen Sie, Herr Meier,“ sagte er dann bestimmt, „das traue ich Fritz Lauenburg doch nicht zu. Allerdings hm – ja.“
„Sprechen Sie nur weiter! Ihnen kommen jetzt wahrscheinlich dieselben Bedenken, wie mir,“ forderte Ritterweck auf.
Schüler zog mit einem Ruck den Hut wieder ins Gesicht. „Ich meine, wenn Lauenburg wirklich noch in seiner Villa wohnt, dann kann Ellen Pollnow sich dort nicht befinden, und dann – sind alle unsere schönen Pläne zu Wasser geworden.“
„Bravo, Verehrtester, bravo! – Mein Kompliment! – Sehen Sie, genau derselbe Gedanke schoß mir durch den Kopf, als ich jetzt stehen blieb. Doch Ihre Befürchtungen, die Sie eben an diese neue Möglichkeit knüpfen, gehen viel zu weit. Wir haben ja immer damit gerechnet, daß unser schönes Geschmeide von geistreichen Kombinationen einige Simili-Brillanten enthalten könnte! – Jetzt heißt es eben nur noch schneller handeln! – ‚Klein aber Mein‘ wird uns noch heute nacht Aufschluß darüber geben, ob wir wirklich so sehr – vorbeigedacht haben! – Kommen Sie! Fräulein Lauenburg hat inzwischen auch die nötige Entfernung zwischen sich und uns gelegt, wird wohl bereits daheim sein, so daß wir mit der notwendigen Besichtigung der Örtlichkeit beginnen können. Wollen Sie mir nur, bitte, noch schnell eine kurze Beschreibung der Lage, Bauart und Umgebung des Lauenburgschen Hauses geben, damit ich mich hernach leichter orientieren kann.“
Sie gingen langsam weiter und Schüler gab dabei die gewünschte Schilderung.
„Die Villa ist, wie ich Ihnen schon gestern sagte, die letzte der Nordstraße, steht ziemlich weit zurück, mitten in einem großen Garten, der bis dicht an das unbebaute Terrain zwischen Oberdorf und Nordstraße reicht. In das Hochparterre, bestehend aus drei Zimmern und Küche, gelangt man über eine breite Treppe, die auf eine offene Veranda mündet. Zwei dieser Räume benutzte Lauenburg bisher, einen als Arbeits-, den anderen als Schlafzimmer. Der dritte, ziemlich klein, ist als Fremdenzimmer eingerichtet und hat mich schon oft genug beherbergt, besonders im Winter nach den berüchtigten Lauenburgschen Herrenabenden, an denen es früher sehr hoch herging. Im letzten Jahre ist das leider anders geworden, weil Fritz sich von der großen Gesellschaft fast ganz zurückgezogen hat und nur dem Sport und der Kunst – Jagd, Segeln, Töff-Töff, Malen – Singen lebt. Er treibt ja eben alles! – Doch ich bin abgekommen. In der ersten und einzigen Etage wohnt die Haushälterin, Frau Helene Kamutschke, ein Original, das Lauenburg sich aus seiner Studentenzeit in Berlin mitgebracht hat. Die brave Kamutschke soll dort früher Garderobiere an irgend einem Theater gewesen sein. Wie Lauenburg zu ihr gekommen ist? Er soll bei ihr gewohnt und ihr für treue Pflege bei einer schweren Krankheit aus Dank diesen Ruheposten angeboten haben. Jedenfalls hat die Kamutschke sich langsam zum Haustyrannen ausgebildet und –“
„Bewohnt sie denn alle Zimmer der ersten Etage?“ fragte der Detektiv trocken, indem der so dem andern das Wort abschnitt.
„Nein – nur das eine Hinterzimmer; die beiden großen, nach Westen, nach der Straße zu gelegenen Räume hat Lauenburg vereinigt und als Atelier eingerichtet. Dort steht auch der Blüthner-Flügel. Das reine Raritätenkabinett ist die Bude, aber riesig geschmackvoll eingerichtet – Gobelins, echte Pariser, alte Waffen – er hat’s ja dazu! – Ja, und das zweite Hinterzimmer ist ebenfalls für etwaige Gäste bestimmt, hat einen kleinen Balkon und wird wahrscheinlich jetzt wieder von Dita bewohnt…“
„…oder von Ellen Pollnow, was ebenso wahrscheinlich ist,“ unterbrach ihn der Detektiv, um schnell fortzufahren: „Also einen Balkon hat dieses Zimmer. Das interessiert mich. Ob man da wohl ungesehen hinaufkäme?“
„Wie? – Sie wollen doch nicht etwa –?“
„Natürlich will ich,“ sagte Ritterweck lachend. „Nur müssen Sie mir sagen, ob im Garten eine Leiter oder sonst was ähnliches zu finden ist.“
Schüler besann sich. „Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Allerdings – mir ist es so, als ob ich mal an der Wand des Stallgebäudes so ein Ding gesehen habe. – Aber bestimmt vermag ich das nicht zu behaupten.“
Sie waren jetzt bis dicht an den Garten der Lauenburgschen Villa gelangt.
„Da – das ist ‚Klein aber Mein‘,“ sagte der lange Rechtskandidat mit gedämpfter Stimme. „Und sehen Sie – oben in Lauenburgs Atelier brennt Licht.“ – Sie waren stehen geblieben. Ritterweck schaute lange prüfend zu dem Hause hinüber. Plötzlich drückte er hastig Schülers Arm. „Da – der Schatten auf dem Fenstervorhang – ein Mann –“
„Zweifellos Fritz selbst!“ flüsterte der andere zurück, den das Ungewöhnliche der Lage seltsam erregte. Dann schwiegen sie wieder. Und des Detektivs Augen suchten jetzt die Wege des Gartens ab, die sich aus der Dunkelheit wie graue Streifen abhoben. Aber nichts regte sich zwischen den Sträuchern und den hohen Kastanienbäumen, die sich als schmale Allee bis zu dem im Hintergrund nur noch verschwommenen sichtbaren Stallgebäude hinzogen.
„Kommen Sie,“ sagte da Ritterweck. – „Ich muß endlich Klarheit haben, koste es, was es wolle!“
Seine Stimme klang hart, energisch. Und ohne sich viel um seinen Begleiter zu kümmern, schritt er schnell dicht an dem Gartenzaun entlang und bog erst links ab, nachdem sie das Lauenburgsche Grundstück gut einige hundert Schritte hinter sich hatten. Schüler war wortlos neben ihm geblieben. Jetzt aber konnte er doch nicht länger an sich halten.
„Was beabsichtigen Sie nun eigentlich, Herr Meier?“ fragte er fast ungeduldig.
„Sie allein zu lassen!“ antwortete der Detektiv wieder mit diesem feinen Spott in der Stimme.
„Mich allein zu lassen? Also wollen Sie wirklich den Versuch machen…?“
„Ja!“, unterbrach ihn Ritterweck sehr ernst – „Und weil Sie als Neuling mir bei diesem Versuch nur schaden könnten, so muß ich eben auf Ihre weitere Begleitung verzichten… Sie dürfen mir das nicht verargen, Herr Schüler,“ setzte er freundlich hinzu. „Aber von dem Erfolge dieser Nacht hängt zuviel ab. Ich muß wissen, wo Ellen Pollnow sich befindet!“
„…Verargen? Aber ich bitte Sie! Ich sehe vollkommen ein, daß ich hier überflüssig bin… Ja … hm…“ – Schüler hätte sich beinahe verplappert. Denn was er noch hinzufügen wollte, wäre – ein Geständnis seiner auf Furcht gegründeten Abneigung gegen diesen nächtlichen Ausflug gewesen. Aber er hielt noch inne. Und nur das verlegene Räuspern ließ das Richtige ahnen.
„Erwarten Sie mich also bitte in einem der Restaurants,“ sagte der Detektiv jetzt, seinem Begleiter die Hand zum Abschied hinstreckend. „Und am besten, wir wählen dasjenige, welches am längsten geöffnet ist. Denn es können vielleicht Stunden vergehen bis ich zurückkehre –“
„Da wäre ‚Rheingold‘, an der Ecke Nord- und Seestraße, am geeignetsten!“
„Einverstanden! Also dann – auf Wiedersehen! – Noch eins! Gehen Sie doch die Strandpromenade zurück – auf alle Fälle! Und falls Sie Pollnow und Ottkens treffen sollten, dann sagen Sie, daß ich noch nach Altstadt gefahren bin.“ Sie schüttelten sich nochmals die Hände. Dann gingen sie nach entgegengesetzter Richtung auseinander.
Als Schüler, nachdem er den Sportplatz überschritten hatte, auf die Strandpromenade kam, die sich dicht an der See hinzog, blieb er stehen und drehte sich um. Von dem Detektiv war nichts mehr zu sehen. Der lange Rechtskandidat holte tief, wie befreit, Atem, zog sein Etui hervor und zündete sich mit Wohlbehagen eine Zigarette an. Und im Weitergehen versuchte er die Walzertakte nachzupfeifen, die er vorher von Ritterweck gehört hatte und deren einschmeichelnde Melodie ihm noch im Ohr lag.
„Leise, ganz leise … klingt’s durch den Raum…“
Der Detektiv hatte sich inzwischen vorsichtig an den hinteren Teil des Gartens herangeschlichen und stand jetzt zwischen zwei überhängenden Sträuchern halbverborgen da, ohne sich zu rühren. Die Arme stützte er bequem auf den Zaun, und, während seine Blicke jetzt spähend umherstreiften und er in die Dunkelheit hinaushorchte, mußte er unwillkürlich lächeln… Wie bereitwillig nur der lange Rechtskandidat auf jede weitere Teilnahme verzichtet hatte! Und er war doch zuerst von dem Plan so begeistert gewesen, wollte auf jeden Fall mitmachen! Ja – es ist doch nicht jedermanns Sache, wie ein Dieb in der Nacht umherzuschleichen… Nerven gehören eben dazu, die die Gewohnheit abgestumpft hat! – Und Ritterweck nickte jetzt ganz zufrieden vor sich hin, daß er seinen Verbündeten auf so einfache Art los geworden war.
Einige Grillen zirpten mit einer störenden Ausdauer gerade vor ihm im Gras. Und auf dem Nebengrundstück begann dazu noch ein kleiner Köter heiser zu kläffen. – Er wandte jetzt vorsichtig den Kopf und schaute nach links zu der Villa hinüber, aus deren dunkler Rückfront sich zwei Fenster in dem ersten Stock durch schmale Lichtstreifen abhoben, die durch die nicht völlig schließenden Vorhänge drangen. Schüler hatte doch von einem Fremdenzimmer in dem ersten Stock gesprochen, und dabei hatte er – Ritterweck – doch eine Bemerkung gemacht. – Darauf besann der Detektiv sich jetzt. Und nachdenklich blieben seine Blicke auf diesen Fenstern haften. Was mochte dahinter vorgehen? Ob dort vielleicht das Mädchen verborgen gehalten wurde, das er suchen sollte –? Er hätte beinahe aufgeseuftzt. Denn je mehr er sich jetzt der Entscheidung näherte, desto deutlicher zeigten sich ihm auch all die Schwierigkeiten, die noch zu überwinden waren – besonders wo man mit der Unversöhnlichkeit Pollnows rechnen mußte.
Wohl fünf Minuten vergingen so. Ritterweck hatte die ganze Zeit fast bewegungslos dagestanden. Da blickte er plötzlich prüfend zu dem leicht bewölkten Himmel empor. Gerade zog ein dunkler Wolkenfetzen langsam über die leuchtende Mondscheibe dahin. Diesen Augenblick benutzte der Detektiv. Geschickt überkletterte er den Zaun, schlich dann weiter, sich stets im Schutz der Sträucher haltend, bis ihn die dichte Finsternis im Schatten der Kastanienallee aufnahm. Hier drückte er sich eng an einen Baum und horchte wieder in die Nacht hinaus. Nichts regte sich. – Das Gebell des Hundes war auch verstummt. – Und nun glitt er blitzschnell von Stamm zu Stamm auf die Villa zu. Er machte nicht eher halt, bis er unter den beiden erleuchteten Fenstern stand und die Bauart des Hauses, besonders der Anlage des Balkons, genau übersehen konnte. Nur wenige Sekunden dauerte dieses Orientieren, dann verschwand er hinter einer hohen Kastanie, die allein inmitten einer Anpflanzung von Schlehdornsträuchern dicht am Hause emporragte. Nur ein leises Scharren, das Rauschen der Blätter und ein kaum merkliches Zittern in den Zweigen der Kastanie zeigte den Weg an, den der Detektiv genommen. Jetzt hockte er auf einem der äußersten Äste und spähte unausgesetzt zu den Fenstern hinüber. Aber – er sah nichts, nichts. Die Spalten in den Vorhängen waren zu eng, um auch nur den kleinsten Blick in das Innere des Zimmers zu gestatten. –
Und wieder das leise Scharren, ein Rutschen – und dann huschte Ritterweck wie ein Spuk denselben Weg die Allee zurück, bis er vor der breiten zweiflügeligen Tür des Stalles stand. Schüler hatte sich nicht getäuscht! Da hing an der Wand eine leichte, sauber gearbeitete Leiter.
Ohne Zögern hob der Detektiv sie von den Stützen herab, schulterte sie auf und schlich wieder dem Hause zu. –
Dann wartete er, bis die nächsten größeren Wolken das Mondlicht absperrten. Mit wenigen Schritten war er dicht an der Hauswand, drückte sich hier möglichst in die Blätter des üppig wuchernden wilden Weines und lehnte dann die Leiter gegen die steinerne Balkonbrüstung. – Vorsichtig stieg er nun höher und höher. –
Jetzt schwang er sich auf den Balkon, kniete aber sofort nieder und verharrte eine ganze Zeit vollkommen bewegungslos.
In dem Zimmer wurde gesprochen. – Er unterschied deutlich zwei helle Stimmen; Frauenstimmen schienen es zu sein. Da kroch er näher an die Tür heran, die er von unten für das Fenster gehalten hatte, richtete sich langsam auf und brachte sein Auge an den Spalt, den die dichten Portieren freiließen. Und was Ritterweck dort sah, lockte ihm ein triumphierendes Lächeln in sein Gesicht. Dann drückte er vorsichtig das eine Ohr gegen die Tür und schloß die Augen, um schärfer lauschen zu können. Wenn er auch nicht alles verstand und einzelne Worte ihm entgingen, so konnte er diese doch leicht ergänzen, besonders, da er die Antworten der einen Stimme, die trotz des weichen Tones sehr energisch klang, stets ganz deutlich hörte.
So vergingen vielleicht zehn Minuten. Dem Detektiv schmerzten bereits die Knie, trotzdem er sich jetzt auch noch mit den Händen auf dem Zementboden des Balkons aufgestützt hatte. Dann richtete er sich endlich auf.
Aufmerksam schaute er erst zu der Nachbarvilla hinüber, spähte und lauschte in den Garten hinab. Schon wollte er über die Brüstung auf die Leiter steigen, als ihn ein anderer Gedanke noch festhielt. Er bückte sich wieder, zog vorsichtig den Brief, der ihm vorhin auf der Seestraße so geheimnisvoll übergeben war, aus der Tasche, riß ein leeres Stück davon ab, kritzelte schnell mit Bleistift einige Worte darauf, und steckte den Zettel behutsam in die Türspalte, wo er unbedingt gefunden werden mußte. Dann erst trat er den Rückweg an, gelangte auch ungesehen wieder bis zum Stallgebäude und hing hier die Leiter auf die Stützen. Hierauf reinigte er sie mit großer Sorgfalt mit seinem Taschentuch von den Sandspuren, die sowohl an den Sprossen, wie an den beiden Enden, die sich ziemlich tief in den Kies eingebohrt hatten, haften geblieben waren. Hiermit noch nicht zufrieden, eilte er nochmals zur Villa zurück und verwischte nach Möglichkeit die Eindrücke der Leiter und seiner Tritte, indem er ohne Rücksicht auf seine wohlgepflegten Hände diese als Harke benutzte.
Als Ritterweck dann wieder vor der Tür des Stallgebäudes stand, atmete er auf. Der schwierigere Teil seines Unternehmens war ihm vollkommen geglückt – sogar über Erwarten gut. Und mit den Erfolgen konnte er erst recht zufrieden sein. Jetzt überlegte er. Hatte es eigentlich noch einen Zweck, daß er sich auch das Automobil ansah, wie er’s ja zuerst beabsichtigt hatte? Konnte er selbst durch die genaueste Durchsuchung des Kraftwagens noch mehr erfahren, als er schon wußte? – Wohl kaum! – Aber der Detektiv war nicht der Mensch, dem eine halbe Arbeit Freude machte. So zog er dann zunächst seine Uhr und las von dem phosphoreszierenden Zifferblatt bequem die Zeit ab. Halb zwölf! Lange konnte der Assessor also kaum noch in der Villa bleiben. Denn daß er noch dort war, nahm Ritterweck bestimmt an, da er sein Fortgehen an dem Klappen der Haustür oder dem Klirren der eisernen Gitterpforte hätte bemerken müssen. Er wollte noch feststellen, wo Lauenburg eigentlich jetzt sein zweites Heim aufgeschlagen hatte. Und kurz entschlossen kletterte er daher über den Zaun und gelangte in großem Bogen wieder auf die Nordstraße, wo er sich der Villa gegenüber auf der anderen Straßenseite hinter den Anpflanzungen der Tennisplätze verbarg. Hier wartete er geduldig darauf, daß das Licht in des Assessors Atelier erlöschen sollte. Aber er wartete vergeblich.
8. Kapitel
In der Seestraße in Stranddorf bewegte sich am Sonntagmorgen ein ununterbrochener Menschenstrom dem Oberdorf zu, wo vor dem Elektrizitätswerk auf der Straße der Start zu dem Motorradrennen, der zweiten größeren Veranstaltung der Sportwoche, stattfinden sollte. Soeben begannen die feierlichen Klänge der Glocken der Erlöserkirche ihre dröhnenden Töne über das Villenmeer hinauszusenden, drangen auch durch die weit offenen Fenster in Dr. Ottkens weinumrankte Veranda hinein, wo vor dem gedeckten Kaffeetisch die beiden Freunde saßen – schweigsam, ernst. Ein einzelner Sonnenstrahl verirrte sich durch das lichte Blätterdach und malte auf der goldgelben Butter einen länglichen hellen Fleck. Sie sahen’s nicht. Da schlug die Wanduhr in des Referendars Zimmer einhalb zehn. –
Pollnow leerte seine Tasse, schob sie dann von sich, und griff nach der Samstagsausgabe der Altstädter Zeitung. Noch einmal überflog er die kurze Notiz, die mit so vielen anderen Bedenken ihn veranlaßt hatten, den Detektiv herzubitten.
„Vielleicht kann Ritterweck uns Auskunft geben, wer diese infame Geschichte in die Zeitung gebracht hat,“ sagte er erregt.
Ottkens zuckte nur mitleidig lächelnd die Achseln.
„Der?“ – Und dann fuhr er fast ärgerlich fort: „Hoffentlich bleibt es bei unserer Abmachung, Erich! Du muß diesem Herrn Meier mit rücksichtsloser Offenheit kommen! Nur keine überflüssigen Worte! Sag ihm klipp und klar, was wir von ihm halten! – Mag er sich dann entschuldigen! Der gute Herr muß uns doch sehr, sehr harmlos nehmen, daß er uns das alles zu bieten wagt!“
In der Tür der Veranda war ein altes Weiblein erschienen, das mit den kurzsichtigen Augen im runzligen und doch freundlichen Gesicht jetzt Ottkens zu erkennen suchte.
„Herr Doktor,“ sagte sie mit ihrer zitternden, hohen Stimme, von der man jeden Augenblick befürchtete, daß sie überschnappen könnte, „ein Herr Meier ist draußen…“
„Wir lassen bitten, Frau Schulz!“ schrie Ottkens dem auch etwas schwerhörigen Weiblein zu, die hier im Hause sozusagen das Gnadenbrot aß.
„Scheen, – Herr Doktor!“
Die Alte verschwand. In Pollnows Gesicht war deutlich ein verlegener Zug getreten. Er scheute sich vor der folgenden Aussprache. Dafür setzte der kleine Referendar aber eine desto abweisendere Miene auf.
Die Begrüßung fiel von seiten der beiden Freunde sehr frostig aus. Ritterweck schien nichts zu bemerken. Schien! – Er sah heute wie aus einem neuesten Modejournal geschnitten aus, hatte einen hellgrauen Flanellanzug an, dazu trug er einen roten Schlips auf blauen Oberhemd und braune, hohe Knöpfstiefel. Und Ottkens prüfender Blick stellte neidisch fest, daß die frischgebügelten Beinkleider geradezu tadellos saßen.
„Ich denke, wir gehen in das Arbeitszimmer,“ begann Pollnow stockend, nur um etwas zu sagen.
Um Ritterwecks Mundwinkel begann es zu zucken. Diese schwüle Gewitterstimmung hier an diesem herrlichen Sonntagsmorgen konnte ihm die gute Laune nicht verderben. Außerdem – er ahnte ja, was kommen würde, und fühlte sich trotzdem sehr sicher. Eines aber nahm auch er sich jetzt vor: Mit dem Referendar, der eben mit so deutlicher Absicht seine Hand übersehen hatte, wollte er heute ordentlich abrechnen. Doch gleichmütig wie immer entgegnete er jetzt:
„Aber warum denn, Herr Pollnow? Hier, beinahe im Grünen, plaudert’s sich doch angenehmer, als in dem halbdunklen Zimmer. Und das Kaffeegeschirr stört mich wirklich nicht, meine Herren!“ Damit zog er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, den Schaukelstuhl näher und setzte sich. Ottkens schaute zu Pollnow hinüber, – aufmunternd, fast befehlend. Der Blick hieß – ‚Bitte–anfangen!‘
Des jungen Gutsbesitzers Finger spielten nervös mit einigen Brotkrumen. Und Ritterwecks Augen wanderten von einem zum andern, halb lächelnd, musterten den gedeckten Tisch und … blieben nur einen Moment auf einem kleinen Papierschnitzel haften, der vor Pollnows Tasse lag. Es war ein Stückchen graublaues Papier kaum in der Größe eines Zehnpfennigstücks. Nur einen Augenblick sah er schärfer hin. Dann lehnte er sich fast behaglich in seinen Stuhl zurück und zog vorsichtig die Beinkleider etwas herauf. In diesem Tun lag eine übertriebene Eitelkeit. – Absicht war’s, nur das! Aber Ottkens notierte diese Beobachtungen als etwas anderes. ‚Wie sorglos dieser Mensch ist,‘ dachte er fast ingrimmig!
„Wir haben Sie hierhergebeten, Herr … Herr ‚Meier‘,“ begann jetzt Pollnow mit sichtlicher Überwindung, „um … von Ihnen über gewisse Dinge Aufschluß zu … zu verlangen, die wir uns … nicht recht in den Rahmen Ihrer Tätigkeit einpassen können…“ – Das waren fast genau dieselben Worte, die Ottkens eine halbe Stunde vorher gebraucht hatte; besonders … ‚Rahmen Ihrer Tätigkeit einpassen‘. – Das hatte Pollnow behalten und wandte die vorsichtige Phrase schnell an.
Ritterweck betrachtete angelegentlich die Lackspitzen seiner braunen Schuhe.
„Gewisse Dinge…?“, fragte er dann ohne irgendwelche Schärfe im Ton. „Und die wären…?“ – Dabei hob er den Blick, streifte wieder das blaugraue Papierstückchen und sah dann dem Gutsbesitzer voll ins Gesicht. „Und die wären?“, wiederholte er jetzt merklich gedehnt.
„Ja … wir … hm, wir glauben Gründe zu der Annahme zu haben, daß Sie … nicht ganz aufrichtig gewesen sind! Und Aufrichtigkeit dürfte in dieser Angelegenheit wohl die erste Hauptbedingung für einen Erfolg sein!“
‚Meier‘ verbeugte sich etwas ironisch.
„Ganz meine Ansicht, Herr Pollnow…!“
Ottkens wollte schon auffahren! Was dachte sich dieser … dieser Mensch eigentlich!
Pollnows träges Blut geriet jetzt auch in Wallung. Und hastig griff er nach der Zeitung, die vor ihm lag, stand halb auf und wies auf eine Stelle hin…
„Wie erklären Sie sich diese Notiz, Herr – Herr Ritterweck“, rief er erregt. „Ein Uneingeweihter kann ihr Urheber nicht sein – das muß jemand…“
„Ich bin jedenfalls unschuldig daran,“ unterbrach ihn der Detektiv scharf. Er hatte schnell die wenigen Zeilen überflogen. In Ritterwecks Ton lag doch etwas, das Pollnow warnte. Er schlug jetzt vor diesen drohenden durchdringenden Augen den Blick eingeschüchtert zu Boden.
Eine schwüle Pause entstand, in der der Detektiv nochmals langsam diese ihm selbst unbekannte Zeitungsstelle Wort für Wort prüfte. Und dann faltete er langsam das Blatt zusammen. Er lächelte wieder, zwar kaum merklich, aber Ottkens sah es doch.
In dem kleinen Referendar begann jetzt die Wut zu kochen.
„Herr Ritterweck,“ sagte er schneidend, „Sie spielen hier kein ehrliches Spiel! Oder wie erklären Sie uns zum Beispiel…“
Ritterweck hatte sich vorgebeugt und die Zeitung wieder vor Pollnow hingelegt, langsam, fast zu langsam. Daß er dabei das kleine Papierstückchen schnell aufnahm und in seiner Hand verbarg, merkte keiner von den beiden.
Da ließ er Ottkens nicht aussprechen.
„Seien Sie überzeugt, Herr Doktor,“ – das klang noch durchaus verbindlich – „ich werde alles erklären, alles! Und dann werden Sie in der nicht sehr angenehmen Lage sein, diesen Ausdruck ‚kein ehrliches Spiel‘ zurücknehmen zu müssen!“
Wieder die ironische Verbeugung jetzt direkt zu dem Referendar hin, der jetzt etwas zusammengesunken in seinem Stuhl saß.
Dann wandte der Detektiv sich an Pollnow, führte dabei die fast zur Faust geballte Rechte wie zufällig zum Mund und schien dabei prüfend die Luft einzuziehen. Und da stieg ihm derselbe feine Parfümgeruch, den er schon gestern abend vor dem Strandhotel gespürt hatte, als er den geheimnisvollen Brief noch in der Hand hielt, wieder in die Nase.
„Sie sprachen vorhin von Aufrichtigkeit, Herr Pollnow,“ sagte er sehr langsam, – „von einer Aufrichtigkeit, die zu einem Erfolge in Ihrer, das heißt unserer Angelegenheit nötig sei. Und ich pflichtete Ihnen bei, aus dem Grunde, weil ich hoffte, daß Sie den zarten Wink verstehen würden!“
Der Gutsbesitzer starrte Ritterweck ganz ratlos an. Das hatte er nicht erwartet! Nun schien jener ja noch den Spieß umkehren zu wollen!
„Sind Sie denn,“ fuhr der Detektiv erbarmungslos fort, „zu mir immer aufrichtig gewesen? Sind Sie es noch, will ich besser sagen?“
„Herr…“
„Meier bitte wieder, nicht Ritterweck,“ mahnte dieser ganz sanft. Pollnow war sichtbar unruhig geworden.
„Herr – Meier –, ich – verstehe Sie nicht,“ stotterte er hervor, was ihm einen wütenden Blick von Ottkens eintrug.
„Dann muß ich deutlicher werden!“ Ritterweck hatte sich in seinem Schaukelstuhl gerade aufgerichtet. „Haben Sie heute morgen einen Brief von einer Ihnen unbekannten Person erhalten, der mit verstellter Handschrift geschrieben ist?“ fragte er langsam. Und dabei ließen seine Blicke nicht von Pollnow ab.
Dieser schrak zusammen und wollte etwas erwidern. Jetzt stieg ihm deutlich eine Glutwelle ins Gesicht. Um Ritterwecks Mundwinkel zuckte es wieder bedenklich.
„Herr Pollnow,“ sagte er ganz treuherzig, „sehen Sie – mir entgeht ja doch nichts! Und nun teilen Sie mir den Inhalt dieses Schreibens mit, am besten geben Sie es mir, damit ich danach meine weiteren Pläne einrichten kann. Aufrichtigkeit gegen Aufrichtigkeit,“ setzte er noch hinzu.
Der Gutsbesitzer sah jetzt in seiner Verlegenheit fragend zu dem Freunde hinüber. Der zuckte aber nur die Achseln. Ein unsicheres Gefühl hatte sich des Referendars dieser nicht zu erschütternden Ruhe gegenüber bemächtigt. Und des Detektivs Worte klangen ihm noch im Ohr – ‚Ausdruck zurücknehmen!‘
Da faßte Pollnow – er hatte die Waffen gestreckt – in die Brusttasche und zog einen blaugraues Kuvert hervor, von dem ein Stückchen beim Öffnen achtlos abgerissen war. Wortlos reichte er es Ritterweck hin! So klein war er sich lange nicht vorgekommen!
Der entnahm dem Umschlag einen Brief von derselben Farbe und las. Eine ganze Weile verging, bis er ihn fortlegte.
„Was halten Sie davon?“ fragte er dann den Gutsbesitzer nachdenklich.
Pollnow schaute nur ratlos vor sich hin.
„Ich weiß nicht,“ meinte er schließlich unsicher.
„Haben Sie keine Ahnung, wer Sie auf diese Weise heute vormittag zwölf Uhr bei dem Seezeichen am Südstrande zum Stelldichein bestellt – keine Ahnung?“ forschte Ritterweck weiter.
Pollnow schüttelte ehrlich den Kopf.
„Nein – es steht ja kein Name unter dem Brief!“
Der Detektiv schien diese naive Bemerkung überhört zu haben. Er hatte sich zu Ottkens hingewandt.
„Und Sie, Herr Doktor?“
„Ich stehe hier ebenso vor einem Rätsel, wie Pollnow,“ entgegnete dieser sehr höflich.
‚Aha,‘ dachte Meier schadenfroh, ‚die Bekehrung beginnt!‘ Laut aber sagte er:
„Ich würde dieser Aufforderung auf jeden Fall Folge leisten, Herr Pollnow – auf jeden Fall! Und zwar gehen Sie allein hin, ganz allein! Die Person, die Ihnen hier für den Fall Ihres Erscheinens einen glücklichen Ausgang Ihrer Sache verspricht, meint es zweifellos gut mit Ihnen!“
Pollnow schaute wieder ratlos zu dem Freunde hinüber.
„Und wenn dieses Stelldichein eine Falle ist, Herr Meier?“ gab der kleine Referendar seinen und des Freundes Bedenken Ausdruck.
„Nein! Da kann ich die Herren wohl beruhigen. Und – damit wir ganz sicher gehen – ich kann ja irgendwo in der Nähe sein und dieses Zusammentreffen beobachten. Einen besseren Schutz können Sie doch kaum haben!“ fügte er lächelnd hinzu.
In Ottkens stieg plötzlich wieder das Mißtrauen auf, das bisher nur die Scheu vor Ritterwecks eiserner Ruhe und Sicherheit eingedämmt hatte.
„Den Posten wollte ich eigentlich beziehen,“ sagte er daher schnell. „Ich habe mit Erich – Herrn Pollnow – schon alles besprochen!“
„Bevor ich hier war, Herr Doktor,“ entgegnete Meier nachdrücklich. „Jetzt habe ich aber doch auch noch ein Wort mitzureden. Denn für den Ausgang der Angelegenheit bin nur ich verantwortlich!“ Der Referendar klappte beinahe in sich zusammen.
„Natürlich – natürlich!“ beeilte er sich einzulenken. „Ich wollte ja auch nur für den Fall, daß – daß –“
„Nun – daß –?“
„Ja, daß wir – Ihnen –“ er kam nicht zu Ende – „wir Ihnen von dem Briefe nichts sagen würden, für Pollnow den Schutzengel spielen,“ ergänzte Ritterweck ironisch. – „Nicht wahr, das wollten Sie doch sagen, Herr Doktor!“
„Ja!“ platzte Ottkens verlegen heraus.
„Warum nicht ehrlich sein, meine Herren,“ lächelte Meier jetzt mit offensichtlichem Spott. „Aufrichtigkeit – das soll doch die Hauptsache sein!“
Die beiden Freunde bekamen wie auf Kommando rote Köpfe.
„Also abgemacht, Herr Pollnow, Sie gehen zu dem Stelldichein und ich spiele in der Nähe den Aufpasser – aber allein!“ Und dabei sah er Ottkens recht warnend an.
Pollnow fügte sich wortlos. Und der Detektiv öffnete jetzt seine rechte Hand und legte das kleine blaugraue Stückchen des Umschlags auf den Tisch zurück.
„Dieser Papierfetzen,“ sagte er dann zu dem Gutsbesitzer, „hat mir verraten, daß Sie heute morgen den Brief erhielten. Sie sehen, wie vorsichtig man auch bei Kleinigkeiten sein muß.“
Pollnows Augen wanderten von dem Papierstückchen zu des Detektivs Gesicht. – Er glaubte, daß dieser sich eben einen Scherz mit ihm erlaubt hatte.
„Tatsächlich – ist es so,“ nickte Meier ganz ernst. „Ich habe nämlich gestern abend ganz genau denselben Brief erhalten – was Qualität anbetrifft. Der Inhalt war allerdings ein ganz anderer. Der Brief war auch mit verstellter Handschrift geschrieben, hatte ebenfalls keine Unterschrift, sonst aber – Farbe, Größe, Papierart, anhaftender Parfümgeruch – alles dasselbe! Und als ich nun vorhin diesen Papierfetzen vor Ihnen liegen sah, da habe ich ihn heimlich an mich genommen, ihn erst mit den Fingerspitzen, dann mit dem Geruchsinn geprüft – und wußte Bescheid, wußte daß auch Sie von derselben Person eine Nachricht erhalten hatten. Und daß diese erst heute morgen eingetroffen sein konnte, sagte mir der Schnitzel auch. Denn von gestern abend bis heute früh wäre er den säubernden Händen einer Dienstmagd kaum entgangen. Einfach, meine Herren, was? Es war also kein Gedankenlesen bei mir, sondern nur Berufsarbeit, Kombinieren!“
„Und was stand in Ihrem Briefe, Herr Meier?“ fragte Ottkens schnell.
„Nichts als ein frommer Wunsch. – Ich sollte mich zum Teufel scheren und meine Hände von dieser – von unserer Angelegenheit lassen! Es war zwar etwas höflicher ausgedrückt, aber inhaltlich kommt’s auf das gleiche heraus!“
„Wie? – Sie sollten also?“ –
„Ich werde den Herren den Brief vorlesen, das ist einfacher.“
Ritterweck griff man die Tasche und holte das Schreiben heraus.
„Sie werden nichts erreichen, nichts! Ellen Pollnow lebt und ist in Sicherheit. Wenn Sie das Glück zweier Menschen nicht zerstören wollen, so greifen Sie nicht in die Räder des Schicksals ein. Außerdem – nur zu leicht können Sie selbst zermalmt werden!“
„Das ist meine Einladung zum Stelldichein,“ lachte Ritterweck und schob den Brief wieder in die Tasche.
Pollnow und Ottkens sahen den Detektiv fragend an.
„Und über das Schreiben gehen Sie so leichtsinnig hinweg,“ sagte der Referendar vorwurfsvoll.
„Wer sagt Ihnen das, Herr Doktor? Leichtsinnig? Im Gegenteil! Dieser famose Brief, den eine arme, besorgte Seele aufgesetzt hat, ist in meinen Plänen schon ebenso berücksichtigt wie – wie z.B. auch Ihre Person, Herr Doktor!“
Ottkens rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Meine Person –?!“ Er machte einen schüchternen Versuch, harmlos zu lachen.
„Gewiß! Sie sind sehr mißtrauisch! Verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit! Und mit diesem Mißtrauen, das sich sehr leicht auf einen guten Freund übertragen läßt, habe ich besonders gerechnet!“
Der Hieb saß! – Und die Stimme Ritterwecks sprach ruhig weiter… „Die Herren haben sich gestern abend, als ich mich vorstellen kam und wir die für mich recht interessante Unterredung hatten, sehr gewundert, daß ich bereits in alles so gut eingeweiht war. Die Lösung des Rätsels ist herzlich einfach. Herr Max Schüler hat mich, nachdem ich auf eine Anfrage seinerseits ihm meine Ankunft telegraphisch mitgeteilt hatte, hier auf dem Bahnhof empfangen und von ihm erfuhr ich das Nötige. Seitdem arbeiten wir zusammen, so auch gestern abend, als wir uns genötigt sahen, Sie, Herr Doktor, von unserer Spur abzubringen. Den Durchgang vom Südpark nach der Südstraße scheinen Sie nicht zu kennen, nicht wahr?“
Pollnow und Ottkens waren starr. Auf diese Eröffnung waren sie nicht gefaßt!
„Ja,“ sagte der Gutsbesitzer jetzt zögernd, „damit klärt sich allerdings Verschiedenes auf.“
„Verschiedenes,“ meinte Ritterweck. – „Ich hoffe doch alles, meine Herren! Ich wußte ja, daß Sie auch Herrn Schüler nicht trauen, reimte mir sehr richtig zusammen, daß unser Beisammensein gestern abend auch Sie, Herr Pollnow, gegen mich einnehmen würde, da Ihnen eben die Erklärung für unsere Bekanntschaft fehlte. Nebenbei, Herr Doktor – die vorher angedrohte Abbitte wegen des Ausdrucks ‚unehrliches Spiel‘ erlasse ich Ihnen selbstredend. Sie haben ja in bester Absicht gehandelt und das entschuldigt Sie.“
Ottkens machte den Versuch zu einem verbindlichen Lächeln. Er mißlang. Denn in seiner Brust kochte jetzt wieder eine dumpfe Wut. Diese Niederlage – diese Niederlage! Wie hatte dieser Meier sie nur abgeführt – mit einer so – so unverschämten Überlegenheit.
„Um nun aber den Stand unserer Angelegenheit einmal zu besprechen, Herr Pollnow,“ fuhr Ritterweck nach kurzer Pause fort, „so kann ich Ihnen schon heute ganz bestimmt versichern, daß jede weitere Sorge Ihrerseits sehr überflüssig wäre! Der an mich gerichtete Brief sagt die Wahrheit: Ihr Fräulein Schwester ist in Sicherheit, ist auch von den Folgen des Unfalls wieder hergestellt.“
Der Gutsbesitzer wollte schnell eine Frage an den Detektiv richten. Aber dieser lenkte ab.
„Verlangen Sie keine Aufklärung von mir, Herr Pollnow – ich darf sie Ihnen heute noch nicht geben. Aber glauben Sie mir: Lange sollen Sie nicht mehr in Ungewißheit leben! Der Moment, wo wir den Schuldigen zur Verantwortung ziehen können, ist nicht mehr fern.“
Durch die letzten Worte klang’s wie verhaltene Heiterkeit. Dann fuhr Ritterweck wieder fort:
„Und was die Zeitungsnotiz anbetrifft, die von einer ‚unerwarteten Lösung des verhängnisvollen Automobilunfalls‘ spricht, so hat der Einsender jener Zeilen nicht ganz vorbei geraten, – sagen wir schon geraten, obwohl ich annehmen muß, daß es noch außer uns eine Person gibt, die absichtlich und sehr zielbewußt in unsere Pläne eingreift – zu unserem Besten jedoch! Und diese bisher unbekannte Person dürfte wohl auch der geistige Urheber dieser vorbereitenden Nachricht sein, hat also nicht nur lediglich geraten, sondern glaubt, richtig kombiniert zu haben. So, und nun will ich Ihnen nur noch einige allgemeine Verhaltungsmaßregeln für Ihr heutiges Stelldichein geben, Herr Pollnow. Zunächst lassen Sie sich nicht etwa ausholen, seien Sie vorsichtig! Geben Sie nur ganz allgemeine Antworten, versuchen Sie aber dafür Ihrerseits, möglichst viel zu erfahren. Auf diese Weise nehmen Sie am besten unser Interesse wahr. Im übrigen verlasse ich mich ganz auf Sie.
Und nun, es ist elf Uhr geworden, will ich noch schnell ins Hotel gehen und frühstücken. Sie sehe ich ja um zwölf Uhr wieder bei dem Seezeichen! – Guten Morgen, meine Herren!“ Sehr verbindliche Händedrücke, dann waren die beiden Freunde allein.
9. Kapitel
Es war ungefähr dreiviertel zwölf, als Pollnow langsam aus der Südstraße zum Strande abbog, die Brücke, die über das kleine Flüßchen führt, überschritt und sich dann parallel zum Ufer hielt. Kaum fünfhundert Meter vor ihm ragte auf der Höhe der Düne das aus mächtigen Balken zusammengefügte Seezeichen in die Luft. Pollnows Schritte wurden immer kürzer, je mehr er sich der Stelle näherte, die der geheimnisvolle Briefschreiber ihm für die Zusammenkunft bestimmt hatte. Etwas wie ein unbehagliches Angstgefühl beschlich ihn.
Er wurde die Gedanken nicht los, die sich fortwährend mit der unbekannten Person beschäftigten, die ein so großes Interesse an ihm nahm. Wer konnte es nur sein? Vergeblich hatte er schon seine sämtlichen Bekannten im Geiste vorbeipassieren lassen. Niemand, niemand, der jenen Brief geschrieben haben konnte! Und dann – was mochte der Unbekannte nur von ihm wollen, mit welchen Absichten mochte er sich tragen? Auch auf diese Frage fand Pollnow keine Antwort.
Die Sonne brannte von dem wolkenlosen Himmel so drückend herab, die Luft flimmerte über dem hellen Sande, und die See brandete geben das flache Ufer in dahinschießenden Wellen, die wie einander jagende Schlangen mit leisem, zischendem Fauchen sich in die Ferne fortpflanzten. Pollnow hatte jetzt den höchsten Punkt der Dünenkette erreicht und schaute sich um. Aber er entdeckte nur einige Spaziergänger, die unter ihm am Strande entlang gingen. Und rechts von dem Seezeichen sah er einen grauen, großen Schirm wie einen mächtigen Pilz sich von dem im Sonnenlichte fast weißschimmernden Seesand abheben. Unter dem Schirm ragten die Beine einer Staffelei hervor. Davor saß auf einem niedrigen Feldstuhl ein Maler, von dem Pollnow aber nur die untere Hälfte des Körpers erblicken konnte.
Neben dem Seezeichen, halb verborgen hinter zwei verkrüppelten Kiefern, stand eine Bank, auf die der junge Gutsbesitzer jetzt zuschlenderte. Von dem Detektiv hatte er nichts gesehen. Möglich, daß der sich in dem Birkenwäldchen, das mehr landeinwärts lag, aufhielt. Er setzte sich, nahm den Strohhut ab und sah nach der Uhr. Es fehlten noch wenige Minuten an zwölf. Der Herr hinter dem großen Malschirm hatte diesen jetzt noch mehr gegen die Sonne gedreht, sodaß er fast ganz dahinter verschwunden war.
Pollnow stellte das mit großer Befriedigung fest, denn keine hundert Meter trennten beide. Und er wollte den Unbekannten hier erwarten, wo die niedrigen Kiefern wenigstens einigen Schutz gegen die sengenden Strahlen des Tagesgestirns boten. Der Maler schien außerdem sein Kommen gar nicht bemerkt zu haben. Er war vollauf mit seiner Arbeit beschäftigt. Öfters erschien ein Arm unter dem Schirm und entnahm dem auf dem Boden liegenden Malkasten irgend einen Gegenstand. Das war auch alles, was Pollnow an seinem Nachbar beobachten konnte. Dann schaute er wieder nach links hinüber, wo die Villen von Stranddorf aus dem Grün ausgedehnter Gärten und Parkanlagen hervortauchten. Seine Augen suchten den Weg ab, den der Unbekannte kommen mußte. Aber er sah nichts als das weiße Kleid und den weißen Sonnenschirm einer Dame, die soeben die Brücke des Flüßchens passierte.
Enttäuscht wandte Pollnow den Blick wieder gerade auf die See, wo einige Segeljachten bei schwachem Wind langsam dem Stranddorfer Stege zustrebten, wo der große Tourendampfer aus Altstadt, einen langen Rauchstreifen hinter sich lassend, durch die fast spiegelglatte See dahineilte. Und in der ihn umgebenden Stille hörte er deutlich das Stampfen der Maschinen des Schiffes. Jetzt drangen die Töne eines flotten Marsches zu ihm herüber. Als er genauer hinsah, glaubte er auch auf dem Oberdeck das Aufblitzen der Instrumente zu erkennen. ‚Der Sonderdampfer zur Sportwoche,‘ sagte er sich richtig.
Dann blickte er wieder suchend über die Dünenkette zu dem Flüßchen hin, das sich wie ein glitzernder Faden durch den hellen Sand zog und dessen Mündung spielende Kinder zu einem vielarmigen Delta umgestaltet hatten, wo sie dann bequem ihre kleinen Boote an langen Schnüren schwimmen lassen konnten. Aber der Erwartete blieb aus. Nur die weiße Dame war näher gekommen, schien auf das Seezeichen zuzuhalten.
Wieder schaute Pollnow auf die Uhr. Es war lange zwölf vorbei. Ob man sich etwa mit ihm einen schlechten Scherz erlaubt hatte? Ob diese beiden Briefe, die der Detektiv und er erhalten hatten, nichts waren als ein höhnischer Gruß des Täters, der sich in Sicherheit wähnte und ihnen nur zeigen wollte, daß sie ihm nichts anhaben konnten? Pollnow schaute finster vor sich hin. Und wieder beschlichen ihn die früheren Zweifel, wieder verließ ihn das frohe Sicherheitsgefühl, das der heutige Besuch Ritterwecks bei ihm zurückgelassen hatte. Ja, heute, nachdem der Detektiv ihm und Ottkens so deutliche Beweise eines scharfen Verstandes gegeben, nachdem er ihm die Lösung des Geheimnisses, eine freudige Lösung, so sicher in Aussicht gestellt hatte, da waren wirklich die Sorgen von ihm gewichen. Sie kamen erst wieder, als er so allein über die Dünen wanderte, waren jetzt wieder mit all ihren nagenden Befürchtungen da, wo er sich sagen mußte, daß man ihn einfach mit diesem Stelldichein genasführt hatte.
Der heulende Ton der Sirene des Dampfers schreckte ihn auf. Er hob den Blick. Vor ihm stand Dita Lauenburg, die ihm wieder mit so flehenden Augen ins Gesicht sah. Pollnow fühlte plötzlich sein Herz schneller schlagen, unwillkürlich erhob er sich. Da trat sie dicht zu ihm heran und sagte mit leiser Stimme, während eine verlegene Röte ihr in die Wangen stieg:
„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Pollnow!“
Der junge Gutsbesitzer prallte beinahe zurück. Tausende Gedanken kreuzten sein Hirn.
„Sie, gnädiges Fräulein, Sie sind die Briefschreiberin? Sie?“
Dita Lauenburg nickte nur. Und dann kam’s wieder so stockend über die Lippen.
„Ja, ich hab’s getan, Herr Pollnow, mußte es tun! Ich habe Ihnen so vieles zu erklären. Wollen Sie mich anhören?“
Sie hatte den Blick gesenkt. Die Glut in ihrem Gesicht verstärkte sich. Man sah, wie sie unter dieser Lage litt, welche Überwindung es sie kostete, ihr Vorhaben weiter auszuführen.
Pollnow hatte sich endlich gefaßt.
„Gewiß, gnädiges Fräulein,“ sagte er jetzt höflich. Und wieder glitt sein Blick über das liebliche Bild dieses Mädchens hin, über ihr feines Gesicht, das jetzt einen so rührend hilflosen Ausdruck zeigte.
„Wollen Sie sich nicht setzen,“ fügte er dann hinzu. „Hier ist wenigstens etwas Schatten.“ – Da begann ihm wieder das Herz zu klopfen, er stotterte. Und plötzlich stieg die Erinnerung in ihm auf an jenen Tag, wo er mit Dita Lauenburg schon einmal gesprochen, wo sie ihn um Verzeihung gebeten hatte für des Bruders Ungezogenheit – damals, als sie noch halblange Kleider trug, vor Jahren im Parke des Rittergutes Okonin. Und noch eine andere Erinnerung kam ihm – an den gestrigen Vormittag, als er mit Schüler im Eisenbahnzug gesessen hatte, und ihm dann wie eine Vision Dita Lauenburgs Bild erschienen war. Und jetzt – jetzt drängte sich dieses Mädchen wieder in sein Leben! Was wollte sie? Vielleicht den erneuten Versuch machen, zwischen ihm und ihrem Bruder eine Versöhnung herbeizuführen? Und hatte er diese Absicht nicht gestern schon so unzweideutig durchkreuzt, indem er eine Vorstellung durch Schüler beinahe schroff ablehnte? Welches Interesse nahm sie an ihm, daß sie sich sogar dazu verstand, jene beiden Briefe zu schreiben, Briefe mit einem Inhalt, der den weitesten Vermutungen Raum gab…
So jagten sich Pollnows Gedanken. Er konnte sie so schnell nicht entwirren, stand ratlos da, wie er sein Benehmen einrichten sollte, konnte keinen bestimmten Entschluß fassen.
Dita Lauenburg hatte sich inzwischen gesetzt. Aber wie schuldbewußt hafteten ihre Augen an dem Boden und eine tiefe Erregung ließ sie fast hörbar atmen. Und dann begann sie langsam, mühselig die Worte zusammenzusuchen.
„Was müssen Sie nur von mir denken, Herr Pollnow, daß ich, die Sie kaum kennt – denn an unsere Jahre zurückliegendes Zusammentreffen in Okonin wollen Sie wohl nicht erinnert sein – mich soweit über alle Regeln der Wohlerzogenheit hinweggesetzt habe und Sie – Sie zu – ich will’s schon nur Besprechung nennen – also zu einer Besprechung hierher bat?“ –
Sie hatte ihren Sonnenschirm geschlossen und zeichnete jetzt mit dessen Spitze Figuren in den Sand und wischte die Linien wieder aus, ein Spiel, das nur ihre Verlegenheit bemänteln sollte.
Pollnow war ein viel zu ehrlicher, offener Charakter, um das junge Mädchen mit einigen höflichen Redensarten zu beruhigen. Außerdem – je mehr er jetzt an den Inhalt der beiden Briefe dachte, desto rätselhafter kam ihm die ganze Begegnung vor. Es war ja unzweifelhaft, Dita Lauenburg hatte beide Briefe geschrieben, auch den an Ritterweck mit der versteckten Drohung am Schluß. Ihm fielen jetzt die einzelnen Worte wieder ein, die sich ihm beim Lesen gerade ihrer Bedeutung wegen so fest eingeprägt hatten:… „Und hüten Sie sich, daß diese Räder Sie nicht zermalmen.“ hatte da ungefähr gestanden. Und dieses hatte sie geschrieben, die da vor ihm saß in einem gerade wegen seiner Einfachheit so elegant wirkenden Kleide, Dita Lauenburg, mit den flehenden, grauen Augen und dem reichen Blondhaar, das jetzt, wo einige durch das Kieferngeäst dringende Sonnenstrahlen es trafen, so golden aufleuchtete. So sagte denn Pollnow, und seine Stimme klang ernst dabei:
„Allerdings wunderte ich mich, mein gnädiges Fräulein, daß ich gerade in Ihnen die Briefschreiberin entdecken muß. Als ich mich vor kaum einer halben Stunde hierher aufmachte, ahnte ich von dieser Überraschung noch nichts. Und die versprochenen Aufklärungen,“ fügte er eindringlich hinzu, „die werden Sie mir jetzt geben müssen, nicht soweit sie meine Person betreffen, als vielmehr die meiner armen Schwester, deren Schicksal Sie ja beinahe mit beeinflussen wollen!“
Da hob das Mädchen den Blick zu ihm und schaute ihm ehrlich ins Gesicht. Alle Befangenheit war von ihr gewichen, und mit der wiedererlangten Fassung wurde es ihr auch möglich, dem Gespräch die Wendung zu geben, die zu ihrem Vorhaben am besten paßte.
„Das war ein offenes Wort, Herr Pollnow!“ sagte sie ohne Zaudern. „Und ich danke Ihnen dafür, habe auch von Ihrer Seite keine Höflichkeitsphrasen erwartet. In Ihrer Lage verbieten sie sich von selbst, besonders wo Ihnen nicht nur die Form dieser Einladung zum Stelldichein sagen mußte, daß es sich hier um kein – interessantes Badeabenteuer handelt, sondern um ernstere Dinge, eben um Ihre Schwester!“
Jetzt schien sie einen Augenblick zu überlegen und blickte an ihm vorüber auf die See, wo die eine der Jachten soeben noch ein weiteres Segel setzte, um bei der fast völligen Windstille bessere Fahrt zu machen. Ihr Gesicht hatte jetzt die natürliche zarte Röte wieder gewonnen. Und vorhin, als sie von ‚Stelldichein‘ und ‚interessantes Badeabenteuer‘ sprach, war’s sogar wie ein schalkhaftes Zucken um ihre Mundwinkel geflogen. Pollnow schaute jetzt beinahe mit Andacht in diese lieblichen Züge und vergaß ganz das Ungehörige dieses Anstarrens. Und als sie ihn jetzt aufforderte, neben ihr Platz zu nehmen, schrak er sichtlich zusammen.
„Bevor ich Ihnen sage, welche Beweggründe mich dazu trieben, jene Briefe zu schreiben, möchte ich Sie bitten, mir einige Fragen ehrlich zu beantworten. Ehrlich, ohne Umschweife, Herr Pollnow! Sehen Sie, bitte, in mir eine Verbündete, die allerdings aus etwas selbstsüchtigen Gründen für Ihre Interessen gearbeitet hat. Und das habe ich getan, wie Ihnen später klar werden wird.“
Sie wartete eine ganze Weise auf seine Antwort, bis er kopfschüttelnd meinte:
„Also auch Sie halten’s wie einige meiner Freunde in dieser Sache, gnädiges Fräulein! Sie verlangen zuerst mein Vertrauen! Das Ihrige wollen Sie mir erst später schenken.“
Nun zeigte sich doch wieder eine leise Verlegenheit in ihrem Gesicht. Aber schnell gefaßt antwortete sie: „Ich meine, daß man einer Dame, die für Ihre Schwester sich bereits zu einem Tun verstanden hat, das sehr leicht falsch gedeutet werden könnte, wohl mit Vertrauen begegnen kann. Außerdem – ich verspreche Ihnen gern das völligste Stillschweigen über das, was ich durch Sie jetzt erfahren möchte, eben für den Fall, daß unsere Unterredung nicht den Erfolg haben sollte, den ich erhoffe.“
Fragend schaute sie zu ihrem Nachbar hin. Pollnow verbeugte sich nur und sagte: „Bitte, sprechen Sie!“
Es war jetzt, als ob Dita Lauenburg erleichtert aufatmete. Und dann rückte sie noch mehr von Pollnow weg, drehte sich ihm zu und lehnte den rechten Arm leicht auf die Rücklehne der Bank, sodaß sie ihn völlig im Auge hatte.
„Wissen Sie bereits, wo Ihre Schwester sich befindet?“ fragte sie langsam.
„Nein, ich weiß es nicht,“ kam’s ehrlich aber etwas erstaunt zurück.
Sie nickte wie befriedigt.
Die nächste Frage klang schon unsicherer, zögernder: „Sie lieben Ihre Schwester sehr, Herr Pollnow, nicht wahr?“
Der junge Gutsbesitzer sah sie überrascht an. Aber trotzdem sagte er beinahe innig:
„Sehr! Fräulein Lauenburg!“
„Und meinem Bruder haben Sie die damalige Unüberlegtheit noch immer nicht verziehen?“ fuhr sie schnell fort.
Er zauderte mit der Antwort. Da beugte sie sich näher zu ihm.
„Und wenn nun Fritz in mir eine Fürsprecherin fände, wenn ich Sie nun auch bäte, den alten Groll endlich zu begraben – würden Sie auch dann nicht zur Nachsicht geneigt sein?“
„Muß dieser Punkt denn hier wirklich auch behandelt werden?“ meinte er ausweichend.
„Ja, er muß!“ Und eifrig fuhr sie fort: „Fritz wollte sich Ihnen doch schon einmal nähern, und gestern habe ich sogar einen zweiten, leider vergeblichen Versuch gemacht, unsere Bekanntschaft zu dem Zwecke zu erneuern, um Sie umzustimmen. Daraus müssen Sie doch ersehen, Herr Pollnow, wieviel ihm an einer Versöhnung liegt, nicht wahr?“
„Gewiß, gnädiges Fräulein,“ sagte er jetzt, noch immer mit sich kämpfend. „Aber – ich begreife nur nicht, in welchem Zusammenhang diese alte Geschichte mit dem steht, was uns hier zusammengeführt hat?“
„Bitte, keine Ausflüchte! Geben Sie mir doch eine bestimmte Antwort,“ bat sie leise. Und wieder schauten ihn jetzt die grauen Mädchenaugen bittend an. Und diesem Blick mußte er nachgeben. Denn eine heiße Welle war ihm zum Herzen geschossen und trieb ihm das Blut ins Gesicht.
„Die Sache ist begraben und vergessen! Sind Sie nun zufrieden?“ fragte er gepreßt, sie fest anblickend.
Da streckte sie ihm die Hand hin.
„Ich danke Ihnen,“ meinte sie herzlich. „Sie wissen gar nicht, wie Sie mich durch diesen Sieg über sich selbst erfreuen!“
Sie hatte vorhin den Handschuh abgestreift und als jetzt ihre lebenswarmen Hände sich berührten und dabei ihre Blicke ineinander tauchten, schoß beiden die helle Röte ins Gesicht. Halb verwirrt lösten sie schnell die Hände und blickten jetzt verlegen vor sich hin. Nur ihre klopfenden Herzen sprachen zu ihnen. Dann begann Dita Lauenburg wieder, und ihre Stimme hatte den gewohnten energischen Klang zurückgewonnen.
„Herr Pollnow, hat Ihnen der Detektiv aus Berlin bisher auch keine Andeutungen gemacht, wo Sie Ihre Schwester wiedersehen werden?“
„Nein! Er hat mir nur gesagt, daß seine Nachforschungen beinahe beendet sind und er hofft, den Schuldigen auch bald überführen zu können.“
Sie schreckte jetzt deutlich zusammen, faßte sich aber schnell. Und hastig sprach sie weiter:
„Ich möchte Ihnen jetzt das mitteilen, was ich über das rätselhafte Verschwinden Ihrer Schwester weiß, auch über die – Vorgeschichte. Denn diese ist wichtig, um die Vorfälle verstehen zu können, die in ihrer Gesamtheit ein seltenes Spiel des Zufalls darstellen.“
Pollnow wollte sie unterbrechen. Das Wort ‚Vorgeschichte‘ hatte ihn stutzig gemacht. Aber Dita Lauenburg sagte schnell:
„Lassen Sie mich, bitte, erst ausreden, bevor Sie Einzelheiten verlangen. Ich denke aber, die werden sich dann erübrigen.“
Sie überlegte einen Augenblick.
„Ihre Schwester hat in diesem Sommer hier in Stranddorf einen Herrn kennen gelernt, der anscheinend großes Interesse für sie hatte. Wenigstens mußte man dies annehmen, da er trotz anfänglicher Mißerfolge immer wieder ihre Gunst zu erringen suchte. Auf den Reunions bot sich dann für beide Gelegenheit, sich näher zu treten. Schließlich verliebten sie sich ineinander.“
Pollnow wollte auffahren. Aber mit leisem Lächeln setzte Dita schon hinzu:
„Wohlverstanden, sie verliebten sich nur ineinander. Zu einer Aussprache sollte es erst später kommen. Nun hatte derselbe Herr das Unglück, eines Abends mit seinem Automobil in Altstadt eine junge Dame zu überfahren – Ihre Schwester, Herr Pollnow. Sie können sich das Entsetzen des Betreffenden vorstellen, als er dann in der Ohnmächtigen die heimlich Geliebte erkannte. Er hob sie schnell in den Wagen, um sie sofort nach einem Krankenhaus zu bringen, wollte eben alles tun, um seine Tat wieder gut zu machen. Unterwegs kam die Besinnungslose zu sich. In dem Automobil spielte sich dann eine Szene ab, wie sie sich wohl schwer schildern läßt. Und so wunderbar es klingen mag, Ihre Schwester selbst weigerte sich darauf, in ein Krankenhaus überführt zu werden. Da der Herr nun ganz in der Nähe von Altstadt wohnt und zufällig eine Verwandte bei sich zu Besuch hatte, so brachte man Ellen in sein Haus. Ein befreundeter Arzt übernahm die Behandlung, verpflichtete sich auch zu völligem Schweigen. Selbstverständlich bezog der betreffende Herr eine andere Wohnung. Da die Verletzungen sich als ungefährlich erwiesen, genas Ihre Schwester unter der fürsorglichen Pflege jener Verwandten und einer alten Haushälterin bald vollkommen. Soweit war der Unfall für die Beteiligten glücklich abgelaufen. Aber jener Herr, der durch einen unglücklichen Zufall gerade die Geliebte zu Schaden bringen mußte, ist nun leider mit Ihnen seit mehreren Jahren derart verfeindet, daß man auf Milde von Ihrer Seite nicht rechnen konnte.“
Pollnow war aufgesprungen. [zum alternativen Ende]
„Wie?“ stotterte er, „Ihr Bruder ist jener…?“
Aber Dita ließ ihn nicht aussprechen. Sie hatte sich gleichfalls erhoben. Und in Tönen, die so rührend bittend klangen, sprach sie weiter:
„Ja, mein Bruder ist’s, Herr Pollnow! Und damals im Automobil an jenem Dienstagabend hat Ihre Schwester zuerst gebeten, in das Pensionat Schneider gebracht zu werden. Als ihr Fritz dann aber eröffnete, daß er einer gerichtlichen Bestrafung kaum entgehen könne, da Sie ihn nicht schonen würden, erwachte in ihr die Sorge. – Sie wollte ihn vor einer Strafe bewahren, erst Zeit gewinnen, um Sie umzustimmen. So ging ihr das Wohl des Geliebten vor! Lieber wollte Ellen Sie in Ungewißheit über ihr Schicksal lassen, als meinen Bruder verraten! Alles hing also davon ab, daß eine Aussöhnung zwischen Ihnen und Fritz stattfand! Und gestern vormittag, Herr Pollnow, haben – sie sich nun auch verlobt, sind wohl das glücklichste Brautpaar, das ich je gesehen habe. Wollen Sie da noch hart bleiben, können Sie es Ellen antun, ihrem Bräutigam, Ihrem Schwager, meinem Bruder weiter zu zürnen?“
Sie hatte ihm die Hand wie beschwörend auf den Arm gelegt.
„Ich kann das alles noch nicht fassen,“ murmelte er vor sich hin. – „Ellen und Ihr Bruder – gerade Ellen!“ – Aber sie ließ nicht nach auf ihn einzureden.
„Sie können doch froh sein, daß die Angelegenheit diese Lösung gefunden hat,“ sagte sie eindringlich. „Ellen ist frisch und munter, und – so glücklich! Und wie freut sie sich auf das Wiedersehen! Sie erwartet Sie ja noch heute, hofft eben auf einen glücklichen Ausgang dieser Unterredung. – Seien Sie doch gut! – Sie lieben Ihr Schwesterlein doch! – Wollen Sie ihr Glück denn wieder zerstören?“
Und da hob Erich Pollnow plötzlich den Kopf, schaute Dita lächelnd an…
„Sie sind eine kleine Zauberin, Dita! – Sie gestatten doch, daß ich Sie als meine – Schwägerin so nenne!“ – Und dabei blickte er ihr strahlend, fast übermütig in die glücklichen Augen.
„Oh – haben Sie dank, Erich! – Sie sind ein guter Mensch! – Das werde ich Ihnen nie, nie vergessen,“ rief sie jubelnd. „Aber nun kommen Sie! – Zwei Menschen warten ja auf Sie, deren Schicksal Sie in den Händen halten.“ – Und eifrig zog sie ihn mit sich fort. Und ihrer glückliches Plaudern und Lachen klang bis zu dem einsamen Maler hinüber, der bis jetzt scheinbar eifrig gearbeitet hatte. Scheinbar; denn als er sich nun erhob und den großen Schirm langsam zuklappte, sah man auf der Staffelei nur ein völlig weißes Blatt Aquarellpapier aufgespannt. Kein Pinselstrich störte diese Reinheit. Und wie er seine Sachen zusammenpackte, sagte er so vor sich hin:
„Mit der Arbeit kannst du zufrieden sein, Ernst Ritterweck! Denn es wird nicht viele Detektivs geben, die so geschickt wie du – Verlobung stiften!“ –
Dann winkte er mit dem Taschentuche nach dem Birkenwäldchen hin, worauf ein kleiner Junge angelaufen kam, der sich mit den Malgerätschaften belud. ‚Meier‘ aber ging leise vor sich hinpfeifend über die Dünen der Südstraße zu. Als er in der Seestraße an der Terrasse des Hotels Schelling vorüberkam, sah er den kleinen Ottkens allein an einem Tisch sitzen. Er begrüßte ihn und nahm ohne Aufforderung Platz.
„Nun?“, fragte Ottkens sofort. Er brannte ordentlich vor Neugierde.
Ritterweck schaute von der Menükarte, die er eben durchsah, auf.
„Wie meinten Sie eben,“ fragte er liebenswürdig.
„Wo ist denn Pollnow,“ platzte der Referendar heraus.
„Pollnow? – Bei seiner Schwester,“ antwortete Meier seelenruhig.
Ottkens fuhr von seinem Stuhl in die Höhe.
„Bei seiner Schwester? – Machen Sie doch keine Scherze,“ rief er erregt. Und dabei krauste er schon wieder ärgerlich sein Näschen.
Ritterweck blieb völlig ernst. „Scherze wären hier wohl schlecht angebracht,“ meinte er nachdrucksvoll und konstatierte, daß es als ersten Gang Krebssuppe gab.
Ottkens war ganz fassungslos in seinen Stuhl zurückgesunken.
„Also ist Ellen Pollnow gefunden,“ fragte er jetzt schnell. „So sprechen Sie doch!“
„Sofort, mein lieber Herr Doktor,“ sagte Ritterweck gönnerhaft. „Ich will mir nur etwas Trinkbares bestellen. Denn bei der Hitze unter einem Schirm als Pseudomaler im Sonnenbrand am Strande sitzen – das trocknet die Kehle wirklich aus! – Kellner, eine Flasche Henkel – aber eiskalt! – Sie gestatten doch, daß ich Sie einlade, Herr Doktor?“
Ottkens war einfach sprachlos. Er schüttelte nur den Kopf und schaute sein Gegenüber ganz hilflos an.
„So, und jetzt stehe ich Ihnen gern Rede und Antwort!“ sagte der Detektiv dann behaglich schmunzelnd.
„Wo haben Sie denn Ellen Pollnow gefunden,“ begann der Referendar wieder.
„Hier in Stranddorf, Nordstraße Nr. 42“ – Dabei zündete sich Ritterweck eine Zigarette ein. –
„Nordstraße 42? – Dort wohnt ja Lauenburg!“
„Allerdings!“
Ottkens starrte den Detektiv verblüfft an. Da meinte dieser gemütlich: „Bei diesem Frage- und Antwortspiel können wir uns stundenlang amüsieren, ohne daß Sie viel klüger werden, Herr Doktor! Die feierliche Enthüllung der Rätsel jenes Automobilunfalls wickelt sich schneller ab, wenn ich Ihnen das Wichtigste im Zusammenhang mitteilte.“
Und dann erzählte er dem erstaunt Aufhorchenden, wie zuerst bei Schüler der Verdacht gegen Lauenburg entstanden war, erzählte auch das von den Ereignissen des vorigen Abends, was der kleine Referendar noch nicht wußte.
„Als ich gestern in nicht allzu bequemer Lage auf dem Balkon kniete,“ fuhr er dann fort, „da habe ich durch den engen Spalt in den Vorhängen sofort zwei junge Damen gesehen, die aneinandergeschmiegt auf dem Sofa saßen. In der einen erkannte ich Fräulein Lauenburg wieder, und die andere konnte nach der Beschreibung nur Ellen Pollnow sein. Um aber ganz sicher zu gehen, spielte ich noch etwas den Horcher. Und was ich da – wenn auch nicht Wort für Wort – hörte, war recht interessant. Die Damen sprachen über eine Verlobung, über einen starrköpfigen Bruder, der erst gewonnen werden müßte, bevor man auf einen glücklichen Ausgang hoffen könne. Sprachen auch von einem Detektiv, dem Fräulein Lauenburg den Brief mit der liebenswürdigen Drohung geschickt hatte.“
„Wie … Dita Lauenburg hat die Briefe geschrieben? Unglaublich,“ rief Ottkens dazwischen.
„Unglaublich, aber wahr,“ lächelte Ritterweck. „Die Damen berieten dann weiter, wie man mich am besten loswerden könnte! Mich, meine Einmischung fürchteten sie, nahmen eben an, daß ich meine etwaigen Erfolge Ihrem Freunde sofort mitteilen und daß dieser dann ohne irgend welche Rücksicht gegen den Assessor vorgehen würde. Und diese Sorge war auch nicht ganz unbegründet. Denn so wie Pollnow und Lauenburg sich standen, mußten die Damen das Schlimmste erwarten – eben eine Anzeige bei der Behörde, einen Strafantrag gegen den unvorsichtigen Automobilfahrer wegen Körperverletzung! Und das wollten sie auf jeden Fall verhindern, besonders da durch die Verlobung die Sachlage eigentlich noch schwieriger geworden war.“
„Sie erwähnten schon einmal eine Verlobung,“ fiel Ottkens ins Wort. „Mit wem hat sich denn Dita Lauenburg verlobt?“
Um Ritterwecks Mundwinkel zuckte es ironisch.
„Aber Herr Doktor,“ meinte er kopfschüttelnd, „haben Sie denn wirklich aus dem bisher Gehörten noch nicht das Richtige erraten? – Ich sprach doch davon, daß durch die Verlobung die Angelegenheit noch schwerer zu einer glücklichen Lösung gebracht werden konnte, nicht wahr? – Na, und eine neue Schwierigkeit war doch nur möglich, wenn – Ellen Pollnow die Braut des Assessors wurde, was ja auch tatsächlich geschehen ist.“
Der Referendar schnellte beinahe von seinem Sitz in die Höhe, schnappte erst vergeblich nach Luft und brachte endlich heraus:
„Ellen – Ellen und – Lauenburg –? Unmöglich!“
Wieder schmunzelte der Detektiv vor sich hin. Ihm war es eine wahre Genugtuung, dem Kleinen so tropfenweise die Neuigkeiten verabfolgen zu können. Und indem er über das ‚unmöglich‘ ohne nähere Erklärung hinwegging, fuhr er in seinem Bericht fort:
„Wie gesagt, die beiden Damen schienen also gerade mein Eingreifen am meisten zu fürchten, konnten natürlich nicht ahnen, daß auch ich mit allerlei Möglichkeiten von Anfang an gerechnet und danach auch meine Pläne eingerichtet hatte. Wenn ich auch nicht direkt an diese Verlobung gedacht habe, so erschien mir doch immerhin ein geheimes Einverständnis zwischen Ellen Pollnow und dem Assessor nicht ausgeschlossen, besonders da die Absicht von Lauenburgs Schwester sich Ihrem Freunde zu nähern, nur so gedeutet werden konnte, daß sie eben zunächst Pollnows Stimmung erforschen und danach die weiteren Schritte zu einem Ausgleich – zu einem friedlichen Ausgleich – anbahnen wollte. Jedenfalls hätte ich, selbst unter anderen Umständen, niemals so unklug gehandelt und Ihrem Freunde sofort den von mir glücklich festgestellten Aufenthaltsort der jungen Dame verraten. Niemals! Besinnen Sie sich vielleicht, Herr Doktor, daß ich gestern abend bei Gelegenheit meines ersten Besuches von zarteren Missionen sprach, die wir Detektivs oft noch nebenbei erledigen müssen.“
Ottkens nickte eifrig. „Ja, ich besinne mich schon deswegen sogar recht genau auf Ihre Worte, weil – weil sie mir – um ehrlich zu sein – nur nach einer etwas großsprecherischen Phrase klangen.“
Ritterweck lachte herzlich auf. „Sie sehen, wie man sich täuschen kann! Denn ich meinte gestern damit nichts anderes, als eben die Pflicht jedes Gentleman-Detektivs, zuvörderst auf eine Lösung der vorliegenden Schwierigkeiten hinzuarbeiten, bei der die Behörden vollständig aus dem Spiel bleiben. Man muß da oft der Vorsehung so etwas ins Handwerk pfuschen, kann vielleicht sogar mißverstanden werden, wie es mir ja auch passiert ist. Nicht wahr, Herr Doktor?“ – Und dabei schaute er den kleinen Referendar belustigt an.
„Das wäre nicht passiert, wenn Sie uns reinen Wein eingeschenkt und Ihre Absichten nicht hinter einer Reihe rätselhafter Andeutungen verborgen hätten,“ sagte Ottkens jetzt auch lachend.
„Und wäre ich ehrlich gewesen, so wäre es fraglos zu einem großen – Krach gekommen – fraglos,“ fuhr der andere eifrig fort. „Bedenken Sie doch nur, was geschehen wäre, wenn ich z.B. gestern abend Ihrem Freunde die gegen Lauenburg vorliegenden Verdachtsmomente mitgeteilt hätte! Pollnow würde sofort in die Villa ‚Klein aber Mein‘ geeilt sein, hätte sich vielleicht den Eintritt erzwungen und dann seine Schwester mitgenommen! Und daß diese Szenen nicht ganz ruhig verlaufen wären, daß vielleicht die Nachbarschaft aufmerksam geworden wäre, können Sie sich selbst sagen! Nein – die Torheit einer übergroßen vorschnellen Ehrlichkeit konnte wohl ein anderer, nicht aber Ernst Ritterweck begehen. –
Doch, Sie haben mich ganz vom Pfade abgedrängt. Zurück also zu meinem Lauscherposten auf dem Balkon! – Um den beiden Damen nun jede Sorge zu benehmen, schrieb ich schnell auf einen Zettel einige Worte und befestigte ihn so in der Türspalte, daß er unbedingt gefunden werden mußte. Auf dem Zettel stand nur: ‚Der Detektiv wird zu Fräulein Pollnows Bestem wirken!‘ –
Dann habe ich noch festgestellt, wo eigentlich der Assessor sein neues Heim aufgeschlagen hatte. Ich ging ihm heimlich nach, als er seine Villa verließ, brauchte ihm aber nicht weit zu folgen. Er verschwand einige Häuser weiter in der Tür des Pensionats Schlichting, – ja, es heißt wohl so. Ich konnte in der Dunkelheit das Schild nicht genau entziffern. –
Damit war ja nun eigentlich meine Aufgabe als Detektiv erledigt: Ich wußte, wo Ellen Pollnow sich aufhielt. Doch wie ich Ihnen schon sagte, meine Verpflichtung ging noch weiter. Ich mußte die leitenden Fäden dieses Spiels in der Hand behalten, um das Glück zweier Menschen nicht zu gefährden. Als Sie mich gestern Nacht im Rheingold mit Herrn Schüler so angelegentlich plaudern sahen, haben Sie wohl kaum geahnt, daß wir den Schlachtplan für den heutigen Tag berieten. Aber meine Entschlüsse wurden durch den Inhalt des Briefes umgestoßen, den Ihr Freund mir heute morgen vorenthalten wollte und dessen Existenz ich trotzdem durch das kleine auf dem Kaffeetisch liegende Stückchen des blaugrauen Umschlages entdeckte. Vom diesem Brief hatten die beiden Damen gestern abend nicht gesprochen. Ich mußte ihn also in meine Pläne vorsichtig einrangieren. Und er paßte sehr gut hinein, sehr gut! Ich kann überhaupt nur Fräulein Lauenburg meine vollste Anerkennung zollen! Sie hat sich in der ganzen Sache mit einer geradezu hervorragenden Klugheit benommen. Schon diese Idee, jene vorbereitende Notiz in die Zeitung einzurücken, die ganz sicher auch von ihr stammt, ist ein kleines Meisterstück von geistiger Gewandtheit.“
„Auch das soll Dita Lauenburgs Werk sein?“, fragte Ottkens erstaunt dazwischen.
„Zweifellos! Man sieht gerade aus dieser Notiz, die einen überraschenden Ausgang jenes Automobilunfalls voraussagt, nach welch wohlüberlegtem Plane die junge Dame gehandelt hat! Die große Menge ist auf etwas Besonderes vorbereitet und niemand wird jetzt mehr erstaunt sein, wenn morgen abend in den Altstädter Neuesten Nachrichten etwa folgendes steht – nebenbei werde ich nach Rücksprache mit ihrem Freunde und seinem jetzigen Schwager diese Mitteilung noch genauer festsetzen –: Eine überraschende Lösung hat jener rätselhafte Vorfall gefunden, bei dem am Dienstagabend der vorigen Woche eine junge Dame von einem Automobil überfahren und anscheinend schwer verletzt wurde. Wie wir jetzt erfahren, haben die Räder des Kraftwagens die Betreffende nur leicht gestreift, so daß von einer ernstlichen Verletzung keine Rede sein kann. Dazu war das Automobil noch Eigentum eines nahen Verwandten der jungen Dame, die bereits seit Tagen vollkommen wiederhergestellt ist. –
Mit dieser Notiz, die niemand auf ihre Richtigkeit nachprüfen wird, da die Beteiligten eben schweigen werden, dürfte die Neugier des Publikums befriedigt und die ganze Sache für immer begraben sein. – Ja, und eigentlich noch umsichtiger war von Fräulein Lauenburg, um darauf zurückzukommen, dieser Trick mit der Einladung zu dem Rendezvous. Gewiß, es war ein Experiment, das ebensogut hätte fehlschlagen können. Aber ich selbst habe mir auch sofort davon einen Erfolg versprochen und deshalb Herrn Pollnow veranlaßt, der Aufforderung Folge zu leisten. Der erwartete Erfolg ist eingetreten, wie ich von weitem hinter meinem Malschirm hervor sehr gut beobachten konnte. Und in dieser Minute wird vielleicht Ihr Freund dem jungen Brautpaar gerade seinen Segen geben!“
Der Kellner hatte inzwischen die Sektkelche gefüllt. Ritterweck nahm jetzt sein Glas und fuhr heiter fort… „Also lassen Sie uns getrost auf das jüngste Brautpaar anstoßen, Herr Doktor! Es lebe!“ – Sie leerten die Gläser. Dann meinte Ottkens noch immer kopfschüttelnd: „An die Lösung habe ich allerdings nie gedacht, nie! Und diese Dita Lauenburg…!! Einfach bewundernswert!“
„Es handelte sich ja um eine Verlobung, bester Herr Doktor,“ lächelte der Detektiv, „und da entwickeln Damen stets ungeahnte Fähigkeiten!“
Der kleine Referendar lachte mit. Ihm war doch leichter ums Herz, nachdem die Geschichte diesen frohen Ausgang gefunden hatte. Und als er jetzt sein Sektglas gegen Ritterweck hob, war etwas wie herzliche Anerkennung in seiner Stimme.
„Auf Ihr Speziellstes, Herr … Doktor! Ich trinke auf die … geistige Überlegenheit, die sich mir in Ihrer Kunst offenbart hat. Prosit!“
*
Nach ungefähr drei Wochen erhielt Ritterweck – er hatte inzwischen schon einen neuen Fall oben im Holsteinischen glücklich erledigt – zusammen mit einer Verlobungsanzeige und zwei mit vielen Unterschriften bedeckten Ansichtskarten einen Brief von dem ‚ewigen Rechtskandidaten‘ Max Schüler, der ihm manches Lächeln entlockte…
Stranddorf, 2. August 190.
Mein lieber Herr ‚Meier‘!
Zunächst das Wichtigste! Ihre Prophezeiung ist eingetroffen: Gestern hat sich Pollnow mit Dita Lauenburg verlobt. Wir haben das Ereignis in demselben reservierten Zimmer im Rheingold gefeiert, wie damals Fritzens Verlobung. Und – ohne Ihnen schmeicheln zu wollen – wieder ist Ihrer in den verschiedenen Reden mit herzlichster Dankbarkeit gedacht worden! Schade, daß Sie dieses Mal nicht dabei waren, daß uns Ihr sonniger Humor fehlte! Inzwischen werden Sie die Anzeige und die Karten, die wir gestern an Sie abgeschickt, wohl erhalten haben. Beide – Lauenburg und Pollnow – haben mir wiederholt gesagt, daß sie eine Absage Ihrerseits zu der Ende Oktober stattfindenden Doppelhochzeit auf keinen Fall annehmen! Sie müssen kommen, schon weil ich Sie für einen geplanten Polterabendscherz notwendig gebrauche, in dem die Geschichte des rätselhaften Automobilunfalls dramatisch-parodistisch verwertet ist. Also…!! – Nun zu mir! Nach langem Kampfe haben meine Eltern endlich nachgegeben. Die Jurisprudenz wird an den Nagel gehängt. Ich trete am 1. Oktober als Kriminalanwärter beim Polizeipräsidium Berlin ein. Sie sehen, wie Ihre Anregung gewirkt hat. So bin auch ich Ihnen zu großem Danke verpflichtet, der Sie meinem Leben eine neue Richtung gegeben haben. –
Daß die Zeitungen und das Publikum Ihre famose, aufklärende Notiz als reinste Wahrheit genommen haben und die Automobilgeschichte längst vergessen ist, ist ein neuer Beweis für die Richtigkeit der von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen. Ottkens gehört nach wie vor zu Ihren begeistertsten Verehrern, die beiden Brautpaare natürlich ausgenommen. –
Alles andere mündlich, da ich in der nächsten Woche in Berlin erscheine, um mich beim Polizeipräsidium vorzustellen. Auf Wiedersehen!
Mit herzlichem Gruß
Ihr
Max Schüler
Schluss!
Ab dieser Stelle mit dem nachfolgenden abweichendem Ende erschien der Roman unter dem Titel Der geheimnisvolle Automobil-Unfall in der täglichen Beilage zum „Mainzer Journal“ 12. Jahrgang 1914; Heft 266 (14.11.1914) – 275 (25.11.1914):
Jetzt endlich begriff Pollnow den wahren Sachverhalt.
„Der Herr ist Ihr Bruder, ist Fritz Lauenburg?“ stieß er hervor und schaute sie dabei mit bangem Forschen an.
Dita nickte nur.
„Ja, Sie haben recht – er ist’s,“ sagte sie einfach. Und dann fuhr sie bittend fort:
„Nicht dieses finstere Gesicht, Herr Pollnow! Vergessen Sie das eine nicht: Sie haben meinem Bruder verziehen! Und Ihr Wort werden Sie doch nicht brechen wollen?“
Noch schaute er mit gefurchter Stirn vor sich hin in den leuchtenden Seesand. In seinem Innern arbeitete es schwer. Er hatte sich überrumpeln lassen, hatte sich von diesem Mädchen ein Versprechen ablocken lassen, das er bei genauer Kenntnis der Verhältnisse vielleicht nicht gegeben hätte. Aber – war er hier nicht wirklich völlig machtlos, mußte er unter den jetzigen Umständen nicht gute Miene zum bösen Spiel machen? Und war’s nicht vielleicht am besten für alle Teile – auch für ihn. Das fühlte er nur zu genau – daß Dita für ihn bereits mehr, viel mehr bedeutete, als nur die hilfsbereite Freundin seiner Schwester!
Nur sekundenlang durchzuckten diese Erwägungen seinen Geist. Jetzt blickte er zu seiner Nachbarin empor, die in ängstlicher Spannung jede Veränderung in seinen Mienen beobachtet hatte.
„Gnädiges Fräulein,“ sagte er fest, aber mit warmem Unterton in der Stimme, „ich halte mein Versprechen. Von meiner Seite wird nichts geschehen, um Ihrem Bruder aus dieser unglückseligen Geschichte irgend welche Schwierigkeiten zu bereiten.“
Da blitzte es schalkhaft in ihren Augen auf.
„Also keinerlei Schwierigkeiten – in nichts?“ fragte sie nochmals.
Er merkte, daß sie noch einen weiteren Angriff auf sein versöhnliches Herz unternehmen wollte, ahnte auch, worauf sie hinaus wollte. Trotzdem erwiderte er ebenso offen:
„Mein Wort gilt! – In nichts!“
Ein sonniges Lächeln flog da um ihren Mund.
„Wie glücklich Sie mich machen, Herr Pollnow!“ rief sie warm und streckte ihm impulsiv die Hand hin. „Haben Sie Dank, innigen Dank! – Und nun das Letzte, das ich jetzt ja auch ohne Zaudern aussprechen darf: Wäre Ihnen mein Bruder als – Schwager willkommen?“
Es schien, als ob ihre Herzensfreudigkeit nun auch in seiner Seele gleiche Empfindungen auslöste.
„Ja, denn, Sie besorgte, liebe Zauberin – Fritz soll Ellen haben, nur – glücklich muß sie werden, ganz glücklich,“ entgegnete er heiter.
Noch ruhten ihre Hände ineinander. Und jetzt erhob Dita sich schnell, zog ihn lachend mit sich fort und rief übermütig:
„Schnell, schnell – das Brautpaar wartet ja schon so sehnsüchtig auf Ihren Segen!“
10. Kapitel
Als die beiden Gestalten bei den ersten Häusern des Badeortes verschwunden waren, erhob sich auch der Maler hinter seinem Schirm und schaute nach dem Wäldchen hinüber, wo ein kleiner Junge bisher im Grase gelegen und sich aus einem Weidenzweig eine Pfeife zurechtgeschnitzelt hatte. Jetzt kam der Knabe auf den Maler zugelaufen und belud sich mit dessen Sachen, – der Staffelei, dem Schirm und dem Malkasten. Neugierig blickte der kleine Bursche dabei auf die Leinwand. Er wollte doch zusehen, was der Herr inzwischen fertiggebracht hatte. Aber zu seinem Erstaunen war der Leinwandstreifen noch ebenso grau und leer wie vorhin. Der angebliche Künstler hatte auch nicht einen einzigen Pinselstrich getan.
Ritterweck – denn kein anderer war der Maler gewesen – sah das verblüffte Gesicht des Jungen und lachte still vor sich hin.
„Ja, ja, kleiner Kerl, es gibt auch Maler, die nur deswegen sich hinter einem Schirm verbergen, um ungestört beobachten zu können,“ meinte er gutgelaunt. „Und ich habe denn auch wirklich soeben den Ausgang eines spannenden Romans miterlebt, den ich herbeiführen wollte, – habe Glück gehabt. Und deshalb sollst du für deine Dienste auch eine blanke Mark haben, kleiner Freund. So, nun bringe die Sachen wieder in das Geschäft zurück, wo wir sie uns vorher entliehen haben. Addio – und werde später ein braver Mensch!“
Dann schritt Ritterweck langsam denselben Weg zurück, den vor ihm Dita und Erich Pollnow gegangen waren. Der Junge aber trottete schwer beladen hinter ihm her. Von dem, was der Herr ihm eben gesagt, hatte er natürlich nichts verstanden. Aber das war ihm auch gleichgültig. Er besaß ja jetzt eine Mark, – eine ganze Mark – für ihn ein Vermögen! –
Als Ritterweck an der Terrasse des Strandhotels vorüberkam, bemerkte er den kleinen Referendar, der an einem der weißgedeckten Tische saß und eifrig die Badeliste studierte.
„Morgen, Herr Ottkens,“ rief er ihn an und blieb stehen.
Ottkens ließ das Blatt sinken und schaute dem Detektiv nicht gerade freundlich entgegen. Die Vertraulichkeit dieses Herrn ging ihm auch jetzt sehr wider den Strich.
„Guten Morgen,“ meinte er kurz. „Wünschen Sie etwas, Herr Meier?“
„Wünschen? Nein! Ich wollte Ihnen nur einen guten Rat geben,“ meinte er gönnerhaft. „Damit aber nicht jedermann uns hört, werde ich mich für einen Augenblick zu Ihnen setzen.“
Als er dann Platz genommen hatte und sofort ein Kellner sich einfand, um nach seinen Befehlen zu fragen, überlegte er kurz und bestellte darauf eine Flasche Sekt.
„Eigentlich trinke ich ja vormittags grundsätzlich keinen Alkohol, Herr Ottkens,“ erklärte er dem verdutzten Referendar, „aber heute ist ein Festtag. Da kann man schon mal unsolide sein. Und Sie müssen mir die hohe Ehre antun und ein Glas mittrinken, – auf jeden Fall!“
Ottkens wollte ablehnen.
„Hören Sie nur erst, auf wessen Wohl wir anstoßen wollen, dann werden Sie sicher keine Ausflüchte mehr machen, – wetten?“ meinte Ritterweck da lachend.
Der Referendar suchte abzulenken.
„Ich denke, Sie wollten wir einen Rat geben, Herr Meier?“ sagte er kühl.
„Lassen Sie jetzt den ‚Meier‘ ruhig für immer in der Unterwelt versinken,“ lachte Ritterweck, dem die Unnahbarkeit des noch immer ihm gegenüber recht unliebenswürdigen Referendars nur Spaß machte. „Meine Mission hier ist zu Ende. Ich kann daher meinen wahren Namen Ritterweck wieder ohne Schaden führen. Und mein guter Rat…? – Der geht dahin, daß Sie sich nachher in Besuchstoilette werfen und in der Villa Lauenburg eine Gratulationsvisite abstatten.“
„Wie habe ich das zu verstehen?“
„Eine Erklärung folgt sofort. Ich will nur erst unsere Gläser füllen. – So, – und nun stoßen Sie mit mir an auf das jüngste Brautpaar, auf Ellen Pollnow und Fritz Lauenburg!“
Dr. Ottkens hatte fraglos schon geistreicher ausgesehen als in diesem Augenblick. Endlich faßte er sich soweit, um mit seiner etwas hochmütig zurückgebogenen Kopfhaltung fragen zu können:
„Soll das ein schlechter Scherz sein, Herr Ritterweck?“
„Alles andere, nur nicht das, Herr Ottkens,“ kam die Erwiderung völlig ernst heraus. „Ich begreife aber, daß Ihnen meine Andeutungen nicht recht verständlich sein können. Hören Sie also – doch zunächst: Es lebe das Brautpaar!“
Was Ottkens dann von dem Detektiv in den nächsten fünf Minuten erfuhr, entlockte ihm mehr denn einen Laut des Erstaunens. Und als Ritterweck geendet hatte, sagte der Referendar mit einer Ehrlichkeit, die ‚Meier‘ diesem anmaßenden Vertreter der jüngerer Juristenwelt kaum zugetraut hätte:
„Sie haben diesen ungewöhnlichen Kriminalfall wirklich mit einem Geschick erledigt, Herr Ritterweck, das uneingeschränkte Anerkennung verdient, wobei besonders hoch der Umstand zu bewerten ist, daß Sie gleichzeitig auch in so hervorragender Weise die schützende Vorsehung der Liebenden gespielt haben. – Jetzt erst sehe ich so recht ein, wie viel ich Ihnen abzubitten habe,“ fuhr er nach kurzer Pause, verlegen seinen Sektkelch zwischen den Fingern drehend, fort. „Sie können aus meinem bisherigen Verhalten Ihnen gegenüber nur zu leicht ganz falsche Schlüsse ziehen – und zwar auf meine Charaktereigenschaften. Ich gehöre nun trotz vielfacher Schwächen nicht zu den Menschen, denen es gleichgültig ist, wie sie von der Mitwelt beurteilt werden. Mit einem Wort – ich möchte mich Ihnen gegenüber rechtfertigen. Es gibt da verschiedene Zwischenfälle, die leicht zu meinen Ungunsten gedeutet werden könnten, so zum Beispiel…“
„Aber mein lieber Herr Ottkens,“ unterbrach Ritterweck ihn hier mit etwas übertriebener Höflichkeit, „wozu wollen Sie nochmals an die kleinen Nadelstiche erinnern, die wir uns gelegentlich versetzt haben, und zwar gegenseitig? Ihr Tun und Lassen war doch nur von dem Gedanken beeinflußt – das kann gerade ich am besten überschauen! – Ihren Freund Pollnow nach Möglichkeit zu schützen. Daß Sie in diesem Bestreben bisweilen – sagen wir ‚vorbeigegriffen‘ haben, wird Ihnen niemand zum Vorwurf machen, ich am allerwenigsten. Begraben wir all das, Herr Ottkens – für immer! Man täuscht sich ja so leicht in einem Menschen! Hier stoßen Sie mit mir an auf eine endgültige Versöhnung!“
Auf diese Weise rechnete Ritterweck mit seinem gefährlichsten Gegner ab, höflich und doch mit leicht verständlichem Hinweis darauf, daß seine Intelligenz auch bis zum Schluß über seine heimlichen Widersacher triumphiert habe.
Die Sektkelche klangen zusammen, und beide leerten sie bis auf den letzten Tropfen.
Bald darauf führte ein Zufall auch den ‚ewigen Rechtskandidaten‘ am Strandhotel vorüber. Als er die beiden in so trautem Verein bei einander sitzen sah, glaubte er erst seinen Augen nicht recht trauen zu dürfen. Dann aber flog ein verständnisinniges Lächeln über sein Lebemannsgesicht.
„Versöhnungsfeier?“ fragte er vor dem Tische stehen bleibend.
„Verlobungsfeier auch!“ meinte Ottkens in selten guter Laune.
Daß es jetzt nicht bei der einen Flasche Sekt blieb, ist selbstverständlich.
*
Am Abend desselben ereignisreichen Tages war in einem reservierten Zimmer des Weinrestaurants ‚Rheingold‘ eine kleine Gesellschaft zu einer intimen Familienfeier vereinigt – Erich Pollnow war’s, der dabei eine humorvolle Rede auf das junge Brautpaar hielt, eine Rede, in der Ritterweck als der Schutzengel der Liebenden in allen Tonarten gepriesen wurde.
Der junge Detektiv dankte für die ihm dargebrachten Ovationen, die, das fühlte er, alle aus ehrlichen, dankbaren Herzen kamen, in derselben launigen Weise, vergaß aber auch nicht die Verdienste seines Gehilfen, des ‚ewigen Rechtskandidaten‘, in das rechte Licht zu rücken, der doch auch sein Teil zur Lösung all der Schwierigkeiten beigetragen habe.
Ritterweck zeigte sich dann auch im weiteren Verlaufe des Abends als ein amüsanter, vielfach begabter Gesellschafter. Seine improvisierten, launigen Verschen, zu denen er sich selbst auf dem Klavier begleitete, wurden jubelnd stets aufs neue verlangt. Bald bildete seine Person den Mittelpunkt des fröhlichen Kreises, und Erich Pollnows Sympathien für den flotten, jungen Berliner waren am Schluß des Abends soweit gestiegen, daß er ihm das feste Versprechen abnahm, Ritterweck müsse ihn baldigst für längere Zeit auf seinem Gute besuchen.
„Gern, sogar sehr gern, Herr Pollnow,“ meinte der Detektiv ehrlich erfreut. „Ich habe im Herbst Anspruch auf einen vierwöchigen Urlaub, und wenn Sie gestatten…“
„Abgemacht! Die vier Wochen verleben Sie bei mir!“
Sie schüttelten sich fest die Hände. Hier war eine Freundschaft für das Leben geschlossen, das empfanden sie beide in dem Moment.
*
Ritterweck erschien wirklich am 3. Oktober in Johannistal. In seinem Koffer lag wohlverpackt sein eleganter Frackanzug. Denn Pollnow hatte ihm geschrieben, daß Ende Oktober eine große Doppelhochzeit gefeiert werden sollte: Ellen Pollnow – Fritz Lauenburg, Dita Lauenburg – Erich Pollnow, welch letztere sich sehr bald nach der Abreise des Detektivs ebenfalls verlobt hatten.
Zu der Hochzeit fand sich auch Max Schüler, der inzwischen bei der Kriminalpolizei in Berlin als Anwärter für die Kommissarkarriere eingetreten war, als gerngesehener Gast ein. Und so versammelte dieses Fest nochmals alle die, die in dem zunächst so tragisch erscheinenden und später so harmonisch ausklingenden Kriminalfall eine Rolle gespielt haben.
Schluss!