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Das Hermelinmäuschen

 

Das Hermelinmäuschen

 

Sittenroman

von

Meier-Lempke

 

Verlag moderner Lektüre

— — — — — G.m.b.H. — — — — —

Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrechte vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre

G. m. b. H., Berlin 26. — 1924.

 

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G m. b. H., Berlin

 

 

Erstes Kapitel.

Das verlötete Döschen.

Sie hieß mit Vornamen ganz schlicht Hermine. Aber sie fand dieses „Hermine“ von Jugend an entsetzlich.

Wenn man vorn das „Her“ wegstrich — und das taten ihre Eltern stets —, dann ergab‘s ein „Mine“. Und dieses „Mine“ war für sie wie eine Ohrfeige.

Sie nannte sich also vom sechzehnten Jahre an, nachdem sie von Hause ausgekniffen war, Herma — Herma Soranto.

Das klang doch nach was; das erinnerte an Italien, an dunkelhaarige, feurige Weiber. Und Herma war ja beides: dunkelhaarig und feurig!

Eigentlich hieß Herma von „Vatern“ her Plantschke. Und eigentlich hätte sie stets nach Leder duften müssen. Denn Anton Plantschke, ihr Erzeuger, war Sattlermeister, und bei Plantschkes, Berlin N, Müllerstraße Nr.388, 3. Hof, rechter Eingang, 2 Treppen, roch es stets so scharf nach Leder, selbst schon vor der Flurtür.

Plantschkes hatten drei Kinder gehabt. Der Älteste, Willi, war mit fünfzehn Jahren mit der Portokasse und einem Wertbrief über 5000 Mark im Jahre des Unheils 1913 durchgebrannt und seitdem verschollen.

Sein Chef hatte die Polizei hinter ihm dreingehetzt. Aber Willi war schlauer als alle „Kriminäler“ zusammengenommen. 1914 schrieb er seinem Chef aus Mexiko einen höflichen Brief und schickte die 5000 Mark nebst Zinsen, sowie 82 Mark Portokasse, ebenfalls mit Zinsen, zurück.

Auch Anton Plantschke erhielt zur selben Zeit eine Postanweisung über 1000 Mark von seinem verschollenen Stammhalter. Auf dem Abschnitt stand nur: „Herzliche Grüße. Mir geht es gut. Samuel & Co. haben ihr Geld wieder. — Willi.“ — Seit diesem Tage war Willi nicht mehr der verstoßene, sondern nur noch der liebe Sohn. Er hatte sich rehabilitiert. Und Frau Christine Plantschke, seine Mutter, kaufte sich einen neuen Frühjahrshut und sprach nur noch von „unserem lieben Jungen, dem Mexikaner“.

Das war Willi. — Das heißt: das war Willi gewesen!

Denn man hörte nie mehr etwas von ihm, bis —

Doch — das kommt später —

Herma war das Plantschkesche zweite Liebespfand. Im Oktober 1915, eines Nachts gegen zwölf Uhr, trennte sie sich von ihrer Familie, nachdem Papa Anton sie in seiner Wut mit einem echten Rindlederriemen fürchterlich verdroschen hatte, weil sie wieder mal ohne Erlaubnis so lange weggeblieben war und einen seidenen Unterrock anhatte, über dessen Herkunft sie ebenso phantastische wie offenbar erlogene Angaben machte.

Hätte Anton Plantschke in jener Nacht den diskreteren Teilen der Toilette seiner Mine noch weiter nachgespürt, dann würde er auch noch etwas anderes Seidenes und dazu noch zwei sehr teure, ebenso notwendige, hier mit Spitzen besetzte Dinge gefunden haben.

Aber er kam nur durch Zufall bis zum Unterrock. Und die Höschen, das Mieder und das Hemdlein blieben ihm verborgen.

Immerhin hatten auch der Unterrock und der Riemen genügt: Herma rückte bei Nacht und Nebel aus; Vater Anton sandte ihr einen hier nicht wiederzugebenden Fluch und Mutter Christine viele heimliche Tränen nach. Hermas jüngere Schwester Lotte aber, die ganz aus der Art geschlagen war, ging am nächsten Sonntag in die Kirche und betete für der „sittlich Verwahrlosten“ Seelenheil —

Wir kennen nun alle fünf Plantschkes und die Schicksale dieser Familie sind‘s, die sich im „Hermelinmäuschen“ vereinen —

Vater Anton hätte keine Zeit, hinter Herma die Kriminäler dreinzuschicken. Sein Freund Gustav Grupski hatte ihn am Tage nach Hermas Flucht besucht und ihm ein großartiges Kriegsgeschäft vorgeschlagen. So wurde Anton Kavalleriesättel-Lieferant. Außerdem „machten“ Grupski und Plantschke auch sehr bald „in“ Konserven, denn Grupski war von Beruf Hundefänger und Roßschlächter. Nebenbei war er sehr helle. Und Plantschke, der sehr würdig wirkte und mal 21000 Mark geerbt hatte, war noch heller, wenn er dies auch niemanden merken ließ.

Plantschkes Aufstieg begann. Je mehr Hunde in Berlin und Umgegend verschwanden, je mehr alte Schinder Grupski aufkaufte, desto lebhafter wurde auch der Betrieb in der Konservenfabrik. Die „Rindfleisch“-Konserven der neuen Firma gelangten bis auf den Speisetisch von Grafen und Exzellenzen, die ahnungslos die sterblichen Überreste ihres verschwundenen Karo, Sultan, Mucki oder sonstwie benamseter Hundeviecher verzehrten.

Inzwischen hatte Herma sich von ihrer ersten großen, einzigen Liebe, dem Herrn Geheimen Kommerzienrat Sally Seligo (früher Seligsohn) längst losgesagt, da er ihr in keiner Beziehung mehr genügte und da er sie außerdem gleichzeitig auf mehreren „Untreuen“ ertappt hatte, was man Herma angesichts der 65 Jahre des gichtigen Herrn Seligo nicht verargen konnte — nämlich die „Untreuen“, nicht das Ertapptwerden.

Herma wählte von den Kavalieren, die außer Sally in ihrem von diesem bezahlten molligen Heim sehr heimlich und meist nächtlicherweise verkehrt hatten, sich den aus, der die meisten Chancen bot, und das war Herr Kasimir Woigeslaw von Knisciscki, Majoratsherr auf drei Gütern im Posenschen, Besitzer einer Villa im Grunewald und einer Frau nebst zwei Kindern.

Kasimir hatte so etwas Romantisches an sich. Und das reizte Herma. Nachdem Herr Seligo nicht mehr der zahlende Asinus (zu deutsch Esel) für sechs andere liebebedürftige Kavaliere war, begann in Hermas molligem Heim — vier Zimmer, Bad, WC usw., Friedenau, Ulrikenstraße 111, ein sehr geheimnisvolles Treiben, noch geheimnisvoller, als es in einem spannenden Detektivroman geschildert werden kann.

Kasimir war ein schöner, vornehmer Mann. Er zog trotz der wachsenden Kriegsnot jeden Tag ein frisches Oberhemd an und trug nachts einen blauseidenen Schlafanzug. Außerdem badete er täglich. Und das hatte Herr Seligo nicht getan — seiner Gicht wegen, sagte er. Auch seidene Schlafanzüge waren ihm fremd gewesen.

Kasimir liebte Deutschland über alles — betonte er stets. Deshalb fuhr er auch häufig mit Liebesgaben an die Front — behauptete er.

Von Kasimir lernte Herma sämtliche Finessen verfeinertster Lebens- und Liebeskunst. Aber — Kasimir ließ sehr bald nach; er „verschwachte“; er hatte immer weniger Zeit, den Schlafanzug in dem molligen Liebesnest an- und abzulegen; er empfing bei Herma Besucher, die in allerlei Masken erschienen: als lahme Feldgraue, als Briefträger, als Dienstmänner, als grauhaarige Damen — und so weiter.

Herma spionierte ihrem Kasimir jetzt etwas nach, denn sie fand diese Vernachlässigung durch ihn empörend. Sie war nun achtzehn geworden und sie war eine Beautee, eine heißblütige Herma Soranto, dem Namen nach Schriftstellerin. Dieser Beruf verpflichtet ja zu nichts. Nicht mal zum Schreiben. Besonders dann nicht, wenn man wie Herma monatlich von Kasimirchen 5000 Mark Honorar bezog, wofür sie nicht eine einzige Zeile zu schreiben, sondern lediglich zu allem still zu sein brauchte, was in ihrem luxuriösen Nest vor sich ging.

Ja — was ging hier eigentlich vor?! — Das fragte sich Herma so und so oft. Ihr Spionieren half da wenig. All diese Masken sprachen ja mit Kasimirchen nur polnisch. Und von fremden Mundarten beherrschte Herma lediglich ein paar französische Wörter: aimer gleich lieben, portefeuille gleich Banknotentasche, enfant gleich Kind und ähnliches, was sie entweder schätzte oder fürchtete. Ein Portefeuille besaß sie; ein Kind nicht — zum Glück! —

Ihr Verhältnis zu Kasimirchen wurde immer großväterlicher. Im Januar 1918 hatte Kasimir nicht ein einziges Mal den Schlafanzug benutzt. Das fand Herma einfach haarsträubend. Und in dieser Stimmung wurde sie Anfang Februar auf der Straße von einem sehr schicken, blonden Herrn angesprochen, der ihr Herz in kurzem total eroberte.

Er hieß Alarich Lindner und war — sagte er — ebenfalls Schriftsteller, wohnte in der Königstraße am Alexanderplatz und machte es Herma, bei sich so gemütlich, daß sie bald täglich zu ihm kam. Er hatte eine Dreizimmerwohnung und einen alten Diener, war sehr ulkig und ließ sich von Herma sehr gern so alles mögliche über Kasimirchen erzählen.

Eines Tages bat er Herma, ihm doch einmal ihr Nestlein zu zeigen. Herma schlug ihm diese Bitte erst rundweg ab.

„Es geht nicht, Ali,“ sagte sie zärtlich. „Es geht wirklich nicht. Kasimir kommt so unregelmäßig.“

„Spaß! Wenn er kommt, versteckst Du mich —

„Ja — Aber wo?“ meinte sie zögernd.

„Nun, unter dem Diwan im Speisezimmer zum Beispiel,“ lachte er harmlos.

„Gut — Ich werde Dich telephonisch anrufen. Wenn Kasimir nachts mit seinen Masken Besprechungen gehabt hat, bleibt er den Vormittag über weg.“ —

Und Herr Alarich Lindner wurde angerufen und kam, — kam und blieb bis zum Nachmittag. Herma war selig. Noch nie hatte Alarich so süß, geküßt wie heute.

Als gegen fünf Uhr Kasimir erschien und nach ihm wieder zwei Masken, die er im Speisezimmer wie stets empfing, lag Alarich unter dem fellbedeckten Diwan und Herma mit bang pochendem Herzen im Bett.

Aber der vornehme Kasimir merkte nichts. Nachdem die Masken verschwunden waren, setzte er sich zu Herma ans Bett und tätschelte ihre Hand, bedauerte sie, denn sie spielte die Kranke, und erklärte, er müsse jetzt gleich mit Liebesgaben an die Front reisen.

Herma war selig. Kasimir wollte acht Tage wegbleiben.

Sie wußte: dann, blieb er auch weg! In dieser Hinsicht war Verlaß auf ihn. Eifersucht kannte er ja nicht. Denn er kannte ja auch keine Liebe mehr. Er bezahlte 5000 Mark monatlich für nichts — für Hände-Streicheln, für laue Handküsse und manchmal — ganz selten — für kleine, verliebt erscheinen sollende Unarten, wie sie sich ein Bräutigam vielleicht drei Tage vor der Hochzeit der Braut gegenüber erlaubt, wenn er nicht gerade Predigtamtskandidat ist.

Herma war also selig; sie würde ihren forschen Alarich eine ganze Woche für sich allein haben; sie würde für ihn einen von Kasimirs neuen, noch nicht getragenen Schlafanzügen bereitlegen; sie würde sich das Haar kräuseln und ihr molliges Nestchen noch molliger machen —

Oh — was wollte sie alles tun —! Und — wie schön würde das werden — Flitterwochen — eine Flitterwoche — mit allem Drum-und-Dran —

Kasimir ahnte nichts von diesen Gedanken.

Er saß auf dem Bettrand und streichelte noch immer Hermas Hand. Er war zerstreut; er schien etwas auf dem Herzen zu haben. Und — dann kam‘s —

„Liebes Kind,“ begann er (so nannte er sie seit Beginn der großväterlichen Beziehungen), „Du könntest leicht zehntausend Mark verdienen — durch eine ganz — kleine Gefälligkeit —“

„So?! Nimmt die Gefälligkeit viel Zeit in Anspruch?"

„Nein, nur einen Tag —“

„Hm —“

„Es handelt sich um eine Eisenbahnfahrt, liebes Kind.“

„So —?!“

„Ja — bis zur holländischen Grenzstation Plaargeene. Du könntest auch fünfzehntausend Mark dafür erhalten. Wenn Du morgen früh sieben Uhr vom Potsdamer Bahnhof abfährst, kannst Du nachts um elf wieder in Berlin sein. Du sollst in Plaargeene Dich nur fünf Minuten aufhalten. „Aber — Du mußt mir vorher feierlich Stillschweigen geloben. Schwöre beim Andenken an Deine toten Eltern. Das Geld kannst Du gleich haben.“

Herma überlegte. — 15000 Mark — kein Pappenstiel! Und — um elf würde sie schon wieder zurück sein! Da konnte sie Alarich um zwölf herbestellen — Dann verlor sie keine einzige trauliche Nachtstunde —

„Na gut, Kasimir. Ich schwöre beim Andenken an meine toten Eltern —“ — Dies konnte sie getrost, denn ihre Eltern lebten noch, wie sie sehr wohl wußte.

Kasimir flüsterte jetzt —: „Liebes Kind, siehst Du dies kleine verlötete Blechbüchschen und diese Hutagraffe —?“

„Ich bin nicht blind, Kasimir. Die Agraffe ist übrigens ungeheuer geschmacklos —“

„Und trotzdem mußt Du sie Dir vorn am Hut befestigen, liebes Kind. Das gehört mit zum Schwur. Und weiter gehört mit dazu, daß Du dieses Blechbüchschen an Deinem Körper verbirgst, und zwar —“

Er beugte sich über sie und flüsterte noch leiser, bis sie empört dreimal „Pfui!“ rief.

Kasimir zuckte die Achseln. „Es haben schon so und so viele Brillantdiebinnen es ebenso gemacht, liebes Kind —“

Er hatte fünfzehn Tausendmarkscheine auf das Bett gelegt — gerade auf den Hügel der Steppdecke, den Hermas angezogene Knie hervorriefen.

„Was ist in der Kapsel drin?“ fragte Herma und stierte die Banknoten an.

„Ein Testament, das in Holland deponiert werden soll, also eine Urkunde, die für niemand sonst Wert hat. Sobald Du in Plaargeene angelangt bist, gehst Du auf dem Bahnsteig auf und ab. Es wird Dir dann eine alte Dame auffallen, die genau dieselbe Agraffe am Hut trägt wie diese hier. Du folgst ihr. Sie wird den nach Hannover bereitstehenden Zug besteigen. Und im Zuge wird sie den Waschraum für Damen betreten. Dort übergibst Du ihr die Kapsel —“

„Nein — da schäme ich mich! Im Waschraum —!“

„Sie wird Dir den Rücken zudrehen —“

„Na gut —“

„Und sie gibt Dir dann eine Fahrkarte Zweiter nach Berlin und verschwindet. Das ist alles. Dann hast Du fünfzehntausend Mark verdient.“

Herma lachte. Jetzt kam ihr die Geschichte sehr, ulkig vor. Sie lechzte nach etwas Romantik. Sie war ja erst achtzehn Jahre alt.

Gleich darauf verabschiedete Kasimir sich, nachdem Herma nochmals hatte schwören müssen, alles genau zu befolgen. Sie wartete noch zehn Minuten, schlüpfte dann in den Schlafrock und eilte in den Flur, um die Sicherheitskette vorzulegen.

Dann ging sie ins Speisezimmer, hob das Diwanfell hoch, kniete nieder und flüsterte:

„So, Alischnuckerl, wir sind allein —“

Alischnuckerl blieb stumm.

Herma bückte sich tiefer — Und sah, daß Alarich gänzlich verschwunden war.

Hm — schade! — Na — sie würde ihm einen Rohrpostbrief schreiben, daß er heute abend kommen könne — Nein, telephonieren würde sie —

Sie tat‘s. Sie hatte Telephon in der Wohnung. Es meldete sich nur der alte Diener Franz. Und der wollte seinem Herrn alles bestellen.

Doch — abends harrte Herma vergebens. Alarich erschien nicht. Sie war enttäuscht; sie langweilte sich entsetzlich und sehnte sich noch entsetzlicher. Es half alles nichts, Sie blieb allein.

Morgens, dampfte sie nach Plaargeene. Um fünf Uhr nachmittags war sie am Ziel, Alles ging programmäßig. Die alte Dame mit der Agraffe verschwand im Waschraum. Herma auch. Und das verlötete Blechdöschen wechselte das Versteck —

Dann saß Herma im Raucherabteil Zweiter und wartete auf die Abfahrt. Mit einem Male sah sie in der Tür ein bekanntes. Gesicht —

„Wie — Sie hier, Franz?“ — Sie war maßlos erstaunt.

Lindners Diener nickte und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich habe Verwandte besucht,“ sagte er.

„So —? Und Ali?“

„Oh — der ist plötzlich eingezogen worden — gestern abend, Fräulein.“

Herma war sprachlos vor Schreck. „Eingezogen?! Das — das ist doch nicht möglich,“ stotterte sie.

Franz zündete sich eine Zigarre an. Er antwortete nichts.

Und nun kam noch ein Mann und nahm rechts von Herma Platz, zeigte ihr ein Papier mit Siegeln und Unterschriften und sagte eisig:

„Ich verhafte Sie wegen Verdachts der Spionage! Das andere Weib sitzt nebenan. Wir haben die Kapsel gefunden. Auf so was verstehen wir uns —“

Franz lächelte etwas. Und Herma meinte belustigt:

„Spionage?! Na — son Blödsinn!“

„Ja — ein Blödsinn, der mit dem Tode bestraft wird,“ sagte der andere Mann. „Ihren Kasimir und die übrige Bande haben wir auch fest!“

Da wurde Herma plötzlich sehr bleich. Sie begriff alles —

Sie begann zu weinen —

In dieses Abteil durfte niemand sonst hinein. Und in Berlin fuhr Herma dann zwischen den beiden unheimlich schweigsamen Männern nach dem Moabiter Untersuchungsgefängnis.

Fünf Monate blieb sie dort. Man glaubte ihr nicht, daß sie ein „Testament“ in der Kapsel nach Plaargeene zu bringen angenommen hatte; man stellte sie Kasimir gegenüber. Und dieser edle Herr erklärte, Herma hätte gewußt, daß es geheime Nachrichten seien.

Dann ließ man sie endlich frei. Nun hatte sie auch erfahren, wer Alarich Lindner gewesen: Beamter der Spionage-Abteilung! Und er war‘s, der ihre Enthaftung bewirkt hatte; er glaubte ihr. Und er teilte ihr am Morgen ihrer Freilassung mit, daß Kasimir weder Majoratsherr, noch Pole, sondern ein Spion gewesen — ein deutscher Lump in fremdem Solde.

Als Herma ihre bis dahin versiegelte Wohnung wieder betrat, fand sie sie — leer vor. Gänzlich leer. Trotz der Siegel hatten Diebe in der Maske von Polizeibeamten die Möbel weggeschafft.

 

 

Zweites Kapitel.

Der blasse Wurm.

Herma, die jetzt um Jahre gealtert war und einen kittgrauen Teint von der Gefängnisluft bekommen hatte, besaß immerhin noch etwas Geld. Zunächst fuhr sie zu Lindner. Er war daheim. Er benahm sich sehr höflich, aber im übrigen eisig-kühl. Sie klagte ihm ihr Leid.

„Mieten Sie sich ein billiges Zimmer. Ich will Ihnen eine Anstellung verschaffen,“ sagte er. „Arbeiten Sie und vergessen Sie die Vergangenheit.“ — Er redete Herma ins Gewissen. „Denken Sie an Ihre braven Eltern. Ihrem Vater geht es jetzt sehr gut. Er wohnt in der Knesebeckstraße, Berlin W., fünf Zimmer. Ihre Schwester Lotte hat sich mit einem Privatgelehrten, Doktor Blaßwurm, verlobt. Wenn Sie wieder eine Weile den schmalen Pfad der Tugend —“ Und so sprach er weiter — sehr warm und menschenfreundlich. |

Herma weinte. Gerade vor ihr hing ein Spiegel. Sie sah sich selbst darin: kittgrau, mager, vergrämt — und reizlos —

Sie schluchzte. Sie bejammerte ihr Aussehen. Und dachte auch daran, wie gut die fromme Lotte es nun doch hatte —

Dann dankte sie Lindner. Ja, sie wollte arbeiten; sie wollte nachher die Eltern um Verzeihung anflehen —

Sie fuhr mit der Untergrundbahn nach Schöneberg und ging auf Wohnungssuche. Endlich fand sie ein sauberes, billiges Zimmer, bei einer verwitweten Frau Rechnungsrat. Sie berief sich auf Lindner, denn die Rätin nahm nur anständige Pensionäre auf.

Es war Herbst geworden — Herbst 1918. Gerade am 3. Oktober zog Herma bei der Frau Rat Haffner zu.

Das Zimmerchen hatte nur ein Fenster nach dem Hofe hinaus. Die Einrichtung war fast dürftig. Wenn Herma an ihr früheres Heim in Friedenau dachte, erschien ihr diese glänzende Vergangenheit wie ein Traum. Das war schon in ihrer Zelle des Untersuchungsgefängnisses so gewesen: das Einst hatte für sie etwas Unwirkliches angenommen!

Abends läutete sie von einem Zigarrengeschäft Lindner an und teilte ihm ihre neue Adresse mit. Er wieder konnte ihr die erfreuliche Nachricht geben, daß ihr beschlagnahmtes Geld, insgesamt 18000 Mark, ihr wieder zur Verfügung stehe.

„Erholen Sie sich also erst ein paar Wochen. Ich lasse inzwischen von mir hören — Schluß — Wiedersehen —“ —

Herma hatte sich bei der Rätin als Herma Soranto, Schriftstellerin, eingeführt. In den Untersuchungsakten war ihr richtiger Name auch nur in Klammern hinter dem Soranto vermerkt worden.

Die erste Mahlzeit, das Abendessen, war für die Kriegszeit gut und reichlich. Nachher schlief Herma fest und traumlos bis in den Vormittag hinein in ihrem schlichten, knarrenden Fichtenbett.

Nach dem Morgenkaffee ging sie aus, holte sich von der Bank 5000 Mark und machte Einkäufe, denn es fehlte ihr so gut wie alles.

Sie war nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem ganzen Benehmen sehr verändert. Sie fühlte, daß sie menschenscheu und unsicher geworden; sie glaubte stets, man sehe ihr an, daß sie fünf Monate Gefängnisluft geatmet hatte.

Sie war froh, als sie wieder das alte Haus am Schöneberger Stadtpark und ihr Stübchen erreicht hatte.

Die Rätin, eine herzensgute, wenn auch strengblickende Frau, kam in Hermas Zimmer und sagte ihr, daß Herr Lindner da gewesen sei und daß sie nun Hermas trauriges Geschick kenne. — Sie war lieb und zart zu dem blassen Mädchen.

Herma merkte, daß Lindner vieles verschwiegen hatte. Frau Haffner glaubte wirklich, sie sei Schriftstellerin. Und — so begann hier abermals der erste kurze Schritt vom Wege der Tugend: Herma beließ, die gütige Rätin bei diesem Glauben. Wie hätte sie ihr auch wohl beibringen sollen, welche Vergangenheit sie hatte —! —

Herma nahm die Mahlzeiten auf ihrem Stübchen ein. Frau Haffner hatte außer ihr noch drei möblierte Herren. Als Herma nach der Küche ging, las sie die drei Visitenkarten an den Türen, die auch draußen mit Zwecken neben der Flurglocke angeheftet waren;

1. Dr. phil. Philipp Blaßwurm,

2. Eduardo W. Chihakuga,

3. Eugen Albert Egon von Prix, Schauspieler.

Sie holte sich Trinkwasser aus der Küche. Und als der Wasserstrahl in die Karaffe schoß, durchzuckte sie plötzlich ein jäher Schreck —

Blaßwurm — Blaßwurm?! Doktor Blaßwurm?! Ja — das konnte nur Lottes Bräutigam sein!

Das Wasser spritzte, lief ihr über die Hände. Da kam sie wieder zu sich —

Oh — nur nicht jetzt irgendwie mit den Ihrigen zusammentreffen! Nur das nicht! Sie war innerlich ja wie zerbrochen! Sie mußte erst beweisen, daß sie nicht mehr die leichtsinnige Herma war —!

Ganz bestürzt kehrte sie in ihr Zimmerchen zurück. Als Frau Haffner ihr das Abendbrot brachte, fand sie Herma in Tränen vor —

Herma verriet die Ursache dieser Tränen nicht. Sie redete sich mit allgemeiner Niedergeschlagenheit heraus.

Dann war sie wieder allein. Neben ihr wohnte Philipp Blaßwurm. Sie hatte ihn noch nicht zu Gesichte bekommen. Nur morgens hatte sie nebenan seine Schritte gehört. Die Verbindungstür beider Zimmer war durch einen Kleiderschrank verstellt.

Als Herma gegen zehn Uhr zu Bett gehen wollte, vernahm sie drüben bei Blaßwurm Stimmen. Dann folgte ein höhnisches Auflachen —

Und dann — ja — dann schlug ihr Name an Hermas Ohr — ihr eigener Name: Plantschke!

Sie verstand auch das, was auf den Namen folgte:

„Diesen Schiebern schadet das nichts! Der Alte hat‘s ja dazu! Und das blonde Schaf ist in den frommen Philipp so blindwütig verliebt, wie dies eben nur bei einer tugendhaften, echten Jungfrau der Fall sein kann, die plötzlich den Maikoller kriegt!“

Herma traf das alles wie Ohrfeigen —

Sie öffnete den Schrank, Sie glaubte, sie würde so besser lauschen können. Nein — sie mußte ihn abrücken. Er war ja fast leer.

Nun stand sie dicht an die Verbindungstür gedrückt da und lauschte —

Eine helle Stimme sagte drüben:

„Ah, Philippchen, wenn Du mir aber nicht treu bleibst, dann — dann geh‘ ich ins Wasser —!“

Herma war mehr als überrascht. Das war doch ein Weib! Und — wie kam in diese solide Haffnersche Wohnung ein solches Wesen, das den Blaßwurm Philippchen nannte?!

Da fiel ihr ein: die Rätin hatte ihr erzählt, einer ihrer Mieter erteile Privatunterricht in fremden Sprachen. Ob sich dieses Wesen da etwa für eine Schülerin ausgab? —

Wieder ertönte das häßliche, höhnische Lachen.

„Mausi, Du kannst ganz beruhigt sein,“ sagte die Männerstimme. „Die fromme Lotte glaubt so fest und steif an meine absolute Tugendhaftigkeit, daß sie es von meiner Seite aus als Schüchternheit ansehen wird, wenn wir unsere Ehe ganz modern gestalten und — ewiges Brautpaar bleiben. Ihr genügen die kühlen Bruderküsse, Mausi. Ich merke ja: vor der Hochzeit hat sie einen Riesenbammel — das heißt, vor dem ersten Alleinsein, was ganz unnötig ist. Wir haben ja in der neuen Wohnung getrennte Schlafzimmer, und daß ich die Schwelle ihrer Kemenate nicht überschreiten werde, darauf kannst Du Dich verlassen, zumal wir Dich ja glücklich in die angenehme Stellung eines Stubenmädchens hineinbugsiert haben und die Stube dieses Mädchens meinem Schlafkabinett gerade gegenüberliegt —“

Es folgten Geräusche, die offenbar Küsse nebst Zubehör waren.

Und Herma stand da und fühlte seltsame Schauer über ihren Leib gehen —

Liebe — Liebe —! — Wie lange war es her, als auch sie in Alarich Lindners Armen gelegen und die ganze Seligkeit wilden Rausches ausgekostet hatte! Wie — wie lange —!

Sie rückte den Schrank wieder lautlos vor die Tür und kroch mit brennenden Wangen unter das Zudeck —

Dann wurde sie ruhiger; dachte nur noch an Lotte und diesen jämmerlichen Blaßwurm, der mit so ekelhaftem Zynismus seine Braut verspottet hatte —

Morgens um neun frühstückte sie. Dann betrat Frau Haffner abermals ihr Zimmer und bat sie, in der Küche doch etwas auf die Erbssuppe zu achten, die auf dem Gasherd koche; sie selbst müsse zu Einkäufen nach Berlin.

Herma war wieder allein. Sie hatte sich gestern rosa Puder mitgebracht. Sie puderte sich leicht und sah nun ganz anders aus.

Ja — sie sah nicht schlecht aus, nein, diese beiden ruhig durchschlafenen Nächte hatten ihrem Teint an sich schon etwas Frische verliehen. Und jetzt — jetzt schaute ihr aus dem Spiegel ein feines, schmales, durchgeistigtes Gesicht entgegen.

Herma lächelte etwas — Dieses Gesicht hatte nichts Kokottenhaftes an sich. Nein — es könnte sehr wohl einer Frau von Intelligenz, einer geistigen Arbeiterin, gehören —

Sie ging in die Küche, nahm einen Roman mit und setzte sich ans Fenster, nachdem sie die Suppe umgerührt hatte.

Nach wenigen Minuten trat ein Herr ein, stutzte, verbeugte sich —

„Gestatten — Doktor Blaßwurm!“

Aha — Lottes Bräutigam —

Nun — der Scheitel war schon recht dünn, und die Hakennase wirkte etwas abenteuerlich und paßte nicht recht zu der goldenen Brille —

Aber — die Figur war schlank und der Anzug ohne Tadel.

Blaßwurm stotterte, den Verlegenen spielend:

„Wohl die neue Mitbewohnerin, „Fräulein Soranto?“

Er kam näher. Er hatte in der Linken eine Wasserkanne.

„Ich will mir nur Waschwasser zu holen erlauben,“ stammelte er weiter, noch immer den weltfremden Gelehrten markierend.

„Ist das ein Schauspieler!“ dächte Herma. — Und — dann schoß ihr jäh ein übermütiger Gedanke durch den Kopf, — mehr noch, ein ganzer Plan —

Sie nickte und schaute Philippchen kokett an, schlug die Beine übereinander, wippte mit der Fußspitze und zeigte die schlanke, aber tadellos geformte Wade im dünnen Florstrumpf —

„Bitte, Herr Doktor, erlauben Sie sich alles, was Sie wollen,“ sagte sie mit einem Sirenenlächeln.

Blaßwurm schielte nach den Florstrümpfchen. Seine Hakennase wurde förmlich länger. Sie schien anzuschwellen und zu wachsen. Das kam daher, weil Philipp das Blut in das etwas verlebte Gesicht drang —

Mit einem Male steckte er die Brille in die Tasche; holte ein Monokel vor und klemmte es mit verblüffender Gewandtheit ins rechte Auge.

„Gnädigste — wir können wohl die Masken fallen lassen,“ meinte er, und seine Visage nahm den Ausdruck frecher Vertraulichkeit an. „Unsere brave Rätin erzählte mir, daß Sie Schriftstellerin seien. Ich schriftstellere auch. Also Kollegen, Gnädigste —“

„Oh — das freut mich, Herr Doktor —! Herma lachte laut. „Sie spielen hier nur den kulturell etwas Zurückgebliebenen — ich verstehe!“

„Und ob!“ grinste Philippchen. „Und ob! Dieser soliden Haffner-Luft muß, man sich anpassen. Und — den Menschen auch! Alte Weisheit!“ Er hob die linke Hand hoch, nachdem er die Wasserkanne beiseite gestellt hatte.

„Da — verlobt! Gnädigste — und wie verlobt!“ flüsterte er seufzend. „Ich bete meine kleine Braut an. Sie ist ein Engel an Unschuld und Frömmigkeit. Und ihre Eltern sind wahre Mustermenschen. In einem Vierteljahr hat die Plantschke-Umgebung, das Plantschke-Milieu, mich völlig verwandelt —“

Herma kokettierte mit allem, womit ein Weib nur kokettieren kann —

Philipp Blaßwurms Hakennase schien jetzt doppelt so lang.

„Anbeten ist nicht lieben,“ lächelte Herma. „Man kann auch tote Gegenstände anbeten —“

„Ganz recht, ganz recht — Ich wählte auch mit Absicht den Ausdruck — Gestatten Sie —“

Er zog einen Küchenschemel neben Hermas Stuhl und setzte sich.

„Wir beide sind öffenbar moderne Menschen — innerlich!“ fuhr er fort. „Ich habe Blick dafür, Fräulein Soranto —!“

„Ich auch!“ Und sie schaute ihn mit halb verschleierten Augen an —

Er tastete nach ihrer Hand. Die Gier flackerte in seinen Pupillen —

„Sie heißen Herma, nicht wahr?“ sagte er leise. „Herma —! Das klingt anders als — Lotte! Bei Lotte denkt man immer an so was Blondes, so was leicht Unbegabtes, Dämliches — an ein blondes Schäfchen — Herma — wie stolz, wie herb! Und — wie durchgeistigt Ihre Züge sind, Herma —“

„Halt!“ rief Herma. „Werden Sie nicht gleich zu plump vertraut!“

Aber in ihren Augen irrlichterte es —

Er legte den Arm leicht um sie —

Sein parfümierter Atem schlug ihr ins Gesicht.

„Herma —!“ keuchte er, „ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist: nie sah ich ein Weib wie Sie! Herma — Sie haben mich in ein paar Minuten bezaubert. —! Was rede ich — bezaubert! Nein — Sie haben mich zum Sklaven gemacht —!“

„So?!“

Wie eine Schlange entwand sie sich ihm, sprang auf —

Er wollte sie fangen — Sie eilte in den Flur, schien sich in der Tür zu irren, lief in Philipps Zimmer, stieß einen leisen Schrei aus, wollte umkehren —

Er hatte die Tür schon abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt —

Herma flüchtete ans Fenster —

Er betrachtete sie, sagte dann mit unsicherer Stimme:

„Herma, wir sind allein in der Wohnung —“

Da zuckte sie doch erschrocken zusammen.

Er näherte sich ihr.

„Herma, ich bin kein Strauchdieb kein Strolch, der ein Weib zu etwas zwingen würde —“

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen, küßte ihr die Finger — ganz Kavalier —

Und — sie ließ sich täuschen —

„Dann geben Sie mir den Schlüssel — sofort!“ bat sie ängstlich —

Sie fühlte, wie diese Handküsse und diese ganze Szene ihr Blut in Wallung brachten —

Fünf Monate Untersuchungshaft! Und in diesen fünf Monaten nur zuweilen in wilden Träumen den Sinnenrausch ausgekostet —!

Das rächte sich; das machte sie zaghaft vor sich selbst —

„Bitte!“ sagte Blaßwurm. Und er reichte ihr den Schlüssel.

Herma war überrascht. — „Also doch Gentleman!“ dachte sie. Und sie sah ihn schon mit anderen Augen an. Er begann ihr interessant zu werden.

Er verbeugte sich und wies auf einen Sessel. „Nehmen Sie Platz, Herma — Sie brauchen mich nicht zu fürchten. Ich werde ganz brav sein.“

Sie zögerte erst. Dann setzte sie sich.

„Sie sind ein merkwürdiger Mensch,“ meinte sie.

Er lehnte sich dicht vor ihr an den Tisch.

„Merkwürdig? Nein — ich bin ein Lump, ein scheußlicher Charakter,“ erklärte er hart. „Ein Opfer falscher Erziehung und ererbter Schwächen —“ — Er sprach weiter, sprach sehr geistvoll, sezierte sich selbst sozusagen vor Herma —

„Nun will ich mit alledem Schluß machen, Herma, will heiraten! Natürlich reich — selbstredend,“ fuhr er fort. „Dort steht Lottes Bild — Sie trägt Kneifer; sie ist ein Lämmchen — Sie wird mich völlig umkrempeln — Wir werden sehr glücklich werden, Lotte und ich, ohne Frage. Ich passe mich jedem an —“

Er seufzte. „In zehn Tagen bin ich Ehemann. Das beißt — richtiger Ehemann wohl kaum —“

Herma begriff diesen Menschen nicht. Er war ihr unverständlich. Er hatte in seiner ganzen Art so etwas überlegen Ironisches, ja, etwas direkt Faszinierendes. Das Sprunghafte in seinem Wesen verwirrte sie immer mehr.

Er lächelte Herma jetzt trübe an.

„Hätte ich Sie vor vier Monaten kennen gelernt,“ sagte er, scheinbar tief bewegt, „dann wären Sie mein Schicksal geworden — Ganz sicher, Herma. Wo gibt es ein Weib mit so sonderbar von milder Schwermut und hoher Intelligenz durchleuchteten Zügen wie Sie?! — Doch — ich will Ihnen nicht schmeicheln. Ich freue mich, daß ich Sie noch so kurz vor Toresschluß als gleichgestimmte Seele gefunden habe. — Herma, gönnen Sie mir das harmlose Glück, häufiger mit Ihnen plaudern zu dürfen, bevor ich — Ehemann werde —“

Er hatte wieder ihre Hände genommen, hatte sich tief heruntergebeugt.

Er hatte sehr eigenartige, dunkle Augen mit dem Glanz des polierten Stahles —

„Herma —“ hauchte er. „Herma — weshalb mußte ich Sie jetzt erst kennen lernen —?!“

Und Herma, die doch die Männer so leicht zu durchschauen glaubte, ließ sich vollständig einspinnen durch die bewußte, raffinierte Kunst dieses Menschen, Weiber sich untertan zu machen —

Dann riß er sie plötzlich hoch, preßte sie an sich, küßte sie auf die Stirn —

„Du — Du!“ stammelte er und sank ebenso plötzlich vor ihr in die Knie, umschlang ihre Hüften, wühlte den Kopf in ihre Röcke ein —

„Du! — Laß uns fliehen — Herma, ich habe einige Ersparnisse — Ich —“

Herma war die glühende Blutwelle vom Herzen jäh ins Gesicht geschossen — Ihr wurde schwarz vor Augen — Sterne stoben auf —

Ein Mann — ein Mann, zitternd vor Leidenschaft, ein Mann — ihr Sklave —!

Sie hörte nichts mehr — Sie fühlte sich emporgehoben — Sie sank auf den Diwan —

Sein Atem traf wieder ihr Gesicht —

Dann — stieß sie ihn doch von sich —

„Nein — nein — nicht das!“ flehte sie —

Er griff nach ihr — Sie sah sein entstelltes Gesicht, das höhnische Zucken seiner Mundwinkel —

Und — sie war allein mit ihm —

„Da — die Flurtür!“ hauchte sie. Und jetzt schauspielerte sie nicht minder gut. „Mein Gott, — wenn es Frau Haffner wäre —!“

„Sie standen und lauschten.

Herma bückte sich nach dem Schlüssel, huschte zur Tür, winkte Blaßwurm zu —

„Es war Frau Haffner —!“

Sie schloß auf, schlüpfte in die Küche.

Und gleich darauf hörte sie, wie Blaßwurm aus der Wohnung eilte. Er hatte sich täuschen lassen —

 

 

Drittes Kapitel.

Der Mexikaner.

Herma strich das Haar aus der Stirn. Mit fest zusammengekniffenen Lippen starrte sie vor sich hin. —

Welch ein schändlicher Komödiant war dieser — Doktor! Und — fast hätte sie —

Oh — sie mochte diesen Gedanken gar nicht zu — Ende denken! — Sie hatte Angst vor sich selbst, vor ihrem unruhigen Blut —

Sie ging in der Küche auf und ab —

Dann fielen ihr die Erbsen ein — Sie lächelte — schwach. Die Erbsen —! — Und sie rührte sie um. Sie waren zum Glück noch nicht angebrannt —

Sie nahm ihren Roman wieder vor. Doch die Gedanken schweiften ab. Dieser Blaßwurm sollte bestraft werden. Wie aber — wie?! —

Dann knallte die Flurtür zu. Im Flur pfiff jemand einen Walzer.

Ah — das war fraglos Egon von Prix, der Filmschauspieler, der Komiker, der durch eine Armwunde schon 1914 erledigte Gefreite der Reserve, der Schandfleck der Familie derer von Prix —!

Die Rätin hatte ihr ja genug von dem verrückten Huhn erzählt, der jetzt als Komiker bei der Alfa-Gesellschaft in kurzem berühmt geworden war.

Da — die Küchentür ging auf, und der lange, dürre Prix trat ein.

„Morjen allerseits!“ nickte er vertraulich. „Mein Name ist Prix. Und der Ihrige, mein Fräulein, Herma Soranto.“

Er schnupperte. „Aha — Sie bewachen die Erbsensuppe. Habe ich auch schon dreimal gemacht. Mutter Haffner geht immer aus, wenn es Erbsen gibt. Das Rühren ist ihr zu langweilig. Da hat sie ganz recht.“

Er hob den Deckel von dem Aluminiumtopf, ließ ihn wieder fallen —

„Au! Dies verfluchte Aluminium! — Entschuldigen Sie, Fräulein Soranto. In Gegenwart von Damen soll man nicht fluchen —“

Er lächelte sie vergnügt an. Sein mageres Sportgesicht mit dem flimmernden Monokel hatte für jeden Menschenkenner sofort etwas Sympathisches an sich.

Er setzte sich auf einen Schemel neben Herma.

„Sie sind Schriftstellerin,“ begann er kopfschüttelnd. „Schade! Sie sind viel zu hübsch dazu. Sie haben ein reguläres Filmgesicht. Bitte — gehen Sie doch mal dort an den Schrank — Gut so — nun machen Sie macht eine verzweifelte Gebärde — Tadellos!“

Herma amüsierte sich köstlich. Alles Schwere fiel von ihr ab. Von diesem Prix ging so etwas bezwingend Lebensfrohes aus, dem man sich nicht entziehen konnte.

„Lachen Sie nicht!“ meinte Prix. „Sie haben Talent — Probieren wir weiter. — Jetzt mal eine ganze Reihe von Gefühlsäußerungen — Also — dies hier ist ein Salon; Sie sind die verstoßene Tochter eines Grafen, der hier gelähmt im Sessel sitzt. Sie treten ein und wollen seine Verzeihung anflehen. — Los doch — gehen Sie in den Flur. Denken Sie sich genau in die Rolle hinein —“

Herma gehorchte. Mit einem Male war was wie künstlerischer Eifer über sie gekommen —

Nun öffnete sie die Tür. Prix beobachtete jede ihrer Bewegungen — wie sie ängstlich stehen blieb, wie sie nun auf ihn zueilte, vor ihm in die Knie sank —

„Famos — famos!“ lobte er.

Und — plötzlich wurde er wieder Vater, streichelte ihr Haar, zog sie an sich und — küßte sie, küßte sie auf die feuchten, warmen Lippen, die so weich wie der Frühlingstauwind schienen —

Herma — hielt still —

Männerlippen —!

Dann strich Prix ihr wieder über das dunkle Haar, sagte ganz ernsthaft:

„Ich werde Sie „machen“, Sorantochen!“ Er zog sie empor und drückte sie auf den Stuhl.

Herma atmete schwer —

In dem letzten Druck seiner Lippen hatte mehr gelegen als nur ein übermütiger Kuß.

Sie blickte zu Boden. Er beobachtete sie still.

„Wollen Sie, Herma?“ fragte er dann kameradschaftlich. „Ich bin ja nicht nur Filmkomiker, auch Filmregisseur. Ich verstehe etwas von diesen, Dingen. Sie haben eine Zukunft, Herma. Nur dicker dürfen Sie nicht werden. Ihr Gesicht muß schmal bleiben.“

Sie hob den Blick. Ein paar warme, gute Augen schauten sie an.

„Ich will!“ sagte sie fest.

Er reichte ihr die Hand. „Auf ehrliche Freundschaft, Herma!“

„Ja — auf ehrliche Freundschaft!“

„Gut — dann will ich Ihnen andere Lektüre bringen.“

Er ging und holte ein dickes Filmmanuskript.

„Hier — das Schauspiel „Das Hermelinmäuschen,“ sagte er. „Lesen Sie es durch, Herma. Die Alfa-Gesellschaft wollte es ablehnen, da die weibliche Hauptrolle von einer ersten Kraft gespielt werden müßte und da diese Damen zu teuer sind, wenigstens für die Alfa, die meist nur Lustspiele verfilmt. Wir werden die Hauptrolle einüben, Herma, — studieren, bis ins kleinste. Ich werde Ihr Lehrer sein — So — auf Wiedersehen. ich wollte mich nur umziehen. Wir haben mittags Aufnahme im Grunewald.“

Er drückte ihr die Hand, pfiff und verschwand.

Herma blieb ganz betäubt zurück —

Sie dachte an Alarichy Lindner — Was würde er zu diesem neuen Lebensplan sagen?! — Sie fühlte sich Lindner verpflichtet; er hatte ihr selbstlos geholfen, nachdem er Kasimir abgetan hatte, was seine Pflicht gewesen —

Sollte sie mit Lindner offen über dieses Vorhaben sprechen? Würde er nicht abraten?!

Mit einem Male war aller Frohsinn wieder von ihr abgeglitten. Sie begann sich in Grübeleien zu versenken. Wieder kam die Angst über sie — die Angst vor dem, was in ihrem Blute wühlte —

„Ich werde ja doch wieder sinken!“ dachte sie, innerlich völlig kraftlos. „Ja — ich muß, sinken! Der erste Mann, der mir nur etwas — etwas gefällt, dem — dem verfalle ich!“

Sie hatte überhört, daß abermals die Flurtür aufgeschlossen und sacht ins Schloß gedrückt wurde.

„He — Mutter Haffner!“ rief jemand im Flur. „Wo stecken Sie?“

Herma stand auf und schaute in den Flur hinaus, stand nun einem schlanken, jungen, sehr eleganten Herrn gegenüber.

Es mußte der Sennor Chihakuga sein, der Mexikaner, der die beiden teuersten Zimmer seit drei Monaten innehatte.

Der Sennor verneigte sich.

„Wo ist Frau Haffner?“ fragte er kurz. Dann fiel ihm ein, daß er sich vorstellen müsse.

„Chihakuga,“ sagte er und verbeugte sich etwas tiefer.

„Die Rätin ist ausgegangen —“

Herma trat in die Küche zurück und der Mexikaner kam nun mehr in das helle Tageslicht.

Er hatte einen kleinen, dunklen Schnurrbart und eine leicht gelbliche Gesichtsfarbe. Der Scheitel war fest angeklebt.

Er musterte Herma ziemlich unverfroren.

„Ich wünschte, alle Schriftstellerinnen sähen so intelligent aus wie Sie und so — hübsch,“ meinte er mit nachlässiger Sicherheit. „Hübschen Frauen darf man ja getrost sagen, daß sie hübsch sind, hat Prix mir letztens als Lebensweisheit verzapft. — Hm — Sie haben da ja das Filmmanuskript in der Hand. Also kennen Sie Prix schon. Famoser Kerl, was?!“

„Ja — sehr famos!“ lächelte Herma.

„Teufel, was sehen Sie interessant aus!“ entfuhr es dem jungen Ausländer. „Aber — nehmen Sie doch wieder Platz — Hm — Erbsensuppe — Das erinnert mich an früher —“

Er sog die Luft durch die Nase ein. „Nur — früher war noch immer was anderes dabei — früher!“ — Er sprach das recht wehmütig aus.

„Vielleicht kann ich Frau Haffner die Bestellung ausrichten,“ sagte Herma liebenswürdig.

„Oh — das eilt nicht so, Fräulein Soranto. — Übrigens das Filmmanuskript da — mir gefällt's! Das hat einer geschrieben, der das Leben und die Liebe kennt; das ist ein Griff ins Alltagsleben und doch ein Kunstwerk. Der Gang der Handlung hat mich seltsam gefesselt. Es ist ein Stück meines eigenen Schicksals darin —“

Er hatte sich an das Fenster gelehnt und schaute zu Herma hinab —

„Sie wundern sich wohl über diese Bemerkung?“ fügte er hinzu.

„Ja — genau so wie über Ihr tadelloses Deutsch.“

„Ich — war Deutscher, Fräulein —“ Er blickte in den Dampf, der aus dem brodelnden Kochtopf stieg. „Ich stahl als dummer Junge Geld und floh. Jetzt suche ich hier meine —“ Er räusperte sich, fuhr fort: „Das dürfte Sie kaum interessieren — Nein, was haben Sie nur für ein eigenartig anziehendes Gesicht! Wirklich — ich muß schon mal ein Gemälde irgendwo gesehen haben, das Ihnen vielleicht — oder doch etwas ähnlich war — etwas. Es ist merkwürdig: Sie kommen mir bekannt vor. Waren Sie mal drüben in Amerika?“

„Nie!“ — Herma lächelte wieder. „Ich bin über Berlins Grenzen selten hinausgelangt —“

Dann setzte Chihakuga sich zu ihr — auf denselben Holzschemel, den vor ihm schon Blaßwurm und Prix benutzt hatten, blickte Herma fast schwärmerisch an und meinte:

„Sie müssen viel durchgemacht haben!“

„Das ist richtig —“ erwiderte sie leise.

„Leben Sie in bedrängten Verhältnissen, Fräulein? — Verzeihen Sie die Frage schon. Aber — ich bin so reich, daß ich —“ Er wurde verlegen. „Quatsch!“ rief ex dann, „weshalb nicht aussprechen, was man denkt?! — Also — brauchen Sie Geld? Ich bin reich —“

Herma schüttelte nachdenklich den Kopf“ — Ihre Augen suchten irgend etwas in Chihakugas Gesicht —

Dieses eine Wort „Quatsch“ hatte sie stutzig gemacht.

Bruder Willi hatte es so oft gebraucht — so oft!

Dann — wurde sie blaß — Ein Gedanke war jäh über sie hergefallen: Chihakuga war Deutscher und hatte — als dummer Junge Geld gestohlen und war geflohen —!

„Was — was fehlt Ihnen?“ fragte er besorgt.

Sie hatte nach seiner Hand getastet —

„Wen — suchen Sie? Sagen Sie es mir!“ stammelte sie —

Er öffnete die Augenlider immer weiter —

„Meine — Schwester —“

„Und — die hieß?“ — Sie preßte seine Finger —

„Hermine — Mine — Mine!“

Herma stürzten die Tränen aus den Augen —

„Willi — Willi!“ schluchzte sie. „Ich — ich bin —“

Da hatte er sie hochgerissen — Sie lag an seiner Brust —

Eine wunderbare Seligkeit durchströmte sie.

Sie hatte einen Menschen gefunden, der zu ihr gehörte —! Sie hatte einen Bruder — einen Bruder —! Sie war nicht mehr allein —! —

Willi waren die Augen feucht —

„Meine — kleine Mine“, sagte er weich — „Endlich — endlich —!“ —

Dann saßen sie Hand in Hand da. Herma erzählte, beichtete, verhehlte nichts — nichts —

Ach — es war ja so köstlich, beichten zu dürfen. Und noch köstlicher, zu wissen, daß man einen milden Richter vor sich hatte, der selbst einmal gestolpert war —

Hermas Beichte klang in die scheue Frage aus: „Wie stehst Du denn nun mit den Eltern, Willi?“

Sein frisches Gesicht verdüsterte sich jäh. „Stehen —?! Gar nicht! Sie haben mir die Tür gewiesen, und das auf eine Art, die so verletzend war, daß nun jedes Band zwischen uns zerschnitten ist."

Herma schaute ihn ungläubig an. „Unmöglich!“ meinte sie. „Sie haben Deiner doch stets in Liebe gedacht. Damals, als Du die tausend Mark schicktest, war ich doch noch zu Hause, und —“

Er hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht. „Ich will‘s Dir kurz erzählen, Herma. Ich kam vor drei Monaten aus Mexiko herüber, wo ich tief im Innern ein paar große Plantagen besitze. Ich hatte absichtlich bis dahin nichts von mir hören lassen. Ich freute mich so sehr auf das Wiedersehen. Ich schrieb zunächst hier von einem Hotel aus einen Brief an die Eltern, deren neue Adresse ich leicht erfahren hatte. Obwohl auf dem Umschlag sogar noch der Absender „Willi Plantschke“ und mein Hotel vermerkt waren, erhielt ich keine Antwort. Da ging ich denn selbst zu ihnen. Lotte öffnete mir — mit Eisesmiene, führte mich gleich in ihr Zimmer und sagte mir in einem Ton, als stände ein Verbrecher vor ihr, die Eltern verbäten sich jede Annäherung von meiner Seite. — Herma, diese Lotte hat sich fein entwickelt!“ Er lachte bitter auf. „Die reine vertrocknete Gouvernante, eine fromme Helene schlimmster Art! Ihr zweites Wort war —: ‚Die Eltern und ich mit unserem tadellosen Lebenswandel!‛ — Der Ekel kroch mir hoch! Ich machte, daß ich wegkam. Von Dir hatte Lotte stets als von „der Gefallenen“ gesprochen und betont, die Eltern hätten nur noch ein Kind — sie selbst! — Was hättest Du da getan? Wärest Du geblieben?! Außerdem — sie gab mir auch meinen Brief zurück —

Herma wußte zunächst zu alledem nichts zu sagen. Ihr erschien dieses Verhalten der Eltern so vollkommen unbegreiflich, daß sie jetzt erst schnell den Brief überflog, den Willi ihr gegeben hatte.

Ihr Bruder hatte sich darin sehr knapp gefaßt; nur drei Zeilen: daß er in Berlin eingetroffen sei, Sehnsucht nach den Eltern und Schwestern habe und auf eine Aussöhnung hoffe —

Herma überlegte. Sie kannte Lotte besser, als Willi die Jüngste einzuschätzen vermochte; sie witterte hier eine heimtückische Intrige. — Aber, fragte sie sich, zu welchem Zweck könnte Lotte wohl die Eltern dazu bewogen haben, den Sohn nicht einmal zu empfangen?!

Dann ein Gedanke, hervorgerufen durch ihre genaue Kenntnis von Lottes schrankenloser Selbstsucht und versteckter Unaufrichtigkeit: Lotte mochte angenommen haben, daß Willi arm aus der Fremde zurückgekehrt sei und nun den Eltern zur Last fallen und ihre eigenen Ansprüche auf das neu erworbene Vermögen schmälern könnte —! —

Sie teilte Willi diesen Verdacht mit. Und er — er erwiderte ihr ungläubig: „Das wäre so bodenlos gemein, daß wir dies unserer Schwester einfach nicht — zutrauen dürfen!“

„Oh — sie ist verlobt Willi. Und, ihr Bräutigam —“

„Ich weiß — ist dieses Ekel von Blaßwurm! — Nein, Herma, — ich weise diesen Verdacht zurück — vorläufig!“

Dann erzählte Herma, was sie heute mit Blaßwurm erlebt und was sie gestern abend erlauscht hatte.

Willi sprang auf. „Wie — sein Verhältnis nimmt er als — als Stubenmädchen mit in die Ehe! Das ist ja eine Lumperei, wie sie scheußlicher kaum auszudenken ist! — Aber, Minchen, Schwesterchen, wir wollen uns die Wiedersehensfreude nicht vergällen lassen. Fix — mach‘ Dich zum Ausgehen fertig. Wir werden in einem Weinrestaurant dinieren. Keine Widerrede! Stelle das Gas ganz klein. Dann werden die Erbsen nicht anbrennen. Und laß einen Zettel für Mutter Haffner zurück —“

„Du — wär's nicht besser, wir hielten noch geheim, daß wir Bruder und —“

„Natürlich, Minchen, Schwesterchen, — natürlich — dieses Blaßwurms wegen! Dem Burschen werden wir gehörig auf die unsauberen Pfoten schlagen!“ — Seine gesunde Fröhlichkeit war wieder zum Durchbruch gekommen. Er hielt Herma an beiden Händen, schaute sie ganz verliebt an und fügte hinzu: „Stolz bin ich auf Dich, Minchen —! Donnerwetter, siehst Du nur vornehm aus! Daß Du mal im Sattlerduft aufgewachsen, ahnt niemand!“

 

 

Viertes Kapitel.

Blaßwurms Pläne.

Im Weinrestaurant Traube erregte das Paar einiges Aufsehen. Die Geschwister kümmerten sich um niemanden. Es gab ja auch noch so vielerlei zu besprechen. — Willi erklärte, Herma dürfe ihre Wohnung in Friedenau auf keinen Fall aufgeben. Er würde noch heute neue Möbel kaufen. — Er sah die Wohnungsnot nach Kriegsende voraus. Herma wollte dieses kostspielige Geschenk — eine ganze Einrichtung — von ihm erst nicht annehmen.

Da lachte er sie vergnügt an. „Minchen, Du ahnst ja nicht, wie viel Geld ich habe! Du wirst sogar noch viel mehr von mir annehmen müssen. Wenn Prix Dir Kinotalent zugesprochen hat, dann bist Du auch talentiert. Und — Du sollst die Rolle des Hermelinmäuschens in jenem Schauspiel, ausgestattet mit den nötigen Toiletten, bestimmt als Beweis Deines Talents geben. Wir fahren gleich nachher zu Loeb u. Co. Dort bekommst Du alles, was Du brauchst. Ich will Dich elegant sehen, Schwesterchen. Ich liebe elegante Frauen —

„Du — mit Deinen zwanzig Jahren!“ Sie drohte ihm schalkhaft mit dem Finger.

„Minchen — was machen die Jahre aus! Die innerliche Reife ist‘s! Sehe ich wie zwanzig etwa aus?! — Oh — ich habe vieles erlebt, Schwesterherz. Ich habe arbeiten müssen, daß mir beinahe die Stirnadern sprangen. Aber ich habe es jetzt geschafft!“ — Sein Gesicht strahlte. „Geschafft für uns beide, Minchen,“' fügte er leise hinzu, „Für das — Hermelinmäuschen und den — Portokassendefraundanten!“ —

Bei Loeb & Co. lag auch, ein wundervoller Hermelinschal aus. So ein Stück, das es nur einmal gibt; das kaum eine Kriegsschiebersgattin sich leisten kann.

Willi kaufte ihn —

Herma hatte hier nichts zu sagen. Er kaufte immer mehr. Ein Dutzend Angestellte schleppten ständig neue Schätze herbei: seidene Wäsche, Kostüme, Balltoiletten, Pelze —

Herma bewies einen guten Geschmack. Willi nickte ihr wiederholt anerkennend zu. Sie vermied alles Auffällige; was sie wählte, konnte jede große Dame tragen —

Dann brachte ein Auto die beiden nach einem Möbelgeschäft. Dieses stellte auch gleich zwei Dekorateure, die die Wohnung im Ordnung bringen würden.

Mittlerweile war es sieben Uhr abends geworden. Herma fühlte sich ganz erschöpft. Die Geschwister wollten noch schnell in einem neu eröffneten Weinrestaurant ‚Unter den Linden‘ soupieren.

Das Lokal war bereits stark besetzt. Vom Kriege merkte man hier nichts. Als sie nach einem freien Tische suchten, erkannte Herma in einer der Nischen das scharfe Profil Philipp Blaßwurms. Die Röte schoß ihr unwillkürlich ins Gesicht. Für einen Moment glaubte sie wieder seinen parfümierten Atem zu spüren, tauchte in ihr jene Szene vom Heutigen Vormittag wieder auf, als sie diesem Menschen, der eine so seltsame Gewalt über sie gewonnen hatte, bereits verfallen zu sein schien —

Ein Schauer rieselte ihr über den Leib —

Und ihre Seele warnte sie: „Das Blut — das Blut!“ — Da war auch schon wieder alles vorüber —

Willi steuerte auf die Nische links neben der Blaßwurms zu. Herma hatte inzwischen auch schon ihre Schwester Lotte erspäht, wollte den Bruder anderswohin dirigieren —

Es war zu spät, Und — weder Blaßwurm noch Lotte hatten den neuen Gästen nebenan Beachtung geschenkt.

Herma flüsterte dem Bruder zu: „Neben uns — die Eltern, das Brautpaar —!“ — Sie war vor Erregung bleich geworden. Seit Jahren war dies ja das erste Wiedersehen —

Willi zog die Augenbrauen zusammen. „Was schadet‘s?! Setzen wir uns! Oder — haben wir es vielleicht nötig, uns in ein Mauseloch zu verkriechen?!“

Die Nischen waren nur durch dichte Efeuwände getrennt. Man konnte jedes Wort drüben verstehen.

Lotte hatte sich eine sehr gezierte Sprechweise angewöhnt. Papa Plantschke sagte wenig. Frau Christine hatte an den Speisen viel auszusetzen. Philipp, der seine solide Brille trug, war ebenfalls schweigsam. Lotte führte das große Wort.

Aus der Unterhaltung ging hervor, daß die vier nachher das Schauspielhaus besuchen wollten.

„Es ist sehr zu bedauern, daß unser Abonnement gerade auf ‚Kabale und Liebe‘ fiel,“ sagte Lotte unter anderem. „Dieses Schillersche Schauspiel ist sehr unmoralisch. Als wir es in der Literaturstunde bei Fräulein Knöchrig im vorigen Jahre lasen, wurden verschiedene Szenen übergangen. Bei der Knöchrig waren wir nur junge Damen aus besten Familien. Findest Du ‚Kabale und Liebe‘ nicht auch unmoralisch, Philipp?“

„Gewiß, mein Schatz. Man sollte solchen Schmutz verbieten,“ säuselte Philipp.

Herma und Willi sahen sich an. Willi zog geringschätzig die Mundwinkel herunter

Da meldete sich Papa Anton. „Was ist denn daran unmoralisch? Ich hab‘s doch gestern im Schiller gelesen. Ich fand nischt —“

„Es kommt eine ‚Person‘ darin vor,“ erklärte Frau Christine. „So eine ganz feine — noch feiner wie in den Dielen am Kurfürstendamm —“

„Mama!“ rief Lotte empört.

Worauf Anton Plantschke gemütlich lachte. „Hab‘ Dich nicht, Kind —! In zehn Tagen bist Du ja verheiratet.“

Dann nach kurzer Pause: „Sagen Sie mal, Herr Schwiegersohn, — was das Stubenmädchen betrifft, das Sie da ausgesucht haben, — hm ja, — ich sah sie heute in Eurer neuen Wohnung — hm ja, — ob die denn für Euch passen wird?! — Nicht wahr, Christine, Dir kam dies Wesen doch auch ziemlich — na — ziemlich aufgedonnert vor! Weiß der Deibel, wo ich die schon einmal getroffen habe! Sie war so —“

„Bitte, meine Patentante, die Frau Exzellenz, hat das Mädchen so warm empfohlen, Herr Schwiegervater. Aber — wenn Sie Euch, liebe Eltern, nicht behagt, dann —“

„Sie repräsentiert gut!“ erklärte Lotte sehr bestimmt. „Sie bleibt! Den Puder werde ich ihr schon abgewöhnen.“

Willi flüsterte Herma zu: „Aha, hier steht nicht nur Philipp, der Hakennäsige, sondern auch das Elternpaar unter dem Pantoffel!“

Doch — er hatte sich geirrt —! — Es kam anders. Doktor Blaßwurm meldete sich abermals —

„Mein lieber Schatz, wir könnten uns ja auch auf den durch Lebenserfahrungen geschärften Blick der verehrten Eltern verlassen und ein — ein bescheidener aussehendes Stubenmädchen wählen. Ihre Exzellenz, meine Patentante, empfahl mir damals als Vorsitzende des Vereins ‚Jungfrauenhort‘ —“

Er schwieg sekundenlang, denn Papa Anton hatte sich gleich im Anschluß an ‚Jungfrauenhort‘ in einer Weise geräuspert, als müßte er dadurch ein Auflachen verdecken.

„— Zwei gleichwertige Mädchen empfohlen,“ fuhr Philipp fort. „Die Rosi, die wir gemietet haben, wäre leicht abzufinden. Die andere, Anna Müller, ist jetzt bei der Frau Rechnungsrat Haffner in Stellung, kann aber jederzeit austreten. Ich denke, Schatz, wir einigen uns doch lieber auf die Anna —“ —

Herma hatte Willi in den Arm gekniffen.

„Du — merkst Du was?! Die Anna bin ich selbst!“

Willi feixte plötzlich satanisch. „Herma,“ flüsterte er. „Eine Idee — eine glänzende Idee —! — Er sprach leise und eifrig weiter, sagte zum Schluß: „So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, Herma! Die Hauptsache: wir müssen von hier jetzt unbemerkt verschwinden. Wählen wir einen anderen Tisch, an dem unsere Lieben nicht vorüberkommen, wenn sie aufbrechen —“

Es gelang. Die Geschwister sahen die vier jetzt bald das Lokal verlassen.

Willi war wieder recht ernst geworden, meinte dann plötzlich: „Du, Minchen, — ich möchte Dir jetzt doch beinahe beipflichten, was Deinen Verdacht gegen Lotte betrifft. Wenn sie zum Beispiel meinen Brief an die Eltern abgefangen hat?! Wenn ich gerade zu einer Zeit dort erschienen war, als die Eltern sich entfernt hatten?! Dann war es doch für Lotte eine Kleinigkeit, mich hinsichtlich der wirklichen Gefühle der Eltern grob zu täuschen! Mir fällt da soeben ein, daß Lotte den Brief aus einer Kassette hervorsuchte und daß sie wiederholt ängstlich lauschte — Sie mag eben die Rückkehr der Eltern gefürchtet haben. — Nun — all das wird sich ja aufklären, wenn unser Plan gelingt —“

„Er wird gelingen, Willi! An mir soll es nicht liegen!“ nickte Herma. „Jetzt wollen wir all das Häßliche aber vergessen — Prosit Brüderlein —!“

Sie hob das Rotweinglas —

Da — hinter ihnen Egon von Prix‘ Stimme:

n Abend, Kinder —! Das ‚Brüderlein‘ habe ich gerade noch aufgeschnappt —! Ich bin ja kein Detektiv, aber nicht gerade allzu dämlich. Will — Du hast die Gesuchte gefunden?“

Er streckte dem Mexikaner die Hand hin; dann drückte er auch Herma kameradschaftlich die Rechte.

„Ihr gestattet doch?“ Er nahm Platz. —

Es wurde nun sehr lebhaft und sehr vergnügt an diesem Tisch. Wo Prix Stimmung machen wollte, da herrschte auch Stimmung — Er hatte mal von sich selbst gesagt: „Ich bringe selbst Delinquenten drei Minuten vor der Hinrichtung zum Lachen — wenn ich Staatsanwalt bin und ihnen die Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus mitteilen kann —“

Alles, was er erzählte, geschah in so humorvoller Weise, verriet dabei aber doch so viel Gefühl, daß Herma ihm sehr bald ebenfalls im Scherz zurief:

„Sie müssen ein goldenes Herz haben!“

Da wurde er plötzlich todernst.

„Ich habe überhaupt kein Herz, Hermachen, wirklich nicht — wenigstens nicht für Weiber. Nee — unsereiner, dem Frauen aller Arten so stark entgegenkommen, wird bald übersättigt. Mir genügt es, wenn mir die Kollegen ihre Abenteuer erzählen. Ich schöpfe daraus gleichzeitig die Warnung, mein Herz ja recht sehr festzuhaken und nicht etwa auf den blödsinnigen Gedanken zu kommen, zu heiraten, obwohl ich mich nach einem eigenen Heim sehne. Ich würde fraglos ein Musterehemann werden. Nur die dazu gehörige Mustergattin werde ich nie finden. — Hermachen, Sie sind ja nicht prüde — Da erzählte mir heute der Albert Rasselmann, der berühmte Rasselmann, eine geradezu unglaubliche Geschichte von einem Berlin—W.—Mädel, die demnächst heiratet, weil sie — es muß, hm ja —! Es ist eben höchste Zeit —! Ihr versteht, Kinder! Und — dies Mädel heiratet nicht etwa den Rasselmann, der dazu vor Gott, der Welt und dem Alimentengericht verpflichtet wäre, — keine Rede! Sie hat sich, da Rasselmann noch etwa drei Dutzend ähnliche Verpflichtungen hat und doch keinen Harem sich anlegen darf, einen Menschen mit sehr vornehmer Verwandtschaft geangelt, der — und das ist der Witz dabei — keine Ahnung hat, weshalb sein Bräutchen die Hochzeit plötzlich so sehr beschleunigte. Dabei soll dieses Mädel, das einer reichen Familie angehört, so engelhaft wirken, daß niemand ihr derartige Seitensprünge zutrauen würde. — Ihr seht — wo soll unsereiner wohl ein Musterweib hernehmen?! Wem darf man trauen?! Und — weiß, man letzten Endes, ob das Weib, das man heiratet, wirklich zu einem paßt?! — Na — lassen wir das Thema! — Kinder, ich habe ja noch so viel anderes auf dem Herzen. Hermachen, Sie sollen sich morgen vormittag dem Alfa-Obereunuchen, wie wir unseren Direktor nennen, vorstellen. Oder — willst Du etwa nicht zulassen, Du mexikanischer Plantagenkönig, daß Dein Schwesterlein Flimmergöttin wird?“

„Er hat mir ja sogar schon den Hermelinschal für das Hermelinmäuschen gekauft!“ lachte Herma.

Prix winkte dem Kellner. „Ober — rasch eine Buddel Knallkümmel — aber rasch! Wir haben hier ein freudiges Ereignis zu begießen!“

Nun wurde nur noch von Hermas Filmkarriere gesprochen. Mittlerweile war es zehn Uhr geworden. Willi wurde plötzlich unruhig und schaute wiederholt nach der Uhr.

„Aha!“ meinte Prix. „Die Holde wartet —! — Verdufte nur, Junge. Mit zwanzig Jahren war ich genau so versessen auf ‚Stell Dich ein, mein Liebchen —‘ — Wir dispensieren Dich! Nicht wahr, Hermachen?“

Willi flüsterte Herma zu. „Da — ich stecke Dir einen Tausender in Deine Handtasche. Begleiche unsere Rechnung —“

Dann verabschiedete er sich.

Herma fragte Prix: „Woher kennen Sie Willi eigentlich?“

„Oh — nur von Mutter Haffner her. Wir haben schon nach vier Wochen Brüderschaft getrunken —“

„Und — wer ist die, mit der er sich jetzt trifft?“

„Wirklich, — keine Ahnung, Herma! Er ist sehr verschwiegen. Ich glaube aber — es ist kein Flirt. Nein, die Sache muß einen romantischen Haken haben. Na, Willi wird schon wissen, was er tut. Wer so viel erlebt hat, wie er, der — verbrennt sich die Finger nicht, worunter ich ‚das Einfangen zur Ehe‘ verstehe —“ —

Er hatte sich zurückgelehnt und betrachtete Herma eine Weile ganz andächtig. Dann sagte er leise:

„Sie haben eine große Zukunft, Herma, — ohne Frage! Ihnen wird der Aufstieg zur Höhe des Filmruhms leicht werden. Sie haben die Millionen Ihres Bruders hinter sich; Sie werden nicht auf sogenannte ‚Kunstfreunde‘ und ‚Gunstfreunde‘ angewiesen sein, die Ihnen jeden kostbaren Toilettengegenstand bezahlen oder Ihnen gegen entsprechende Gegenleistung eine Rolle zuschanzen — Herma, und — Sie werden meine Schülerin werden —“

„Heimlich aber, Herr von Prix, — nur heimlich zunächst. Zuerst habe ich noch eine andere Rolle zu spielen — Sie sind ja Willis Freund. Sie sollen alles wissen — alles!“

Prix schnitt ein sehr bedenkliches Gesicht, als er Willis Idee nun kannte.

„Herma — hüten Sie sich vor Blaßwurm!“ sagte er ernst. „Der Kerl ist — ganz im Vertrauen — Hypnotiseur. Ich erfuhr es zufällig. Sie sind eine sehr sensible Natur und —“

„Keine Sorge!“ unterbrach Herma ihn und wurde leicht verlegen. „Er kann mir nicht mehr gefährlich werden. Ich werde ihn hypnotisieren, nicht er mich!“

Prix blieb ernst. Und wieder schaute er Herma lange an, sagte schließlich: „Seien Sie vorsichtig! Willis Plan verlangt von Ihrer Seite ein gewisses Eingehen auf Blaßwurms verliebte Wünsche —! — Herma, sind Sie nicht zu schade dazu?!“

Herma wurde verwirrt. Sie bemerkte in Egon von Prix‘ Augen jetzt etwas anderes als nur die stille Bewunderung ihres anziehenden Gesichtes; sie verstand in Männeraugen zu lesen. Und das, was da aus Prix Blicken sprach, war wie versteckte Zärtlichkeit —

Sie schaute vor sich hin, erwiderte unsicher:

„Willi und ich wollen hier Vorsehung spielen, wollen einen Menschen entlarven, der —“

„Schon gut, Herma — Ich werde die Augen offen halten!“

Er reichte ihr die Hand. Dann trank er ihr zu:

„Auf das Hermelinmäuschen! Auf den ersten Erfolg!“

Um halb elf fuhren sie im Auto heim.

Herma war müde geworden. Auch Prix sprach wenig. Dann ging erst Herma nach oben in die solide Haffnersche Wohnung. Prix wollte nach einer halben Stunde folgen, damit es nicht auffiele.

Die Rätin war noch in ihrem Wohnzimmer, kam nun in den Flur und sagte sofort eisig:

„Fräulein, morgen ziehen Sie aus! Es sind heute abend noch so viel Pakete von Loeb und Co. für Sie abgegeben worden, daß Ihr Zimmer für — solche Sachen wohl zu eng sein dürfte —! Auch Herr Lindner war um acht Uhr hier und hat sich diese Ausstellung von Kartons angesehen. Er läßt Sie grüßen und Ihnen bestellen, er müßte leider davon Abstand. nehmen, Ihnen eine Anstellung zu besorgen. Also — morgen vormittag, Fräulein —! Bestimmt!“

Dann knallte die Tür ins Schloß.

Herma stand da und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen solle. Schließlich klopfte sie bei der Rätin an und betrat deren bescheidenes Wohnzimmer, begann leise:

„Frau Rat, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Ich habe einen Bruder, der sehr reich ist —“

Die gute Rätin rief empört dazwischen:

„Einen Bruder?! Halten Sie mich für so dumm! Es wird wohl ein — Vetter sein, Gute Nacht, Fräulein.“

Herma brachte es fertig, etwas zu lächeln.

„Sie werden später anders denken, Frau Rat —!“

Dann ging sie.

Als sie durch den langen Flur schritt, kamen ihr aber doch die Tränen in die Augen. Und in ihrem Stübchen setzte sie sich auf den Diwan und weinte —

Also auch Lindner zweifelte wieder an ihr! Das tat ihr weh. An seiner Meinung lag ihr etwas —

„Die Vergangenheit!“ dachte sie. „Diese Vergangenheit! Wirst Du sie je tilgen können! Wird sie je tot sein?!“

Und vor ihr tauchte Egon von Prix' faltiges Sportgesicht auf —

Er sehnte sich nach einem eigenen Heim — nach einem großen, seligen Glück fraglos! Und wußte, daß er es nie finden würde — genau wie sie selbst —

Abermals packte der Kleinmut sie. — Was würde werden, wenn sie wirklich als Hermelinmäuschen Erfolg hatte?! Würde Willis Geld sie vor dem bewahren können, was kommen mußte?! Sie war Weib — nur zu sehr Weib! Ein Weib mit gesunden Sinnen. Und — würde der Kampf gegen das, was in ihr loderte und brannte und sehr bald ihre einsamen Nächte zu endlosen Stunden der Qual machen würde, nicht vergeblich sein?! Würde sie nicht doch wieder werden, was sie einst gewesen?! Wer — wer würde denn sie — gerade sie heiraten?! Nur ein Mann, der von ihren Einnahmen ein bequemes Leben führen wollte, — ein minderwertiger Charakter!

Die Vergangenheit — die Vergangenheit! — Herma weinte still in sich hinein.

Sie hatte schon häufig ähnliche Stunden durchlebt — damals im Untersuchungsgefängnis. Aber noch nie war ihr so eindringlich zum Bewußtsein gekommen, was alles sie in kindlicher Unüberlegtheit seinerzeit geopfert hatte, als sie dem Elternhause entfloh —

Sie hörte die Flurtür klappen. Sie lauschte. Es war Prix. Er räusperte sich — Das sollte wohl ein Gute-Nacht-Gruß für sie sein — —

Prix — Egon von Prix! Der Schandfleck seiner Familie!

Mit einem Male schwand die trostlose Stimmung wieder. Sie hatte ja einen Freund in Prix gewonnen, einen Freund, der es ehrlich meinte —

Sie nahm eine Zigarette und rauchte. Dort lag ja noch das Filmmanuskript. Sie begann zu lesen. Was sollte sie auch anderes tun?! Schlafen würde sie ja doch nicht können —

Sie las — und es war, als ob ihr eigenes Schicksal in wechselnden Bildern vor ihr abrollte. — Gewiß, die Heldin dieses Schauspiels war eine geistvolle, vornehme Frau, die durch einen Hochstapler hinabgezerrt wurde in den flimmernden, gleißenden, parfümduftenden Großstadtsumpf —

Aber — es war eine Gefallene; eine, die dieser Hochstapler für seine Pläne ausnutzte, ohne daß sie wußte, was als geheime Absicht hinter seinen scheinbar harmlosen Wünschen steckte —

„Genau wie damals Kasimir!“ dachte Herma —

Kasimir! Und der alte Kommerzienrat! — Da war sie wieder, diese Vergangenheit —!

Herma quoll der Ekel in der Kehle hoch. Sie legte den Kopf auf die über dem Manuskript verschränkten Arme und — weinte wieder —

Bis sie entsetzt hochfuhr —

Vor ihr stand Philipp Blaßwurm. Er hatte ihr die Hand sanft auf das Haar gelegt. Diese Berührung war's erst, die ihr seine Gegenwart verriet.

„Wie — wie sind Sie hier hineingelangt?“ stammelte sie —

Er lächelte. „Leise, Herma, leise —! — Durch jene Tür nach meinem Zimmer. Die Tür schlägt nach außen. Ich hatte den Schlüssel und den Schrank hatte ich abgerückt.“

Er setzte sich auf den Stuhl neben das Sofa. Seine Augen blickten über den Berg Kartons hin.

„Was soll das?“ fragte er erstaunt.

Herma hatte sich schon wieder gesetzt. — „Ich ziehe morgen aus. Die Haffner hat mich an die Luft gesetzt —“ erwiderte sie achselzuckend.

„Ah —!“ Er lächelte befriedigt haschte nach Hermas Hand.

„Herma, ich hätte etwas für Sie — einen ganz leichten Posten — vorläufig! Wenn ich dann geschieden bin — von meiner Zukünftigen, heirate ich — Dich!“

Er küßte ihr die Fingerspitzen, wollte jetzt neben ihr auf dem Sofa Platz nehmen.

„Nein — nein!“ hauchte sie. „Nur das nicht —! Seien Sie verständig, Herr Doktor — Die Haffner horcht sicherlich an der Tür — Bedenken Sie: wenn sie Sie Ihrer Braut gegenüber bloßstellte!“

Er schlich zum Schlüsselloch und hängte sein Taschentuch darüber, setzte sich wieder, spielte den aufrichtigen Bewerber mit verblüffender Fertigkeit, schwor Herma zu, er würde sie heiraten; sie solle nur in seiner Nähe bleiben — als Stubenmädchen —

Ah — also doch! — Herma fühlte jetzt auch nicht die geringste Angst mehr. Sie merkte: dieser Blaßwurm war wirklich in sie verliebt! Nur — heiraten würde er sie natürlich niemals!

Sie begann ihn vorsichtig auszufragen. Er hätte doch soeben von einer Scheidung gesprochen —

Philipps Hakennase legte sich in Falten, so stark grinste er in höhnischem Triumph —

„Dja — die Scheidung, Herma —! Die Scheidung —! Das macht sich so von selbst — Meine liebe Braut wird einwilligen müssen. Und ihre verehrten Eltern werden blechen — schwer blechen —!“

Herma spielte weiter die halb und halb Zugängliche. Schließlich vereinbarte sie mit Blaßwurm, daß sie erst am Hochzeitstage des jungen Paares zuziehen würde. Er solle ihr nur den Schlüssel zur Wohnung geben —

Es war eine seltsam-aufregende Komödie hier in Hermas Zimmerchen. Einen Blaßwurm zu täuschen und in Sicherheit zu wiegen, war nicht ganz leicht. Und doch — es gelang Herma. Sie wollte sich mit ihm übermorgen in einem Cafee treffen. Sie versprach ihm, die Seine zu werden, wenn er es ehrlich mit ihr meinte; sie gaukelte ihm sehr geschickt ein Weib vor, das nur durch die Ehe — zu haben sei und das durchaus einen ‚geachteten‘ Namen tragen wollte —

Blaßwurm war verliebt. Er hütete sich seinerseits, Herma scheu zu machen. Er gab sich als den biederen Mann, den plötzlich eine große Leidenschaft gepackt hatte —

Zuweilen empfand Herma bei diesem raffinierten beiderseitigen Wortgeplänkel einen solchen Widerwillen gegen dieses abenteuerliche Vorhaben, daß sie am liebsten aufgesprungen wäre und Philipp ins Gesicht geschrien hätte:

„Sie Elender! Ich bin ja Lottes Schwester!“

Aber sie bezwang sich. Sie durchschaute Blaßwurms scheußliche Pläne noch nicht ganz. Er ließ nichts Näheres über die ‚Scheidung‘ aus sich herausholen. Und doch mußte etwas daran sein —

Endlich verabschiedete Blaßwurm sich, bettelte noch um einen Kuß —

Herma lachte girrend —

„Später —! Später —!“

Er preßte ihre Hand an seine Lippen; vergrub seine Zähne in der Haut ihres Handgelenkes — |

Sie riß sich los. Sie sah ja, — er zitterte vor Gier. Und — da war wieder die Angst über sie gekommen —

Sie war allein. Sie hatte den Schrank vor die Tür geschoben; sie wagte nicht, schlafen zu gehen.

So hüllte sie sich denn in ihren Mantel, legte sich auf das Sofa, las das Hermelinmäuschen zu Ende —

 

 

Fünftes Kapitel.

Eine Hochzeitsnacht.

Herma, Prix und Willi hielten sechs Tage später in Hermas neu eingerichteter Wohnung großen Kriegsrat ab. Herma war nachmittags mit Blaßwurm wieder in der Konditorei zusammen gewesen. Aber umsonst hatte sie aus ihm Einzelheiten über die ‚Scheidung‘ herauszulocken versucht. Er war ihren Fragen ausgewichen, hatte nur betont, daß diese Scheidung Tatsache werden würde — nebenbei ein glänzendes Geschäft.

Prix meinte, die Geschwister täten unter diesen Umständen besser, diesen ganzen Plan schießen zu lassen. — „Ich werde Lotte auf der Straße ansprechen und sie warnen. Oder noch besser: ich schreibe ihr alles! Das heißt — Euch beide lasse ich natürlich aus dem Spiel. Wir kennen ja jetzt den vollen Namen und die Adresse dieser ‚Rosi‘, die in Wahrheit Erika Glitzka heißt und die Blaßwurm jetzt durch wer weiß welche Schwindeleien vertröstet hat.“

Willi und Herma waren einverstanden. Sie hatten inzwischen eingesehen, daß es ihre Pflicht als Geschwister war, das Zustandekommen dieser Ehe zu vereiteln —

Und wieder nach zwei Tagen erschien Prix bei Herma mit Lottes Antwortbrief.

Willi hatte sich schon vor einer halben Stunde eingefunden.

„Kinder — Ihr werdet umfallen!“ erklärte Prix und warf den Brief auf den Tisch. „Da — lest! Oder besser — ich werde vorlesen. Also. —: „Sehr geehrter Herr! Ich verbitte mir jede Einmischung in meine persönlichen Verhältnisse. Daß mein Verlobter früher einen nicht ganz einwandfreien Lebenswandel geführt hat, weiß ich. Möglich, daß jene Erika zu ihm auch jetzt noch in harmlosen Beziehungen steht. Das wird aber aufhören, sobald er übermorgen mein Gatte wird. Ich kenne Philipp genau. Besser als Sie! Verschonen Sie mich also mit derartigen Beriefen, die selbst bei meinen Eltern ihren durchsichtigen Zweck nie erreichen würden. Ich habe Sie letztens mit einem Menschen zusammen gesehen, der einst mein Bruder war. Dieser — Dieb hat die Frechheit gehabt, sich an uns wieder heranzudrängen. Er möchte wahrscheinlich irgendwie Geld erpressen. Bestellen Sie ihm nur, daß meine Eltern ihn nicht mehr kennen! L. P.“ — Na — begreift Ihr das?!“

Willi war aufgesprungen. „Gut — dann bleibt's bei unserem Plan! Die Hochzeit soll stattfinden! Das dieser Schurke aber Lotte nicht anrührt, dafür werden Herma und ich sorgen! Und daß gleichzeitig meine Eltern erfahren sollen, wie Lotte in Wahrheit ist, das wird sich ja auch machen lassen!“

* *

*

Hochzeitstag — Im Plantschkeschen Salon die festliche Tafel. Die Gäste alles Verwandte und Bekannte der Familie Plantschke. Von der vornehmen Familie Blaßwurm war niemand erschienen; alle wären verhindert, hätten ihm abgeschrieben, behauptete er —

Und im selben Hause im Hochparterre auf der anderen Seite die Fünfzimmer-Wohnung des jungen Paares —

Elf Uhr abends — Man tanzt; man hat viel getrunken; man ist sehr vergnügt. Die junge Frau Doktor strahlt. Blaßwurm mit seiner Brille markiert den Schüchternen, den vor lauter Ehemannssorgen leicht Angeheiterten —

Papa Anton nimmt den Schwiegersohn in eine Ecke. — „Ihr müßt jetzt verschwinden, Philipp. Das gehört sich so — Es ist elf Uhr. Und Du bist beschwipst, Philipp —“

Blaßwurm lächelt blöde. — Inzwischen hat auch Frau Christine ihrem Lottchen zugeflüstert, daß es Zeit sei — „Drückt Euch heimlich — Ihr habt‘s ja so nah. Nur zwei Treppen —“

Sie umarmt Lottchen, weint gerührt. — Und nachher im Flur umarmt sie auch Philipp — „Sei rücksichtsvoll bittet sie. „Bedenke, daß Lotte so harmlos ist —“

Dann reicht Philipp Lottchen den Arm. Sie steigen die Treppen hinab. Er schließt die Flurtür auf, schaltet das Licht ein —

Am Ende des Flures rechter Hand liegt das Schlafzimmer. Lottchen schmiegt sich an ihren Philipp, haucht: „Noch zehn Minuten —!“ und verschwindet im Schlafzimmer —

Philipp schaut ihr nach. Dann öffnet er die Tür der Mädchenstube, — prallt zurück, flüstert —

„In drei Teufels Namen — was soll das?!“

Herma steht auf der Schwelle — in tief ausgeschnittener Ballrobe; den kostbaren Hermelinschal hat sie graziös um den schlanken Körper geschlungen —

Sie sieht berückend schön aus. Und — sie weiß es auch —

Sie lächelt Philipp an —

„Alles für Dich!“ sagt sie leise. „Für diese Nacht — Komm in den Salon —“

Sie hat schon die Tür aufgestoßen, zieht sie hinter Philipp wieder zu, dreht den Schlüssel um —

Philipp Blaßwurm ist wie betäubt — Er steht und starrt —

„Herma — Herma!“ keucht er. „Was bist Du schön —!“

Er will sie an sich reißen —

„Halt — erst den Hochzeitsschluck!“ lächelt sie. „Da, ich habe eine Flasche Sekt bereitgestellt — Fülle die Kelche —“

Philipp sieht und hört nichts. Er sieht nur dieses sinnbetörende Weib —

Und oben bei Plantschkes hat es geläutet. Ein Herr verlangt die Brauteltern zu sprechen —

Sie kommen in den Flur. Willi erkennen sie nicht. — „Begleiten Sie mich,“ sagt er eindringlich. „Ihr Schwiegersohn ist ein Lump — Er hat als Stubenmädchen jemand in seine Wohnung mitgebracht, — jemand —! Kommen Sie — schnell! Und leise —!“

Plantschkes wirbelt der Kopf — Sie folgen dem Fremden. Und er führt sie nach unten — durch den Flur in das Herrenzimmer. Die Teppiche dämpfen jeden Schritt —

Nach dem Salon zu ist die Tür ausgehoben. Nur ein schwerer Vorhang hängt vor der Türöffnung.

Anton Plantschkes Schwips ist schnell verflogen. Er hört im Salon Stimmen —

„Trinken Sie, Herr Doktor —“ sagt eine Frauenstimme.

Frau Christine umklammert ihren Mann —

Und Willi hebt langsam den Vorhang hoch —

Da kniet der blöde Philipp, Monokel im Auge, vor Herma, und Herma, hält ihm auf dem Ballschuh das Glas Sekt hin —

Sie steht mit dem Gesicht nach den drei Lauschern; sie erkennt die drei Gestalten —

Ein Ruck — und der Sektkelch nebst Inhalt fliegt Philipp ins Gesicht —

„Entlarvt!“ sagt Herma eisig. „Ein Schuft hat sich verraten —!“

Blaßwurm ist hochgeschnellt —

Hinter ihm kreischt Frau Christine:

„Mine — unsere Mine!“

Papa Anton stürzt vor, kriegt Philipp bei der Gurgel zu packen — haut zu —

Das Monokel zersplittert auf dem Parkett. Blaßwurm ist jetzt wirklich blaß geworden —

„Lump!“ knirscht der alte Plantschke „Lump — also so einer bist Du!“

Und abermals ein Schrei — Lotte im seidenen Kimono mit aufgelöstem Haar taumelt in den Salon, stützt sich an den Türrahmen. Sie ist totenbleich —

Willi tritt vor sie hin. „Du weißt, wer ich bin —! Hast Du den an die Eltern gerichteten Brief unterschlagen?“

Anton Plantschke läßt Philipp los, breitet die Arme aus —: „Willi — Willi! Mein — mein Junge — endlich!“

Blaßwurms Hohngelächter läßt den alten Herrn herumfahren.

Philipp Hat sich in einen Sessel geworfen —

„Köstlich!“ sagt er. „Wie rührend! Eine feine Familie —! Hermachen halb Dirne, halb Weltdame; der Herr Filius ein gewesener Defraudant; und mein teures Weib bis vor neun Wochen die Geliebte des berühmten Rasselmann, von dem sie ein Kind unter dem Herzen trägt, dessen Siebenmonats-Vater ich werden sollte —! Köstlich!“

Willi Plantschte greift nach einem Stuhl will zuschlagen —

„Regen Sie sich nicht auf, werter Herr!“ grinst Philipp gelassen „Bitte — sehen Sie sich doch mal Lottchen an —!“

Lotte ist in die Knie gesunken —

„Vater — Vater — hilf mir!“ wimmert sie. „Ich — ich will ja alles gestehen —“

Der arme, alte Mann stiert Lotte an —

„Ich — ich habe — Willi weggeschickt —“ wimmert sie weiter. „Ich — ich — mußte — heiraten —! Vater — schlag‘ mich nicht!“

Willi hält den Alten zurück —

„Wir dürfen kein Aufsehen erregen,“ sagt er schnell. „Nur keine Szenen hier. Mit Blaßwurm werden wir schon einig werden. Er hat diese Ehe zu einer Scheidungsklage und zu Erpressungen ausnutzen wollen. Wir wissen alles, Herma und ich. Er wird schweigen, sonst — wandert er ins Gefängnis!“

Philipp steht auf. Ein langer Blick trifft Herma.

„Die Liebe hat selbst mich blind gemacht,“ sagt er achselzuckend. „Ich habe die Ehre, meine Herrschaften —“

Er geht hinaus —

Die Familie ist unter sich. Frau Christine liegt halb ohnmächtig auf einem der Polsterstühle, Herma hält sie umschlungen. — Lotte kniet noch immer. Papa Anton fährt sich über die Stirn — Dann meint er seufzend:

„Ein anderer Vater würde Dich vielleicht aus dem Hause jagen, Lotte — Aber — diese Nacht gab mir zwei Kinder zurück. — Das wiegt alles auf! Ich werde erst mal die Gäste wegschicken, werde sagen, daß Du, Willi plötzlich eingetroffen seiest und daß wir unter uns sein wollen —“

Er drückt seinen Jungen an sich. Ein paar Tränen rollen ihm in den grauen Bart —

Papa Anton hat vielleicht in seinem ganzen Leben keinen Augenblick gehabt, in dem er sich so groß, zeigte wie jetzt — so ganz als Vater und Mensch! —

Lotte liegt im Bett des ehelichen Schlafgemachs. Das andere Bett ist leer. Aber auf ihrem Bettrand sitzt Frau Christine und sucht die Schluchzende zu beruhigen. — Ob eine andere Mutter so gehandelt hätte?! — Die Menschen, die aus den Hinterhäusern der Müllerstraße stammen und dann reich werden, haben eins vor den anderen Reichen voraus: das verstehende Herz für die Schwächen ihrer Kinder! —

Nachts zwei Uhr ist‘s. — Herma und Willi fahren heim — heim von dieser merkwürdigen Hochzeit. Das Auto hält vor Hermas Haus in Friedenau.

„Komm‘ mit hinein,“ bittet Herma. „Du weißt, Prix erwartet uns.“

„Nein, Minchen, — erzähle Du ihm alles. Ich bin wie betäubt — Ich muß allein sein; ich muß den Gedanken allein auskosten, wieder ein Elternhaus zu besitzen —“

Die Geschwister drücken sich die Hand. Das Auto rollt weiter —

Herma betritt jetzt ihren Salon — Sie hat den Abendmantel lose um die Schultern gelegt. Die elektrische Krone brennt. — Prix kommt ihr entgegen, bleibt stehen —

Und — in seinen Augen flimmert wieder jene versteckte Zärtlichkeit, die Herma nun schon so oft beobachtet hat —

Sie reicht ihm die Hand, sagt tief aufatmend:

„Prix — es war furchtbar, anderseits auch —“

Sie schweigt plötzlich — Sie fühlt, wie seine Hand in der ihren eiskalt wird, wie es in seinen Zügen arbeitet.

„Prix, sind Sie krank?“ fragt sie besorgt.

„Ja —“ Er preßt es mühsam hervor. „Ja — liebeskrank, Herma —!“

Ihr schlägt die Röte ins Gesicht; sie senkt den Kopf —

Er hat schon ihre andere Hand ergriffen —

„Herma — willst Du mein Weib werden?“ flüstert er. „Herma — willst Du —?“

„Ja — ja —!“

Wie ein Jubelruf ist‘s — Sie liegt an seiner Brust —

Und als ihre Lippen sich finden, als Hermachens Leib ein Zittern überläuft, als er ihren Mund endlich freigibt, da stöhnt sie auf —:

„Du — Du! Du hast mich gerettet! Nun weiß ich, daß die Vergangenheit tot sein wird — als Dein Weib!“ —

Ein Jahr später —

Plantschkes, Frau Doktor Blaßwurm, das Ehepaar Prix und der Mexikaner sitzen in einer Loge des luxuriösen Marmor-Lichtspielhauses am Kurfürstendamm.

Auf dem Programm steht großgedruckt:

Erstaufführung:

Das Hermelinmäuschen mit Herma von Prix als Hauptdarstellerin, in Anwesenheit der Künstlerin.

Viele Augenpaare sind auf die Loge gerichtet. Man tuschelt allerlei —:

„Die Blonde ist ‚ihre‘ Schwester — geschieden von ihrem Manne — nach ganz kurzer Ehe — Aber ein Kind, ein Junge —“

„— der Dunkle ist der Sohn — Mexikaner — Millionär —“ —

Der Saal wird abgeblendet —

Und das Hermelinmäuschen wird ein Bombenerfolg —

Herma von Prix ist berühmt. Glücklich war sie schon — so glücklich mit ihrem verdrehten Egon, wie‘s selten zwei Menschen sein werden —