Kriminalroman
von
Walter Kabel
Berlin
1929
Dieser Roman erschien als
— Band 4 —
der Sammlung Moderne
Kriminalbücher im Verlag
Moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin. Michaelkirchstr. 23 a
Nachdruck verboten. — Alle Rechte, einschließlich das
Verfilmungsrecht, vorbehalten. — Copyright 1929 by
Verlag moderner Lektüre G. m, b. H., Berlin SO. 16.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO. 16.
Heinrich Seiler wartete bereits eine Stunde vor der Tür der Kneipe auf seinen Vater. Hin und wieder hatte er es gewagt seinen struppigen Kopf, auf dem ein grüner, verschossener Filzhut saß, durch einen Spalt der Tür in den dunsterfüllten Raum hineinzustecken, aus dem lautes Stimmengewirr hervortönte. Dicht gedrängt umstanden die Arbeiter den Schenktisch, vor sich in den dickwandigen Gläsern den entnervenden Schnaps, der sie einmal in jeder Woche, am Tage der Lohnzahlung, ihr stets gleichbleibendes Elend vergessen machen sollte. —
Heinrich Seiler wußte, daß sein Vater sich in der Kneipe befand. Daher wartete er mit jener gleichgültigen Ruhe, die er allen Vorfällen in seinem freudlosen Dasein entgegenbrachte, weiter an der Straßenecke, ging vor den beiden Schaufenstern des Lokals auf und ab und fror — fror. Der Frühjahrswind fuhr durch die Löcher seiner kurzen Jacke, seine Hosen, seiner Stiefel — dieser Stiefel, die nie ein Paar gewesen sein konnten. Denn der rechte, ein Schaftstiefel von ziemlicher Größe, entstammte einem Kehrichthaufen, der unlängst nach einem Umzug in dem Hausflur eines der feinen Häuser in der Hauptstraße gelegen hatte. Der linke Stiefel dagegen war ein Geschenk von Heinrichs Flurnachbar, dem Flickschuster Albrecht, der diesen etwas stark mitgenommenen Damenzugstiefel unter seinem geringen Ledervorrat auf dem Boden gefunden und zur Ergänzung des derberen rechten Bruders hergegeben hatte.
„Während der Junge so wartend dastand, hatte sich ihm eine in ein großes Umschlagtuch gehüllte Frau genähert, in deren vergrämten Zügen noch jetzt die seinen Linien einstiger Schönheit erkennbar waren. Die Frau schaute eine Weile stumm dem Treiben des Jungen zu. Dann faßte sie ihn unsanft bei der Schulter. Heinrich fuhr herum. Ihm blieb vor Schrecken der Mund offen stehen.
„Mutter — Du —?“
„Bengel — hier stehst Du und faulenzt —! Und ich warte auf Vater, und die Kartoffeln sind schon ganz kalt geworden!“ — Ritsch, ratsch, hatte Heinrich ein paar gediegene Maulschellen versetzt bekommen. Aber merkwürdigerweise schien ihn das weiter nicht zu rühren. Vielmehr sagte er ohne die geringste Erregung:
„Mutter ich kriege den Vater nicht raus.“ — Dabei wies er mit seiner krebsroten Hand auf die Tür der Destille.
„Nicht raus — na warte!“ — Damit war die Frau auch schon in der Kneipe verschwunden.
Gleichmütig drehte Heinrich sich wieder dem Schaufenster zu und setzte sich seinen durch die Ohrfeigen stark beunruhigten Hut gerade. Dann lehnte er sich gegen die Hauswand, schlug ein Bein über andere pfiff leise durch die Zähne.
„Heute gibt’s zu Hause wieder Prügel“, überlegte er sachkundig. „Sicher ist Vater schon sehr betrunken, sonst würde er mehr Skandal machen. —“
Da wurde es plötzlich in der Destille lebendig. Man hörte bis draußen eine keifende Weiberstimme und dazwischen den dröhnenden Baß eines Mannes. Hin und wieder erhob sich tobendes Gelächter.
Dann flog plötzlich die Tür auf, und heraus torkelte ein riesenlanger Kerl, dem die Frau mit dem Umschlagetuch folgte. — Heinrich wußte sofort, was er zu tun hatte. Er faßte den Betrunkenen unter den einen Arm während die Mutter den Schwankenden von der anderen Seite stützte, und dann bog der Zug unter vorsichtigem Lavieren in die enge Seitenstraße ein, die in das Arbeiterviertel der Vorstadt führte. Der Trunkene schimpfte, auch drohte er des öfteren umzusinken. Aber Frau und Kind hielten ihn, und so ging’s langsam durch die immer enger und schmutziger werdenden Straßen dem kleinen Häuschen zu, in dem der Werftarbeiter Friedrich Seiler wohnte.
Dieser legte sich dann nachher mit Hilfe seiner Frau zum Schlafe nieder, und bald zeigten laute Schnarchtöne an, daß er fest eingeschlummert war. Jetzt erst wagten Mutter und Sohn an sich zu denken. Schweigend verzehrten sie den Rest der Kartoffeln und der beiden Heringe und tranken aus der großen Blechkanne einen Schluck Kaffee dazu. Dann machte sich Frau Seiler seufzend ans Aufräumen, trug das wenige Geschirr ab und verschwand damit in der engen Küche. Diese Gelegenheit benützte Heinrich. Ein Griff, und er hatte seinen grünen Filzhut in Händen, ein Satz, und er war zur Tür hinaus. Lauschend blieb er in dem Flur stehen, holte tief, tief Atem und schlich dann zum Hause hinaus.
Langsam schlenderte er um das Haus herum und schaute zu den kleinen Giebelfenstern empor. Dort oben hauste der Flickschuster Albrecht, ein Witwer, mit seinen beiden Söhnen Hans und Karl. Heinrich blickte sich erst vorsichtig um: dann steckte er den gekrümmten Zeigefinger in den Mund und stieß einen besonderen Pfiff aus, der langsam zu gellender Höhe anschwoll und in einem kunstgerechten Triller endigte. Schnell wie ein Schatten huschte er hierauf über den Hof und verschwand hinter dem langgestreckten Stallgebäude in der Dunkelheit. —
Heinrich wartete auf die beiden Brüder Albrecht, die er durch das vereinbarte Signal von dem endlichen Beginn seiner freien Abend- und Nachtstunden benachrichtigt hatte. Er saß hinter dem Stalle auf der hölzernen, halb verfaulten Brunnenröhre, die schon so lange dort lag, wie Heinrich sich auf die regelmäßige Betrunkenheit seines Vaters an den Sonnabenden besinnen konnte.
Es war eine dunkle Nacht. Der Himmel war mit Wolken dicht bedeckt, durch deren Schleier nur bisweilen ein einzelner Stern aufblinkte. Der Frühjahrswind, der über das Feld auf den Stall zu wehte, ließ Heinrich vor Frost zusammenschauern. Aber er hielt aus. Er saß da und überlegte so manches, was ihm in letzter Zeit aufgefallen war. Nicht daß er sich Gedanken über die Verhältnisse in seinem Elternhause gemacht hätte. Das ließ ihn alles kalt — er war’s nicht anders gewöhnt. Aber anderes veranlaßte ihn zum Grübeln.
Woher hatten die beiden Söhne Albrechts nur immer das viele Geld, warum nahmen sie ihn nun schon seit Wochen nicht mehr mit, wenn sie abends ihre Streifzüge durch die Straßen der Vorstadt und über die nahen Felder machten?
Heinrich Seiler hatte die beiden oft genug gebeten, ihn in ihre neuesten Geheimnisse einzuweihen. Aber immer drückten sie sich um eine Antwort herum, wichen ihm aus, so daß er oft genug in letzter Zeit versucht hatte, ihnen heimlich nachzuspionieren. Einmal war er ihnen auch nachgeschlichen und war ihnen bis in den nahen Stadtwald gefolgt. Aber in der Dunkelheit hatte er sie bald aus den Augen verloren und trotz eifrigsten Spürens nicht herausbekommen, was die beiden Brüder zu so später Stunde auf den menschenleeren, unheimlich dunklen Waldwegen gesucht hatten.
Heute Abend wollte er sie nochmals fragen, und, wenn er dann wieder keine ausreichende Antwort erhielt, dann — dann — Da kamen die Erwarteten auch schon wie die Katzen herbeigeschlichen. In ihren erdfarbenen Anzügen in der Dunkelheit kaum sichtbar, hätte ein weniger feines Ohr wie das Heinrich Seilers ihr Kommen kaum bemerken können, besonders da die Jungen keine Lederstiefel, sondern aus grobem Segeltuch genähte, recht ungeschlachte, aber sicher sehr billige und bequeme Schuhe trugen.
Die drei schüttelten sich erst die Hände und tauschten dann leise einige Bemerkungen aus, die sich auf den Grad der Betrunkenheit des alten Seiler und die genossene Abendmahlzeit bezogen.
Heinrich war aufgestanden und suchte nun eine Gelegenheit, wie er am besten die von ihm beabsichtigten Fragen anbringen könnte. Als das Gespräch abzuflauen begann, sah er sehr wohl, wie Hans, der Ältere, verstohlen seinen Bruder in die Rippen stieß.
Sofort argwöhnte er, daß die beiden sich wieder ohne ihn davon machen wollten. Und gleichzeitig kam es ihm auch zum Bewußtsein, daß er heute von seinen Freunden ebensowenig eine Antwort zu erwarten hätte, wie an den Tagen vorher. Daher schoß es ihm durch den Kopf, daß es wohl das Beste sein würde, ihnen heute, falls sie wieder ohne ihn aufbrachen, nochmals heimlich zu folgen.
Und richtig, da begann auch schon Karl Albrecht, der Jüngere und Schlauere:
„Du, Heinrich, der Vater hat uns gesagt, wir sollen zu Tante nach der Wernerstraße gehen und für morgen Kartoffeln holen. Wir können Dich aber nicht mitnehmen, da wir mit der Elektrischen fahren, und Du doch kein Geld hast —“
Heinrich erwiderte sehr gelassen: „Dann geht nur — ich bin auch zu müde —“
Die drei verabredeten noch einen Ausflug für den morgigen Vormittag und trennten sich hierauf,
Kaum waren die Brüder Albrecht um die Hausecke verschwunden, als Heinrich sich auch schon die Schuhe von den Füßen riß und achtlos neben sich hinwarf. Dann huschte er um die Stallecke über den Hof auf die Straße. Kaum dreißig Schritt vor sich sah er die beiden gehen. Nun begann er die Verfolgung, drückte sich vorsichtig an den Häusern entlang, mied das Laternenlicht, blieb ihnen aber dicht auf den Fersen. Sie gingen wirklich dem vornehmen Viertel der Vorstadt zu; so schien es wenigstens anfangs. Dann blieben sie plötzlich an einer Straßenkreuzung stehen und schauten sich um.
Heinrich Seiler hatte sich sofort in den Schatten eines Gartenzaunes niedergeduckt und beobachtete sie angestrengt. Da verschwanden sie auch schon in einer Nebenstraße. Die Jagd ging weiter; aber jetzt bewegten, sich die Brüder auf Umwegen wieder dem ärmeren Viertel zu. Sie gingen eine Straße entlang, die gerade auf den Stadtwald zuführte und noch mit alten Petroleumlampen erleuchtet wurde, daher in ziemliches Dunkel gehüllt war.
Heinrich folgte ihnen jetzt lautlos in nächster Nähe. Besonders als sie in den Wald kamen, war er bis auf wenige Schritte hinter ihnen. Dann verschwanden sie im Schatten der ersten hohen Buchen, unter denen vollkommenste Finsternis herrschte.
Die Brüder hatten keine Ahnung, daß sie beobachtet wurden. Mit großer Sicherheit eilten sie auf dem ich kaum als hellere Linie abzeichnenden Waldwege dahin. Sie sprachen kein Wort. Nur das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen und dann und wann das Knacken eines zertretenen Zweiges ließ sich hören.
Es ging bergan. Heinrich kannte sich, als er sich erst an die Dunkelheit gewöhnt hatte, ganz gut aus. Aber er mußte vorsichtig sein. Zum Glück machten seine nur mit wollenen Strümpfen bekleideten Füße seine Schritte unhörbar. Immer weiter ging es, vorbei an dem großen Spielplatz, wieder bergan über die Holzbrücke, die die Schlucht überspannte.
Bisweilen überlief Heinrich eine Gänsehaut, wenn im nahen Gebüsch ein Käuzchen kreischte oder der Wind besonders hohl durch die Fichtengipfel sauste. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals hinauf. Aber das Fürchten hatte er lange verlernt, und seine Energie, die in der harten Lebensschule nur zu früh gestählt worden war, ließ ihn auch die Schrecknisse dieser nächtlichen Wanderung überwinden.
So gings gut eine Viertelstunde in ziemlich schnellem Tempo vorwärts. Da bogen die Brüder vor ihm plötzlich rechts ab. Nur undeutlich konnte er ihre dunklen Gestalten sehen, wie sie jetzt auf einem schmalen Pfade, einer hinter dem anderen, dahinschritten. Die drei waren nun bis an den westlichen Rand des Waldes gekommen und betraten das offene Feld, über das ein Fußpfad zu der bergigen Ginsterheide führte.
Heinrich kannte diese große, unbebaute Heide, die eine weite Fläche bedeckt, sehr gut von gelegentlichen Streifzügen her. Es war ein ganz abgelegenes, hügeliges Gelände, ein unfruchtbarer Boden, auf dem nur Schafgarbe und der gelbblühende Ginster üppig wucherten. Nur selten verirrte sich ein Mensch in diese Einsamkeit.
Jetzt hieß es wieder vorsichtiger sein und die Entfernung zwischen sich und den Brüdern vergrößern. Doch seine Ortskenntnis kam ihm zustatten. Unaufhaltsam ging es weiter vorwärts über frischgepflügte Äcker, immer näher an die Ginsterberge heran. — Vergeblich zermarterte sich Heinrich den Kopf, was die beiden wohl vorhaben könnten. Er überlegte dies um das, bis er schließlich die einzige, ihm möglich erscheinende Antwort fand: Sie stahlen Kartoffeln aus einer Miete!
Zu Heinrichs Pech begannen sich die Wolken gerade jetzt zu zerteilen, und er mußte daher weiter zurückbleiben. Plötzlich machten die Brüder halt. Er hörte sie miteinander sprechen — schon glaubte sich entdeckt. Furchtsam duckte er sich ganz tief auf die Erde. Aber nichts ereignete sich.
Als er wieder aufzublicken wagte, waren sie verschwunden. Er richtete sich auf, strengte seine Augen an. Da — sie gingen wieder vor ihm weiter.
Der Junge atmete auf. Tief gebückt begann er ihnen abermals nachzuschleichen, bergauf, bergab, jetzt immer tiefer in die Heide hinein. Oft sah er die beiden wie dunkle Flecken schnell über einen Bergrand huschen. Ebenso so schnell war er dann oben, lauschte und forschte, bis er sie wieder sah.
Heinrich merkte bald, daß die Brüder augenscheinlich auf die Schlucht zuhielten, die ziemlich in der Mitte der Ginsterberge gelegen und mit einigen verkrüppelten Sträuchern und Wacholderbüschen bestanden war. Jetzt waren sie dicht an der Schlucht. Nun hatte er sie aus den Augen verloren: dann tauchten ihre Gestalt nochmals auf und dann — stand Heinrich am Ostabhange der jäh abfallenden Schlucht, die vielleicht fünfundzwanzig Meter tief war, und suchte vergeblich mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Er lauschte und spähete — nichts. Nur der Wind säuselte in den Ginstersträuchern.
2.
Schusterkarl.
Kriminalkommissar Kern gingt erregt in seinem Amtszimmer auf und ab, während der Kriminalbeamte Fischer schnell den Bericht durchlas, der soeben vom Berliner Polizeipräsidium eingegangen war. Als Fischer jetzt das mehrere Bogen starke Schreiben mit einem „Danke, Herr Kommissar“, auf den Tisch zurücklegte, meinte Kern in seiner nervösen Art:
„Na, was halten Sie von der Geschichte? — Nette Arbeit für uns — und so hübsch undankbar! Nun sollen wir den Berlinern nach der Personalbeschreibung und der Photographie den „Schusterkarl“, alias Paul Nötig suchen! Suchen, weil alle Spuren darauf hinweisen, daß er nach seiner letzten großen Sache, dem Einbruch in das Heisersche Goldwarengeschäft, sich hierher gewandt hat.“ „Das hat doch viel Wahrscheinliches, Herr Kommissar“, sagte Fischer bedächtig. „Schusterkarl ist doch, wie der Bericht besonders hervorhebt, im vorigen Sommer hier zwei Monate bei dem Flickschuster Albrecht in der Gneisenaustraße in der Vorstadt als Geselle tätig gewesen — natürlich nur, um für einige Zeit gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Und da nehmen die Berliner, besonders wo er erwiesenermaßen ein Billet hierher gelöst hat, an, daß er bei diesem Albrecht nebenbei auch so ein etwas dunkler Ehrenmann, wieder einen Unterschlupf als ehrsamer Arbeiter suchen wird, um erst Gras über die Heisersche Einbruchssache wachsen zu lassen.“
„Ja, meinen Sie denn wirklich, Fischer, daß der Kerl so dumm sein wird! Der weiß doch auch wie gut wir über sein Vorleben unterrichtet sind und — na kurz und gut, ich halte es für überflüssig, überhaupt bei diesem Albrecht nachzuschauen.“
Der Kommissar war an seinen Arbeitstisch getreten und hatte den Bericht zur Hand genommen.
„Damit wir uns aber später nicht irgend eine Nachlässigkeit vorzuwerfen brauchen, können Sie ja immerhin diesen Flickschuster etwas aufs Korn nehmen.“
Der Kriminalbeamte, ein korpulenter, gutmütig blickender Mann, dem die Brille und der dünne blonde Schnurrbart eher das Aussehen eines harmlosen Dorfschulmeisterleins als das eines Angehörigen der Sicherheitsbehörde gaben, fragte nunmehr bescheiden: „Dann habe ich also vorläufig Urlaub?“
„Vorläufig?! — Aber, Fischer, nun machen Sie schon wieder aus dieser Sache eine Haupt- und Staatsangelegenheit, wollen Tage für Nachforschungen vergeuden, die uns sicher um nichts weiter bringen! — Nein, für den Albrecht da draußen in der Vorstadt genügen sicher einige Stunden. Und dann suchen Sie lieber die Herbergen und die Hotels ab. Möglich ist ja, daß Schusterkarl einmal wieder unter der Maske irgend eines Geschäftsreisenden in einem Hotel wohnt — doll ja ein beliebter Trick von ihm sein.“
Fischer nickte nur. „Haben Sie sonst noch Befehle, Herr Kommissar?“
„Nein — aber morgen möchte ich Ihren Bericht hören.“
Als der Beamte gegangen war, nahm Kern seine Promenade wieder auf. Sein bartloses Gesicht verzog sich öfters zu einer so unzufriedenen Miene, daß man nicht falsch riet, wenn man diesen sich so deutlich zeigenden Ärger noch etwas anderem als nur dem Berliner Bericht und der damit verbundenen Aufgabe zuschrieb. Jetzt murmelte der Kommissar einige Worte zwischen den dünnen Lippen hervor, blieb dann vor dem Fenster stehen und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben.
Kern hatte Sorgen, Ärger, und außerdem zwackte ihn noch der Ehrgeiz. War doch der Kriminalinspektor Winkler vor kurzer Zeit auf Urlaub gegangen und munkelte man doch, daß dieser Urlaub der baldigen Pensionierung vorausginge. Und da war er ja nun eigentlich dran, Inspektor zu werden — eigentlich! Aber! Und dieses „Aber“ machte dem Kommissar Sorgen und trieb ihm die Galle ins Blut. Er war nicht beliebt bei den Vorgesetzten, große Erfolge hatte er auch nicht aufzuweisen, und dann, dann hatte ja neulich der Polizeipräsident so eine Bemerkung hingeworfen — ja, und die ließ so ziemlich klar erkennen, daß man Kommissar Kern für den Inspektorposten nicht gerade vorgemerkt hatte.
„Solche Gedanken quälten jetzt den ehrgeizigen Mann. Erfolge, lieber Gott. das war ja auch wie überall im Leben, das reine Würfelspiel — Glückssache, weiter nichts!
Aber als Kern hieran dachte, da ging’s ihm doch plötzlich wie ein Ruck durch den Körper. Jetzt diese Sache mit Schusterkarl — ob die ihm nicht helfen könnte? — Und nun ärgerte er sich darüber, daß er Fischer so unbestimmte Befehle gegeben hatte. Das ließ sich aber noch gut machen.
Der Kommissar drückte auf den Knopf der elektrischen Leitung ein, zwei, drei Mal — das bekannte Zeichen, welches seine „rechte Hand“, wie man in den Bureaus sagte, eben den behäbigen Kriminalbeamten Fischer, herbeirief. Schneller als Kern erwartet hatte, klopfte es an der Thür. Aber der, der jetzt eintrat war nicht der Gerufene, sondern der Vorstand der Kriminalabteilung, der Polizeirat Scheller. Dieser begann sofort, nachdem er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Hören Sie mal, Kern, für Sie gibt’s Arbeit eben erhielt ich die telephonische Meldung, daß heute nacht bei dem Uhrmacher Müller in der Herderstraße draußen in der Vorstadt eingebrochen worden ist und daß gegen hundert wertvolle goldene Uhren sowie andere Goldsachen von den Dieben geraubt worden sind. Sie müssen sich sofort aufmachen und an Ort und Stelle mit der Untersuchung beginnen.“
Als Kern das Wort Vorstadt und Uhrmacher hörte, ging es ihm wieder wie ein elektrischer Schlag durch den Körper. Sofort dachte er an Schusterkarl, an den Einbruch in Berlin, an den Bericht. Schon öffnete er den Mund, um seinem Vorgesetzten seine Mutmaßungen mitzuteilen; aber blitzschnell überlegte er sich’s anders und antwortete mit einem einfachen „Jawohl, Herr Rat!“ Doch in seinem Innern wogte ein Sturm von Hoffnungen. Wie, wenn er das Glück hätte, diesen schweren Jungen zu fangen! Und wenn sich’s dann herausstellte, daß der gewandte Einbrecher auch diese Sache ausgeführt hatte?! Dann winkte ihm die ersehnte Beförderung, dann — Aber Kern zwang sich jetzt zur Ruhe. Kurz besprach er noch mit dem Polizeirat das Nötige und ging dann in die Bureaus hinab, um den Kriminalbeamten Fischer, der immer noch nicht erschienen war, mitzunehmen.
In der Nachbarschaft hatte sich das Gerücht von dem Einbruch in das Müllersche Uhrengeschäft schnell verbreitet. Als die beiden Kriminalbeamten in der Nähe des Tatortes die elektrische Bahn verließen, sahen sie schon von weitem eine dichtgedrängte Menschenmenge vor dem Laden auf dem Trottoir stehen. Nachdem Kern sich dem Inhaber des Geschäfts gegenüber legitimiert hatte, begab er sich mit Fischer in den Verkaufsraum. Der Uhrmacher Müller, ein älterer Junggeselle, erzählte dem Kommissar schnell das Wesentlichste. Er sei am vorigen Abend nach acht Uhr abends in die Stadt gefahren, um sich an dem Dienstags stattfindenden Kegeln in dem Eulerschen Restaurant zu beteiligen. Gegen halb drei Uhr morgens habe er dann mit der letzten Elektrischen den Heimweg angetreten und sei sofort zu Bett gegangen, ohne daß er etwas Verdächtiges bemerkt hätte. Erst am Morgen, als er die Rolljalousien hochzog, habe er die Entdeckung gemacht, daß in den Auslagekästen gerade die wertvollsten Stücke fehlten und dann auch in der vom Verkaufsraum in den allgemeinen Hausflur führenden Tür ein anscheinend mit einer feinen Säge ausgeschnittenes Loch gefunden, groß genug, um einen schlanken Körper durchzulassen. Da sei er dann sofort nach der Polizeiwache gelaufen und habe Meldung von dem Vorfall erstattet.
Der so schwer geschädigte Uhrmacher brachte das alles nur mit Mühe heraus. Der Schreck steckte ihm noch in allen Gliedern. Und den nervösen Kommissar machte er mit seinem Jammern und Stöhnen über den Verlust auch nicht ruhiger. Der einzige, der sich der Situation gewachsen zeigte, war der dicke Fischer. Seelenruhig schaute er sich in dem Laden um, besichtigte die Tür, in die die Diebe das ausgeschnittene Stück wieder kunstgerecht und unauffällig eingefügt hatten, und überließ es dem Kommissar, den Geschäftsinhaber nach Einzelheiten auszufragen. Endlich ließ Kern von jenem ab und wandte sich an seinen Untergebenen.
„Nun, Fischer, was meinen Sie?“ fragte er, mit den zusammengekniffenen Augen blinzelnd.
„Saubere Arbeit, Herr Kommissar, sehr saubere Arbeit“, meinte dieser anerkennend. „Das sind zweifellos alte Praktiker gewesen. „Und diese eisenbeschlagene Tür“, — dabei wies Fischer auf das ausgeschnittene Stück — „hat eine feine Stahlsäge kennen gelernt. Ja, gute Arbeit — hm, hm —“
Nun begannen die beiden Beamten ihre Meinung über den Fall auszutauschen. Und, was nicht häufig passierte, sie waren sich bis ins kleinste darüber einig, wie dieser Einbruch verübt worden war. Allerdings ließ die Örtlichkeit kaum eine andere Erklärung zu. —
Der Dieb hatte zunächst mit einem Nachschlüssel die Haustür geöffnet und dann mit einem seinen Bohrer der vom Flur in den Laden führenden Tür zu Leibe gegangen und hatte nachher eine dünne Säge angewandt und mit dieser das Loch ausgeschnitten. So War er in das Innere des Ladens gelangt, hatte hier die wertvollsten Stücke sicher in aller Ruhe zusammengepackt und dann auf demselben Wege das Geschäft verlassen, nachdem das ausgeschnittene Stück wieder fein säuberlich in das Loch eingefügt worden war.
„Eine höchst einfache Geschichte“, meinte Fischer kopfschüttelnd. „Und doch“, fügte er nachdenklich hinzu, „so Verschiedenes fällt mir dabei doch auf, Herr Kommissar.“
Kern hatte soeben mit Interesse nochmals den Rand der herausgeschnittenen Türfüllung betrachtet.
„Feines Speiseöl haben die Kerle gebraucht, um das Arbeiten der Säge geräuschlos zu machen“, erklärte er, indem er die runde Holzscheibe an die Nase führte. „Man muß nachforschen, ob neuerdings irgendwo größere Mengen davon verkauft worden sind.“ Auf Fischers Worte schien der Kommissar gar nicht geachtet zu haben.
Der Kriminalbeamte sagte zwar nichts, dachte sich aber sein Teil. Sein Vorgesetzter schien sich auch bei dieser Untersuchung wieder ängstlich an sein System halten zu wollen. Und dieses System bestand darin, daß jener nur Spuren verfolgte, die sich ihm augenfällig darboten. Auf Kombinationen ließ er sich grundsätzlich nicht ein.
Kern starrte noch immer gedankenvoll die kreisrunde Holzscheibe an, die er zwischen seinen Händen hin und her drehte.
„Sagen Sie Herr Müller“, begann er dann plötzlich, „als Sie heute nacht nach Hause kamen, durch welche Tür haben Sie da den Laden betreten?“
„Ich gehe stets durch den Verkaufsraum in mein dahinter gelegenes Wohn- und Schlafzimmer und benutze stets die Ladentür von der Straße aus.“
„So. — Und als Sie heimkamen, da ist Ihnen nichts, gar nichts aufgefallen?“ „Nein; ich zündete mir sogar hier im Geschäftsraum einen Fünfminutenbrenner an und ging dann in das Hinterzimmer. Na — und sicherlich wurde der Einbruch doch verübt, bevor ich heimkehrte, und — was sollte ich hier sehen? Die Lumpen haben ja so wenig Spuren hinterlassen. Alles liegt hier in bester Ordnung, nur — es fehlt das Beste —“
In dem gutmütigen Fischer stieg bei diesen ingrimmig gesprochenen Worten etwas wie Mitleid auf. Und diesem Gefühl nachgebend, meinte er tröstend: „Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht haben wir die — Lumpen bald.“
„Ja — vielleicht!“ brummte Kern vor sich hin und dachte dabei an den Inspektorposten. Der dicke Fischer war bescheidener. Er sah sich schon mit einer goldenen Uhr, die Müller ihm vielleicht aus Dankbarkeit schenken würde, wenn — wenn — Aber das hatte noch gute Wege.
Heinrich Seiler hatte schlechte Tage. Der letzte Sonnabendrausch war seinem Vater wicht gut bekommen, denn der durch Alkohol verwüstete Körper ertrug die Folgen dieser sogenannten Festtage nicht mehr. Ein schweres Magenleiden war plötzlich zum Ausbruch gekommen, und der hinzugerufene Krankenkassenarzt hatte nach kurzer Untersuchung bedenklich den Kopf geschüttelt.
Nun hieß es, da ein Teil des Verdienstes des Vaters fortfiel, sich durchschlagen! Zwar hatte Frau Seiler schon immer für den Vormittag eine Aufwartestelle gehabt, aber deren kärgliche Bezahlung half auch nicht viel. So wollte sie es denn jetzt mit Waschengehen versuchen, während Heinrich, den sie fürs erste glücklich vom Schulbesuch frei bekommen hatte, für den Kranken sorgen sollte.
So mußte Heinrich Seiler denn fast den ganzen Tag in der Stube sitzen und dem Vater! Der ein sehr ungeduldiger Patient war, mit Handreichungen zur Seite stehen. Und draußen schien die Sonne so verlockend, und auf den Feldern jubilierten die Lerchen. Oft sah er auch die beiden Albrechts am dem Fenster vorbeihuschen. Aber gesprochen hatte er sie seit jener Sonnabendnacht nicht mehr. Wenn er abends, nachdem die Mutter heimgekehrt war, sich noch auf den Straßen umhertrieb oder auf dem Hofe Holz zerkleinerte, bekam er seine Freunde ebenfalls nie zu Gesicht.
Wieder war es Sonnabend geworden. Heinrich Seiler saß am Fenster und las eine Zeitung, in der die Mutter ihr Frühstücksbrot, das sie täglich als Aufwartefrau bekam, mit nach Hause gebracht hatte. Doch immer wieder irrten seine Gedanken ab. Vor acht Tagen gewesen, wo er den Albrechts hinter ihre Schliche kommen wollte. Da hatte er eine Nacht geopfert und draußen in den Ginsterbergen nach ihnen vergeblich gesucht, denn sie waren damals in den Erdboden versunken, nicht mehr aufzufinden. Dann hatte er noch stundenlang die Heide kreuz und quer durchschlichen. Doch wohin die beiden Brüder so plötzlich geraten waren, konnte er nicht herausbringen, Noch einmal hatte er dann den Versuch gemacht, draußen in der Heide irgendwelche Spuren zu finden, irgend einen geheimen Pfad, der vom Rande der Schlucht in die Tiefe führte. Das war gleich am folgenden Sonntagnachmittag gewesen, als seine Mutter gerade den Arzt erwartete. Wieder hatte er da mit größter Hartnäckigkeit das Gelände durchstöbert. Er sagte sich mit Recht, daß die beiden Albrechts irgend einen Weg kennen müßten, um den steilabfallenden Hang hinunterzukommen. Denn unmittelbar vor der Schlucht waren sie in jener Sonnabendnacht so plötzlich vor seinen Augen verschwunden und daran, daß sie den Abhang hinuntergerutscht sein konnten, war nicht zu denken. Dazu war die Schlucht zu tief und fiel auch zu steil ab.
Heinrich durchflog jetzt wieder die Spalten der Zeitung, bis sein Auge auf einer Stelle wie gebannt haften blieb. Da war der Einbruchsdiebstahl bei dem Uhrmacher Müller mit allen Einzelheiten geschildert, da stand, daß für gut zweitausend Mark Glassachen entwendet worden waren und daß leider bisher von den Tätern jede Spur fehlte. So etwas las er nun wie jeder dreizehnjährige Junge nur zu gern. Müller — ja, das Geschäft kannte er ganz genau. Da war auch einmal der ältere Albrecht als Lehrling tätig gewesen — nicht lange, da ihm das Stillsitzen nicht behagte. — Und dann wanderten die Gedanken des Jungen weiter. — Zweitausend Mark — so viel, ach, so viel Geld! — Heinrich Seiler hielt das für eine Riesensumme. Und das hatten die Diebe nun so in einer Nacht — verdient — in einer Nacht! Etwas wie Hochachtung für die Täte überkam ihn. Das waren doch noch Kerls, mußten die Mut haben, ja — Mut! Denn daß so ein Einbrecher, falls er gefaßt wurde, auf lange Jahre ins Gefängnis wanderte, wußte er auch ganz genau.
Heinrich Seilers Kinderphantasie spann Pläne. Das Gefühl für Recht und Unrecht hatte er längst verloren. Er, der nichts als Not und Jammer; schlechtes Essen, Schläge und die Verworfenheit seines Vaters kannte, er dachte seit langem nur an das eine: Sich Geld verschaffen, irgendwie — einmal ein paar Mark für sich allein haben und — ja, und dann der Mutter etwas abgeben, damit sie nicht so Tag um Tag zu arbeiten brauchte, einmal ihr eine Freude machen — irgendwie, irgendwie.
Denn mochten in der Brust Heinrichs auch alle wärmeren Empfindungen für den Vater erstickt sein, seine Mutter liebte er auf seine Weise, trotzdem auch sie ihn oft mit groben Scheltworten zurechtwies und noch öfters prügelte. Aber in seinem Kinderherzen lebte eine Art Hochachtung für diese Frau, die so geduldig die Last ihres Ehelebens dahinschleppte, sich die Finger blutig wusch, damit nur die Ihren satt wurden. —
Dann las er nochmals jenen Artikel in der Zeitung durch, der von dem Einbruche handelte. — Wie leicht doch das eigentlich war, so zweitausend Mark zu erbeuten — Nachschlüssel, ein in die Tür gesägtes Loch — dann hatte man das Gold. — Seine Phantasie erhitzte sich immer mehr in dem Gedanken an ähnliche Taten. Er überlegte und grübelte, spann Pläne und verwarf sie wieder. So wurde es Abend. Der Vater, der bisher geschlafen hatte, stöhnte plötzlich laut auf. Da erinnerte sich Heinrich daran, daß es Zeit war, dem Kranken die Arznei zu reichen. —
Noch eine Stunde verging. Dann kam die Mutter, zündete die Lampe an und verschwand sofort in der Küche, um dem Manne eine leichte Suppe zu kochen. Heinrich erhielt ein paar Schnitten Brot und ein Ende Wurst dazu. Als Frau Seiler die kleine Wirtschaft in Ordnung gebracht hatte, setzte sie sich in die Stube an den weißgescheuerten Tisch und begann Strümpfe zu stopfen.
„Mutter“, bat Heinrich bescheiden, „kann ich noch hinausgeben? Ich habe den ganzen Tag in der Stube gesessen —
Die verhärmte Frau nickte nur. Und leise schlich sich der Junge davon. Als er vor die Tür trat, holte er erst einmal tief Atem. Sein Kopf war ihm ordentlich benommen von der Stubenluft. Dann ging er wie gewöhnlich um das Häuschen herum und schaute zu dem Fenster des Flickschusters Albrecht empor. Dort brannte Licht. Aber trotzdem er mehrere Male gellend pfiff, seine Freunde blieben auch heute unsichtbar. Da ging er langsam über den Hof an dem Stalle vorbei und setzte sich auf sein Lieblingsplätzchen, das alte Brunnenrohr.
Hier blieb er und schaute über die Felder hinweg in die Abendröte, die mit rosigem Schein den Horizont überzog. Die Hände ruhten auf seinen Knien, Zusammengesunken saß er da. In seinem braunen Kittel hob er sich von der Umgegend fast gar nicht ab.
Die Uhr der Vorstadtkirche schlug die neunte Stunde. Heinrich Seiler wollte gerade herzhaft gähnen, als er plötzlich vor sich ein leises Geräusch hörte. Als er, aus seinem traumartigen Zustande aufschreckend, genauer hinsah. bemerkte er eine Gestalt die vorsichtig auf ihn zuschlich. Die Gestalt kam näher und näher. — Er saß da wie gebannt — nicht aus Furcht, mehr aus Neugierde. Wer konnte es sein, der jetzt hier sein Wesen trieb, der sich so geheimnisvoll, fast lautlos nahte? — Erst hatte Heinrich blitzschnell an einen der Söhne Albrechts gedacht. Doch — warum sollten die hier herumkriechen?! Nein — vielleicht also ein Dieb?! — Das schoß ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Er wartete ab. Jetzt konnte er die Gestalt schon deutlicher sehen. Es war ein Mann, nicht allzu groß der sich dicht an Heinrich vorbei auf den Hof schleichen wollte. Und da — da — ja, sah er denn recht —? Da hinter dieser ersten erblickte er jetzt in verschwommenen Umrissen eine zweite Figur, in der Dunkelheit nur als schwarzer, vorwärtsstrebender Fleck bemerkbar, eine Figur, die eben so lautlos näher kam. Und nun — nun hörte er ein lautes „Halt!“ der Platz vor ihm belebte sich, er sprang auf, wurde aber sofort von hinten gepackt und niedergerissen. — Verzweifelt schrie er um Hilfe, schlug um sich.
Eine harte, behandschuhte Sand preßte sich mit festem Druck auf seinen Mund. Noch ein paar gurgelnde Laute, dann lag er still, ergab sich in sein Schicksal. Bebend vor Angst hatte er die Augen geschlossen; Jetzt fühlte er etwas Kaltes sich um seine Handgelenke winden, wurde hochgehoben und vorwärtsgestoßen. Er hörte flüsternde Stimmen um sich.
Langsam erst kehrte ihm die Überlegung zurück. Endlich wagte er auch die Augen zu öffnen.
Neben ihm ging ein Mann, der das Ende einer Kette in der Fand hielt; die Kette aber war um Heinrich Seilers Handgelenke geschlungen. Der Mann führte ihn über die Felder, schnellen Schrittes; jetzt bogen sie zwischen zwei vorgeschobenen Gehöften in eine Straße ein.
Immer klarer wurden die Gedanken des Jungen. Wie ein Traum erschienen ihm diese letzten Minuten. Und nun, nun stieg etwas wie eine trotzige Wut in ihm auf. Die Angst war vorüber. Sie gingen jetzt durch belebtere Straßen, beide dicht nebeneinander. Und da wagte er zum ersten Male aufzusehen und seinem Führer ins Gesicht zu schauen. Sie schritte gerade an einer Glastüre vorüber.
„Der Mann, der Heinrich Seiler an der Kette zur Polizeiwache der Vorstadt führte, war klein und dick, trug eine Brille und hatte einen dünnen, blonden Schnurrbart. Er sah aus wie ein Schulmeisterlein vom Lande.
Dann passierten sie einen Torweg stiegen ein paar Stufen empor, eine Tür öffnete sich. Sie waren in der Wachtstube angelangt. — Jakob Fischer, der Kriminalbeamte, ließ hier seinen Gefangenen los. Schutzleute in grauen Jacken, einige in halboffenen Waffenröcken, drängten sich um Heinrich Seiler. Und dann lachte einer von diesen laut auf und rief mit tiefer Baßstimme:
„Nanu, Fischer, was hast Du denn da geangelt? Soll das etwa der berühmte Schusterkarl sein?“
Doch Fischer schien zum Reden nicht aufgelegt. Er bedeutete den anderen mit einer Handbewegung zu schweigen und führte seinen Gefangenen schnell in das anstoßende Zimmer. Die Tür fiel ins Schloß. Sie waren allein.
„So, nun komm doch einmal ans Licht.“ meinte Fischer gemütlich und beschaute sich das Bürschchen genauer. Dann begann er ihn auszufragen. Aber schon nach wenigen Minuten hatte er sich überzeugt, daß — ja, daß sie den Unrechten ergriffen hatten.
„Hm. Du hast also da hinter dem Stall auf der Brunnenröhre gesessen?“ — Nochmals fragte der Beamte Heinrich Seiler nach allen Einzelheiten. Aber der Junge verwickelte sich weder in Widersprüche, noch war er besonders ängstlich. Und die Geschichte vom dem kranken Vater — nein, die konnte der Bengel nicht so glatt erfunden haben. Also — und über dieses Also krauste Jakob Fischer die Stirn.
Die Tür öffnete sich und herein trat hastig und ungeduldig der Kriminalkommissar Kern. Fischer nahm ihn sofort beiseite und teilte ihm mit, was er von Heinrich Seiler erfahren hatte. Dann begann Kern selbst nochmals den Jungen auszuforschen, ebenfalls ohne Erfolg. Aber bald fing er an in dem nicht allzugroßen Zimmer auf und ab zu laufen, anscheinend unzufrieden mit sich und der ganzen Welt.
„Dachte ich’s mir doch!“ brummte er vor sich hin, „der Kerl ist entschlüpft — alles verloren — weiß jetzt, daß wir hinter ihm her sind —“
Das Abenteuer endigte für Heinrich damit, daß der eine von den beiden Herren, die ihn so genau ausgefragt hatten, ihm eine Mark gab und ihn nach Hause schickte. Nur das eine mußte er noch versprechen: Nichts zu erzählen — nichts — niemandem!
Aber Frau Seiler erfuhr die Geschichte noch an demselben Abend. Atemlos berichtete der Junge von der Kette, der kalten Kette, von dem Herrn mit der Brille und dann — dann gab er freudestrahlend die Mark heraus, reichte sie der Mutter hin und sagte lachend: „Dafür können sie mich jeden Abend einsperren.“ — Und die Mutter schüttelte den Kopf. Aber froh war sie doch. Eine Mark — ein gutes Mittagessen — nur daran dachte sie. Und Heinrich ebenso.
Aber was das Erlebnis zu bedeuten hatte, begriffen beide nicht.
Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, das durch die so sonderbar verdiente Mark zu einem wirklichen Sonntagsessen ausgestattet worden war, machte sich Heinrich mit Erlaubnis der Mutter zu einem längeren Spaziergang auf. So erzähle er wenigstens daheim. In Wirklichkeit hatte er aber andere Absichten. Da es auch dem Kranken besser ging, war Frau Seiler sehr zur Milde gestimmt und gab dem Jungen einige dick mit Schmalz bestrichene Stullen mit. Auch wollte sie ihm gestatten, den besseren Anzug anzuziehen. Doch zu ihrem Erstaunen lehnte Heinrich es ab.
So trollte er denn gegen zwei Uhr nachmittags von dannen. Fröhlich pfeifend schritt er die Straße entlang. Anscheinend wollte er also einen kleinen Bummel nach der Stadt machen. Aber auch das schien nur so. Vorsichtig gelangte er auf Umwegen bald in den Stadtwald. Hier schien er alle Lustigkeit abgestreift au haben. Möglichst lautlos durcheilte er die Wege, bog dann schließlich sogar mitten in eine Tannenschonung ein und verschwand bald hinter den schlanken Stämmen.
Heinrich Seiler wollte heute zum dritten Male versuchen. den Gebrüdern Albrecht hinter ihre Schliche zu kommen. Als er heute vormittag den älteren der Brüder zufällig auf dem gemeinsamen Hofe getroffen hatte, da war plötzlich zwischen ihnen wieder der alte freundschaftliche Ton aufgekommen. Hans Albrecht erzählte ihm alle möglichen Geschichten, schenkte ihm mich einige Zigaretten, mit einem Wort, er war freundlich wie selten in letzter Zeit. Erst schien Heinrich Seiler die plötzliche Umwandlung ganz natürlich. Er, der Vereinsamte, freute sich, daß er wieder jemand zum Plaudern hatte.
Aber bald — sie saßen gerade auf der alten Brunnenröhre und rauchten — schien es Heinrich doch, als ob Hans Albrecht irgend einen Zweck mit seiner Freundlichkeit verbinde. Jener fing ziemlich plump an, den Freund über die Ereignisse des vorigen Abends auszufragen. Zunächst fiel Heinrich das nicht auf. Als jedoch der andere mit Beharrlichkeit von ihm Einzelheiten verlangte, so besonders von der Polizeiwache, als er dann sogar fünf Groschen aus der Seitentasche zog und diese großmütig spenden wollte, wenn er Näheres, womöglich das erfahren könnte, was die beiden Herren in dem kleinen Zimmer gesprochen hatten, da begann es Heinrich langsam zu dämmern.
Doch er ließ sich nichts merken. Er erzählte, was er wußte, und nahm nachher auch ruhig die fünf Groschen an. Dann plauderten sie noch über den Einbruchsdiebstahl bei Müller. Hans Albrecht zuckte nur die Achseln, als Heinrich ihm eingestand, daß er den der die Diebe eigentlich bewundere. Ja, er zuckte die Achseln und lächelte dabei so spitzbübisch, so, als ob er damit ausdrücken wollte: Wenn ich reden würde.
Nach einer Weile meinte er dann wegwerfend: „Das ist nichts Besonderes! Hier in diesem Nest einzubrechen, ist doch ein Kinderspiel. Aber in Berlin, da, wo Alarmklingeln und dicke Panzerschränke in jedem Geschäft sind — ja, da —!“
Wie Sehnsucht klang’s durch die letzten Worte.
Heinrich Seiler hörte andächtig zu. Das imponierte ihm! Was doch der Hans nicht alles wußte, Alarmklingeln, Panzerschränke —! Ja, der war ja auch schon sechzehn Jahre und nun schon lange bei einem Mechaniker in der Lehre. Ja, dieser Hans Albrecht —!
„Hm“, meinte dann wieder Heinrich nach einer Weile, „aber wenn sie die kriegen, die da bei Müllers gestohlen haben —?!“
„Kriegen?!“ Hans Albrecht lachte laut auf. „Du, die Spitzbuben sind schlauer, als Du denkst. — Manchmal greift die Polizei auch den Falschen!“ Und da lachte er wieder und schlug Heinrich vor Lustigkeit mit der Hand auf den Rücken.
„Ja, den Falschen —!“ wiederholte er nochmals.
Da war’s Heinrich Seiler plötzlich, als ob ihm nun erst mit einem Mal ein Licht über die Vorfälle des gestrigen Abends aufginge. — Er wurde schweigsam. Immer weiter aber redete der andere. Jetzt verhöhnte er die Polizei, und dann — dann lachte er wieder und flüsterte seinem Nachbarn zu: „Der Müller kann auf seine Uhren pfeifen — die bekommt er sicher nie wieder!“ Etwas wie triumphierende Freude klang aus diesen Worten heraus.
Heinrich Seilers Jungenverstand begriff das alles noch nicht ganz. Wenn er auch über sein Alter hinaus geistig vorgeschritten war, so fehlte ihm doch noch die Fähigkeit, schnell das Richtige aus diesem Gebaren des anderen herauszufühlen. Er ahnte nur, daß hier etwas nicht in Ordnung war, daß Hans Albrecht in irgend einer Beziehung zu der Geschichte des gestrigen Abends stehen müsse.
Als sie dann auseinander gingen, versprach Hans Albrecht ihm noch, daß er ihn nächstens mit ins Theater nehmen wolle, in das Varietétheater, zu dem er von einem Freunde jetzt immer Billets geschenkt bekäme. — Dann saß Heinrich wieder in der engen Stube und paßte auf den Kranken auf, während die Mutter in der Küche das Mittagessen bereitete. Langsam lichtete sich das Dunkel in seinem Gehirn. Mit einem Male sah er klar. Die Freundlichkeit des älteren Albrecht war Absicht gewesen — er hatte ihn aushorchen wollen! Und weiter überlegte er sich jede einzelne Wendung ihres Gespräches. Mit dem Instinkt des frühreifen Knaben fand er das Richtige, und die Erklärung für manche Äußerung des sogenannten Freundes. Jetzt wußte er auch den Übergang des Gesprächs auf den Einbruch in dem Müllerschen Laden seinem wahren Zwecke nach einzuschätzen.
Lange saß er still auf seinem Stuhle; er hatte die Arme auf die Tischplatte gelegt und den Kopf in die Hände gestützt. So grübelte er, baute Pläne. Ein wahrer Tatendrang war über ihn gekommen. Der Unternehmungsgeist des Straßenjungen war in Bahnen gelenkt, in denen die natürliche Verstandesschärfe allein wirken sollte. Und der Erfolg von Heinrich Seilers langem Nachdenken war jetzt dieser neue Ausflug nach der Ginsterheide.
Es mochte gegen vier Uhr nachmittags sein. Über einem dichten Brombeergesträuch, das am Rande der Ginsterschlucht wucherte, spielten zwei Zitronenfalter, die der warme Frühlingssonnenschein ans Licht gelockt hatte.
Heinrich Seiler, der im Schutze des dichten Rankengewirres lag, hatte den Schmetterlingen nun schon eine ganze Weile zugeschaut. Dann aber dachte er wieder an sein Vorhaben. Und beinahe erschreckt über seine Versäumnis schaute er jetzt desto angestrengter im Kreise umher, indem er sich leicht auf den Händen aufrichtete. Wie lange er diesen Beobachtungsposten schon innehatte, wußte er nicht. Die Zeit war ihm im Fluge vergangen. Es gab da so allerlei zu sehen, was dem Jungen neu erschien, trotzdem er Wald und Feld als großen Spielplatz sehr gut kannte. Ein paar Feldmäuse huschten munter durch die Gräser vor ihm; bald wieder verfolgte er einen Maulwurf mit den Blicken, der eine Röhre dicht unter der Erdoberfläche aushob, so daß der Boden sich über seinem vorwärts wühlenden Körper wölbte. Die Stullen, die ihm die Mutter mitgegeben hatte, waren längst verzehrt. Und die Sonne rückte höher und höher; aber der Erfolg dieses Tages schien auszubleiben. Kein menschliches Wesen war zu sehen; nichts störte die Ruhe in der Natur.
Heinrich Seiler hatte sich seinen Platz der Stelle gegenüber ausgesucht, wo damals in jener Sonnabendnacht die Gestalten der Gebrüder Albrecht ihm so plötzlich entschwunden waren. Er lag genau gegenüber am anderen Rande der Ginsterschlucht, ganz genau. Denn er entsann sich sehr wohl, daß die Brüder Albrecht damals gerade auf die dicke verkrüppelte Kiefer zugegangen waren, die als einziger größerer Baum halb über dem Abhange hing. Unter der einsamen Kiefer wucherten die Brombeer- und Ginstersträucher ganz besonders dicht. Aber zu den Früchten dieser Brombeerstauden war nicht zu gelangen. Dazu fiel die Schlucht zu steil ab. Und Heinrich wunderte sich, wie die Sträucher in dem lehmartigen Erdreich überhaupt hatten Wurzel fassen können.
Wieder verging eine geraume Zeit. Hier in der Ginsterheide herrschte tiefe Ruhe. Nur die Mäuse raschelte durch die Gräser und jetzt — jetzt tönte von ferne Glockengeläute herüber. Heinrich Seiler wurde es ganz feierlich zumute. Seine Gedanken irrten plötzlich zurück zu dem gestrigen Abend, da ihn jetzt wieder dieses unbehagliche, unzufriedene Gefühl überkam. Er dachte an mancherlei; daß er keinen wahren Freund hatte, daß er hier —
Da schnellte er empor. Er hörte einen eigentümlichen Pfiff, ähnlich dem, wie er zwischen ihm und den Brüdern Albrecht als Signal verabredet war. Der Pfiff ertönte gerade in seinem Rücken, und jetzt vernahm er auch seitwärts leise Schritte. Vorsichtig bog er den Kopf dorthin. Zuerst war sein Spähen vergeblich. Aber dann schob sich ein geschmeidiger Körper vielleicht fünf Schritte von ihm dem Rande der Schlicht zu; jetzt konnte er die ganze Gestalt sehen, das Gesicht erkennen.
Fast stockte ihm der Atem. Denn neben ihm lag der Jüngere Albrecht — er beobachtete ihn genau — und schaute angestrengt in das grüne Wirrsal von Sträuchern hinüber, die unter der verkrüppelten Kiefer wucherten. Und dann sah Heinrich Seiler. wie drüben plötzlich geschickt wie eine Katze ein Mensch den Abhang emporkletterte, den Stamm der Kiefer umfaßte, sich auf den Rand der Schlucht schwang, und sofort einige Meter weiter rollte, wo er, verborgen hinter einigen Ginsterstauden ruhig liegen blieb. Das alles hatte sich so blitzschnell abgespielt, die Bewegungen des Mannes da drüben waren so gewandt, so hastig gewesen, daß Heinrich ihn nicht erkennen konnte. Aber doch — ihm war’s, als hätte er den älteren Albrecht erkannt.
Eine Weile blieb es ruhig. Nichts regte sich. Die drei am Rande der Schlucht verteilten Gestalten schienen mit dem Erdboden eins zu sein. Aber Heinrich Seilers Augen wanderten abwechselnd von dem einen zum andern, irrten auch über das Gestrüpp unter der Kiefer hin. Doch es schien, als ob die beiden Albrechts, falls es wirklich Hans gewesen war, vorläufig ihre Stellungen nicht verlassen wollten. Dann kam wieder der Pfiff, nur leiser; darauf ein Rascheln neben Heinrich Seiler, das sich bald in der Ferne verlor. Und als der Lauscher nun die zweite Gestalt dort drüben suchte, war auch sie verschwunden.
Die Dämmerung sank herab, und es wurde empfindlich kühl. Trotzdem hielt Heinrich auf seinem Platze noch aus. Allerdings — zu sehen gab es nichts mehr. Aber er wußte ja auch genug. Wie schlau die beiden, die er eben beobachtet hatte, sich durch die Pfiffe verständigten, wie vorsichtig sie waren! Jetzt war ja auch das geheimnisvolle Verschwinden aufgeklärt. Der Junge triumphierte. So war seine Geduld belohnt worden — endlich. Erst als die Dunkelheit die Ginsterschlucht und ihre Umgebung dicht einhüllte, verließ Heinrich Seiler seinen Posten. Die Glieder waren ihm steif geworden. Die Zähne schlugen ihm vor Kälte zusammen. Aber trotzdem glitt er leise, tief gebückt, dahin, blieb öfters stehen und lauschte. Er wußte sehr wohl, was ihm bevorstand, wenn ihn vielleicht die Brüder Albrecht hier erwischten. Eine Tracht Prügel war das mindeste. Und davon hatte Heinrich gerade genug schon zu Hause kennen gelernt.
Kriminalkommissar Kern mußte von Tag zu Tag mehr einsehen, daß Schusterkarl und der Müllersche Einbruch ihm kaum zu dem Inspektorposten verhelfen würden. Die Untersuchung beider Sachen war gänzlich ins Stocken geraten. Man kam über den toten Punkt nicht hinüber, der mit der vergeblichen Jagd auf den Berliner Einbrecher erreicht war.
Kern saß in seinem Amtszimmer am Schreibtisch und zog mißmutig an seiner Zigarre. Draußen plätscherte eine wahre Sintflut von Regen gegen das Fenster. In dem Zimmer war es trotz der späten Vormittagsstunde halbdunkel. Es herrschte ein unbehagliches Dämmerlicht, das auf die Stimmung des Kommissars noch mehr drückte.
Kern sann hin und her, suchte einen Punkt, an dem er die Untersuchung von neuem energisch angreifen könnte. Auch sein getreuer Helfer, Jakob Fischer, hatte diesmal versagt. Und wie lächelten die Kollegen so ironisch, als sie die Geschichte von dem festgenommenen Jungen erfuhren. Er hatte dieses — niederträchtige Lächeln überall gesehen, und es trieb ihm die Galle ins Blut.
Der Kommissar ballte ingrimmig die Fäuste. Und er grübelte und grübelte. Draußen schlug der Regen unaufhörlich an die Fenster. Die Tropfen klatschten gegen die Scheiben, daß es nur so knatterte. Der arme Kerl wurde immer nervöser. Die Zigarre war längst ausgegangen. Sie schmeckte ihm auch nicht. Seufzend griff er endlich, des vergeblichen Nachsinnens müde, nach einem Altenstück und begann darin zu blättern. Doch so leicht ließen sich die Gedanken nicht ablenken. — Der Inspektorposten — Schusterkarl — der Einbruch; um die drei Dinge tanzten diese Gedanken wie um drei Altäre. Und an jedem der Altäre erflehten sie etwas anderes — vergeblich — vergeblich.
Was hatte es nun genützt, daß Fischer in allen möglichen Verkleidungen das Haus, in dem der Flickschuster Albrecht wohnte, Tag und Nacht bewachte. Wozu hatte er noch mit zwei Beamten an drei Abenden hinter dem Stallgebäude dort draußen in der Vorstadt auf der Lauer gelegen — wozu? — Und wer war’s eigentlich gewesen, der ihnen damals so geschickt entschlüpfte, als sie nachher nur einen — dreizehnjährigen Jungen ergriffen — statt dessen, der so heimlich sich an die Gebäude herangeschlichen hatte?
War’s wirklich Schusterkarl, der ihnen damals entkam? — Kern mochte es nicht glauben, trotzdem Jakob Fischer seinen Kopf dafür verwetten wollte. Und wenn es wirklich der Berliner Einbrecher gewesen, ja, dann — dann ade, Du Hoffnung! Dann war er gewarnt und längst über alle Berge.
Mechanisch schlug Kern wieder eine Seite um. Aber er las nicht; er grübelte weiter. Und langsam änderte sich seine Stimmung. Hatte er noch eben mit stiller Wut an seine Mißerfolge gedacht, jetzt war’s schon wie stilles Verzichten in ihm. Er gab das Rennen auf.
So traf ihn Jakob Fischer, der zum üblichen Bericht sich bei ihm meldete.
„Etwas Neues?“ fragte Kern gedrückt.
„Nein, Herr Kommissar, nichts!“ — Fischer betrachtete beinahe mitleidig seinen Vorgesetzten, der ihm heute so verändert vorkam. Wie zusammengesunken er dasaß, und wie verzagt er aussah.
„Herr Kommissar“, begann der Beamte zögernd, „ich habe mir da etwas überlegt —“
Aber Kern schien teilnahmslos. Er schaute nicht einmal! auf, fragte nicht.
„Ja, ich will mich noch mal an den Jungen anpirschen, den wir damals leider —“
„Leider, Sie haben recht, Fischer, leider! Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen — alte Geschichte.“
Jakob Fischer nickte nur. Dann fuhr er fort: „Ich verspreche mir doch so einiges von dem Jungen. Er wohnt ja in demselben Hause mit dem Albrecht und hat vielleicht manches gesehen, was mir entgangen ist.
Kern machte eine ungeduldige Handbewegung.
„Meinetwegen, Fischer — ich habe nichts dagegen, wenn ich auch wenig, oder besser gesagt, gar keine Hoffnung mehr habe.“
„Wer kann wissen?!“ meinte Fischer und zog die Schultern hoch, „Manchmal erlebt man so Überraschungen —
„O ja“, sagte der Kommissar bitter, „leider meistens keine angenehmen!“
Aber der Kriminalbeamte blieb beharrlich und wollte dieses Letzte doch noch versuchen. —
An demselben Vormittag gegen zwölf Uhr klopfte es recht bescheiden an die Tür der Seilerschen Wohnung. Heinrich, der gerade dem Vater aus einem alten Buche, das eine Schilderung der Befreiungskriege enthielt, vorlas, rief ohne Bedenken Herein. Sie bekamen ja so selten Besuch; meist kamen nur die Nachbarn und jetzt, seitdem der Vater krank war, der Arzt.
Aber heute war’s ein Postbote mit grauem Vollbart, der die Schwelle überschritt und dann hinter sich die Tür zudrückte.
„Guten Morgen, Herr Seiler“, sagte er gemütlich und ging ohne weiteres auf das Bett zu. „Ich habe hier einen Brief an Sie — so — bitte schön.“
Der Kranke drehte das Schreiben verwundert zwischen den Fingern. Es passierte nicht oft, daß er Briefe erhielt, und die brachten dann gewöhnlich nur Unangenehmes.
Der Postbote, der an dem Kragen seiner Uniform die schmale goldene Tresse der altgedienten Briefträger trug, schien ähnliche Befürchtungen aus der Miene des Empfängers herauszulesen.
„Es ist ja nur eine Offerte von einer Werkzeugfabrik“, meinte er beruhigend. Und dann setzte er teilnahmsvoll hinzu: „Sind Sie schon lange krank, Herr Seiler? Sehen Sie, ich bin hier neu im Bezirk, erst vor wenigen Tagen herversetzt — ja — na, und da freundet man sich doch gerne bald an.“ — Das klang wieder so gutmütig und ehrlich, daß der Kranke, dessen Laune zumeist nicht die beste war, freundlich erwiderte:
„Es geht mir ja jetzt besser — ja, ja! Der verdammte Schnaps!“ Und dann folgte eine lange Rede, wie man sie von Seiler sicher nicht oft zu hören bekam. Er schimpfte auf die, die den armen Leuten das Geld aus der Tasche zögen und sie krank mit ihrem „verfluchten Fusel“ machten, redete und redete,
Der Briefträger, der von dem Regen ordentlich durchnäßt war, hatte sich zu ihm auf einen Stuhl gesetzt und wollte das Ende des Regens abwarten. Schließlich kamen sie auch auf andere Dinge zu sprechen. Der mit den Verhältnissen in der Vorstadt anscheinend ganz fremde Postbeamte fragte nach diesem und jenem, schien sich auch für den Einbruch bei dem Uhrmacher Müller zu interessieren und ebenso für die Hausbewohner.
„Man muß doch die Leute kennen lernen, mit denen man zu tun hat“, meinte er in seiner biederen Art. Auch Heinrich, der bisher schweigend am Fenster gesessen hatte, zog er ins Gespräch. Da den Kranken die Unterhaltung doch anstrengte, so hörte er jetzt ganz gerne zu, wie sein Junge sich mit dem Briefträger unterhielt — über die Schule, die Freunde.
Und Heinrich Seiler, der bald zutraulich geworden war, kramte nun seine kleinen und großen Sorgen aus, erzählte auch von dem Abenteuer, wobei er die eine Mark verdient hatte. — Aber was ihn hauptsächlich bewegte, das verschwieg er beharrlich, trotzdem ihm das Geheimnis der Ginsterschlucht und all das andere, was er sich so zurechtgelegt hatte, auf den Lippen brannte.
„So, so — also noch zwei Jungen gibt’s hier im Hause“, fing der Briefträger wieder an. „Na, da treibt Ihr Euch wohl ordentlich zusammen rum — was?“
Heinrich schüttelte den Kopf. „Nein — mit denen geh ich nicht mehr“, sagte er sehr vorsichtig:
„Da habt Ihr Euch wohl veruneinigt? Nun es wird nicht so schlimm sein —“
Heinrich Seilers Gesicht zeigte jetzt einen eigenartig pfiffigen Ausdruck. Er verzog den Mund zu einer Grimasse und — schwieg. Denn plötzlich war ihm die Erinnerung an den letzten Sonnabend gekommen. Da hatte der Albrecht ja auch so freundlich getan und — na, kurz und gut, dieser gutmütig scheinende Postbeamte kam dem Jungen plötzlich verdächtig vor. Er beantwortete die folgenden Fragen kurz und ablehnend, daß der neugierige Besucher endlich aufbrach.
„Na, Herr Seiler, vielleicht sehe ich später noch einmal nach Ihnen“, meinte er beim Fortgehen. Und Seiler konnte der Wahrheit gemäß nur versichern, daß ihm sein Besuch sehr angenehm sein würde.
Es goß noch immer draußen. Der Briefträger ging trotzdem langsamen Schrittes die Straßen entlang und bog dann in die Herderstraße ein. Hier wartete er auf eine Elektrische, stieg ein und fuhr zur Stadt. Er hatte sich in den Wagen gesetzt und starrte nun gedankenverloren vor sich hin.
Also auch dieser Besuch war so gut wie erfolglos geblieben. Das mußte sich Jacob Fischer, denn er und kein anderer war der gemütliche Postbote, selbst sagen. Erfolglos? Hm! So ganz harmlos war ihm dieser Junge mit dem schlauen Fuchsgesicht doch nicht vorgekommen. Er sann und sann. Ja, dieses plötzliche, unfreundliche Wesen dieses Bengels hatte irgend etwas zu bedeuten! Sollte —? Da hatte er die Erklärung! Der Junge war schlauer, als Jakob Fischer angenommen hatte. Er hatte gemerkt daß er ausgehorcht werden sollte, und da — na, da war’s eben mit seiner Redseligkeit vorbei.
Die Elektrische ratterte weiter. Der Kondukteur kam und teilte die Billete aus. Auch auf dem Vorderperron standen Leute. Denen reichte er sie durch das Schiebefenster. Zufällig schaute Jakob Fischer auf, zufällig sah er gerade hin, als der Kondukteur einem halbwüchsigen Burschen, der einen kleinen, grünen Filzhut aufhatte, den roten Zettel gab. Da ging’s wie ein Ruck durch den Körper des Kriminalbeamten. Aber er vermied es, nochmals hinzusehen.
Wär’s möglich? War das nicht der Heinrich Seiler, mit dem er noch soeben in der engen, dumpfen Stube in der Gneisenaustraße gesprochen hatte? — Die Gedanken arbeiteten blitzschnell, sie klärten sich. Dann lächelte Jakob Fischer vor sich hin. Also so stand es mit dem Burschen! Dieser Bengel spionierte ihm nach, dieser Junge wollte ihn, ihn überlisten —!
Nun wagte er einen Blick nach dem Vorderperron hin, er schien sich umzusehen, weiter nichts. Ohne Interesse glitt des Beamten Auge über die Mitfahrenden. Aber er hatte genug gesehen. Da vorne auf dem Perron stand Heinrich Seiler — kein Zweifel, er war es! —
Und nachher hatte Jakob Fischer nochmals Gelegenheit, sich von der Wahrheit seiner Annahme zu überzeugen. Der Junge war ihm durch die Straßen gefolgt, als er nach seiner Wohnung gehen und die Verkleidung ablegen wollte, und es hatte den Kriminalbeamten beinahe Mühe gekostet, den Verfolger von seiner Spur abzubringen.
Während dann Heinrich unzufrieden darüber, daß er den Briefträger trotz größter Aufmerksamkeit doch aus den Augen verloren hatte, mit der elektrischen Bahn heimkehrte, fand in dem Zimmer des Kriminalkommissars zwischen Kern und Fischer eine lange Unterredung statt.
Nachdem Fischer über seine Beobachtungen berichtet hatte, berieten sie über die weiteren Schritte. Kern hätte laut aufjubeln mögen. Da war ja der neue Angriffspunkt gefunden! Nun konnte er wieder hoffen! — Denn daß dieses Bürschchen mehr wußte, als es schien, das unterlag für Kern keinem Zweifel. Wozu wäre er sonst dem harmlosen Briefträger gefolgt, wenn er nicht irgend eine Gefahr witterte? — Fischer hatte recht: Der Bengel hatte schon damals am Abend als Wache auf der Brunnenröhre gesessen und sie alle genasführt. Und jetzt witterte er in den Postbeamten den Feind, der hinter seine Geheimnisse kommen, ihn aushorchen wollte. Und dieser Heinrich Seiler, die beiden Söhne des Albrecht und der Schusterkarl — sie steckten alle unter einer Decke.
Der Kommissar rieb sich vergnügt die Hände.
„Fischer, wenn uns der Fischzug gelingt“, meinte er witzelnd, „dann sorge ich für Sie, dann verlangen Sie von mir, was Sie wollen! — Aber jetzt nicht nachlassen — die Augen aussperren! Wir haben es mit schlauen Gegnern zu tun!“
Als der Polizeirat Scheller sich kaum auf seinen altgewohnten Platz am Stammtisch bei Kirsan niedergelassen und der altgediente Kellner, den die Tischrunde nie mit „Kellner“, sondern stets mit „Herr Scheffler“ anredete, ihm den Halbliterkrug offen hingestellt hatte, fing auch schon der Baumeister Görtz, Schellers bester Freund, mit leisem Vorwurf in der Stimme an;
„Heute so spät, Franz!“ Und dann zog er die Uhr und wies mit dem Finger auf die Zeigerstellung.
„Ja, ja — ich weiß — halb vier Uhr! Aber —“
Das Weitere verschwand in undeutlichem Gemurmel.
„Oho“, lachte Görtz, „Alterchen, Du bist heute schlechter Laune!“ Und die fünf anderen Herren des Stammtisches nickten nur. Zweifellos — Scheller hatte Ärger gehabt. Denn für gewöhnlich ließ er die köstliche Spatenblume nicht so lange abstehen.
Der Polizeirat schaute beinahe tiefsinnig auf den bräunlichen Schaum am Rande des Glases, der jetzt langsam in sich zusammensank. Dann fuhr er mit der Hand durch den wohlgepflegten Vollbart und — endlich griff er nach dem Halbliterkruge! Wie ein Seufzer der Erleichterung ging es durch die Tischrunde. Mit sichtlichem Behagen tat Scheller einen tiefen Zug; die Wolken auf seiner Stirn lichteten sich, die Lebensfreude brach aus seinen, Augen mit frohem Leuchten wie heiteres Sonnenlicht.
„Ja, meine Herren, man hat wirklich so seinen Ärger“, meinte er dann ernst. „Mein Amt ist eines von denen, die einen nie so recht seines Herzens froh werden lassen. Und das wird so bleiben, so lange noch eine Verbrecherzunft hier im gesegneten Deutschland existiert — also voraussichtlich immer!“
Einige der Herren erlaubten sich zu diesem Stoßseufzer ein etwas ironisches, ungläubiges Lächeln aufzustecken. Besonders der Sanitätsrat Freimut, dessen Genießergesicht meist ein behaglicher Zug von Leichtsinn verschönte, mußte jetzt noch auf seine Art über Schellers Amtssorgen quittieren. Er hob sein Glas und sagte zu dem Baumeister Görtz:
„Prosit, Görtz — und laß Dich von Schellers periodenweise sich einstellender Amtsmüdigkeit nicht weiter beunruhigen. Den langen Vers von der Schwere der Polizeiratstätigkeit hören wir ja pünktlich alle vier Wochen!“ — Dann trank er dem Baumeister zu, und blinzelte dabei dessen Freund von der Seite an. — Die Herren lachten. Man kannte diese Szenen am Stammtisch so gut, kannte die Eigenheiten des einzelnen und daher auch Schellers leichte Reizbarkeit und Görtz schnelle Angst um die Seelenruhe des alten Freundes. Nachdem „Herr Scheffler“ die Gläser aufs neue gefüllt hatte und die Blume abgetrunken war, meinte der Sanitätsrat mit dem heitersten Gesicht von der Welt:
„Nun schießen Sie los, Scheller — was hat’s denn heute wieder Neues in Ihrer Polizeiburg gegeben? — Neues, das heißt Arbeit für Sie, daher der Ärger, die Amtsmüdigkeit. So ist hier Ursache und Wirkung verteilt.“ — Er schmunzelte dazu so sarkastisch, daß Scheller nur die Achseln zucken konnte; gegen den alten Spötter war ja doch kein Kraut gewachsen. — Aber als man auch von anderer Seite in ihn gedrungen wurde, da bequemte er sich endlich doch zum Reden.
„Heute nacht ist in der Destillation zum „Bunten Bock“ eingebrochen worden. Die Diebe haben aus dem Geldschrank an fünfzehnhundert Mark bares Geld erbeutet.
Nun hatte auch der Polizeirat seinen Triumph. Vorhin waren alle über ihn hergefallen, hatten ihren sogenannten Frühschoppenwitz an ihm ausgelassen! Und jetzt, jetzt würden sie ihn wieder mit Bitten bestürmen, damit er ihnen Genaueres erzählte. Sie waren ja alle gleich, die Menschen, ob jung, ob alt! Wenn sich’s um die dunklen Seiten der menschlichen Natur, um Verbrecher und Verbrechen handelte, dann spitzten sie die Ohren und horchten mit angenehmem Gruseln hin, wie anderen so blanke fünfzehnhundert Mark verloren gingen durch einen genialen Gaunerstreich.
Scheller kannte seine Stammtischfreunde nur zu gut. Jetzt ging das Gefrage los. Neckerei, Spottsucht — alles war in den Hintergrund getreten. Der Polizeirat gab willig Antwort, so weit er es eben für vereinbar mit den Interessen der Untersuchung hielt.
Sanitätsrat Freimut war jetzt einer der lautesten.
„Meine Herren, ist das nicht unerhört. Der Einbruch bei dem Uhrmacher Müller in der Herderstraße liegt kaum vierzehn Tage zurück und jetzt — jetzt sind wir hier schon so weit, daß die Einbrecher in aller Gemütsruhe Geldschränke „knacken“ — so soll ja wohl der Kunstausdruck lauten! — Schellerchen, Schellerchen, ich fürchte jetzt auch, daß Ihr die nächste Zeit nicht auf Rosen tanzen werdet. Noch steht der Erfolg in der Müllerschen Sache aus, und schon gib‘s neue Arbeit, Ja, jetzt begreife ich auch Ihre Mißstimmung. Na, nichts für ungut, ich war vorhin wieder etwas stark ironisch, nicht krumm nehmen Schellerchen — Prosit!
Der Polizeirat lächelte vor sich hin. „Mein Beruf, meine Herren“, sagte er dann ohne Selbstgefälligkeit, „ist in der Tat überaus schwer. Sehen Sie, wenn einer von Ihnen mit seiner Tagesarbeit fertig ist, dann wird er eben für die freie Zeit wieder ganz Privatmann. Bei mir hört die Arbeit nie auf. Wenn ich im Theater sitze, wie z. B. gestern abend, und mich wirklich während des Spiels an den schönen Goetheschen Worten erbaue, dann kommt nachher in der Pause einer meiner Beamten, natürlich in Zivil. und bringt mir einen Zettel von einem der Kommissare, der um Verhaltungsmaßregeln bittet. Dann stecke ich wieder mitten im Geschäft. Und gehe ich abends zu Bett und kann nicht gleich einschlafen — wohin irren die Gedanken? — Regelmäßig dahin, wo meine Schmerzenskinder, die Herren Einbrecher, jüngst wieder eine Dummheit, wollte sagen, einen Einbruch verübt haben, oder sonst wohin. Jedenfalls spazieren sie nie auf den geordneten Pfaden des ehrsamen Bürgers, sondern auf den krummen Wegen, die das Verbrechen geht —“
Baumeister Görtz wurde unruhig. „Kinder, ist das nun eine Art“, polterte er los, unseren Freund hier so in Rage zu bringen, daß er lange Reden über die Unzuträglichkeiten seines Berufes hält! Wir kommen doch hier zusammen, um in Ruhe unseren Schoppen zu trinken und den neuesten Kalauer zu hören. Aber nicht, um des Tages Müh’ und Last nochmals durchzukosten. Die Geschichte des Einbruches im „Bunten Bock“ lesen wir abends sowieso in der Zeitung. Und Scheller erzählt uns ja doch nichts, was nicht eben jeder wissen dürfte! Also — Schluß damit, meine Herren!“
„Bravo, Baumeister!“ klang’s in der Runde. Und Freimut, der sofort wieder die neue Situation beherrschte, fragte mit einem ironischen Lächeln:
„Wer kennt den Unterschied zwischen —“
Die Pointe wurde weidlich belacht. — Damit war die Stammtischunterhaltung wieder in ruhige Bahnen gelenkt.
An demselben Tage saßen abends gegen zehn Uhr die beiden Brüder Albrecht einträchtig neben Heinrich Seiler auf der Brunnenröhre. Heinrich Seiler weinte leise vor sich hin. Was half es ihm, daß die beiden ihn trösteten und ihm in ihrer Art gut zuredeten. Das machte seinen Vater nicht wieder lebendig.
Heute war Seiler begraben worden. Die Besserung, die sich in seinem Befinden an jenem Tage gezeigt hatte, als der freundliche Briefträger so lange bei ihm war, blieb nicht von Bestand. Schon am nächsten Morgen, am Mittwoch, stellte sich heftiges Magenblüten ein, das der schnell herbeigerufene Arzt kaum zu stillen vermochte. Als der Doktor dann wieder ging, sagte er zu Frau Seiler draußen im Flur:
„Liebe Frau, ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen. Machen Sie sich auf alles gefaßt.“
Der Arzt hatte den Zustand des Kranken nur zu richtig beurteilt. Seiler starb noch in derselben Nacht. Und heute, am Sonnabend, hatte man ihn begraben.
Die Brüder Albrecht, auch der Flickschuster, hatten sich bei dieser Gelegenheit von einer Seite gezeigt, wie man es häufig gerade bei einfachen Leuten findet. Da bei Seilers natürlich von irgend welchen Ersparnissen keine Rede sein konnte, so war der Flickschuster großherzig mit seinen wenigen Spargroschen der armen Frau zu Hilfe gekommen, hatte auch einen billigen Sarg besorgt und sogar zwei große Kränze zum Begräbnis gespendet. — Heinrich Seiler ging in diesen Tagen wie ein Träumender umher. Die Allmacht des Todes war ihm neu. Der in der letzten Zeit so sehr zum Grübeln aufgelegte Junge wurde jetzt noch nachdenklicher und ernster. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten aus dem Kinde einen frühreifen Menschen gemacht, der des Lebens wechselndes Auf und Ab mit wissenden Augen, zu betrachten begann. Die Mutter hatte es ihm gesagt — jetzt hieß es auch für ihn: verdienen, arbeiten! — Unklare Pläne wogten durch sein Hirn. Aber die Aufregungen, die der Tod des Vaters mit sich brachte, ließen ihn zu keinem Entschluß kommen.
Jetzt, da er dem Verstorbenen, den er eigentlich nie geliebt hatte, aus einem Gefühl der unsicheren Verlassenheit heraus Tränen nachweinte, jetzt, da die Erde einen einfachen Sarg deckte, begannen sich seine Absichten langsam zu entwirren. Während er auf der Brunnenröhre neben den Brüdern Albrecht hockte und auf die kindlichen Trostworte kaum hinhörte, tauchte wie aus einem Wolkenschleier alles das wieder auf, was er erlebt, gehört und gesehen hatte, fiel ihm wieder ein, daß die beiden Jungen da neben ihm eigentlich seine Feinde waren.
Heinrich Seilers Tränen versiegten. Eine plötzliche Energie war ihm angeflogen und brachte sein Denken wieder in Ordnung. Nichts mehr von dem träumerischen Schweifenlassen der Gedanken, keine Betrachtungen weiter über das Rätsel des Todes. Vor seinem geistigen Auge stieg ein Bild auf, das er am letzten Sonntag geschaut hatte: Ein geschmeidiger Körper kletterte den Abhang der Ginsterschlucht empor, umfaßte die verkrüppelte Kiefer und schwang sich empor.
Da stand er auf und sagte den Brüdern Albrecht gute Nacht. „Oh muß zur Mutter gehen, die ist so allein“, meinte er erklärend.
„Aber Euer neuer Schlafbursche ist ja zu Hause. Vorhin, als ich durch das Fenster sah, saß er am Tisch und schien sich mit Deiner Mutter zu unterhalten“, sagte Karl Albrecht schnell. Er schien Heinrich noch etwas fragen zu wollen und suchte ihn zurückzuhalten.
„Ja, das ist ein netter Mensch, und Mutter freut sich, daß er bei uns wohnt. Er bezahlt gut.“ — Man merkte auch dem Jungen die Freude über diese unerwartete Einnahmequelle an.
„So — hm.“ Der ältere Albrecht schien nachzusinnen.
„Na, gute Nacht“, sagte Heinrich und reichte dem Jüngeren nochmals die Hand. Dann gingen sie auseinander.
Die beiden Brüder aber setzten sich wieder auf die Brunnenröhre und begannen leise zu flüstern. Sie hatten, sich jeder eine Zigarette angezündet und qualmten eifrig, während ihre Köpfe dicht zusammen stecken, so daß einer dem andern die Worte fast ins Ohr sagte.
„Diese Geschichte mit dem Schlafburschen — die kommt mir nicht ganz richtig vor“, meinte jetzt nach einer Weile der Ältere. — Der Bruder sann einen Augenblick nach.
„Wer weiß, was er dazu sagen wird? Auf „er“ legte Karl Albrecht einen. besonderen Nachdruck?
Da begannen von der Kirche her die Schläge der Uhr die nächtliche Stille zu durchzittern. Wie in Wellenbewegungen landete der Schall bei der feuchten Frühlingsluft an den Ohren der beiden Jungen, langsam nachklingend. Der Jüngere schauerte zusammen. „Komm — es wird Zeit“, flüsterte er seltsam gedrückt.
„Was hast Du. Hast Du etwa mit einem Male Angst?!“ Hans Albrecht lachte kurz auf. „Memme!“ meinte er verächtlich. „Seit Du den toten Seiler gesehen, bist Du ein richtiger Waschlappen geworden.“
Dann huschten sie wie zwei Schatten in die Dunkelheit hinein, die dicht wie eine schwarze Wand über den frühjahrsduftenden Feldern lagerte.
Der Besitzer der Destillation zum „Bunten Bock“ saß in seinem Kontor auf dem hohen Schemel und schaute mit Augen, die das traurige Wunder noch immer nicht begreifen konnten, auf den Geldschrank, der halb aus der Ecke herausgerückt war und dessen Seitenwand sich vollständig zerrissen und verbogen zeigte. Wie es möglich war, diese eisernen Platten loszubrechen und derart zu knicken, wie man eine derartige Arbeit so geräuschlos ausführen konnte, daß davon in der eine Treppe höher gelegenen Privatwohnung nichts gehört wurde, das schien ihm unfaßlich. — Der alte Kassierer, der seinem Herrn gegenüber an demselben Doppelpulte arbeitete, war dessen Blicken gefolgt.
„Ja — ein Kunststück — wirklich! Wer hätte das denken können“, sagte er kopfschüttelnd.
Herr Robert Krüger nickte seinem langjährigen Mitarbeiter freundlich zu.
„Sie haben das Richtige getroffen, Herr Meisel“, meinte er dann sinnend, „ein Kunststück, ja, das ist’s. Beinahe könnte man so etwas wie Hochachtung vor diesen Einbrechern empfinden. Nur schade, daß dieses Gefühl an die zweitausend Mark kostet!“
„Vielleicht bekommen wir sie wieder“, wollte Meisel schüchtern trösten.
„Ich glaube nicht dran, wenn auch der Kommissar so hoffnungsfreudig tat. Die Kerle haben ja keine, aber auch nicht die geringsten Spuren hinterlassen. Und überhaupt — unsere Kriminalpolizei! Krüger ließ seine wohlgepflegte Hand schwer auf die Platte des Pultes fallen. „Nein, aber was wir beizeiten hätten tun sollen — einen neuen „Geldschrank anschaffen! Dies unmoderne Ding da ist doch den heutigen Werkzeugen der Einbrecherzunft nicht mehr gewachsen! Das sagte ja Kern auch!“
Der alte Kassierer schüttelte langsam den weißen Kopf. „Wer denkt aber gleich an so etwas, meinte er bedächtig. „Ich bin nun doch schon sechsundzwanzig Jahre hier, und —“
Da öffnete sich die niedrige Tür und einer der Angestellten fragte, ob der Kriminalkommissar Herrn Krüger auf kurze Zeit sprechen könne.
„Ich lasse bitten.“
Die Unterredung zwischen den drei Herren hatte nun schon eine ganze Weile gedauert. Aber Kern vermochte trotz aller möglichen Fragen au nicht den geringsten Anhaltspunkt für den oder die Täter zu finden. Denn wie ihm Herr Krüger mitgeteilt hatte, war das Geschäftspersonal seit Jahren bis auf die Kutscher herab dasselbe geblieben. Und doch sagte sich der Kommissar nicht zu Unrecht, daß die Einbrecher mit der Örtlichkeit recht vertraut sein mußten, um dieses Stücklein überhaupt zu wagen. Die Ausführung zeigte in den feinsten Einzelheiten eine solche Vertrautheit mit den Räumlichkeiten und sonstigen Verhältnissen im „Bunten Bock“, daß die Täter sich vorher orientiert haben mußten. Aber auf welche Weise? — Und dahinter konnte Kern nicht kommen.
Herr Krüger hatte dem Kommissar eine Zigarre angeboten, die dieser als passionierter Raucher sofort anzündete. Nachdenklich tat er jetzt einen langen Zug und blies dann den Rauch langsam von sich.
„Hm — sagen Sie, Herr Krüger, haben Sie vielleicht in letzter Zeit Handwerker im Hause gehabt? begann Kern aufs neue.“
„Ja — das wohl. Aber nur wenige Tage. Ich habe die elektrische Klingelleitung verlegen lassen.“
„Wer hat die Arbeiten ausgeführt?“ fragte der Kommissar lebhaft.
„Der Elektromechaniker Hamann.“
„So — Der aus der Hundegasse?“ — Der Kaufmann nickte bejahend.
„Und wieviel Leute sind beschäftigt gewesen?“
„Ein älterer Geselle und ein Lehrling.“
„Haben die beiden Leute auch hier im Privatkontor gearbeitet?“
„Gewiß. Auch dieses Haustelephon haben sie anders angeschlossen.“
„So — so. Na, das wäre wenigstens etwas“, meinte Kern in seiner zerstreuten Art, indem seine Augen unruhig durch das Zimmer irrten. Sein trostloses Gesicht mit der ungesunden Farbe war in der letzten Zeit noch schmaler geworden. In demselben Maße hatte sich seine Nervosität gesteigert. Denn die Hoffnungen, die er auf Jakob Fischers Spürtalent in der Müllerschen Sache gehabt, wollten sich durchaus nicht verwirklichen. Und jetzt war zu allem Unglück noch diese neue Geschichte ihm aufgehalst worden! Der Inspektorposten war wieder in der nebelgrauen Ferne verschwunden.
Der Kommissar seufzte tief auf. Dann erhob er sich und reichte Herrn Krüger die Hand. „Vielleicht spreche ich morgen nochmals vor“, sagte er im Hinausgehen. „Jedenfalls will ich alles versuchen, trotzdem —“ — Und dann zog er die Schultern hoch, als ob er sagen wollte: „Viel Hoffnung habe ich ja nicht!
Kern begab sich aus dem „Bunten Bock“ direkt zu dem Mechaniker Hamann. Mit diesem hatte er es leicht; denn das, was er wissen wollte, erfuhr er in wenigen Minuten. Beinahe hätte er sich verraten, als Hamann ihm den Namen des Lehrlings nannte, der vor kaum vier Wochen im „Bunten Bock“ mit tätig gewesen war. Aber es gelang ihm schnell, die innere Freude zu verbergen. Und als er dann den höflichen und vor der Kriminalpolizei eifrig dienernden Geschäftsführer verließ, schärfte er ihm strengstes Stillschweigen ein.
„Wenn auch gegen Ihre Angestellten keinerlei Verdachtsmomente vorliegen, ich Ihnen im Gegenteil schon heute sagen kann, daß dieselben für unsere Untersuchung gar nicht in Betracht kommen, so ist es doch besser, die Leute erfahren nicht, wer sich hier nach ihnen erkundigt hat. Derartiges dringt leicht in’s Publikum und erschwert uns nur unsere Arbeit.“
Und Herr Hamann versicherte eifrigst, daß über seine Lippen auch kein Sterbenswörtchen kommen würde. Kern atmete tief auf, als er auf die Straße hinaustrat. Nun galt es nur, Fischer schnell von dieser neuen Entdeckung Nachricht zu geben. Möglich, daß er ihn im Präsidium antraf, trotzdem der Beamte sich dort jetzt sehr wenig sehen ließ. — Der Kommissar fragte daher, als er an der Wachtstube im Portal des Polizeipräsidiums vorüberging, den am Schiebefenster sitzenden Schutzmann, ob Fischer anwesend sei.
„Jawohl — er ist bei Herrn Rat Scheller oben“, wurde ihm zur Antwort. — Befriedigt stieg Kern die Treppe zu seinem Amtszimmer empor, nachdem er noch befohlen hatte. Fischer sofort nach beendigtem Vortrag bei dem Polizeirat zu ihm zu schicken. Es dauerte auch nicht lange, da klopfte es an die Tür, und der Beamte meldete sich.
„Herr Kommissar wollten mich sprechen?“ sagte er, die Hacken leicht zusammennehmend.
„Gut, daß Sie da sind! Hören Sie mal, Fischer das Netz um diese Flickschusterfamilie zieht sich mehr zusammen.“
„So?!“ meinte Fischer nur gedehnt.
„Ja. Ich habe heute erfahren, daß der ältere Albrecht als Lehrling des Mechanikers Hamann ungefähr vor vier Wochen am „Bunten Bock“ mehrere Tage beschäftigt gewesen ist. Na, was sagen Sie dazu — da stoßen wir schon wieder auf diesen halbwüchsigen Bengel!“
„Das habe ich schon gewußt“, meinte Jakob Fischer darauf in aller Ruhe.
„Wie — gewußt?! Und mir sagten Sie kein Wort davon?!“ Kern war gereizt aufgesprungen.
„Ich habe es auch erst gestern erfahren, gestern abend“, beeilte der Beamte sich zu erklären.
„Na — und knüpfen Sie so gar keine Hoffnungen an diese Kenntnis! Zweifellos ist sie für uns doch sehr wertvoll.“
Fischer lächelte trübe. „Wertvoll?! Das scheint so — aber —“
„Nun aber?“
„Ja, Herr Kommissar, was helfen uns alle Anstrengungen! Gewiß, wir haben sehr schwerwiegenden Verdachtsmomente gegen den älteren Albrecht gesammelt — seine Teilnahme an den beiden Einbruchsdiebstählen sieht sogar für mich unumstößlich fest, aber — beweisen — beweisen! Was hilft es uns, wenn wir den Bengel verhaften?! — Nichts! — Im Gegenteil, wir warnen dadurch nur seine Genossen — also würde ich von diesem Schritt entschieden abraten.“ — Jakob Fischer machte dabei ein ganz klägliches Gesicht. Die dauernden Mißerfolge gingen ihm wirklich sehr nahe.
„Und haben Sie denn jetzt in diesen zwei Tagen als Schlafbursche bei Seilers nichts erfahren können? Soll denn auch dieser Versuch uns wieder fehlschlagen?!“ Kern lief erregt im Zimmer auf und ab.
„Nichts Bestimmtes, Herr Kommissar, jedenfalls keine unzweifelhaften Beweise für die Schuld des Hans Albrecht. Denn der Junge, der Heinrich Seiler, der hat mit den Sachen nichts zu tun. Das ist ein mißtrauischer, wortkarger und verträumter Bengel, der mich kaum beachtet. Die Mutter ist ja zutraulicher, aber — so eine gute, anständige Frau! Die weiß von nichts, ahnt nicht einmal, daß es in Ihrem Hause so schlechte Menschen geben könnte! Im Gegenteil — sie singt der Familie Albrecht ein reines Loblied, weil sie sich jetzt bei dem Tod des Mannes ihrer so angenommen haben.“
„Da scheinen Sie sich ja schon recht weit in das Vertrauen dieser Frau eingeschlichen zu haben“, meinte Kern mit angenehmem Lächeln.
„Die ist eigentlich glücklich zu preisen, daß der — der Kerl gestorben ist. Sie muß schreckliche Tage mit dem den Trunke völlig ergebenen Manne verlebt haben. Jetzt merkt man’s ihr recht an, wie sie langsam aufatmet.“
„So — so! Was Sie doch alles herauskriegen, Fischer wirklich bewundernswert! Und dabei sind Sie doch erst zwei Tage dort. Schade, daß uns Ihre Seelenstudien nicht weiterhelfen!“ Der Kommissar begann spöttisch zu lachen — etwas, das den Beamten schon lange geärgert hatte. Alles ertrug er, nur nicht diese — niederträchtige, höhnische Art des Vorgesetzten. Trotzdem sagte er in seinem gewöhnlichen Tone:
„Wenn der Herr Kommissar sich von einem weiteren Aufenthalt bei Seilers nichts versprechen, kann ich ja auch wieder fortziehen. Ich habe der Frau zwar schon das Geld für den ganzen Monat vorausbezahlt, aber —“
„Nein — bleiben Sie! Ich habe jetzt die feste Überzeugung, daß die Lösung dieser rätselhaften Einbrüche nur dort draußen in der Gneisenaustraße zu finden ist. Lassen Sie nichts, nichts unversucht, Fischer! Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen auch noch eine der jüngeren Beamten zur Verfügung.“ — Aus Kern sprach jetzt deutlich die Furcht, daß der Kriminalbeamte, da er seine Aufgabe für aussichtslos hielt, in seinem Eifer nachlassen könnte.
„Nein, ich danke schön, Herr Kommissar! Ich arbeite am liebsten allein“, antwortete Fischer schnell. „Ich wüßte auch nicht, was ein Kollege da helfen sollte“, fügte er erklärend hinzu.
„Gut — gut, ganz wie Sie wollen. Weiter habe ich dann nichts für Sie. In der Krügerschen Sache ist Wendland tätig.“
Jakob Fischer stieg sehr langsam die Treppe hinab und ging dann an der Wachtstube vorbei durch das Portal, blieb vor dem Eingange stehen und zündete sich eine Zigarette an. Der warme Sonnenschein tat ihm wohl, und mit den Augen des Naturfreundes betrachtete er jetzt den frischsprossenden Rasen in den Anlagen vor dem Polizeipräsidium, sah die Sperlinge auf der Straße ab und zu fliegen und — suchte schleunigst das unangenehme Empfinden hier in der frischen Luft abzuschütteln, daß ihn jedesmal bei einer Unterredung mit dem Kommissar überkam.
Trotzdem Fischer nun schon jahrelang unter Kern gearbeitet hatte, trotzdem dieser ihm auch auf seine Art zweifellos wohlwollte — niemals hatte er für den Vorgesetzten auch nur die geringste Sympathie empfunden. Dazu waren schon beider Charaktere viel zu verschieden. Der nervöse Kommissar, ehrgeizig und nach oben kriecherisch, und der ruhige, beinahe zu ruhige, Fischer waren Gegensätze, bei denen selbst nicht einmal die Zeit einen Ausgleich schaffen konnte. Daß sie so lange im Guten mit einander ausgekommen waren, wunderte den Beamten selbst. Jedenfalls trug nicht Kern die Schuld daran. Denn seine spöttische Art und Weise hatte schon manchen anderen verletzt.
Jacob Fischer lächelte jetzt vor sich hin. Er wußte ganz genau, warum der Kommissar die Untersuchung mit solcher Hast führte, warum die Mißerfolge ihn ganz krank machten. Der Inspektor das lockte — ja; und er sollte ihm die Lorbeeren verdienen helfen, und nachher? Kern hatte ein sehr schlechtes Gedächtnis für den Wert seines Untergebenen.
„Abwarten“, dachte der Kriminalbeamte, warf das Mundstück der Zigarette auf das Pflaster und ging davon.
„Guten Abend“, sagte der angebliche Fritz Werner freundlich, als er die Stube betrat. — Frau Seiler, die an dem Tische am Fenster saß und einige Löcher in ihres Sohnes Alltagsjacke ausbesserte, nickte ihm zu.
„Schon zu Hause?“ meinte sie erstaunt. „Es ist ja kaum sechs Uhr.“
„Wir haben heute früher aufgehört, es ist ja Montag!“ lachte der Arbeiter harmlos vergnügt, hing seine Mütze an den Nagel und stellte seine Blechflasche, in der sich kalter Kaffee mit zur Arbeitsstelle nahm, auf das Fensterbrett.
„Ach so!“ Über Frau Seilers blasses Gesicht huschte eine dunkle Wolke in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann, der meist am Montag überhaupt nicht zur Arbeit gegangen war. — Fritz Werner zog sich einen Stuhl an den Tisch heran und ließ sich schwer darauf fallen, stützte dann beide Arme auf die Tischplatte und gähnte herzhaft.
„Ich bin müde heute, sehr müde, — hu — ja! Er lehnte sich zurück und betrachtete die eifrig nähende Frau.
„Na, und Sie, Frau Seiler, was haben Sie so den Tag gemacht?“ fragte er, um eine Unterhaltung anzufangen.
„Wie immer, Herr Werner, wie immer“, meinte sie aufseufzend.
Beide schwiegen dann. Fritz Werner schaute zum Fenster auf die Straße hinaus und schien an irgend einen fernen Gegenstand zu denken. Seine nicht gerade saubere Hand fuhr gedankenlos über den dünnen, dunklen Schnurrbart hin. Dann blinzelte er mit den Augen, wie es die Kurzsichtigen zu tun pflegen. Schließlich gähnte er wieder.
Es war nichts dagegen zu sagen. Jakob Fischer spielte seine Rolle als Arbeiter ebensogut, wie es ihm auch gelungen war, sein Äußeres zu verändern.
Jetzt erhob er sich mit einem Mal, lehnte sich mit einer Hand schwer auf den Tisch und zog sich den rechten Stiefel aus. Als er ihn sich dann genauer, besonders die Sohle, beschaute, sagte er ärgerlich: „Wieder kaputt, kostet wieder Geld. Ob man zu dem Schuster da oben geht?“ Dabei wies er mit dem Daumen in die Höhe.
„Ja, gewiß, Herr Werner, ich kann’s nur empfehlen. Der Albrecht ist billig.“
„Na, qut, dann will ich — Hm, haben Sie nicht ein Paar Pantoffeln für mich, Frau Seiler? Ich kann doch nicht den Abend mit einem Stiefel herumlaufen!“ — Dazu lachte er wieder so behaglich. — Die Frau hatte schnell das Gewünschte herbeigebracht.
„Die sind noch von ihm“, meinte sie erklärend. Fritz Werner kehrte sich nicht darum, daß es die Sachen eines eben Verstorbenen waren. Dann stieg er langsam die knarrende, ausgetretene Treppe empor. Aber je höher er kam. desto vorsichtiger wurde er. Schließlich stand er vor der Tür zu der Albrechtschen Wohnung. Gehört hatte ihn sicher niemand, denn auf den Pantoffeln waren die letzten Schritte wie ein Raubtier, so leise, geschlichen.
Er horchte angestrengt. In der Stube wurde gesprochen. Leider konnte der Lauscher kein Wort verstehen. Nun schaute er sich um. Die Familie Albrecht bewohnte eine sogenannte Giebelstube. Fritz Werner oder besser Jakob Fischer sah auch, daß rechts und links von der Stubentür noch zwei Türen in die daneben liegende Bodenkammer führten. Und da lehnte auch eine Leiter, mit der man in den Bodenraum gelangen konnte, der über der Stube lag.
Diese Leiter besah sich Fritz Werner ganz genau. Da hörte er unten im Hause Schritte. Schnell trat er zurück und nachdem er einige Male fest aufgestampft hatte, als ob er gestolpert sei, klopfte er an. Die Tür wurde von innen geöffnet und in dem Rahmen erschien ein kleines, buckeliges Männchen, das den Besuch mißtrauisch musterte.
„Sie wünschen?“ fragte er dann, ließ aber „die Tür nicht los, als ob er sie dem Fremden im nächsten Augenblick wieder vor der Nase zuschlagen wollte.
Da hob Werner seinen Stiefel empor. „Hier, — da sitzt der Schaden“, sagte er lachend, „und den sollen Sie reparieren.“ — Das Männchen betrachtete noch immer mit seltener Neugierde den vor ihm Stehenden.
„Sie sind wohl der Schlafbursche von Seilers?“ fragte er dann mit einer Stimme, die liebenswürdig klingen sollte.
„Der bin ich — und heiße Werner — und morgen hole ich den Stiefel wieder ab — nein“, verbesserte er sich schnell, „ich muß ihn noch heute haben, „wenn’s auch noch so spät ist. Denn ich gehe morgen schon um fünf Uhr zur Arbeit, da schlafen Sie noch. Also, Sie machen’s mir, nicht wahr?“
Der buckelige Flickschuster war ganz erstaunt über diese kurzangebundene Art.
„Ja, ja. ich mach’s schon!“ Dann nahm er Werner den Stiefel ab. „Der Karl bringt ihn, wenn heute nicht, so doch bestimmt morgen früh. Die Jungens sind ja doch augenblicklich außer Arbeit, können ja dann wieder weiterschlafen — adjes!“ Die Tür wurde zugemacht, und Fritz Werner stieg geräuschvoll die Treppe hinab.
Als er wieder am Tische Frau Seiler gegenübersaß und in dem Buche blätterte, aus dem Heinrich seinem Vater früher immer vorgelesen hatte, kam dieser aus der Stadt zurück. Mürrisch sagte er guten Abend, und auch die Fragen seiner Mutter beantwortete er nur widerwillig. Er setzte sich auf die Ofenbank und starrte vor sich hin.
„Bist Du bei dem Doktor gewesen?“ fragte nach einer Weile Frau Seiler.
„Ja.“
Fritz Werner legte jetzt das Buch beiseite und zog umständlich seine große Nickeluhr hervor. Wieder gähnte er. Dann schaute er zu der arbeitenden Frau hinüber.
„Sie könnten mir etwas zu essen besorgen“, sagte er bescheiden. „Vielleicht holst Du mir etwas“, wandte er sich dann plötzlich an Heinrich.
„Ja — Ja, — ich habe auch nichts zu Hause als Brot“, warf Frau Seiler ein. So wurde denn Heinrich nach etwas billiger Wurst und einer Flasche Bier zum nächsten Kaufmann geschickt. Als er gegangen, fragte der Arbeiter schnell: „Ist Heinrich immer so mürrisch?“
„Ach nein. Ich weiß auch nicht, was ihm fehlt. Ob ihn „seine“ Krankheit so verändert hat?“ Mit „seine“ meinte Frau Seiler die Krankheit ihres Mannes. „Früher war er ganz anders, immer lustig, — hat viel dumme Streiche gemacht.“
Dann setzte sie ruhig einen neuen Flicken auf den linken Ärmel von Heinrichs Jacke.
Fritz Werner sprach dann weiter über den Jungen: was er werden solle, ob er gut lerne. Und die Frau, die seit Jahren niemand gehabt hatte, der mit ihr ein vernünftiges Wort wechselte, ging dankbar auf dieses Gespräch ein. Dann aßen sie zu Abend, saßen alle drei um den Tisch und ließen es sich gut schmecken. Fritz Werner erzählte so lustige Schwänke von dem Hauptmann, der nur immer schimpfte und schrie und doch nie Major wurde, daß auch der Junge lachen mußte. An diesem Abend freundeten sich die beiden etwas an. Und Frau Seiler freute sich darüber. Denn sie mochte den vergnügten und doch so bescheidenen Menschen gut leiden.
Gegen zehn Uhr gingen sie zu Bett. Heinrich und seine Mutter schliefen in der Küche. Fritz Werner in der Stube. Bald hörte der Junge durch die Tür die Schnarchtöne, die bald anschwollen, bald verstummten. Und Heinrich Seiler dachte sich: Der schnarcht noch lauter als der Vater. Er selbst konnte nicht einschlafen. Er grübelte und grübelte, wie er fertig bringen könnte, die Küche zu verlassen, ohne daß die Mutter es hörte. Er hatte ja das niedrige Fenster schon ein klein wenig offen gelassen, um schneller hinausschlüpfen zu können. Aber bis er sich die Kleider, die Schuhe angezogen, da war die Mutter gewiß wach geworden. Eine ganze Weile lag er nun still und lauschte auf ihre regelmäßigen Atemzüge.
Es mußte gewagt werden — mußte. Die Ginsterschlucht lockte ihn, es zog ihn hin, als ob er dort etwas Besonderes finden, entdecken würde. Nicht als ob’s die Abenteuerlust allein gewesen wäre! Nein, sein Denken war in letzter Zeit seltsam geworden. Und heute hatte er’s ja in großen Buchstaben an der Litfaßsäule gelesen: Dreihundert Mark Belohnung. — dreihundert Mark! Das reizte, das spornte ihn an, alles zu wagen.
Leise erhob er sich. Jetzt knarrte die Diele, Sein Herz begann ihm bis in den Hals hinauf zu klopfen. Aber die Mutter atmete ruhig weiter.
Draußen schien der Mond hell. Und so konnte Heinrich in der Stube wenigstens etwas sehen. Warum Werner da drüben auch gerade jetzt mit dem Schnarchen aufhören mußte; das hatte so schön alles übertönt.
Einer seiner Stiefel glitt ihm aus den Händen und fiel polternd auf die Diele. Heinrich warf sich schnell nieder. Aber nichts regte sich. Er wurde nun dreister; und endlich, endlich — ein Sprung, er war auf dem Fensterbrett, ein Satz, er stand auf der Erde. Blitzschnell glitt er in den dunklen Schatten, den das Stallgebäude warf. Hier wartete er, horchte und spähte umher.
In der Ferne schlug eine Uhr zwölf. Er zählte die Schläge; zwölf — ihn überlief es kalt. Aber dann schaute er in den hellen Mondschein, der alle Gegenstände so klar hervortreten ließ; die Regung von Furcht verschwand wieder. Bald huschte eine Schattenhafte Gestalt um die Stallecke und verlor sich in den Feldern. —
Fritz Werner hatte auch in dieser Nacht seine Rolle vorzüglich gespielt. Er war gar nicht schlafen gegangen, sondern legte sich nur in Kleidern aufs Bett. Und dann begann die Komödie mit dem Schnarchkonzert. Er wollte den mißtrauischen Jungen und seine Mutter glauben machen, daß er fest schlafe. Sein Plan war, noch in dieser Nacht sich oben auf dem Boden über der Stube des Flickschusters Albrecht auf die Lauer zu legen. Vielleicht konnte er auf diese Weise etwas heraus bringen. Und wenn er es so Nacht für Nacht treiben sollte! Jacob Fischer war zäh! Und den versäumten Schlaf konnte er dann ja am Tage in seiner Wohnung in der Stadt nachholen. Denn Arbeiter in der Klischeschen Sägemühle war er ja nur für die Seilers und die Nachbarn.
In den Pausen, die er bisweilen in seinem Schnarchkonzert eintreten ließ, lauschte er angestrengt. Da war’s ihm, als ob er nebenan in der Küche Geräusch hörte.
Blitzschnell, aber völlig geräuschlos, erhob er sich und schlich an die Küchentür. Er schaute durch das Schlüsselloch und konnte so gerade das niedrige Fenster, das der Mond beschien, übersehen.
Jetzt — ein dumpfer Fall da drinnen, dann ein Schatten, der sich in seiner Sehlinie bewegte. Wieder vergingen Minuten; Jakob Fischer rührte sich nicht.
Und dann — dann sah er Heinrich Seiler sich zum Fenster hinausschwingen. — Blitzschnell eilten seine Gedanken, er überlegte, was zu tun war.
Lautlos schwebte um die wunderlich gekrümmten Äste der Kiefer am Rande der Ginsterschlucht eine Eule. Bald strich sie höher, bald niedriger dahin, — immer lautlos, gespensterhaft. Jetzt hatte sie sich in den obersten Zweigen niedergelassen. Nun war es still, so wunderbar einsam in der Ginsterheide. Kein Laut drang durch das Schweigen der Nacht, keine Bewegung in den Sträuchern, in den gelblichen, langen Gräsern. Wie Frühjahrsduft lagerte er über der Erde.
Da kam’s über die hellbeschienene Erde dahergeschlichen, geräuschlos, behutsam. Ein Körper glitt über den Boden, indem er jede Deckung, jeden Schatten ängstlich ausnutzte. Bisweilen machte er Halt. Dann schien es, als lauschte der Betreffende in die Nacht hinein. Aber nichts regte sich. Weiter schob sich der Körper vorwärts, der Schlucht und der Kiefer entgegen.
Heinrich Seiler wollte in dieser Nacht das Geheimnis der Ginsterschlucht auf jeden Fall aufdecken. Ebenso wie die Erlebnisse der letzten Zeit seinem Denken eine andere Richtung gegeben hatten, so war auch mit der erwachten Energie ein seltener Mut über ihn gekommen. Wenn er bei seinen früheren Ausflügen in die Ginsterhecke sich vor den Schrecken der Nacht, vor jedem wispernden Blatt und krachenden Zweige gefürchtet hatte, so ließ er jetzt sein Handeln durch diese Regungen nicht mehr beeinflussen, ging vielmehr an sein Vorhaben mit einer Überlegung und einer Vorsicht heran, die man bei seinesgleichen wohl kaum so leicht finden dürfte.
Als er noch auf seinem Lager in der Küche gesessen und den Atemzügen der Mutter gelauscht hatte, als er nur darauf wartete, daß ihr tiefer Schlaf ihm ein heimliches Verlassen des Hauses ermöglichte, da waren schon von ihm alle Für und Wider seines Planes reiflich erwogen. Er glaubte die Brüder Albrecht heute bestimmt daheim. Wenigstens waren sie, soweit er gehört hatte, abends nicht mehr fortgegangen. Und er wußte ja auch, daß sie ihre Besuche in der Ginsterschlucht stets auf eine frühere Stunde verlegten. Zwölf Uhr hatte es geschlagen, als er in dem Schatten des Stalles ängstlich lauschend stand. Da konnte er sich schon sicher fühlen: Die Brüder lagen dort oben in der Giebelstube in ihren Betten und schliefen. Heute würden sie ihn nicht stören, heute würde er gefahrlos hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht kommen.
So war Heinrich Seiler denn durch die Straßen gehuscht, durch den schweigenden Wald geeilt und lag jetzt am Rande des Abhanges, keine fünf Meter von der Stelle entfernt, wo damals Hans Albrechts Körper so plötzlich aus dem Gestrüpp aufgetaucht war und sich dann so gewandt emporgeschwungen hatte. Heinrich Seiler lauschte angestrengt. Nochmals vergewisserte er sich, daß er allein in der Heide war. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte umher, — hinunter in die Tiefe der Schlucht, deren östlicher Abhang in schwarze Finsternis gehüllt war, hinüber zu der einsamen Kiefer, die ihm mit der Lösung des Rätsels eng zusammenzuhängen schien. Da hörte er den unheimlichen, klagenden Schrei des Käuzchens, sah auch die Eule um den verkrüppelten Baum schweben. Aber Ihn focht das nicht an. Jetzt lächelte er in dem Gedanken, daß er noch vor kurzer Zeit sicherlich vor diesen Tönen, vor diesem lautlos durch die Luft streichenden Vogel zusammengeschauert wäre. Wie töricht war er doch gewesen — und wie glich er jetzt den Brüdern Albrecht die sich vor nichts fürchteten und ihren Mut sogar bei Unternehmungen erprobten. die sie ins Zuchthaus — für Heinrich Seilers Phantasie eine zweite Hölle — bringen konnten.
Über der Ginsterheide und ihren Geheimnissen lagerte die Einsamkeit mit ebenso mächtigen Schweigen wie vorher. Selbst das leise Säuseln und Schwirren des durch die Büsche und Gräser ziehenden Lufthauches fehlte in dieser windstillen Nacht. Da erhob sich Heinrich langsam und schlich vorsichtig im Schatten einiger Ginsterstauden auf die Kiefer zu. Jetzt hatte er sie gerade vor sich; er schob sich lautlos, wie eine Schlange, noch näher heran. Mit den Händen tastete er den Boden vor sich ab, legte Zweige und Steine beiseite, damit kein Brechen. kein Knacken oder Anstoßen Geräusch mache. Nur zentimeterweise rückte er vor, alle seine Sinne waren gespannt. Seine Augen wanderten unablässig im Kreise umher, seine Ohren lauschten und horchten. Und jetzt — jetzt konnte er den Arm ausstrecken, berührte schon die riesige Rinde der Kiefer. Da duckte er sich wieder tief auf die Erde und lag längere Zeit still, um für den gefährlichsten Teil seines Vorhabens neue Kräfte zu sammeln. Er fühlte noch einmal mit der Hand nach dem Kolben der Pistole, die er sorgsam auf der Brust verwahrt hatte.
Es war das eine jener billigen Feuerwaffen, wie man sie in jedem Eisengeschäft kaufen kann — großkalibrig, Vorladereinrichtung mit Zündhütchen. Die Pistole hatte Heinrichs Vater gehört. Jetzt hatte er sie heimlich an sich genommen und zusammen mit dem Päckchen Pulver und den wenigen großen runden Kugeln im Stalle versteckt gehabt. Er wußte, wie alle Jungen von der Straße, mit Schußwaffen umzugehen, und hatte sie heute scharf geladen mitgenommen. — Jetzt, als er den hölzernen Kolben und die kalten Eisenteile mit seinen Fingern berührte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl der Unruhe. Furcht war es nicht. Aber blitzschnell überlegte er, ob er es denn wirklich wagen würde, von der Waffe im Notfalle Gebrauch zu machen. Er zögerte. Sollte er sie nicht lieber hier ins Gras legen — war’s nicht vielleicht doch besser?
Aber — ja, wenn er man auf die Brüder Albrecht stieß, wenn sie ihn hier überraschten, hier oder sogar dort hinter jenem Gestrüpp, das sich so dicht vielleicht zwei Meter unter dem Fuße der Kiefer ausbreitete, hinter demselben Gebüsch dort, das sicherlich den Eingang zu einem Schlupfwinkel verbarg?! — Heinrich Seiler behielt die Waffe bei sich. Und nun richtete er sich wieder auf und kroch noch weiter vorwärts, so daß sein Körper halb über dem Rande Der Schlucht hing. Seine rechte Hand schob die Gräser beiseite, die den Fuß des Baumes dicht umstanden. Er brauchte nicht lange zu suchen. Was er vermutet hatte, fand er bestätigt. Um die Kiefer war, verborgen unter dem üppig wuchernden Gras, ein dicker Strick geschlungen.
Jetzt begann Heinrichs Herz doch plötzlich schneller zu schlagen. Er stand, vor der Entscheidung. Er brauchte sich nur an dem Strick herabgleiten zu lassen, dort unten in das Gestrüpp einzudringen — dann mußte der Eingang zu der Höhle vor ihm liegen, er konnte hinein, würde endlich sehen, was die beiden Albrechts so oft hierher gelockt hatte. Und weiter, — wenn er dann da unten Beweise fand, daß die Brüder jenen Diebstahl bei dem Uhrmacher Müller ausgeführt hatten, so konnte er zur Polizei gehen und sagen: Das und das weiß ich. Und dann würden sie ihm Geld schenken, weil er dem Uhrmacher wieder zu seinem Eigentum verholfen und die Täter überführt hatte. Das Geld sollte dann die Mutter bekommen und —
Heinrich Seiler lenkte gewaltsam seine Gedanken von diesen Zukunftsträumen ab. Nochmals ein vorsichtiger Blick in die Runde, — dann ergriff er das Tau, ließ sich langsam hinabgleiten und hing jetzt in der freien Luft. —
So vorsichtig er auch gewesen, er hatte es doch nicht hindern können, daß ein wenig Erde raschelnd herabgerieselt war. Lauschend hielt er den Atem an und suchte vorsichtig das Ende des Taues zwischen die Füße zu bekommen. Auch das gelang. Langsam rutschte er, Als alles ruhig blieb, tiefer, bis er auf einem Vorsprung Halt fand. Behutsam setzte er die Beine auf den Boden. Vor sich hatte er jetzt jenes dichte Gestrüpp von Brombeerbüschen und Ginsterstauden, aus dem Hans Albrecht damals so plötzlich hervorgeschnellt war, Aber vergebens suchte er dieses Gewirr mit den Blicken zu durchdringen. Gerade diese Seite der Schlucht lag im Schatten.
Wieder begann sich Heinrich Seilers Herzschlag zu beschleunigen. Er hörte in dieser beängstigenden Stille die pochenden Töne. Als er emporschaute zu der einsamen Kiefer, die über ihm ihre wenigen Äste gegen den hellen Himmel ausstreckte, sah er wieder die große Eule um den Baum schweben, geisterhaft geräuschlos. Und jetzt schrie ganz in der Nähe das Käuzchen, klagend — hui i hui i— — —
In dem Augenblick hätte Heinrich Seiler etwas darum gegeben, wenn er weit — meilenweit fort gewesen wäre. Eine wahnwitzige Angst überkam ihn plötzlich, er zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß, bedeckte seine Stirn. Schon streckte er seine Arme aus und faßte das Tau wieder fest, um sich emporzuziehen. Aber seine bebenden Finger versagten. Die Furcht hatte seine Muskeln wie im Starrkrampf gelähmt.
Jakob Fischer war, nachdem Heinrich Seiler sich kaum aus dem Fenster geschwungen hatte, durch die Stubentür auf den Hausflur herausgetreten und öffnete die von innen verschlossene Haustür, in deren Schloß der Schlüssel glücklicherweise steckte. Dann schlich er vorsichtig an die Hausecke, und konnte von hier gerade noch zur rechten Zeit den über den Hof kommenden Jungen bemerken, um sich schleunigst wieder in den Hausflur zurückzuziehen. Er wartete nun, bis Heinrich ein gutes Stück voraus war und folgte ihm dann unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. So lange es nur durch die Straßen ging, bot dem Kriminalbeamten diese Jagd keine Schwierigkeiten. Als dann aber der Schatten des Waldes beide aufnahm, da mußte Fischer seine ganze Umsicht gebrauchen, um die Spur nicht zu verlieren. So kamen sie denn schließlich in die Heide, — ein Gebiet, das dem Beamten ganz unbekannt war. Hier, wo das Mondlicht die Gegend beinahe in Tageshelle tauchte. verlor Fischer den Jungen, der auf Händen und Füßen vorwärtskroch, zwischen den Sträuchern bald aus den Augen. Trotzdem gab er die Sache nicht auf. Er hatte sich die Richtung gemerkt, in der Heinrich sich bewegte, und verfolgte diese nun indem er ebenfalls auf allen Vieren über den Boden glitt.
Fischer, der durch seinen Beruf an Anstrengungen aller Art gewöhnt war, merkte doch bald, wie sehr diese Art der Fortbewegung ihn ermüdete. Öfters machte er Halt, um sich zu verschnaufen. Jetzt hört er links von sich ein Käuzchen schreien. Argwöhnisch richtete er sich auf, weil er an irgend ein Signal dachte, und schaute sich um. Aber nichts regte sich. Die Heide schien verlassen. Von Heinrich Seiler konnte er trotz eifrigsten Spähens jetzt nichts erblicken.
Ziemlich mißgestimmt setzte der Beamte sei anstrengenden Marsch wieder fort. Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als er abermals, jetzt aber bedeutend näher, den Ruf des Käuzchens vernahm. Fischer lauschte. Nichts — nichts. Gerade wollte er sich aufrichten, um besser Umschau zu halten — schlug ein dumpfer Knall an sein Ohr, ein Knall, den er sich nicht recht erklären konnte. Ein Schuß? — Dafür war die Detonation zu dumpf. — Aber was konnte es sonst gewesen sein? — Vergeblich grübelte er darüber nach. Nicht lange. Denn der Knall war von vorn gekommen — also vorwärts! Alle Müdigkeit war vergessen; die Hoffnung spornte ihn an, daß er vielleicht noch in dieser Nacht den Erfolg seiner wochenlangen Bemühungen vor sich sehen würde. Wie dieser Erfolg sein, worin er bestehen würde, darüber dachte Jakob Fischer nicht lange nach. Schon stürmte er, jetzt aufgerichtet und daher deutlich sichtbar mit weiten Sätzen dahin, übersprang niedriges Gestrüpp, umging größere Gesträuchgruppen und machte nicht eher halt, als bis er keuchend am Rande einer tiefen Schlucht stand. Nur mit Mühe hatte er so plötzlich seinem Laufe Einhalt tun können, und Minuten vergingen beinahe, bevor seine jagenden Pulse sich so weit beruhigt hatten, daß er Umschau halten konnte.
Vor ihm fiel steil wie eine Wand die eine Seite der Schlucht ab, tief im Schatten liegend, während die andere von dem Mondlicht klar übergossen wurde Fischers scharfe Augen glitten prüfend über die nächste Umgegend hin, blieben dann auf der nahen, einsamen Kiefer haften, die kaum zwei Meter rechts von ihm halb über die Schlucht hing und deren wunderliche Astformen er jetzt erstaunt musterte.
Plötzlich schien’s, als ob Fischer wie eine leblose Masse zusammenbrach. Er lag jetzt langausgestreckt und bewegungslos da, nur sein Kopf ragte aus den Gräsern hervor und drehte sich langsam hin und her.
So verstrich eine lange Zeit. Den Kriminalbeamten fröstelte. Der scharfe Lauf vorhin hatte ihn warm gemacht, und der Erdboden strömte in dieser Frühjahrszeit noch eine ziemliche Kälte aus. Dabei nahm seine schlechte Stimmung wieder zu. Denn allem Anschein nach war auch diese nächtliche Jagd wieder vergeblich gewesen. Wo war der Junge hingekommen, wer hatte den Schuß — wenn’s überhaupt einer gewesen — abgefeuert? Zwei Fragen, auf die Fischer nichts zu antworten wußte, nichts! — Zwar hatte es ihm, als er so plötzlich zu Boden sank geschienen, als ob sich da unten in der Schlucht etwas bewege, als ob Zweige rauschten und brachen. Aber er mußte sich doch wohl getäuscht haben. Denn jetzt rührte und regte sich nichts mehr; nirgends etwas Ausfälliges. Das einzige, — da um die Äste der einsamen Kiefer schwebte lautlos eine Eule strich höher und niedriger. Jetzt war auch sie verschwunden.
Jakob Fischer machte sich endlich auf den Rückweg. Und während er durch den schweigenden Wald dahinschritt, überlegte er nochmals in aller Ruhe die Ereignisse dieser Nacht. Da kam er zu dem betrübenden Resultat, daß er — sich hatte nasführen lassen. Man hatte ihn nur von Hause weglocken wollen, um dann ungestört neue Unternehmungen vorbereiten zu können. Wer weiß, ob es sich nicht morgen herausstellte, daß irgendwo ein neuer Einbruch verübt war — verübt in dieser Nacht, in der Jakob Fischer sich nur einen tüchtigen Schnupfen geholt hatte. Als er jetzt mehrere Male heftig niesen mußte, brummte er vor sich hin: „Geschieht mir ganz recht, mir Anfänger!
Dabei hatte der Beamte nie so falsch kombiniert, wie gerade heute.
Es war am Morgen nach dem nächtlichen Streifzug Fischers in die Ginsterheide. Die Uhr der nahen Franziskanerkirche hatte gerade zehn Uhr geschlagen, als vor dem Portal des Polizeipräsidiums ein Taxameter hielt, dem sehr eilig zwei Herren entstiegen. Es waren dies der Kriminalkommissar Kern und seine „rechte Hand“, Jakob Fischer. Beide verschwanden in dem Gebäude und stiegen eilig die Treppe zum ersten Stockwerk empor. Hier klopfte Kern an eine Tür, an der ein großes Schild mit der Aufschrift „Polizeirat Scheller“ hing. Die Beamten traten ein, und während der Kommissar auf den am Fenster an seinem Schreibtisch sitzenden zuging, blieb Fischer bescheiden an der Tür stehen.
Scheller hatte sich halb umgedreht und musterte den ebenso atemlosen wie aufgeregten Kern mit einem nicht gerade sehr wohlwollenden Blick. Der Kommissar, den Hut in der Hand hin und her schwenkend, stotterte hastig hervor: „Verzeihen Sie mein ungestümes Eindringen, Herr Rat, aber — wir sind in der Untersuchung der letzten Einbrüche um ein bedeutendes vorwärtsgekommen.“ — Diese Worte hasperte er in seiner nervösen Art ab, ohne Betonung, während in seinem gelblichen Gesicht die Augen in geradezu fiebrigem Glanze funkelten.
Scheller zog unwillkürlich interessiert die Augenbrauen hoch. „Was gibt’s denn, Kern? — Schießen Sie los!“ — Da erst sah er den noch an der Tür stehenden Beamten. Er nickte ihm freundlich zu und meinte dann scherzend: „Da ist wohl Fischer wieder der Macher, wie?“
„Jawohl, Herr Rat“, beeilte sich Kern zu erklären, „Fischer hat in dieser Nacht so wichtige Entdeckungen gemacht, daß ich vorschlagen möchte —“
„Halt, Halt“, wehrte Scheller ab. „Nur nicht hastig. Zunächst möchte ich auch einmal wissen, was denn eigentlich passiert ist. Daher — kommen Sie näher, Fischer, und erzählen Sie — aber, bitte, hübsch langsam und eines nach dem anderen. Wollen Sie Platz nehmen, Kern — so, bitte!“ Er zog für den Kommissar einen Stuhl herbei und langte dann nach seiner Zigarrentasche die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Scheller war in gewissen Momenten ein sehr gemütlicher Vorgesetzter, wenn auch zugegeben werden muß, daß diese Gemütlichkeit oft nichts als feine Diplomatie war. Er liebte es, tüchtige Beamte weniger durch die Aussicht auf äußere Erfolge, als vielmehr durch die Erwartung eines liebenswürdigen, anerkennenden Wortes von seiner Seite anzuspornen. So bot er auch jetzt dem Kriminalbeamten mit ebenso verbindlichem „bitte, lieber Fischer“ eine Zigarre an, wie er dies bei dem Kommissar tat. Fischer kannte seinen Vorgesetzten und zögerte daher nicht, sich die Zigarre auch sofort in Brand zu setzen. „So“, meinte der Rat dann mit beinahe behaglichem Schmunzeln, und drehte seinen Schreibsessel herum, „nun also ans Geschäft, meine Herren!“
Fischer begann nun ohne lange Einleitung die Ereignisse der letzten Nacht zu erzählen — wie er den Jungen durch das Fenster steigen sah, bis zu dem Augenblick, als er entmutigt heimkehrte und sich müde und unlustig in seinen Kleidern auf das Bett warf um sich nochmals — zum wievielten Male wohl? — die Vorgänge ins Gedächtnis zurückzurufen, nachzusinnen, ob er nicht doch aus dieser seltenen Jagd irgendwie einen Vorteil ziehen könnte.
„Und wie ich mir das alles so überlegte“, fuhr er jetzt fort, „da kam mir plötzlich die Idee, ob es nicht ganz gut wäre, dem Jungen einfach vor dem Fenster der Küche aufzulauern, ihn am Kragen zu nehmen und ihm dann zu sagen: Das und das habe ich gesehen — nun beichte, wo Du gewesen bist!“
Als Fischer so weit gekommen war, ließ Scheller ein mißbilligendes „Hm, Hm.“ hören.
„Ein schlechter Plan, Fischer, sehr schlecht“, sagte der Rat ehrlich. Aber der Beamte erlaubte sich wunderbarerweise jetzt diskret zu lächeln.
„Das sah ich ja auch gerade in dem Augenblick ein, Herr Rat“, entgegnete er schnell, „als ich in dem Hausflur stand und gerade wieder die Tür nach der Straße öffnen wollte. Da sagte ich mir — die guten Gedanken kommen manchmal gerade noch zur rechten Zeit: Heinrich Seiler muß ja allerdings noch vor dem Morgengrauen nach Hause kommen, also abfassen tust Du ihn sicher, aber ob so ein gewitzter Bengel in der Überraschung ein Geständnis ablegen wird, das ist mehr als fraglich. Und wie ich da noch so in dem dunklen Hausflur stand, kam mir auch mit einem Male die Erinnerung an den Bodenraum über der Stube des Flickschusters Albrecht und an die Leiter. Das war die richtige Idee, Herr Rat, wie sich bald herausstellte.“
Fischer tat einige lange Züge, da seine Zigarre auszugehen drohte. Scheller war sichtlich aufmerksamer geworden, beinahe ungeduldig.
„Ich schlich also leise die schmale Treppe empor, fuhr der Beamte nach der kurzen Unterbrechung fort, „und es glückte mir dank der Übung und dem feinen Tastsinn, ganz ohne Lärm bis oben an den Bodenraum zu kommen. Ich war klug genug, mich nicht etwa dadurch zu verraten, daß ich die Leiter umstellte. Ich mußte zwar mit aller Gewandtheit mich auf die Balkenlage schwingen, aber jedenfalls gelang es. So lag ich denn da oben, den Kopf dicht an der Öffnung und wartete. Bald darauf hörte ich die Uhr der Vorstadtkirche drei schlagen. Aber die Zeit sollte mir noch recht lang werden. Erst gegen vier Uhr hörte ich unten die Haustür gehen und dann leise Tritte, die die Treppe heraufkamen.“
„Einen Augenblick, Fischer! Bisher habe ich Ihren Ausführungen sehr gut folgen können. Ich begreife — Sie vermuteten eben, daß auch die Brüder Albrecht da draußen auf dem abgelegenen Felde irgend etwas vorhatten.“
„Nein, Herr Rat; diese Möglichkeit nahm ich zwar an, rechnete aber auch mit der zweiten, daß nämlich der Junge mich hatte wirklich nur nasführen wollen.“
„So — na, letzteres halte ich für ausgeschlossen. Ich glaube kaum, daß die Burschen Sie in Ihrer Eigenschaft als Beamten erkannt haben. Ist ja auch vorläufig einerlei! Nur das eine noch! Sie sagten, daß Sie die Haustür öffnen hörten. Ja, aber vorhin erzählten Sie doch, daß diese Tür von innen verschlossen war und Sie sie erst aufschlossen, bevor die Hetze auf diesen — ja, richtig — Heinrich Seiler losging. Wie konnten die Brüder Albrecht denn herein, wenn die Tür nicht von Innen offen gelassen worden war? — Da ist mir doch manches unklar.“ — Scheller wiegte nachdenklich den grauen Kopf hin und her.
„Ganz recht, Herr Rat, dasselbe habe ich mir auch schon gesagt. Ich erkläre mir die Sache so, daß die Bruder Albrecht auf gut Glück versucht haben, ob die Tür unverschlossen war. Andernfalls hätten sie eben im Holzstall geschlafen, was bei ihnen öfters vorkommen soll, wie mir Frau Seiler erzählte.
„Gut, gut, lieber Fischer! Nun aber weiter! — So hier ist ein Streichholz!? —
Die Schritte kamen also sehr leise und behutsam die Treppe herauf. Die Jungen schlichen wirklich wie die Katzen, öffneten ebenso lautlos die Stubentür und drückten sie hinter sich wieder ins Schloß. Nun hatte ich Ihnen, Herr Rat, ja schon vorhin gesagt, daß ich mir meine Stiefel zum frühen Morgen bestellt hatte; jedenfalls sollte der Flickschuster Albrecht sie mir zuschicken, bevor ich zur Arbeit ging. Das schoß mir jetzt durch den Kopf. Auf diese Weise hatte ich ja eine Ausrede, falls man mich auf meinem Lauscherposten überraschen sollte. Denn da oben blieb ich nicht. So vorsichtig wie möglich kletterte ich herunter und drückte mein Ohr gegen die Stubentür. Und ich hatte Glück. Zwar hörte ich nur wenige Worte, aber sie genügten mir, wenn ich das alles mir da oben auch nicht so schnell zusammenreimen konnte wie jetzt, wo noch anderes dazugekommen ist. Wie gesagt, aus den erregt flüsternden Stimmen hörte ich folgendes heraus:
„Festhalten, sonst — Verrat — der unten — nachsehen — Stiefel bringen.“ — Ich habe mir die paar; Worte genau gemerkt. Also die Worte genügten mir, — das heißt, ich trat schleunigst den Rückweg an und kam auch unbehelligt unten an, warf mich auf das Bett, nachdem ich mir noch das Jackett angezogen hatte, und wartete. Nach wenigen Sekunden klopfte es auch stark gegen die Tür. Erst nach einer Weile rief ich dann Herein. Inzwischen war es draußen ziemlich hell geworden, so daß ich den Eintretenden trotz des Zwielichts erkennen konnte. Es war der ältere der Brüder Albrecht. Er sagte mir ganz freundlich guten Morgen, stellte die Stiefel neben die Tür und wollte, anscheinend beruhigt, wieder gehen. Ich stellte mich sehr schlaftrunken, fragte, wieviel die Uhr sei, sagte ich, daß ich mittags das Geld dem Vater bringen würde. Dann verließ der Junge die Stube. Daß ich mit den Kleidern im Bett lag, konnte er nicht bemerken. da ich mir die Decke übergeworfen hatte.
„Sehen Sie, Fischer“, warf da Scheller triumphierend ein, „da habe ich doch recht gehabt. Die Gesellschaft traut Ihnen nicht!“
„Ja, ja, Herr Rat, sie trauten mir nicht, weil sie dachten daß ich mit Heinrich Seiler gemeinsame Sache gemacht habe. Aber das muß ich weiter im einzelnen erzählen, sonst wird der Bericht unübersichtlich. Doch ich will mich jetzt kürzer fassen, denn“, — Fischer sah nach der Uhr, „wir haben heute vormittag noch viel zu tun. — Frau Seiler bemerkte natürlich sofort das Fehlen ihres Sohnes, machte sich aber keine Sorgen, da sie eben annahm. daß er nicht die ganze Nacht fortgewesen, sondern sich erst gegen Morgen aus dem Staube gemacht habe. Sie kochte mir Kaffee, fragte mich, ob ich denn heute nicht zur Arbeit ginge, und war ganz besorgt, als ich ihr sagte, daß ich mich krank fühle und zu Hause bleiben wolle. Da sie mich nur als soliden arbeitsamen Menschen kennt, glaubte sie mir auch wirklich. Ich machte mich in der Wirtschaft nützlich, zerkleinerte auf dem Hofe Holz, nagelte einen wackeligen Stuhl zurecht und — wartete sehnsüchtig auf den Augenblick, wo Heinrich Seiler sich endlich wieder einfinden würde. Anfangs war ich erstaunt, daß er noch nicht zurückgekehrt war, besonders, wo doch die Brüder Albrecht längst heimgekommen waren. Aber schließlich mußte ich mir sagen, daß das auch ebensogut ein Zufall sein könne. Meine Bedenken kamen erst später, als ich bei der langweiligen Arbeit des Holzspaltens die Fortschritte meiner Untersuchungen nochmals so im einzelnen durchging. Und da, Herr Rat, — inzwischen war’s sieben Uhr geworden, — da fielen mir auch die oben an der Albrechtschen Stubentür erlauschten Worte wieder ein. Als ich nun die Kette meiner Überlegungen so prüfte, mußte ich mir doch sagen, daß dieses Ausbleiben des Jungen recht auffallend war. — Wenn er doch nicht mit den Brüdern Albrecht da draußen in der Heide zusammengekommen war, mich auch nicht hatte von Hause weglocken wollen, dann blieb das eine übrig: Er hatte etwas anderes in der Heide gesucht, andere Pläne gehabt, die er allein ausführen wollte. Und für diese Annahme spricht Verschiedenes. Zunächst der Umstand, daß der Junge mit so großer Vorsicht sich allein in die Heide begab, daß er sich jener Schlucht in einer Weise näherte, als lauere dort irgend eine Gefahr auf ihm. Weiter dann — warum ist er nicht noch in der Nacht zurückgekehrt er, der seiner Mutter sicherlich gern die Angst erspart haben würde, ja — Herr Rat, würde, wenn — er eben hätte zurückkehren können. Und hier — hier möchte ich nun die mir erst unverständlichen Worte einfügen, die ich erlauscht habe — „festhalten, sonst — Verrat —“. So wie ich jetzt über die Sache denke, gehören diese drei Worte zusammen und beziehen sich — auf Heinrich Seiler!“
Scheller schüttelte ungläubig den Kopf. Aber Jakob Fischer ließ sich dadurch nicht stören.
„Meine Ansicht ist die, Herr Rat, daß in der verflossenen Nacht da in der Nähe der Schlucht, an deren Rand ich fast eine Stunde gelegen habe, ein Verbrechen geschehen ist. Bedenken Sie auch die Detonation, die ich hörte, weiter das Rascheln in der Schlucht, Irgend etwas gibt es dort draußen in der Ginsterheide für uns aufzudecken, Herr Rat — und wenn der arme Junge mittags noch nicht zu Hause ist, dann — ja, dann, ehrlich gestanden, fürchte ich, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt.“
Jakob Fischer hatte sich in eine seltene Erregung hineingesprochen. Jetzt schaute er seinen Vorgesetzten wieder fragend an. Aber der blickte in Gedanken zum Fenster hinaus und schwieg. Eine Weile war es sehr still in dem großen Zimmer. Dann wandte sich Scheller wieder dem Beamten zu.
„Sie beziehen also die Worte „festhalten, sonst Verrat“ deshalb auf diesen Heinrich Seiler, weil er bisher nicht heimgekehrt ist. Hm — und ja, wie legen Sie dieselben aus, — ich meine, wie würden Sie den Satz ergänzen?“
„In folgender Weise. Gesprochen wurde er sicher von einem der Brüder, bestimmt war er für den Alten, der die Vorfälle der Nacht nicht kannte. „Wir wollen ihn festhalten, sonst müssen wir Verrat fürchten. Da floh er und wir schossen auf ihn.“ — Der letzte Satz ist allerdings reine Phantasie von mir. Der einzige Anhaltspunkt dafür ist eben der Schuß, den ich gehört habe. Denn ich glaube jetzt bestimmt, daß es ein Schuß war.“
„Nicht übel — lieber Fischer, — aber, wie Sie selbst sagen, es sind zu viel Kombinationen dabei, zu wenig Unterlagen. Na, um nun endlich an das letzte zu kommen, — was haben Sie vor, — wie wollen Sie die Sache zu Ende bringen?“
Jetzt griff auch Kern, der bisher nur den aufmerksamen Zuhörer gespielt hatte, in die Unterhaltung ein. Er wollte nicht, daß man ihn als unnötig ganz ausschalte. Und daher berichtete er nun schnell, wie Fischer heute zu ihm in die Privatwohnung gekommen sei, und wie sie dann bereits auf der Fahrt hierher einen Plan entworfen hätten. Dabei wußte der Kommissar ganz geschickt die Sache so zu drehen, als ob erst auf seine Veranlassung Fischer all diese Nachforschungen unternommen habe. — Doch Scheller wußte trotzdem, woran er war.
Noch lange saßen die drei Beamten in des Polizeirats Zimmer und sprachen genau alle Einzelheiten der großen Razzia durch, die mit einem starken Polizeiaufgebot noch heute in der Ginsterheide vorgenommen werden sollte, wenn — wenn Heinrich Seiler bis Mittag sich nicht wieder eingefunden hätte.
Etwa gegen ein Uhr nachmittags an demselben Tage gingen zwei harmlose Spaziergänger in gemächlichem Schritt durch die Ginsterheide auf die Schlucht zu. So wie sie bisweilen stehen blieben und in die Ferne blickten, der eine mit der Hand aufs die ferne Kirchturmspitze wies, und beide dann mit frohem Lachen weitergingen, konnte wohl auch der schärfste Beobachter kam herausmerken, daß die beiden Männer nicht weniger als die Liebe zu der im Frühlingskleide prangenden Natur hier herausgeführt hatte.
„Hier, Herr Rat“, erklärte der jüngere der beiden jetzt, „hörte ich den Schuß fallen. Wir sind keine hundert Meter mehr von der Schlucht entfernt.“ Jakob Fischer war stehen geblieben und schaute plötzlich angestrengt nach links herüber.
„Sehr geschickt, wirklich!“ meinte er wie für sich selbst.
Der Polizeirat Scheller wurde aufmerksam.
„Was haben Sie denn, Fischer?“
„Unsere Truppen sind pünktlich. Da hinten sehe ich jetzt auch zwei Gestalten — und dort, jenseits der Schlucht, kommt auch schon der Herr Kommissar mit dem Kollegen Werner. Wir müssen uns beeilen, sonst —“ Der Beamte stutzte plötzlich und seine Augen fuhren wie suchend über den Boden hin. Auch des Polizeirats Augen wurden schreckhaft groß, als Fischer mit dem Finger auf eine kleine Blutlache am Boden wie.
„Mein Gott“, entfuhr es dem alten Herrn, „sollten Sie mit Ihrer Vermutung doch recht haben und hier —“
Er vollendete den Satz nicht. Der Beamte war niedergekniet und musterte aufmerksam die Gräser, kroch einige Schritte weiter und wieder zurück. Dann erhob er sich. Auf seinem Gesicht lag ein feines Lächeln, „Hier ist nur ein Huhn von einem Fuchs zerrissen worden, Herr Rat, nichts weiter. Da die kleinen Federn — in dem Blute schwimmen auch einige. Wir wollen weitergehen.“ Damit schritt er auch schon vorwärts. Scheller hatte überrascht aufgesehen. Aber als er sich nun neugierig bückte, sah auch er die kleinen Federchen. Da folgte er dem Beamten langsam. Woher der aber gerade wissen konnte, daß hier ein Huhn, ausgerechnet ein Huhn, sein Ende gefunden, das begriff er nicht. Und fragen wollte er auch nicht. Ja, so, in der Praxis, da war ihnen der Fischer doch allen über.
Nun schritten die beiden wieder Seite an Seite dahin. Immer näher kamen sie der Schlucht. Der Rat konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen. Schließlich begann er wieder: „Dieser harmlose Blutfleck hat mir die Stimmung verdorben, weiß der Kuckuck! Ich ahne Böses — mir ist so, als ob —“
Das Weitere brummte er unverständlich vor sich hin.
Fischer nickte nur dazu.
„Ja, Herr Rat, ehrlich gesagt, ich habe auch nicht mehr viel Hoffnung, daß wir den Jungen noch am Leben finden. Daß er bis jetzt nicht heimgekehrt ist, ist leider so gut als — na, so gut, als ob wir das Unglück schon vor uns sehen.“
Da waren sie bereits am Rande der Schlucht angelangt und blieben nun stehen. Gerade vor ihnen stand die einsame Kiefer und streckte ihre krummen Äste gen Himmel. Scheller sah sich um. Drüben kletterte jetzt der Kommissar und sein Begleiter den jenseitigen Abhang herab.
„Sollte man glauben, daß es in der Nähe einer großen Stadt eine solche Wildnis gibt“, sagte der Rat leise und musterte neugierig die Umgebung, die in ihrer durch keinerlei Kultur beeinträchtigten Unberührtheit und Einsamkeit wirklich ein sonderbares Bild bot. Aber Jakob Fischer hatte für solche Erörterungen keine Zeit. Seine Blicke hingen an dem hier auffällig zertretenen Boden, glitten weiter, kamen zurück. Schließlich lag er wieder auf den Knien und begann eine sehr sorgfältige Suche nach irgendwelchen frischen Spuren. Eine ganze Weile verstrich so. Indessen schien der Kommissar unten in der Schlucht dasselbe zu tun. Scheller stand dabei und schaute zu. Fischer hatte nun schon mehrmals im Halbkreise die Stelle an der einsamen Kiefer umgangen. Jetzt näherte er sich dem Baum, streckte sich lang aus, so daß sein Kopf über dem Abhang hing und blickte unverwandt in das Gestrüpp, das zwei Meter unter ihm so üppig wucherte. Er drehte den Kopf hin und her, schob seinen Körper noch weiter vor, bis er endlich mit der linken Hand vorsichtig in dem Grase am Fuße der Kiefer umherzutasten begann.
Scheller merkte es dem ganzen Gebaren des Beamten an, daß dieser etwas Besonders entdeckt habe. Da drehte sich auch schon Fischer ihm zu und winkte mehrmals mit dem Kopf. In seinem Gesicht lag ein seltener Ausdruck von Triumph. Als der Rat sich vorbeugte, um besser hören zu können, flüsterte der Beamte beinahe heiser:
„Ich hab’s. Hier am Fuße der Kiefer ist ein Strick befestigt — und da — da unten wird der Eingang zu einer selten raffiniert angelegten Diebeshöhle sein.“
Der Polizeirat hatte sich schnell auf die Knie niedergelassen.
„Wirklich, Fischer?! Dann werden wir die Vögel wohl noch im Nest finden? Soll ich Kern herbeirufen?“ — Scheller war seltsam erregt. Im früheren Jahren hatte er sich ja öfters an derartigen Unternehmungen beteiligt, besonders, wenn ihm daran lag, daß seine Anordnungen aufs genaueste befolgt wurden, und es sich um eine Sache handelte, deren Wichtigkeit ein Einsetzen aller Kräfte verlangte. Aber mit der Zeit war der Rat älter und damit bequemer geworden. Außerdem hatte sich auch seit Jahren nichts mehr in der Nacht ereignet, daß derart die Gemüter erregte wie gerade jetzt die beiden mit so großer Gewandtheit ausgeführten Einbruchsdiebstähle. So war denn Scheller heute mittag zusammen mit dem Kommissar und den Beamten nach der Vorstadt herausgefahren, wo Fischer sofort berichtete, daß die große Umstellung und Durchsuchung der Ginsterheide tatsächlich vorgenommen werden müsse, da Heinrich Seiler sich bisher nicht aufgefunden habe. —
Fischer, der die letzte Frage seines Vorgesetzten überhört zu haben schien, war vorsichtig aufgestanden und winkte Scheller zu, indem er möglichst geräuschlos den Rand der Schlucht verließ. Dann meinte er, nachdem sie einige Meter zurückgegangen waren, nach kurzem Überlegen:
„Herr Polizeirat, ich glaube nun doch, daß ich mit meiner Vermutung, Heinrich Seiler sei hier ermordet worden unrecht habe. Der um jene Kiefer so sehr zertretene Boden machte mich zuletzt stutzig. Ich sah bald, daß die Fußspuren gerade auf den Baum zuführten. Das Gras ist ja da beinahe zu einem Pfade zusammengetreten. Daher auch meine Untersuchung des Kiefernstammes. Etwas Ähnliches ahnte ich sofort — aber daß wir einen Strick zum Herablassen finden würden, das hat auch mich überrascht. Ja — und um’s ehrlich zu sagen, dadurch wird nicht nur unser ganzer Plan umgeändert, sondern — ich fürchte jetzt auch, daß wir — zu spät kommen.“ Fischer hatte wieder flüsternd und mit seltener Hast gesprochen. Dabei ließ er fortwährend seine Augen im Kreise umherwandern, als ob er irgend eine Überraschung fürchtete.
Scheller blickte den vor ihm Stehenden scharf an.
„Zu spät gekommen?!“ fragte er hastig. „Sie meinen, die Gesellschaft sei schon über alle Berge?“ Aus seinen Worten hörte man deutlich die Unruhe heraus.
Fischer nickte. „Leider. — Aber ich habe noch eine Hoffnung. Ich denke, wir werden den Jungen noch dort unten finden!“
„Heinrich Seiler?“
„Ja, Herr Rat! Jetzt wird mir manches klar, was ich mir bisher falsch zusammengereimt hatte. Der Junge hat nie, das glaube ich nunmehr bestimmt sagen zu können, mit den Brüdern Albrecht und dem Berliner Einbrecher unter einer Decke gesteckt. Im Gegenteil, wenn ich mir’s so recht überlege, wie vorsichtig er in der Nacht sich hier der Schlucht näherte, dann — ja so ist’s, Herr Rat: der Junge hat, so unwahrscheinlich es klingen mag, ebenfalls hier denjenigen nachgespürt, die dort in der Schlucht ihren Schlupfwinkel haben. Wer weiß. wie lange er es schon so treibt — ob er nicht auch damals schon, als wir ihn in der Nacht an dem Stalle festnahmen, herumspionierte. So ganz harmlos kam der Heinrich mir nie vor. Und gestern nacht haben ihn die Bewohner jenes Schlupfwinkels eben überrascht und — halten ihn dort unten fest! — Ja, Herr Rat, so ergänze ich jetzt die Worte: Festhalten — nämlich ihn, den Heinrich Seiler, damit den andern die — Flucht möglich ist, damit sie nicht verraten werden können —“
Der Polizeirat schüttelte den Kopf.
„Alles ganz schön, Fischer, — aber wie oft haben Sie in dieser Sache nun schon Ihre Ansicht geändert. Da können Sie es einem nicht verargen, wenn man — mißtrauisch — ungläubig wird.“ — In diesem Augenblick erschien Kern auf dieser Seite der Schlucht und kam langsam auf die beiden zu.
„Wir haben nirgends etwas Auffälliges entdecken können. Herr Rat.“ meldete er sichtlich unzufrieden. „Unsere Leute haben jetzt in engem Kreise die Schlucht umstellt. Es bleibt also nur noch dieser Abschnitt zu durchsuchen.“
Scheller überlegte. Dann wandte er sich an Fischer, der ungeduldig nach der einsamen Kiefer hinüberspähte.
„Sie haben diesen Plan vorgeschlagen, Herr Fischer! Was soll jetzt geschehen? Ich lasse Ihnen völlig freie Hand.“
„Dann möchte ich den Herrn Kommissar bitten, daß einer der Kollegen schnell nach einer Laterne geschickt und indessen der Kreis der Beamten hier um die Schlucht noch enger zusammengezogen wird.“ — Darauf berichtete Fischer dem Kommissar kurz, was er entdeckt hatte und fügte noch hinzu, daß er nachher sich sofort an dem Strick herablassen und in die Höhle, deren Vorhandensein er ganz bestimmt annahm, eindringen wolle. —
Es konnte gut eine Stunde vergehen, bevor der nach der Laterne ausgeschickte Beamte zurückkehrte. Während dieser Zeit gingen Scheller und Kern ungeduldig am Rande der Schlucht hin und her und warfen zuweilen einen prüfenden Blick auf das Gestrüpp, hinter dem der Eingang zu dem Schlupfwinkel liegen sollte. — Jakob Fischer hatte sich dicht bei der Kiefer auf die Erde gesetzt und schien mit großem Interesse einen Schwarm Krähen zu beobachten, die mit lautem Krächzen über einer fernen Stelle in der Heide kreisten.
„Ich lasse Fischer auf keinen Fall allein hinunter“, sagte eben der Kommissar eifrig. „Es ist ebensogut möglich, daß die von uns Gesuchten sich noch in der Höhle befinden, und dann dürfte es dem Einzelnen kaum gut ergehen.“
„Aber Fischer meint doch, daß die Gesellschaft bereits das Feld geräumt hat“, warf der Polizeirat ein.
„Annahme, weiter nichts! Ebenso wahrscheinlich ist es, daß sie noch da sind. Allerdings werden sie ja längst gemerkt haben, daß es für sie kein Entkommen mehr gibt.“
„Na, dann ist doch gerade von Schusterkarl als einem alten, gewitzten Einbrecher anzunehmen, daß er sich ohne Widerstand ergibt. Nur Neulinge im Handwerk versuchen sich bei ihrer Verhaftung zur Wehr zu setzen.“
„Ganz recht, Herr Rat! Aber das Schuldkonto des Berliners ist so groß, daß ihm sicherlich zehn bis fünfzehn Jahre Zuchthaus bevorstehen. Und ob er da nicht in der Verzweiflung —?“ Kern zog bedenklich die Schultern hoch.
Scheller war stehen geblieben und schaute wieder hinab auf das Gestrüpp, über dem die einsame Kiefer halb über dem Abgrund hing.
„Und wenn nun dort unten weder eine Höhle noch sonst etwas gefunden wird, was für uns von Wichtigkeit ist, — wenn der brave Fischer sich in seinen Kombinationen getäuscht hat, und weder die Brüder Albrecht noch Schusterkarl jemals hier gewesen sind? — Wenn Schusterkarl selbst nur von uns hierher „verpflanzt“ ist und er sich in Wahrheit ganz wo anders aufhält, — mit einem Wort, wenn unsere bisherigen Untersuchungen, die auf sehr wie schwachen Füßen stehen, heute wie ein Kartenhaus zusammenfallen?! Was dann?!“
Kern erlaubte sich, ein feines Lächeln zu zeigen. „Sie sind jetzt zu sehr Schwarzseher, Herr Rat! Daß die Brüder Albrecht und Schusterkarl bei den Einbrüchen beteiligt sind, gilt für mich als gewiß. Und der Berliner ist hier. Denn solche Arbeit, wie die in der Destillation zum „Bunten Bock“ an dem Goldschrank liefert nur ein ganz Großer in seinem Fach. Außerdem — nur er kann’s gewesen sein, der uns damals an dem Stallgebäude entschlüpfte und —“
„Schon gut. Aber offen gesagt: Viel Vertrauen habe ich nicht mehr. Fischer selbst meint ja auch, daß die Vögel bereits ausgeflogen sind. Dann geht die Jagd von neuem los.“
Der Kommissar erwiderte hierauf nichts. Er sog seine Uhr und schaute nach der Zeit. Es war beinahe eine Stunde vergangen, seitdem der Beamte fortgeschickt war. Die Entscheidung nahte, eine Entscheidung, von deren Ausfall für Kern sehr viel abhing. In dem ehrgeizigen Mann aber war die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang größer als die Furcht vor einer Enttäuschung. Er kannte Jakob Fischer genau. Wenn der so seelenruhig dasaß und in den blauen Äther ein Loch hineinguckte, dann hatte er sicher schon wieder ein Plänchen bereit, um die Sache auf jeden Fall erfolgreich enden zu lassen. So dachte der Kommissar und — schon war’s ihm, als ob er den Inspektorposten bereits sicher habe.
Jakob Fischer aber überlegte in demselben Moment, wohin sich Schusterkarl und die Brüder Albrecht gewandt haben könnten. Denn daß er sie da unten nicht mehr antreffen würde, stand bei ihm fest.
Heinrich Seiler stand in jener Nacht, vor Grauen bebend, auf dem Vorsprung, der sich ungefähr einen Meter unter dem Rande der Schlucht befand und gerade so viel Platz bot, daß eine einzelne Person dort festen Fuß fassen konnte. Vor dem Jungen erhob sich das wirre Gebüsch, aus einigen besonders starken Ginsternsträuchen bestehend, durch die sich die Brombeerranken wie ein Netz geschlungen hatten. Unter ihm gähnte der tiefe Abgrund, so steil abfallend, daß ein Sturz in die Tiefe sicheren Tod brachte.
Heinrich Seiler hielt den Strick noch mit beiden Händen fest. Vergebens hatte er soeben versucht, sich wieder zu dem Rande der Schlucht emporzuarbeiten. Das unheimliche Schreien des Käuzchens lähmte seine Muskeln. Seine Gedanken verwirrten sich, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und das jagende Blut drohte ihm das Herz zu sprengen. Wie es ihm da in der Brust klopfte; so rasend schnell folgten die Schläge. Und wie sein armes Hirn arbeitete. — Was dachte er alles, als er so mit zitternden Knien dastand und sich mühsam nur durch Festhalten an dem Tau vor dem Zusammensinken bewahrte.
Sollte er jetzt hier elend umkommen. — war’s die Strafe für sein — Da stockten seine Gedanken. Strafe — Strafe — wofür?! Was hatte er denn so Schlechtes getan, daß er hier in dieser Einsamkeit zugrunde gehen, vielleicht ermordet werden sollte von seinen früheren Freunden! — Ja, was? — War‘s denn etwas Sündhaftes gewesen, den Brüdern Albrecht nachzuschleichen, hatte er dabei nicht die besten Absichten gehabt?! Er wollte doch nur — Und wieder machten hier die Gedanken Halt. — Wozu hatte er sich denn eigentlich diesen Gefahren unterzogen — wozu? Nur aus knabenhafter Lust an Abenteuern? Oder —? Da schien plötzlich die Furcht von Heinrich Seiler abzugleiten wie ein matter Pfeil. Wie kam das nur? — Er dachte nach, sann und sann. Die wilde Angst war ja nun weg und — die Mutter daheim, — ja, die Mutter daheim, um ihretwegen mußte er sich aufraffen, ebenso wie er ja nur hier in den Bergen seine Streifzüge unternahm, um — ja, das war’s! — um der Mutter zu helfen. Wie ein lockendes, unklares Nebelgebilde hatte allen seinen Plänen die Hoffnung auf eine klingende Belohnung vorgeschwebt, hatte ihn geleitet und — vielleicht verführt zu diesem abenteuerlichen Tun. Aber nichts Schlechtes war dabei — nichts —
Minuten waren vergangen. Bewegungslos hatte der Junge so auf dem schmalen Vorsprung gestanden, bewegungslos den Sturm seiner Gedanken über sich hintoben lassen. Und jetzt, jetzt dachte er so anders, so klar. — Sollte er denn wirklich hier in dem Mondschein sein letztes Stündlein herannahen sehen, sollte sich ihm, gerade ihm das Verdächtige in irgend einer Gestalt nahen, ihm, der den Söhnen Albrechts und ihrem lichtscheuen Treiben nur nachspionierte, um ihnen endlich das Handwerk zu legen und der darbenden Mutter daheim zu helfen — irgendwie — ihr Geld bringen zu können und zu sagen: Da, nimm.
Nein, er hatte ja immer in der Religionsstunde gelernt, daß der liebe Gott den braven Menschen helfe. Und brav war doch sein Tun — sicher war’s brav. Und daher — daher schaute Heinrich Seiler jetzt mit klaren Augen zum Rande der Schlucht empor, dorthin, wo gerade der Mond wie eine silberne Scheibe über den Büschen emporstieg. Ihm war’s als ob’s nicht ein ferner Stern sei, der sein weißes Licht über diese Einsamkeit goß, sondern als ob das Auge Gottes schirmend und wachend zu ihm hinabblickte, zu ihm, der hier so allein und so schutzlos vor dem Eingange der Höhle, dem Schlupfwinkel von Verbrechern stand.
Jetzt horchte er mit so ganz anderen Empfindungen auf das wieder langsamer werdende Klopfen seines Herzens. Und wie zur Probe versuchte er, ob seine Kräfte ihm den Rückweg möglich machen würden. Er spannte die Muskeln an. Ja, sie gehorchten wieder; er fühlte, daß er nun mit wenigen Griffen oben am Rande und in Sicherheit sein konnte. Und mit dieser Überzeugung kam auch der alte Wagemut zurück.
Wenn er jetzt umkehrte, dann war auch diese Nacht vergebens geopfert, all die überstandene Angst umsonst gewesen! Und sollte er feige vor dem letzten zurückbeben, sollte er sich wieder wie eine Memme benehmen, wenn das Käuzchen vielleicht nochmals schrie?
Langsam ließen Heinrich Seilers Finger das Seil fahren. Es lag jetzt dicht an der Wand des Abhanges wie ein grauer Strich. Und er brauchte nur den Arm ausstrecken, dann hatte er’s wieder und mit ihm den Weg nach oben.
Langsam glitten des Jungen forschende Blicke über die Umgebung hin, über die Ränder der Schlucht, über den jenseitigen Abhang auch hinunter in die Tiefe. Aber nirgends ein Anzeichen, daß außer ihm noch jemand in der Ginsterschlucht weile, — Dann kehrten sie zurück und richteten sich geradeaus in da’s dichte Gestrüpp vor ihm, bohrten sich darin fest und suchten. Aber nirgends schien eine lichtere Stelle zu sein. Überall rankten sich gleich verschlungen die Brombeersträucher um die hohen Ginsterstauden. Wie ein Vorhang lag dieses grüne Gewirr vor der Wand des Abhanges. Leise Zweifel überkamen ihn da. Sollte er sich getäuscht haben? Sollte es dahinter gar kein Versteck geben?!? — Aber schnell ließen die Gedanken von dieser Vermutung ab. Wozu sonst der Strick, wozu? — Nein, das waren unnütze Erwägungen.
Der Vorsprung auf dem Heinrich Seiler stand, war so schmal, daß er sich jetzt, als er vorsichtig niederkniete, ganz zusammenkrümmen mußte. Seine Hände tasteten in das Gebüsch hinein. Unhörbar glitten seine Finger über den Erdboden, und die Wurzeln der Sträucher hin. Er mußte sich langsam vorwärts schieben, um seine Untersuchung weiter ausdehnen zu können. So fand er endlich das Loch in dem Gestrüpp, nachdem er einige Ranken hochgehoben und einen lose in der Erde steckenden Busch beiseite gelegt hatte.
Wie eine Schlange wand er sich in die Öffnung hinein, Es dauerte unendlich lange, bis er sich mit dem Oberkörper in dem Gestrüpp befand. Zwar knisterte es bisweilen leise, die Zweige rauschten auch, aber trotzdem schob er sich weiter und weiter vor. Es war jetzt dunkel um ihn her, so dunkel, daß er sich nur auf seinen Tastsinn verlassen konnte. Immer fuhren seine Finger in das Dunkel vor ihm, schoben Zweige und Ranken beiseite, bis — sie auf etwas stießen, das sich wie ein dickes Tuch anfühlte. Da kniete er nun und ruhte sich erst einmal aus. Dabei lauschte er mit gespannter Aufmerksamkeit. Aber nichts war zu hören, nichts.
Ja, es war ein dicker Stoff, der da vor ihm hing. Immer wieder ließ er seine Finger prüfend darüber hingleiten. Jetzt hatte er auch gemerkt, daß dieses Tuch gerade vor ihm übereinanderlag, daß es sich wie ein zweiteiliger Vorhang aufheben ließ. Mit äußerster Behutsamkeit kroch er nun weiter, bis sein Kopf den Stoff berührte. Und langsam, langsam streckte er nun beide Hände aus und schob die übereinander liegenden Teile der Decke auseinander, — so weit, daß er hoffen konnte, auch den dahinter verborgenen Raum zu überblicken. Aber so sehr er auch seine Augen anstrengte, er sah nichts als schwarze, undurchdringliche Finsternis. Als er nun den Kopf vorsichtig zwischen den Händen vorführte, und die beiden Teile des Tuches über seine Schultern hinstreiften, als von außen kein Geräusch mehr an sein Ohr dringen konnte, da war’s als ob vor ihm, aber in weiter, weiter Ferne, gesprochen würde. Einzelne Laute schlugen an sein Ohr; dann wurde es wieder still.
Heinrich Seiler kniete jetzt auf der bloßen Erde, wie ihn seine tastenden Finger bald belehrten. Er hatte sich noch mehr vorwärts gewagt. Das Tuch war über seinen nachgleitenden Fußspitzen wieder zugefallen. Er hob den rechten Arm und beschrieb damit langsam einen Halbkreis durch die Luft, bis er seitwärts auf eine Wand stieß, — rauhe Bretter, die übereinandergelegt waren. Dasselbe tat er nach links hin und fühlte auch hier dieselbe Wand. Also war er in einem gut einen Meter breiten Gange. Wie hoch derselbe war, das konnte er nicht herausbekommen. Denn sich ganz aufzurichten wagte er nicht.
Eine dumpfe Luft, die beinahe den Atem benahm, lagerte in diesem Gange. Selbst Heinrich Seilers durchaus nicht verwöhnte Nase empfand einen leisen Ekel vor diesem Gemisch von Gerüchen. Dann war’s ihm plötzlich, als ob Tabakrauch ihm entgegenwehe. Er sog die Luft prüfend ein — ja, es war Tabakrauch. Und er empfand dies wie eine Wohltat. Jetzt hörte er auch wieder die Stimmen. Sogar einzelne, Worte glaubte er zu verstehen. Aber die, die da sprachen, mußten sich tief im Innern der Erde befinden.
Da dem Jungen das Knien unbequem wurde, er sich aber auch nicht weiter vorwagte, so setzte er sich vorsichtig hin und überlegte. Er war jetzt so ruhig, fühlte sich so sicher, daß er vorläufig an den Rückweg nicht dachte. Eigentlich wußte er ja jetzt genug und hätte umkehren können. Denn daß die, die da vor ihm sprachen und rauchten, die Brüder Albrecht waren, daran zweifelte er nicht im geringsten. Er wußte jetzt auch wie man diesen so schlau angelegten Schlupfwinkel betreten könne, brauchte also nur dorthin zu gehen, wohin man ihn an einem Abend mit gefesselten Händen geschleppt hatte und dort seine Entdeckungen anzugeben. Dann — ja, dann — —
Und etwas wie ein Gefühl von Triumph überkam Heinrich Seiler da. Er hatte vollständig vergessen, wo er sich befand. Seine Kinderphantasie malte es sich so wunderbar aus, wie er da in der Wachtstube unter den gefürchteten Schutzleuten stehen und erzählen würde. Und die würden dann Mund und Ohren aufsperren, und dann würde wohl auch einer sagen: „Da ist ein Kerl!“ —
So eilten die Gedanken des Jungen in die Zukunft hin und spannen eitle Träume. Und die Folge dieser Betrachtungen war die, daß Heinrich einen — nur einen einzigen, vorsichtigen Blick in den eigentlichen Höhlenraum tun wollte. Er wollte diese Höhe zuerst gesehen haben, als erster von denen, die hier nichts zu suchen hatten.
Sein kindlicher Ehrgeiz trieb ihn weiter vor. So begann denn wieder dieses schrittweise Vordringen, dieses Tasten mit den Händen, diese Art der Vorwärtsbewegung, bei der alle Nerven und Muskeln bis zum Äußersten gespannt sind. — Plötzlich — er mochte vielleicht fünf Schritte vorgedrungen sein — stießen seine Finger an einen seinen Draht, der über den Gang in einer Höhe von einem halben Meter hinlief. Und zugleich war es ihm auch. als hörte er in der Ferne ein feines Klingeln wie das Anschlagen eines Glöckchens.
Atemlos machte er Halt und starrte vor sich hin in die Finsternis. Und dann — dann war’s ihm, als käme etwas auf ihn zugekrochen, er glaubte unterdrückte Atemzüge zu vernehmen, und — wieder überkam ihn da das entsetzliche Angstgefühl. Er merkte, ihm nahte sich das Verhängnis — da vor ihm war’s — und jetzt, jetzt faßte eine Hand nach feinem Kopf, glitt über sein Haar hin. Da riß es ihn empor — war’s das Entsetzen oder ein plötzlicher Mut — er sprang auf, stieß mit dem Kopf hart gegen die Decke des Ganges und taumelte halb ohnmächtig nach vorn. Und wie ein letzter Versuch zur Rettung griff er im Niederstürzen nach der Pistole, streckte sie vor sich in die Dunkelheit, spannte den Hahn mit zitternden Fingern und drückte ab.
Ein Knall, — Ein wildes Ringen, ein Schleifen, Raunen und Flüstern — ein Stöhnen aus den Tiefen der Erde — dann wurde alles still.
Heinrich Seiler aber lag mit einem Knebel im Munde, gefesselt und mit verbundenen Augen in der Höhle, in die er nur einen einzigen Blick hatte werfen wollen.
„Gut, Herr Kommissar, wenn Sie durchaus wollen.“
Jakob Fischer sagte das in keineswegs sehr freundlichem Tone.
„Wollen?!“ entgegnete Kern mit jenem unangenehmen Lächeln, das sein nervös zuckendes Gesicht zur Fratze verzog, „wollen?! Natürlich will ich, ich muß sogar. ich werde mich auch als erster an dem Strick herablassen — Sie können dann nachkommen.“
Fischer schien noch etwas sagen zu wollen.
„Herr Kommissar“, meinte er endlich, „ich will nur noch bemerken, daß ich die Sache für nicht ganz ungefährlich halte. Sind die Kerle noch da unten, dann — dann — —“
Er zog dabei bedenklich die Schultern hoch.
„Einerlei“, erwiderte trotzdem Kern in barschem Tone, „ich gehe zuerst!“ — Und damit kniete er auch schon nieder, rutschte bis zum Fuße der Kiefer vor und ergriff den Strick.
Polizeirat Scheller stand neben Fischer dicht am Rande der Schlucht und schaute zu, wie Kern sich langsam hinabgleiten ließ. Unten in der Tiefe hatten sich ebenfalls mehrere Beamte gesammelt und blickten gespannt nach oben.
Der Kommissar hatte jetzt den Vorsprung erreicht und ließ das Tau aus den Händen gleiten. Fischer lag schon am Boden, um seinem Vorgesetzten sofort zu folgen. Da passierte etwas, das sich niemand er Zuschauer erklären konnte: Kern breitete plötzlich die Arme aus, ein gellender Schrei ertönte — dann fiel er hintenüber, rollte, sich überschlagend und öfters hart aufstoßend, den Abhang hinab und blieb beinahe vor den Füßen der unten Stehenden regungslos liegen.
Fischer hatte sich. schnell wieder erhoben.
„Meine Befürchtung, meine Befürchtung!“ rief er dem wie versteinert dastehenden Polizeirat zu. Dieser starrte leichenblaß in die Schlucht hinab, in der die Beamten sich um den Abgestürzten bemühten.
„Wer hätte das denken können?“ stotterte Scheller. „Ob er tot ist?“
Fischer formte die Hände zum Trichter und rief hinunter“ „Was ist los Werner, was ist los?“
Die Antwort war wenig tröstlich. Kern war ohne Bewußtsein.
Der Polizeirat hatte sich schnell gefaßt. Wenn ihm auch der erste Schreck in die Glieder gefahren war, jetzt zeigte er sich wieder als8 der umsichtige Beamte.
Ich werde jemand nach einem Arzte schicken, sagte er eifrig. „Sie bleiben inzwischen hier, Fischer. Ich muß doch einmal selbst nach Kern sehen.
Damit wollte er auf einem Umwege nach dem Grunde der Schlucht eilen.
„Herr Rat — Herr Rat“, rief Fischer ihm noch nach, „lassen Sie bitte noch einige Stricke und eine lange Leiter mitbringen.“
„Gut — gut“
Selten war der Polizeirat wohl in einem solchen Tempo über unebenen Boden gelaufen wie damals, als ihn die Sorge um den Kommissar nach der Schlucht trieb.
Jakob Fischer war allein oben bei der einsamen Kiefer geblieben. Er schob den Hut ins Genick und fuhr mit der Hand über die feuchte Stirn.
„Eine schöne Geschichte“, knurrte er. „Ob sie eigentlich auf den Kommissar geschossen haben? — Das ging alles so schnell. Aber da hätte man doch einen Schuß hören müssen. Oder? — Ja, so wird’s sein — hinabgestoßen haben sie ihn, nur so läßt sich’s erklären. Diese verdammten Hunde!“
Dann schaute er hinab, wo jetzt Scheller neben dem regungslosen Körper Kerns kniete.
„Ich würde jedenfalls dort nicht liegen“, dachte Fischer sich. „Ich hätte den Strick so bald nicht aus der Hand gelassen. Unvorsichtig. sehr unvorsichtig!“
Zwei von den untenstehenden Beamten liefen jetzt in größter Eile dem Stadtparke zu, dessen Bäume wie eine dunkle Wand am Horizonte sichtbar waren. Fischer hatte sich auf den Rand der Schlucht neben der Kiefer gesetzt und schaute zwischen den Knien hindurch in das Gestrüpp, aus dem der verhängnisvolle Stoß gekommen war. Und je länger er so hinabsah, desto mehr vergaß er das soeben Vorgefallene. Seine Gedanken suchten Mittel und Wege, wie man denen da in ihrer Höhle am gefahrlosesten beikommen könnte. Und mit einem Male hielt er wieder die Fände an den Mund und rief mit aller Kraft in das unter ihm wuchernde Gebüsch hinein.
„Schusterkarl, seien Sie nicht so dumm, Menschenskind! Wozu der Widerstand?! Wir kriegen Sie ja doch! Kommen Sie heraus, und ich verspreche Ihnen eine anständige Behandlung!“
Scheller und die anderen hatten erstaunt nach oben geblickt, als sie die Stimme Fischers hörten und auch jedes Wort verstanden. Aber in dem Gestrüpp rührte sich nichts. Es blieb still.
Nochmals versuchte Fischer dem alten gewitzten Berliner Einbrecher mit Vernunftgründen beizukommen. Er hatte sich weit vorgebeugt und wartete den Erfolg seiner Worte ab. Da — plötzlich fiel ein Schuß aus dem Gesträuch und Fischer rollte einige Schritte vom Rande der Schlucht weg, sprang aber sofort wieder auf und winkte den Untenstehenden beinahe lachend zu. Er war unverletzt geblieben, wenn auch die Kugel deutlich über ihm einen Ast der Kiefer zersplittern hörte.
Nun stand Jakob Fischer kopfschüttelnd da und schalt sich einen leichtsinnigen Narren. Und als dann der Polizeirat in heller Aufregung mit zwei Beamten auf ihn zukam und mit seltenem Ingrimm Drohworte auf Schusterkarl ausstieß, sagte Fischer nur nachdenklich:
„Schusterkarl?! — Nein, Herr Rat, ich fürchte, der ist da unten nicht. Das tut ein Berliner Junge nicht — nie; Das sind andere, Neulinge, die aus Furcht den Kopf verloren haben.“
Des Beamten sich stets gleichbleibende Ruhe wirkte auch auf die anderen. Man beriet schnell die Maßregeln, die Fischer vorschlug, und sah sich im übrigen zum Warten genötigt. Denn ohne die bestellten Leitern und ohne einige Taue war den Belagerten nicht beizukommen — wenigstens nicht auf gefahrlose Weise. Und der Polizeirat hatte durchaus keine Lust, die Gesundheit noch einiger Leute aufs Spiel zu setzen.
Inzwischen hatten sich auch die in weiterem Umkreis um die Ginsterschlucht postiert gewesenen Beamten eingefunden, so daß sie anwesende Polizeimacht in zwei Trupps der weiteren Entwicklung der Dinge entgegensah. Der eine Trupp stand unten bei dem noch immer bewegungslos daliegenden Kommissar. während der andere sich oben am Rande der Schlucht hingesetzt hatte und mit gedämpfter Stimme die Ereignisse durchsprach. Etwas abseits standen Scheller und Jakob Fischer.
Der Polizeirat war durch die letzten Vorfälle, besonders durch den unglücklichen Sturz des Kommissars, doch nervös geworden. Alle Augenblicke schaute er nach dem Walde hin, wo die ausgeschickten Beamten bald auftauchen mußten. Dann wieder überschüttete er den beinahe teilnahmslosen Fischer mit einer Unmenge von Fragen. Er wollte Hoffnungen, Vermutungen hören — irgend etwas, das mit dieser Expedition zusammenhing. Doch Jakob Fischer blieb einsilbig und schien es gar nicht zu merken. daß sein Vorgesetzter die Zeit vertrieben haben wollte.
Schließlich fiel ihm Polizeirat Fischers Wortkargheit doch auf. „Sagen Sie nur, Menschenskind“, fragte er in seiner gemütlichen Weise, „worüber sinnen Sie nun eigentlich nach? Ärgert Sie diese Verzögerung so?!“
„Mir scheint’s recht unklug, daß unsere Beamten sich so gar nicht mehr um die Umgebung der Schlucht kümmern. Alles steht und liegt da in Haufen zusammen, als ob so eine Höhle keinen zweiten Ausgang haben könnte.“
„So — ja. Allerdings, die Schlucht zieht sich gut hundertfünfzig Meter hin.“ — Scheller war ein Mann schneller Entschlüsse. Er ließ Fischer einfach stehen und ging auf die in der Nähe sitzenden Beamten zu, denen er leise einige Befehle gab. Daraufhin trennten sich drei Leute von den übrigen und verschwanden bald hinter einer Bodenwelle. So wurde denn auf Fischers Veranlassung ganz unauffällig die Schlucht wieder umstellt.
Während der Polizeirat mit den Beamten sprach, war Fischer langsam am Rande der Schlucht entlanggeschlendert und entfernte sich immer weiter von der Kiefer. Der Gedanke, daß dieser Schlupfwinkel da unter der Erde noch einen zweiten Ausgang haben könnte, war auch ihm erst vorhin gekommen. Jetzt trieb ihn eine geheime Unruhe dazu, den Abhang noch einmal daraufhin genauer in Augenschein zu nehmen. Aber je weiter er ging, desto unwahrscheinlicher schien ihm seine Vermutung. Denn die Schlucht erreichte gerade an der einsamen Kiefer ihre tiefste Stelle, während sie sich nach beiden Seiten hin langsam in das ebene Terrain der Heide verlief. Fischers scharfe Augen entdeckten nirgends eine Stelle, die auch nur einigermaßen geeignet gewesen wäre, einen zweiten Ausgang zu verbergen. Außerdem sah er auch jetzt wieder die aufgestellten Posten, und so kehrte er denn beruhigt um.
Er war vielleicht noch dreißig Meter von der Kiefer entfernt, als er am Abhang das leise Rieseln abrutschenden Sandes zu vernehmen glaubte. Augenblicklich blieb er stehen und beugte sich weit vor, um die Böschung besser übersehen zu können. Gewiß, auch hier hatten sich einige Ginsterstauden und Brombeersträucher in den Erdboden eingeklemmt, aber überall war dieses Grün leicht zu übersehen. Schon wollte er zurücktreten und seinen Rückweg fortsetzen, als er’s wieder hörte, dieses beinahe klingende Geräusch des gleitenden Sandes. Und dann sah er auch, wie sich unter einem dichten Brombeergestrüpp ungefähr in der Mitte des Abhanges plötzlich eine größere Erdmasse loslöste, sah aus der Erde einen Körper hervorschnellen, der gewandt den Abhang hinabrutschte, — ein zweiter Körper folgte — und zwei Gestalten stürmten jetzt da unten im Grunde der offenen Heide zu.
Nur einen Augenblick hatte Fischer betroffen dieser plötzlichen Erscheinung zugeschaut. Schon gellte seine Stimme: „Achtung! — Achtung!“ und dabei winkte er den in der Ferne sichtbaren Beamten aufgeregt zu.
Auch Scheller hatte sofort nach dem ersten Ausrufe Fischers die beiden Flüchtlinge erblickt. Jetzt waren die beiden in der Heide auf ebenem Boden, wie Pfeile schossen sie dahin und wandten sich scharf nach rechts dem Walde zu — da mit einem Male wuchsen vor ihnen wie aus der Erde zwei Gestalten heraus, die ihnen den Weg versperrten. Und so gut hatten die Beamten die Richtung berechnet, daß ihnen die Flüchtlinge gerade in die Arme liefen.
Als die Gefangenen dann nach der Kiefer geführt wurden, und der Polizeirat sah, daß es sich um zwei kaum dem Knabenalter entwachsene Burschen handelte, schaute er Fischer fragend an.
„Es sind die beiden Brüder Albrecht.“ sagte der Beamte offenbar recht übelgelaunt, und blickte dann zu Boden. Jakob Fischer hatte in dem Augenblick, als er in den Gefangenen die Söhne des Flickschusters erkannte, alle Hoffnungen aufgegeben, Schusterkarl heute noch in feine Gewalt zu bekommen. Freilich hatte er auch wieder nicht zu Unrecht angenommen, daß der Stoß und der vorhin abgegebene Schuß nicht die letzte verzweifelte Gegenwehr eines gewitzten Einbrechers darstellte.
Scheller musterte lange schweigend die beiden jugendlichen Verbrecher, die da mit frechem Gesichtsausdruck vor ihm standen. Besonders der jüngere Albrecht schaute die Beamten und auch den Polizeirat geradezu herausfordernd an. Aber vergeblich richtete nun Scheller an die beiden einige Fragen über den Verbleib Heinrich Seilers und des Berliners, vergeblich drohte ihnen der über eine solche Verstocktheit empörte alte Herr mit strengen Strafen. Sie schwiegen, und nur bei der Erwähnung des Namens Seiler spielte um ihre Lippen ein höhnisches Lächeln befriedigter Rache.
Endlich wandte sich der Polizeirat ärgerlich von den Burschen ab und wieder Fischer zu, der jetzt mit einem fast sorgenvollen Gesicht dastand.
„Nun. Fischer — was jetzt? Ich bin mit meiner Kunst zu Ende“, meinte er.
„Jetzt, Herr Rat“, sagte Fischer, „jetzt fürchte ich wieder das Schlimmste für Heinrich Seiler! Die Gesichter dieser Bengel lassen nichts Gutes ahnen.“
„Sie glauben, daß —“
Aber Fischer war in diesem Augenblick so respektlos, seinen Vorgesetzten zu unterbrechen.
„Am besten wird es sein.“ meinte er eifrig. „ich lasse mich sofort in die Höhle hinab. Die Gefahr ist ja jetzt vorüber, und Streichhölzer genügen schon zu einer oberflächlichen Untersuchung. Denn wir müssen uns beeilen, daß wir die Fährte Schusterkarls wieder finden, sonst —!“ Dabei hatte er seine Brille abgenommen und putzte die Gläser mit dem Taschentuch.
Scheller nickte nur. Auch seine Gedanken waren nicht gerade sehr freudiger Natur. Was nützte es, daß man hier die Brüder Albrecht nun aufgegriffen hatte und man wahrscheinlich da unten einen Teil der Diebesbeute wiederfinden würde?! Letzteres war überhaupt noch sehr fraglich — ebenso fraglich wie der Erfolg der jetzt erneut notwendigen Jagd auf den Berliner!
Der Polizeirat seufzte. Das war sein interessantes Amt, wie die Stammtischbrüder immer sagten. Und wie des Polizeirats Gedanken jetzt in der gemütlichen Kneipe einen Augenblick verweilten, da schien’s, als stiege vor seinem geistigen Auge ein wohlgefüllter Halbliterkrug mit köstlicher Blume auf, er glaubte seines Freundes Görtz, des Baumeisters, Stimme zu hören, die so urgemütlich sagte: „Prosit, Alterchen!“
Als er aber aufschaute, sah er in das schadenfrohe grinsende Gesicht des jüngeren Albrecht. —
14.
Ein Verbrecherschlupfwinkel.
Als Jakob Fischer bereits unten auf dem schmalen Vorsprung stand und vorsichtig die Augen über das Gestrüpp hingleiten ließ, rief ihm Scheller plötzlich zu: „Warten Sie noch — da hinten kommen unsere Leute. Mit einer Laterne ist die Sache sicher gemütlicher als bei dem zweifelhaften Lichte von Streichhölzern.“ — Daher blieb Fischer sitzen, bis ihm die brennende Laterne an einem Strick heruntergelassen wurde. Dann aber verschwand er sofort in dem Gebüsch, kroch tief gebückt hindurch — ohne alle Scheu, da er wirklich der Meinung war, daß er in der Hohle kein lebendes Wesen mehr vorfinden würde. Als er in den mit Brettern ausgeschlagenen, weit über einen Meter hohen Gang gelangt war und der Lichtschein über diese beinahe sorgfältig verschalten Erdwände hintanzte, konnte er sein Erstaunen kaum unterdrücken. Wer das geahnt hätte, daß man hier in dieser Einsamkeit einen so raffiniert und so sachgemäß angelegten Schlupfwinkel vorfinden würde! Das waren wahrhaftig starke, behauene Stützen, und die Bretter sogar oberflächlich behobelt. Sicher irgendwo von einem Holzhof gestohlen. dachte sich Fischer sogleich. — Da ein Aufrechtgehen in dem Gange nicht möglich war, so rutschte er auf den Knien weiter. Als er so vielleicht vier Meter vorwärts gekommen war, machte der Gang eine Wendung nach der linken Seite hin. An der Biegung angelangt, ließ Fischer erst vorsichtig das Licht seiner Laterne in die Finsternis vor sich hineinfallen. Und da — beinahe wäre er entsetzt zurückgeprallt — sah er in dem ungewissen Lichte in einer Ecke eines größeren Raumes, in dem allerhand Kisten und Gerümpel umherstanden, auf dem Boden eine Gestalt lang ausgestreckt liegen.
In demselben Augenblick klang ein qualvolles Stöhnen durch die Höhle — die Gestalt bewegte sich, warf sich auf die Seite.
Jakob Fischer war gewiß nicht leicht zu erschrecken. Aber jetzt merkte er doch, wie ein selten unbehagliches Gefühl ihm zum Herzen kroch. Dazu noch die dumpfe, verdorbene Luft, die sogar das Atmen erschwerte! Jedenfalls kostete es den sonst so mutigen Beamten einige Überwindung, aus dem Gange in den eigentlichen Höhlenraum einzudringen. Aber diese Anwandlung von Schwäche ging bald vorüber. Noch einige Schritte, und Fischer konnte sich aufrichten. Denn dieses als Wohn- und Schlafraum notdürftig ausgestattete unterirdische Gemach war beinahe zwei Meter hoch und vielleicht vier Meter im Quadrat groß.
Der Strahl der Laterne beleuchtete jetzt aus nächster Nähe die am Boden sich unruhig hin und her werfende menschliche Gestalt, beleuchtete auch das armselige Strohlager und die wenigen Ausstattungsgegenstände, die aus Kistenbrettern roh zusammengeschlagen waren. Fischer trat vor und — wieder ließ der am Boden Liegende ein klagendes Stöhnen vernehmen. Jetzt warf er sich auf den Rücken — und Jakob Fischer schaute in das vom Fieber tief gerötete Gesicht Schusterkarls, in ein Gesicht, das von Schmerz verzerrt war und in dem die Augen in Fieberglut leuchteten.
Der Beamte war niedergekniet. Jetzt sah er auch um die linke Schulter des anscheinend Schwerkranken einen kunstlosen Verband geschlungen, der von Blut beinahe schwarz war. Und blutig war auch das Stroh, auf dem der Verwundete lag.
Langsam erhob sich Jakob Fischer wieder. Beinahe hätte er leise durch die Zähne gepfiffen. Das Dunkel lichtete sich — der Schuß. den er in der Nacht gehört hatte, war für den Berliner verhängnisvoll geworden, hielt ihn hier in dieser Falle zurück. Denn das war ja jetzt der einzige Schlupfwinkel für den Einbrecher geworden.
Schusterkarl lag in starkem Fieber besinnungslos und war daher unschädlich. So machte sich Fischer denn weiter auf die Suche. Aber so viel er auch die Wände des viereckigen Raumes ableuchtete, er fand den zweiten Ausgang nicht. Und ein solcher mußte doch vorhanden sein, mußte!
Denn die Brüder Albrecht waren in einer so weiten Entfernung von der Kiefer aus dem Abhange hervorgebrochen, daß noch ein zweiter Gang aus der Höhle in nördlicher Richtung führen mußte, nicht nur ein zweiter Ausgang nach der Schlucht hin. Als Fischer jetzt einen an der Wand mit einigen Nägeln befestigten grauen Vorhang beiseite schlug, gähnte ihm denn auch wirklich eine dunkle Öffnung entgegen. Aber er hatte keine große Lust, in dieses enge Loch hineinzukriechen. Es war ja auch zwecklos. Er wußte ja, wo dieser kunstlos in die Erde gegrabene und nicht einmal abgestützte Gang endete — eben dort, wo die Brüder Albrecht so plötzlich erschienen waren. Schon wollte er daher dem aus einem alten, zerlöcherten Teppich bestehenden Vorhang wieder fallen lassen. als ein seltsamer Ton, der aus der Tiefe zu kommen schien, ihn bewog, Kopf und Oberkörper in die schmale Öffnung hineinzuzwängen.
Er lauschte. Wieder war es ihm, als ob da vor ihm etwas wie ein unterdrücktes Stöhnen erklang. Er konnte selbst nicht sagen, was es eigentlich war. Doch er besann sich nicht lange. Indem er den rechten Arm mit der Laterne vorstreckte und seinen engen Weg beleuchtete, kroch er vorwärts.
Der Gang schien endlos lang. Er beschrieb einen kleinen Bogen und war kaum so geräumig, um die untersetzte Figur des Beamten durchzulassen. Da blinkte vor Fischer ein weißlicher Strahl auf. Er sah das Tageslicht durch einen kleinen Spalt eindringen. Und dann — dann fiel der Schein der Laterne auf etwas, das den Gang fast gänzlich versperrte. Fischer schaute hin — sah — sah ein Paar zusammengekrümmte Beine — sah eine menschliche Gestalt vor sich liegen, den Kopf nach der anderen Seite, so daß er das Gesicht nicht erkennen konnte.
Als er genauer hinblickte, bemerkte er auch die Stricke, mit denen dem Unbekannten vor ihm die Füße gefesselt waren.
Heinrich Seiler.
„Er hatte unwillkürlich laut gesprochen. Da kam in die Gestalt Leben; die Beine streckten sich, der Oberkörper suchte sich aufzurichten. Und wieder erklang das jämmerliche, halbunterdrückte Stöhnen.
Jakob Fischers scharfes Taschenmesser glitt nur einmal über die Stricke hin. Dann fielen die Fesseln zu Boden. Und geschickt schob der Beamte sich dann weiter, so daß er auch die Hände und den Kopf erreichen konnte.
Als er dem jetzt beinahe neben ihm Liegenden den Knebel aus dem Munde zog, da hoffte er auf einige. Worte, die ihm seine Vermutung bestätigen. Aber nichts — nichts! Nur der Körper sank kraftlos nieder, die Beine streckten sich aus.
Da beugte sich Fischer, so gut es in dem engen Gange möglich war, über die jetzt wie leblos daliegende Gestalt, drehte den Kopf so, daß das Licht das Gesicht des Unbekannten traf — und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich seinen Lippen, Es war wirklich Heinrich Seiler.
Eine tiefe Ohnmacht hafte den armen Jungen überkommen, und es blieb Fischer nichts anderes übrig, als den Körper an das Tageslicht zu befördern. Und Heinrich Seiler kam erst wieder zu sich, als ihm der Arzt ein Ätherfläschchen unter die Nase gehalten hatte. Dagegen nahm das Fieber des Verwundeten in der frischen Luft beängstigend zu. Der Arzt mahnte daher zum schleunigen Ausbruch. Und so setzte sich denn ein eigenartiger Zug nach dem Walde hin in Bewegung.
In einem Krankenwagen der Unfallstation lag der noch immer bewußtlose Kommissar Kern. Mit äußerster Vorsicht schoben die Beamten den zweirädrigen Wagen über die Heide hin. Hinterher folgte auf einer aus Ästen und Stangen provisorisch hergerichteten Bahre Heinrich Seiler, der zum Gehen noch außerstande war. Neben ihm gingen Jakob Fischer und der Polizeirat, beide tief in Gedanken. Daß diese Razzia in der Ginsterheide so enden würde, hatten beide nicht erwartet. Zwar hatte man ja den Berliner glücklich ergriffen — aber um welchen Preis! Zwei Schwerverwundete und ein halbes Kind, dem sicher ein schweres Nervenfieber bevorstand.
Den Schluß des Zuges machten die Brüder Albrecht — beide gefesselt — und auf einer Leiter der in Decken gehüllte Schusterkarl, der wild mit den Armen um sich schlug und bei jedem Stoß und jeder schnellen Bewegung seines Lagers laut aufschrie. Die Albrechts schritten mit verbissenen Gesichtern einher. Das schadenfrohe Lachen war ihnen vergangen.
Gerade sagte Fischer zu dem Polizeirat:
„Jetzt verstehe ich auch das hämische Grinsen der beiden Bengels! Die haben sicher den Heinrich Seiler nur deswegen in den engen Gang gebracht, damit wir ihn nicht finden sollten. Nette Früchtchen!“
„Sie haben recht, Fischer! Sie glaubten so, ihre Rache an dem Verräter — denn dafür halten sie den Jungen wahrscheinlich — kühlen zu können! Schrecklich, diese verkommenen Burschen. Daß sie sich am Stehlen beteiligten — das könnte ja als Leichtsinn noch so hingehen, aber daß sie den Seiler da in den Gang elend umkommen lassen wollten — — — Na, dafür wird’s auch nett was absetzen!“ fügte der alte Herr grimmig hinzu. — —
Am nächsten Morgen brachten die gelesensten Tageszeitungen der Provinzialhauptstadt in ihrer Morgenausgabe folgende Notiz:
„Gestern nachmittag ist es unserer Kriminalpolizei endlich geglückt, jene Einbrecherbande dingfest zu machen, auf deren Konto sowohl der Einbruch in das Müllersche Goldwarengeschäft in der Herderstraße, wie auch der in das Kontor der Firma Krüger, unserer Likörfabrik zu setzen ist. Die Festnahme erfolgte erst nach längerer Gegenwehr in der hinter dem großen Stadtwalde gelegenen Ginsterheide, wohin die Einbrecher geflüchtet waren. Leider ist dieses Renkontre mit den Dieben nicht ganz ohne Verwundungen auf Seiten der Polizei abgegangen. So soll der Kriminalkommissar Kern durch einen Revolverschuß schwer verletzt worden sein. Wie uns weiter bekannt ist, sind sowohl sämtliche bei dem Müllerschen Einbruch geraubten Wertsachen als auch das dem Fabrikbesitzer Krüger aus dem erbrochenen Geldschranke gestohlene Geld in einem Versteck an der Heide aufgefunden worden. Hoffentlich ist die Verwundung des Kommissars nicht zu gefährlich, damit nicht gerade er, der hauptsächlich durch sein geschicktes Vorgehen diesen Erfolg herbeigeführt hat, als einziger so infolge seines Diensteifers zu leiden hat.“ —
Der Polizeirat Scheller war’s, der Fischer mit humoristischer Betonung am anderen Vormittage diesen Bericht in seinem Amtszimmer vorlas.
„Na, was sagen Sie zu diesem Machwerk — Pardon — Kunstwerk der Zeitungsschreiber?“ meinte er dann, vergnügt schmunzelnd. „Eigentlich ist es anerkennenswert, daß der Verfasser dieser Zeilen aus dem wenigen, was er wußte, noch so viel Richtiges herausgeraten hat — was?“
Fischer nickte nur.
„Hat denn keiner dieser Herrn Reporter sich an Sie herangemacht?“ fragte der Polizeirat nach einer Weile.
„Gewiß! Aber bei mir ist nichts zu holen!“ entgegnete der wortkarge Fischer.
„So, da haben Sie noch eine Zigarre. Fischer! Vorläufig haben wir ja jetzt Ruhe! Und wenn Sie einige Tage Urlaub wollen —“
Jakob Fischer machte eine höfliche Verbeugung.
„Ich danke vielmals, Herr Rat! Ich erhole mich am besten im Dienst, besonders wo ich ja jetzt wieder das schöne Gefühl kennen lernen werde, nachts in einem Bett zu schlafen.“
Dann nahm Jakob Fischer die Hacken zusammen und verließ das Zimmer. Scheller aber schrieb in seinem Bericht an den Präsidenten sehr viel Lobendes über den ebenso bescheidenen wie tüchtigen Beamten, so viel, daß für den Kommissar nicht viel mehr übrig blieb. Aber Kern wurde nach vier Wochen doch Kriminalinspektor. Es war ein Pflaster auf die bei der Razzia in der Ginsterheide geholten Rippenbrüche — keine Anerkennung für besondere Verdienste.
Heinrich Seilers Jugendkraft ließ ihn auch die Schrecknisse der letzten Tage ohne Nervenfieber überwinden. Zwar mußte er auf Befehl des Arztes noch tagelang das Bett hüten, aber wirtlich krank war er nicht. Im Gegenteil eine seltene Unrast ließ ihn die Mutter fortwährend bitten, ihm das Aufstehen zu gestatten. Als dann eines Tages Jakob Fischer in dem Häuschen vorsprach und sich bei Frau Seiler entschuldigte, daß er sich unter der Maske des Arbeiters Werner bei ihr eingeschlichen habe, da hatte auch Heinrich endlich Gelegenheit, sein übervolles Herz auszuschütten.
Er war in den langen Stunden, die er gefesselt und geknebelt in der dumpfen Erdhöhle zugebracht hatte, zu der Überzeugung gekommen, daß eine höhere Macht ihn für seine frühere Verfehlungen habe strafen wollen. Sein bisheriges Leben war an ihm vorübergezogen in wirren Bildern. Aber überall sah er sich nur als unnützer Taugenichts. Überall Unarten und Schlechtigkeiten, die der Mutter so viel Herzeleid bereitet hatten! — Die arme Mutter Sie würde sie sich um ihn sorgen! — Und dieser Gedanke hatte ihn aus seiner gleichgültigen Müdigkeit immer wieder aufgepeitscht. Wenn er verzweifeln wollte und das Ende herbeiwünschte, wenn die Schmerzen, die ihm die ins Fleisch schneidenden Stricke bereiteten, unerträglich wurden, dann dachte er an sie. Und er der Junge von der Straße, der in seinem Elternhanse nie eine weichere Regung empfinden gelernt hatte, er fühlte jetzt für die Mutter eine so warme Zärtlichkeit, eine Dankbarkeit, die ihn auch ihre Strenge vergessen ließ. Und als er dann gerettet war und daheim von der vom Leben so arg mitgenommenen Frau fürsorglich gepflegt wurde, als sein Denken sich wieder langsam klärte, da trat etwas anderes in seinen Ideenkreis, etwas, das ihm in seinem Bett keine Ruhe ließ.
Und Jakob Fischer saß jetzt bei ihm und hörte erstaunt auf das, was ihm Heinrich Seiler erzählte. Daß er Schusterkarl mit einem Schuß die Schulter zerschmettert habe, daß die drei ihn zuerst sofort umbringen und dann fliehen wollten, daß dann aber der Verwundete plötzlich vom Blutverlust ohnmächtig geworden sei und die Brüder Albrecht in ihrer Angst ganz den Kopf verloren hatten.
Es schien Heinrich Seiler ein wahres Bedürfnis, sich über die Einzelheiten seiner Erlebnisse zu dem ihn liebgewordenen Beamten aussprechen zu können. Und Fischer hemmte diesen Redefluß nicht. Im Gegenteil, er fragte bisweilen nach diesem und jenem und machte Bemerkungen, die das Benehmen und den Mut des Jungen lobten. — Und Dann stockte Heinrich Seiler plötzlich; erst nach einer Weile meinte er altklug, indem er Fischer fragend ansah: „Also das Geld und die Uhren sind wiedergefunden — so, so! — Ja, sagen Sie mal, Herr Fischer. wenn ich nun nicht den Albrechts so nachspioniert hätte, — — dann wären Sie doch auch nicht —“ Er schwieg verlegen.
Fischer verstand ihn sofort. Wie seltsam, daß dieser dreizehnjährige Junge zunächst den Mut gefunden hatte, seine Pläne derart durchzuführen, noch seltsamer, daß derselbe Junge jetzt offenbar mit schlauer Berechnung aus dieser Geschichte Kapital schlagen wollte. Eigentlich berührte Fischer das unangenehm. Es erschien ihm als eine ungesunde Überreife, als eine Gewinnsucht, die ihm das Bild des Knaben etwas entstellte.
„Du meinst,“ sagte er langsam, „daß es eigentlich ganz recht wäre, wenn Du für Deine überstandene Angst so etwas wie eine Belohnung bekämst — nicht wahr?“
Heinrich Seiler nickte eifrig. Dann beugte er sich vor und flüsterte Fischer zu, damit die Mutter es nicht hören sollte: „Ich möchte das Geld nämlich ganz der Mutter geben — sie ist jetzt, seit Vater tot ist, so gut zu mir!“
Da faßte Jakob Fischer des Jungen Hand und drückte sie. „Du wirst Geld bekommen, ganz sicher — und dann machen wir der Mutter eine Freude, wir beide.“
Über Heinrich Seilers Gesicht zog ein vergnügtes Lachen. Und Fischer schaute zu der Frau hinüber, die am Fenster saß und eifrig nähte. Ein Sonnstrahl vergoldete ihr blondes, volles Haar und beleuchtete das verhärmte, aber immer noch anziehende Gesicht der Frau. Und da sagte Jakob Fischer nochmals zu seinem Schützling: „Ja, eine Freude — wir beide!“
— — — — — — — —
Jakob Fischer ist kurz nach seinem Vorgesetzten Kern ebenfalls befördert worden. Ihm, dem wortkargen, einsamen Menschen habe aber das Geheimnis der einsamen Kiefer noch mehr eingebracht. — In der blühenden, nett gekleideten Frau, die jetzt Fischers Gattin ist, würde man kaum die arme Frau Seiler wiedererkennen, die einst verbittert und vergrämt vor der Tür der Kneipe auf ihren ersten Mann gewartet hatte — an jenem Abend, als Heinrich Seiler zum erstenmal versuchte, hinter das Geheimnis der Brüder Albrecht zu kommen.