Nachdruck verboten.
Über den mit kurzem Gras bestandenen Truppenübungplatz Alrau zog an einem klaren Junimorgen eine Kompagnie Infanterie zum gefechtsmäßigen Scharfschießen nach einem der entferntliegendsten Stände dahin. Der Nachttau hing noch in einzelnen Tropfen an den Halmen, und die Sonnenstrahlen ließen diese Tropfen hie und da wie über die Erde ausgestreute Diamanten aufblitzen. Ein leiser Wind strich über die weite, von dichten Gebüschen und einzelnen Sumpfgebieten wie von helleren und dunkleren Flecken besprenkelte Grasfläche hin und trug von vorne den Schall von Artilleriefeuer als dumpfes Dröhnen herüber.
An der Spitze der Truppe ritten zwei Offiziere, rauchten ihre Morgenzigarren und machten sich zuweilen durch kurze Bemerkungen auf die vielfachen Schönheiten dieser frühen Stunde aufmerksam, die sie inmitten eines wunderbaren Landschaftsbildes verleben durften.
Hauptmann Fritz Westerholt wandte sich jetzt, bevor die Kompagnie in eine weite Mulde einbog, nochmals im Sattel um und überflog mit einem letzten Blick das Rundgemälde, in dem er in den zehn Wochen seines Hierseins jede Einzelheit, jede Schattierung der Farben so genau kennengelernt hatte.
Ganz famoses Bild, meinte der neben Westerholt reitende Kompagnieführer und blickte nun auch seinerseits rückwärts.
Fritz Westerholt antwortete nicht einmal mit einem zustimmenden Kopfnicken. Seine Gedanken waren weit – weit weg, weilten in seiner alten Garnisonstadt, wo er sein junges, blühendes Weib allein zurücklassen mußte, als er auf ärztliche Anordnung den Posten eines Zielbauoffiziers hier in Alrau in der Hoffnung übernommen hatte, der stete Aufenthalt in der frischen Luft bei leichtem, in keiner Weise anstrengendem Dienst würde ihm die heißersehnte Genesung bringen… Die Hoffnung war trügerisch gewesen. Die schwere Verletzung der Wirbelsäule, die er sich im Februar bei einem Sturz mit dem Pferde auf vereister Straße zugezogen hatte, und die ihn unausgesetzt mit schier unerträglichen Schmerzen peinigte, würde nie mehr ausheilen – das hatte ihm der alte, trotz seiner poltrigen Art so herzensgute Stabsarzt gestern nach erneuter Untersuchung möglichst schonend beizubringen gesucht. Dieser Bescheid war ihm gar nicht so überraschend gekommen. Eigentlich hatte er ihn vorausgesehen. Denn darüber konnte er sich ja keinerlei Täuschungen hingeben: Die Lähmungserscheinungen an seinen Füßen nahmen trotz aller Massage- und elektrischen Kuren von Tag zu Tag zu… Wie lange würde es noch dauern – dann war er ein Krüppel, ein hilfloser, an einen Fahrstuhl gefesselter Mann.
Und morgen sollte nun sein Weib zu kurzem Besuch hier in Alrau eintreffen, seine Magda, die ihm auf seine hoffnungsfreudigen Briefe – denn die Wahrheit, diese entsetzliche Wahrheit ihr einzugestehen, dazu fand er nicht den Mut – stets mit Zeilen wildester Sehnsucht geantwortet hatte – seine Magda, mit der er in zweijähriger Ehe wie durch ein Wunderland reinsten, nie getrübten Glückes Hand in Hand gewandert war. Und jetzt… Was würde sie jetzt vorfinden, wenn sie ihm freudig in die Arme fliegen wollte – einen siechen, verzweifelten Kranken!
Diese furchtbaren, peinvollen Gedanken hatte Westerholt in der vergangenen Nacht immer wieder und wieder durch sein müdes, von grüblerischem Sinnen abgehetztes Hirn gejagt. An die Zukunft hatte er gedacht, die wie trostlose Dämmerung ohne jeden Hoffnungsschimmer vor ihm lag. Und als der Morgen graute, da hatte dieses fieberhafte Denken ihm einen Entschluß eingegeben, bei dessen erstem blitzartigen Auftauchen er sich noch scheu, angstvoll gefragt hatte, ob es denn wirklich keinen anderen Ausweg aus diesem Höllenlabyrinth für ihn gäbe… Aber so1 sehr er auch seinen Kopf zermarterte, so sehr er auch versuchte, sich an eitle Hoffnungen zu klammern, an Hoffnungen, die dann wieder vor einer ernsten Kritik in nichts zusammensanken – das eine blieb ja wie ein nicht zu verscheuchendes Schreckgespenst bestehen: Sein Urteil war gesprochen!
Die Kompagnie war inzwischen auf der Linie der Schießstände für das gefechtsmäßige Scharfschießen angelangt. Diese unterschieden sich für das Auge eines Unkundigen jedoch durch nichts von der übrigen, mit verstreuten Büschen und Sträuchern bewachsenen Grasebene. Nur in weiter Ferne waren in regelmäßigen Zwischenräumen von etwa 300 Metern hohe Sandhügel sichtbar, die von einem kugelsicheren, eisernen Dach in Pilzform überragt wurden, und in denen sich in von Stahlplatten und Ziegelmauern geschützten Räumen die Maschinen befanden, durch die die auf langen Balken befestigten und auf Rädern laufenden Scheiben – ganze Schützenlinien Infanterie, Kavallerie, zur Attacke geordnet, und Batterien Artillerie in Feuerstellung – vorwärts bewegt werden konnten. Diese Sandhügel trugen an der Stirnseite weithin erkennbare Zahlen, mit denen die einzelnen Stände von Pilz zu Pilz, wie die Sandhügel mit dem Fachausdruck bezeichnet werden, durchnummeriert waren. Zu jedem Schießstand gehörte noch ein Signalmast, der etwa in der Mitte zwischen zwei Pilzen aufgestellt war, und auf dem als Zeichen, daß das Schießen beginnen konnte, ein großer schwarzer Ball gehißt wurde.
Als der Kompagnieführer jetzt die Gewehre zusammensetzen und die Mannschaften wegtreten ließ, verabschiedete Westerholt sich kurz, gab seinem Roß die Sporen und jagte in gestrecktem Galopp auf Pilz 2 zu. Dort angelangt sprang er vom Pferde und warf dem ihn erwartenden Unteroffizier die Zügel zu.
Martens, sagte er zu diesem, ich gehe nach Pilz eins hinüber. Nach zehn Minuten hissen Sie den Ball. Und daß mir keiner von den Bedienungsmannschaften die Deckung verläßt während des Schießens! Es sind schon häufig genug Unglücksfälle durch Unachtsamkeit vorgekommen.
Fritz Westerholt bog schnellen Schrittes links in der Richtung auf Pilz eins ab und verschwand hinter den verkrüppelten Kiefern, die sich, bald dichter, bald weiter auseinander stehend, fast bis zu dem ersten der Erdhügel hinzogen. Hier, wo er nicht beobachtet werden konnte, ging er langsamer, suchte ängstlich hinter jedem Baum Deckung und kroch schließlich auf allen Vieren vorwärts, bis er ungefähr zwei Meter hinter der Linie der für die Kompagnie als Ziel aufgestellten Kopffallscheiben angelangt war. Dort blieb er liegen, verborgen durch einige tief herabhängende Kiefernäste und dichte Heidekrautbüschel.
Die zehn Minuten waren um. Unteroffizier Martens vermutete seinen Vorgesetzten längst drüben in Pilz eins in sicherer Deckung. Der schwarze Ball flog an der Stange empor. Und wenige Minuten, später ertönten bei der dritten Kompagnie die Kommandos der Offiziere: Laden und sichern!
Die Patronenrahmen mit den blanken Nickelmantelgeschossen verschwanden knackend in den Ladeöffnungen der Gewehre, die Schlösser wurden zugeschoben, und weiter gings gegen den Feind, der da vorn vor der dünnen Kiefernreihe in enger Schützenlinie den Angriff erwartete – gegen die Kopffallscheiben, hinter denen einer, der mit dem qualvollen Dasein abgeschlossen hatte, die Erlösung erhoffte.
Fritz Westerholt lag regungslos in dem weichen Grase, dicht an den Boden geschmiegt. Er hatte den schwarzen Ball hochsteigen sehen und wußte, was nun kommen würde. Aber sein Herzschlag blieb ruhig, und keine zitternde Hand führte jetzt wieder das Glas an die Augen. Gefaßt blickte er den sich nähernden Schützen entgegen, die kaum noch 700 Meter entfernt waren – dem Tode, der ihm aus den Gewehrmündungen drohte.
Dann kams plötzlich wie ein Hagelschauer mit Sausen und Pfeifen heran: die erste Geschoßgarbe! Er schloß unwillkürlich die Augen und duckte sich tiefer; sein Herz begann zu hämmern, daß ihm das Blut in den Ohren sang. Aber gewaltsam bog er den Oberkörper wieder höher und riß die Lider auf. Vor ihm, neben ihm, überall spritzte der Sand, vermischt mit kleinen Grasstückchen, empor
Äste flogen, von Kugeln zersplittert, von den Kiefern herab. Und hie und da klappte eine der Scheiben, von einem Geschoß durchbohrt, nach hinten um, verschwand für den jetzt stetiger und mit richtigem Visier feuernden Gegner. Immer größer wurden die Lücken in der Scheibenlinie. Nur vor Fritz Westerholt standen noch nebeneinander drei der buntbemalten Brustschilder aufrecht da. Auf sie konzentrierte sich jetzt das Feuer an dieser Stelle allein. Er merkte es an den kleinen Sandkaskaden, die um ihn herum aufstiegen, an dem Summen in der Luft, das ihn schließlich wie ein Mückenschwarm umtönte.
Mit angespannten Nerven wartete er. Das Ende mußte ja kommen, mußte… Jeden Augenblick konnte der ersehnte Zufall eintreffen. Aber diese Sekunden wurden ihm zu Stunden, zu endlosen Zeiträumen. Immer schneller arbeitete sein Herz. Er fühlte die jagenden Schläge bis in den Hals hinauf, daß ihm fast der Atem verging. Und vor seinen Augen tanzten feurige Sonnen, zerstoben in einem roten Sternenregen. Verzerrte Gesichter sah er vor sich, die in nichts verschwammen und aus einer wallenden, rosigen Nebelflut noch häßlicher, noch phantastischer wiederauftauchten. Sein ganzer Körper bebte in fortwährenden Nervenzuckungen, seine Haut war feucht vor kaltem Schweiß. Und dann war er mit seiner Kraft zu Ende. In ihm schries plötzlich bei diesen Höllenqualen auf: Krieche zurück, rette dich! Denn dieses hier ist tausendfacher Tod…
Zu spät! Fritz Westerholts Körper schnellte plötzlich in die Höhe, sank aber haltlos wieder herab, schwer, mit dumpfem Dröhnen auf die Erde niederschlagend. Noch einmal griffen die weit ausgestreckten Hände krallend in den Erdboden, rissen Büschel des kurzen Grases im letzten Krampf der Muskeln heraus.
Das war Fritz Westerholts Sterben. Eine Viertelstunde später fand Unteroffizier Martens der mit Hilfe eines Gefreiten nach Beendigung des Schießens auf die Kopffallscheiben die Treffer notierte und dabei die Linie entlanggehen mußte, den Hauptmann Westerholt unter einer verkrüppelten Kiefer mit einem Kopfschuß als Leiche vor. Man nahm allgemein einen Unglücksfall an. Und nicht eine einzige Stimme wurde laut ,die die Vermutung ausgesprochen hätte, daß der begabte Offizier absichtlich hinter der Scheibenlinie den Tod gesucht haben könnte.
* * *
Ein Jahr später hatte Frau Magda Westerholt ihre Vorbereitungszeit in dem städtischen Lazarett der großen Garnisonstadt beendet. Der Leiter des Krankenhauses, der die stille, sanfte, junge Witwe, die es so überaus, ernst mit ihrer Pflicht nahm, vielleicht mehr als für einen unverheirateten Chefarzt angängig, bevorzugte – was sicherlich nicht allein ihren Leistungen galt –, sorgte dann auch für ihre Anstellung als Operationsschwester. Damit hatte Frau Magda einen Wirkungskreis gefunden, der ihr Leben vollständig ausfüllte. Und wieder nach einem halben Jahre standen an einem stürmischen Herbsttage zwei Menschen unter den rauschenden Koniferen im Garten des städtischen Lazaretts, während Windstöße das gelbe Laub wirbelnd über die Wege trieben und an stillen Stellen zu kleinen, raschelnden Bergen anhäuften.
Ihr Antrag ehrt mich sehr, Herr Professor, sagte soeben Frau Magda – nein, Schwester Magda – leise. Aber ich kann ihn nicht annehmen, kann nicht… Ohne Liebe soll kein Weib in die Ehe gehen, falls sie ihren durch die Heirat übernommenen Pflichten nicht nur äußerlich, sondern auch im Herzen gerecht werden will. Und Liebe, Herr Professor – die kann ich Ihnen nicht geben. Mein ganzes Denken ist nur der Erinnerung an meinen verstorbenen Gatten gewidmet, nur. In meiner Seele ist für nichts anderes mehr Platz! Mit herzlichem Lächeln streckt sie ihm jetzt die Hand hin. Bleiben Sie trotzdem mein Freund, Herr Professor, wie Sie es bisher waren. und damit Sie meine Weigerung verstehen, will ich Ihnen zu gleich auch als Beweis meines vollsten Vertrauens erzählen, wie mein Gatte starb, warum er starb.
Und sie sprach zuerst von ihrer Ehe, sprach zuletzt von jenem Briefe, den Fritz Westerholt am Morgen seines Todes an sie geschrieben hatte, wiederholte den Inhalt jenes Schreibens, das sie längst auswendig kannte, und in dem ihr Gatte ihr die volle Wahrheit über seine Absicht den Tod zu suchen, und über die Qualen der letzten Wochen gegeben hatte. Und als es nichts mehr von der Vergangenheit zu sagen gab, waren ihre Wangen längst feucht von den leise, unaufhaltsam rinnenden Tränen. Und wieder begann sie dann nach einer langen Pause während der sie starr vor sich hin in den herbstlichen Garten geschaut hatte: So hat mein Gatte sich geopfert, um mir die Freiheit und damit die Möglichkeit zum weiteren Genusse aller Lebensfreuden zu geben. Das Opfer war umsonst. Er hat mich zu gering eingeschätzt, mich und die Größe meiner Liebe. Wäre er am Leben geblieben – das Glück hätte unser trautes Heim nie verlassen, nie. Denn ich habe Fritz unendlich geliebt, mehr, als er je geahnt hat.
Da griff der Professor leise nach Frau Magdas Hand und drückte einen langen Kuß auf die weiße, weiche Hand. Und die beiden sind auch Freunde geblieben ihr Leben lang.
__________________________________________________________________
Anmerkungen:
In der Vorlage des Aachener Anzeiger fehlen durchgängig die Gänsefüßchen.
1 original Text, „os” = in „so” geändert