Nachdruck verboten.
Ein wunderbar lauer Maiabend wars. Wir hatten die Fenster in Karlchens großem Wartezimmer weit offen gelassen, saßen um den viereckigen Tisch unter den milden Strahlen der halbverhüllten Glühbirne und spielten das sogenannte deutsche Spießbürgerspiel: Skat. Heinz Ehlert hatte wie immer ein geradezu unanständiges Glück. Eben war von ihm abermals ein Grand mit „drei Jungens”, Schneider-Schwarz eingebracht worden.
Wenn das so weitergeht, meinte er scherzend, behaglich nach seinem Bierseidel langend, dann kann ich morgen einem Manne zur höchsten irdischen Seligkeit verhelfen – meinem Schuster, der nun schon ein ganzes Jahr auf die Bezahlung der leider inzwischen längst aufgebrauchten Lackschuhe wartet.
Inzwischen hatte ich Karten gegeben. Aber das neue Spiel sollte nicht mehr zu Ende geführt werden. Plötzlich trat Karlchens Wirtin, eine behäbige Dame in den Fünfzigern, mit wunderbar grünlich-braun gefärbten Haaren, sehr eilig ins Zimmer und rief nicht ohne Schadenfreude (sie liebte die Skatabende wegen der überall umhergestreuten Zigarrenasche nicht sonderlich): Doktor, unten steht der Wagen aus Alt-Fietz, Herr Gutsbesitzer Werner hat sich einen Nagel in den Fuß getreten. Das ganze Bein ist schon geschwollen, sagt der Kutscher.
Unser gemeinsamer Freund Dr. Karl Minkow, der erst vor einem halben Jahre seine Praxis hier in der äußersten Vorstadt der alten ostdeutschen Hansestadt begonnen hatte, zögerte keinen Augenblick. Er nahm es mit seinem Berufe stets sehr ernst.
Kinder, ihr entschuldigt mich. Ich muß fort, meinte er hastig und eilte schon ins Nebenzimmer, um die nötigen Instrumente und Medikamente zusammenzupacken.
Heinz Ehlert schüttelte bedauernd den Kopf.
Mein armer Fußbekleidungskünstler tut mir leid. Dieser Nagel des Herrn Gutsbesitzers Werner dürfte ihn um den angedeuteten seligen Augenblick der Bezahlung meiner Rechnung bringen.
Dann erhob er sich, trank stehend sein Bier aus, holte sich Hut und Paletot aus dem Flur, schaute durch das Fenster nach der nächsten elektrischen Straßenbahn aus und stürmte schon davon, um den gerade vorbeikommenden Wagen nach der Stadt noch an der nächsten Haltestelle zu erwischen. Er rief mir nur noch zu: Ich bekomme von euch im ganzen fünf Mark zwanzig. Das war ihm anscheinend die Hauptsache.
Da trat auch schon Karlchen fix und fertig wieder ein.
Eigentlich könntest du mitkommen, meinte er zerstreut und steckte sich schnell eine frische Zigarre an. Es ist ja erst zehn, und in zwei Stunden sind wir sicher wieder zurück.
Der Vorschlag ließ sich hören. Der köstliche Abend lockte. Die Wagenfahrt in der Frühlingsluft durch die stillen Felder hatte fraglos ihre Reize.
Als unser bequemes, mit zwei guten Pferden bespanntes Gefährt das holperige Pflaster der Vorstadtstraßen verließ und in die von alten Linden umsäumte Chaussee einbog, schob ich mir wie befreit aufatmend den Hut aus der Stirn.
Wunderbarer Abend, sagte ich, indem ich damit zugleich Karlchen meine Freude über diesen unerwarteten Ausflug bekunden wollte.
Ich werde fünfzehn Mark für diesen Besuch liquidieren, meinte der prosaische Freund und fügte nach einer Weile hinzu: Im vorigen Monat habe ich fast fünfhundert Mark eingenommen. Die Sache macht sich.
Da verzichtete ich auf eine Fortsetzung des Gesprächs. Mir war die Poesie dieser Mainacht doch zu lieb, als daß ich sie durch eine trockene Unterhaltung über das leidige Geldverdienen entweiht hätte.
Wir fuhren jetzt auf einem kahlen Feldweg entlang. Vor uns tanzte der Lichtschein der Wagenlaternen über die staubige Straße dahin; um uns lagen die dunklen Saaten und am Himmel stand die Sichel des Neumondes, glänzten die unzähligen Sterne wie ebenso viele geheimnisvolle, ungelöste Rätsel. Kein Laut störte den Frieden dieses nächtlichen Bildes. Nur von fern drang das Rollen eines Eisenbahnzuges und das heisere Kläffen einiger Dorfköter zu uns herüber. Dann blinkten einige Lichter auf. Die schwarzen Umrisse von Gebäuden wurden sichtbar, die Räder ratterten über Steinpflaster hin, und der schläfrige Kutscher drehte sich zu uns um: Wir sind gleich da, Herr Doktor.
Halten Sie an! befahl ich dem Manne, einer schnellen Eingebung folgend.
Ich möchte aussteigen, erklärte ich kurz. Die Nacht ist zu schön. Ich gehe hier auf und ab. Die Zeit wird mir schon nicht lang werden.
Ich war den Weg, den wir gekommen, ein ganzes Stück zurückgewandert. Meine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt. Auf einem Hügel, von dem man die Landschaft weithin überblicken konnte, blieb ich stehen. Ich wußte, etwa ein Kilometer vor mir lag die See. Und bisweilen vernahm ich von dorther auch ein leises Rauschen, als ob der Wind durch die Baumgipfel streicht. Dann blitzten in jener Richtung mit einem Male helle Lichtkegel auf, irrten in gespenstischer Helle durch die Nacht und verschwanden ebenso urplötzlich wieder. Kein Zweifel – dort draußen in der Bucht manövrierten Kriegsschiffe, von deren Scheinwerfern jene weißen Lichtstreifen herrührten.
Aufmerksam starrte ich in die Dämmerung hinein. Ich wartete auf eine Wiederholung des lautlosen Spiels der hin- und hersuchenden Scheinwerfer. Aber ich wartete umsonst.
Und da, während ich so angestrengt von meinem hohen Standorte nach dem Meere hinblickte, bemerkte ich etwas anderes, das mir unwillkürlich auffällt und bald meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.
Ein rötlich-gelber Lichtschein ists, der stets an derselben Stelle in unregelmäßigen Zwischenräumen erscheint, verschwindet, wieder auftaucht und erlischt. Gerade dieses unregelmäßige Aufblitzen gibt mir zu denken. Schon minutenlang beobachte ich die seltsame Lichtquelle, die so beharrlich in Pausen ihre Strahlen in die Dunkelheit hinausschickt. Ich schätze die Entfernung ab. Es mögen vielleicht 500 Meter bis zu jenem Orte sein, wo das Licht immer wieder sichtbar wird. Demnach muß die Stelle ziemlich dicht am Seestrande zu suchen sein. Aber dort befindet sich doch, soweit ich weiß, nirgends eine menschliche Behausung.
Das merkwürdige Licht wird mir immer interessanter. Noch immer blinkt es da vor mir auf, erlischt, erscheint wieder. Fast sieht es aus, als ob von irgend jemandem nach dem Binnenlande zu Signale gegeben werden. Und ebenso plötzlich denke ich an Schmuggler, die ja bisweilen von Rußland aus hier an der Küste Tabak in großen Ballen landen sollen.
Meine Neugier ist erwacht. Und da von Jugend an in mir ein gut Teil Abenteuterlust schlummert, schaue ich schnell mit Hilfe eines Streichhölzchens nach der Uhr.
Freund Karl kann seinen Patienten kaum eine Viertelstunde unter den Fingern haben. Mir bleibt also noch Zeit genug. Denn vor einer Stunde meinte er mit der Behandlung der anscheinend recht schweren Blutvergiftung nicht fertig zu sein. Außerdem, falls er früher aufbrechen sollte, wird er schon auf mich warten.
Ich gehe, so eilig es die Dunkelheit erlaubt, an einem Feldrain entlang dem rätselhaften Lichtschein entgegen. Aber bald versperrt mir ein breiter Wassergraben den Weg. Ärgerlich mache ich Halt und blicke mich um, ob nicht irgendwo ein Brückensteg zu entdecken ist. Schließlich bleibt mir aber nichts anderes übrig, als dem Laufe des Grabens in der Richtung auf das nahe Gut hin zu folgen. Und dann… dann ist jenes Licht unten am Strande plötzlich verschwunden. Ich stehe und warte. Meine Blicke durchsuchen die Dunkelheit, gleiten in weitem Bogen hin und her. Nichts ist zu sehen als die wenigen hellen Fenster des Gutshauses. Schon schelte ich mich einen Toren, daß ich mir so unnötig meine neuen braunen Stiefel durch die Nässe verdorben habe; schon will ich umkehren, als ich abermals ein in ungleichen Zwischenräumen auftauchendes Licht erspähe, aber dieses Mal an einer anderen Stelle; keine zwei- bis dreihundert Meter seitwärts von mir in unmittelbarer Nähe der Gutsgebäude, und zwar anscheinend mitten auf dem Felde. Verwundert starre ich auf die seltsame Erscheinung, zerbreche mir vergebens den Kopf, was dieser neue aufblitzende, rötliche Schein nur zu bedeuten haben kann. Ich finde keine Erklärung. Oder – sollte es sich hier wirklich um eine geheime Verständigung mit Schmugglern handeln, die dort am Strande ihrem gefährlichen Gewerbe nachgehen?
Meiner harren jedoch noch mehr Überraschungen. Denn jetzt sehe ich ganz deutlich, daß die Lichtzeichen hier oben vom Seegestade aus beantwortet werden. Hin und her schießen die Lichtblitze, die in stets wechselnden Intervallen aufflammen.
Inzwischen war es höchste Zeit geworden, auf den Feldweg zurückzukehren, wenn ich meinen Freund und den Wagen nicht verpassen wollte.
Karlchen wunderte sich nicht wenig, als ich ihn nachher auf dem Rücksitze des Gefährtes allein ließ und zu dem Kutscher auf den Bock kletterte.
Ich erkläre dir alles später zu Hause, sagte ich, ganz mit meinen Gedanken beschäftigt, die nur der geheimnisvollen Lichttelegraphie galten.
Dem wortkargen, alten Kutscher öffnete ich durch eine Zigarre sehr bald den Mund. Vorsichtig horchte ich ihn aus, ohne ihm jedoch auch nur mit einer Silbe zu verraten, weshalb ich ein so großes Interesse für allerhand nebensächliche Dinge hatte. Von ihm erfuhr ich, was ich wissen wollte. Mehr noch: durch seine Antworten wurde mir erst klar, daß diese nächtliche Fahrt, die für mich so harmlos begonnen hatte, sicherlich mit einem spannenden Abenteuer, wenn nicht schon heute, so doch in den nächsten Tagen, enden würde. –
Als wir wieder in Karlchens Sprechzimmer in der gemütlichen Ecke saßen, und in den mit farbigen Couleurwappen geschmückten Steinkrügen eine köstliche Blume schäumte, ließ ich mich herbei, den Freund über meine seltsame Schwärmerei für den Sitz auf dem Kutscherbock aufzuklären.
Der Alt-Fietzer Kutscher hat mir nun zweierlei erzählt, das meinem Dafürhalten nach ganz sicher mit dem Austausch der Lichtzeichen zusammenhängt. Erstens – seit zwei Wochen sind in einer dicht am Strande erbauten Holzbaracke zwanzig Sträflinge aus dem Zuchthaus Mewe untergebracht, die mit Aufforstung der Dünen beschäftigt werden. Und diese Wohnbaracke für die Zuchthäusler liegt anscheinend genau an jener Stelle, wo ich zuerst das rötlich-gelbe Licht aufblitzen sah. – Zweitens – seit ungefähr vierzehn Tagen hat der Gutsbesitzer Werner in Alt-Fietz einen neuen Arbeiter eingestellt, der auffallenderweise mit dem geringsten Lohn zufrieden sein wollte, nur um überhaupt ein schnelles Unterkommen zu finden. Bei der heutigen Leutennot auf dem Lande ist eine derartige Bescheidenheit eine merkwürdige Sache, die unwillkürlich Argwohn hervorrufen muß, wenigstens, wenn man all die mir bekannten Nebenumstände in Betracht zieht. Der Mensch wollte eben auf jeden Fall gerade in Alt-Fietz beschäftigt werden, wo er den Zuchthäuslern nahe ist und auch eine Gelegenheit auskundschaften kann, sich mit ihnen irgendwie in Verbindung zu setzen. Und diese Verbindung ist, das steht für mich jetzt schon fest, bereits hergestellt – durch jene Lichtsignale, deren Zweck einzig und allein nur der sein kann, mit einem oder mehreren von den Sträflingen alles Nötige zu einem… Fluchtversuch zu vereinbaren, der mit Hilfe von außen sich sehr gut bewerkstelligen ließe.
Aber meine Worte riefen bei meinem Freunde nur ein ungläubiges Kopfschütteln hervor.
Deine Kombinationsgabe in Ehren, meinte er mit leiser Ironie. Ein Schriftsteller ohne Phantasie wäre ja auch wie ein Soldat ohne Waffen. Doch in diesem Falle läßt dich deine Sucht, einen neuen Stoff für eine spannende Erzählung zu finden, fraglos über das Ziel hinausschießen.
Bitte, dann gib mir doch eine andere Erklärung für diesen nächtlichen Zeichenaustausch, sagte ich etwas verletzt. –
Karlchen zuckte nur die Achsel.
Du weißt, ich zerbreche mir unnötig nie den Kopf. In Dinge, die einen nichts angehen, vorwitzig sein Näschen zu stecken, überlasse ich anderen, die das Zeug zu einem Privatdetektiv zu besitzen glauben.
Dieser deutliche Hieb ließ mich kalt. Nur eines bewirkte des Freundes ironische Äußerung: Jetzt wollte ich alles daransetzen, um ihm beweisen zu können, daß ich mit meinen Vermutungen über jene Lichttelegraphie doch recht gehabt hatte. Ich lenkte das Gespräch schnell auf ein anderes Thema über und brach eine Viertelstunde später nach meiner nahegelegenen Wohnung auf. In meinem gemütlichen Junggesellenheim angelangt steckte ich mir noch eine Zigarette an, setzte mich in den Klubsessel und entwarf einen vollständigen Feldzugsplan. Es war fast zwei Uhr, als ich dann endlich zu Bett ging. –
* *
*
Am nächsten Vormittag nahm ich programmäßig das Gelände in der nächsten Umgebung des Gutes Alt-Fietz und die einsame Sträflingsbaracke am Seestrande auf einem Spaziergang in Augenschein. Dabei suchte ich auch meinen Standort an dem Graben von der vergangenen Nacht wieder auf und stellte dabei fest, daß die Lichtsignale, die ich am Strande beobachtet hatte, sehr wohl von dem niedrigen Wohnhause der Zuchthäusler aus, dessen Fenster nach der Landseite zu lagen, gegeben worden sein konnten. Ebenso entdeckte ich etwa hundert Meter von den Gutsgebäuden entfernt auf dem Felde ungefähr an der Stelle, wo sich die zweite Lichtquelle befunden haben mußte, einen jener gemauerten Backöfen, wie man sie häufig auf ländlichen Besitzungen antrifft. Und die eiserne, unverschlossene Tür dieses Ofens war gerade nach der See zu gerichtet. Dieser Umstand bestärkte mich noch in der Annahme, daß der Backofen dem Manne, der sich hier mit einer Lampe oder Laterne zu schaffen gemacht hatte, als Rückendeckung gedient hatte.
Soweit konnte ich mit den Erfolgen meiner Nachforschungen zufrieden sein. Aber leider sollten die Enttäuschungen bald nachkommen.
Die nächsten beiden Nächte lag ich unweit des Gutes auf der Lauer. Doch so sehr ich auch meine Augen anstrengte, ich bemerkte nichts Auffälliges. Da entschloß ich mich am dritten Tage, schon ziemlich entmutigt, zu einer Änderung meiner Taktik. Ich ließ mich am frühen Vormittag bei Herrn Werner, dem Besitzer von Alt-Fietz, melden, um mir in ihm einen Bundesgenossen zu sichern. Sein Zustand hatte sich bereits bedeutend gebessert, und mit größtem Interesse hörte er meine Ausführungen an. Aber dieses Interesse war nichts als Höflichkeit bei ihm, wie ich sehr bald sah. Denn als ich meine Erklärungen beendet hatte, sagte er im Tone aufrichtigen Bedauerns:
Da haben Sie leider unnötig zwei Nächte außerhalb Ihres Bettes zugebracht. Der von Ihnen so schwer beargwöhnte Tagelöhner Friedrich Seiler dessen Papiere nebenbei tadellos in Ordnung sind, hat mir nämlich gestern bereits gekündigt und wird meine Besitzung heute mittag verlassen, wie er soeben nochmals erwähnte, als ich ihm seinen Lohn auszahlte. Er will jetzt in seine Heimatstadt Berent zu seinen alten Eltern zurückkehren, nachdem er sich hier das notwendige Eisenbahngeld zusammengespart hat.
Diese Nachricht bedeutete für mich einen harten Schlag. Sollte denn Freund Karlchen wirklich recht behalten, daß ich nichts war als ein phantastischer Kopf, der unnütz seine Zeit mit Detektivspielen vertrödelte!
Würden Sie mir vielleicht einen Gefallen tun, Herr Werner?
Aber gewiß – sehr gern!
Als ich ihm nun meine Bitte vortrug, war er sofort bereit, in allen Einzelheiten sich genau nach meinen Wünschen zu richten. Alles kam darauf an, den Mann nicht etwa mißtrauisch zu machen. – Ungesäumt ließ er den Tagelöhner nochmals zu sich rufen. Ich stellte mich hinter einen Vorhang, der vor einer als Bücherschrank benutzten Wandnische hing. Von diesem Versteck aus konnte ich bequem das ganze Zimmer überblicken.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis Seiler erschien. Prüfenden Blickes überflog ich seine Gestalt. Mit seiner kräftigen, untersetzten Figur, dem roten, gesunden Gesicht und dem blonden, struppigen Bart bot er eine ganz alltägliche Erscheinung. Er war, seinen schmierigen Filzhut in den verarbeiteten Fäusten haltend, neben der Tür stehen geblieben und schaute höchst gleichgültig drein.
Seiler, begann der Gutsbesitzer jetzt unserer Verabredung gemäß strengen Tones. Sie sollen sich da letztens abends mit einer Lampe in der Nähe des Backofens herumgetrieben haben. Stimmt das?
Bei dieser Frage ging es wie ein plötzlicher Ruck durch den Körper des Arbeiters. Und deutlich bemerkte ich auch, daß er für einen Augenblick die Farbe wechselte. Aber ebenso schnell faßte er sich wieder.
Ja, Herr, ich war mit dem Licht bei dem Backofen, erwiderte er langsam. Ich hatte mein Messer verloren und wollte es suchen, hab’s aber nicht gefunden. Schade!
Dann schaute er den Gutsbesitzer mit einem derart prüfenden, lauernden Blick an, als ob er ängstlich die Wirkung seiner Worte von dessen Gesicht ablesen wollte.
Diese Antwort verwandelte meine Hoffnungslosigkeit schnell wieder in freudigen, siegesfrohen Eifer. Gewiß – der verschlagene Halunke war recht schlau vorgegangen, als er vorsichtigerweise auf jedes Ableugnen verzichtete. Er dachte eben, man würde ihm nichts weiter anhaben können, wenn er diese Ausrede von dem verlorenen Messer vorbrachte.
Werner hatte sich jetzt auf seinem Divan, auf dem er mit seinem von Kissen gestützten kranken Bein ruhte, wie in heftiger Erregung aufgerichtet.
Habe ich Ihnen nicht beim Dienstantritt gesagt, rief er scheinbar höchst ergrimmt, daß auf meinem Gute nach neun Uhr niemand von den Leuten mehr mit Licht zu hantieren hat, weder in den Gebäuden, noch in deren Umgebung? Gut, daß Sie schon gekündigt haben. Sonst hätte ich Sie dafür sofort an die frische Luft gesetzt! Raus – ich will Sie nicht länger sehen! Die Kerle pflanzen einem mit ihrer Unvorsichtigkeit wirklich noch den roten Hahn auf’s Dach!
Als wir wieder allein waren, konnte ich nicht umhin, dem Gutsbesitzer für die Durchführung seiner Rolle meine Anerkennung auszusprechen. Dann fragte ich triumphierend:
Na, halten Sie den Seiler noch immer für so harmlos?
Keine Idee! Jetzt, wo er selbst zugegeben hat, mit einer Lampe dort bei dem Backofen gewesen zu sein, erscheinen mir Ihre Beobachtungen sehr wertvoll. Irgend etwas steckt hinter dieser Sache. Aber was? Das dürfte nicht so ganz leicht aufzudecken sein.
Vielleicht doch. Jedenfalls habe ich die Absicht, Seiler vorläufig nicht aus den Augen zu lassen. Ich muß wissen, wo er bleibt, und was er an seinem neuen Aufenthaltsort unternimmt. Sie aber, Herr Werner, sind wohl so liebenswürdig und weihen nachher Ihren Inspektor in alles ein. Der mag dann noch heute im Laufe des Tages nach der Sträflingsbaracke gehen und die dort stationierten Aufseher warnen. Es ist ja möglich, daß die Zuchthäusler schon in nächster Zeit, vielleicht schon in der kommenden Nacht, einen Fluchtversuch wagen wollen. Denn, wie gesagt – es kann sich hier nur um einen solchen handeln, das ist meine feste Überzeugung.
Nach einer halben Stunde verließ Friedrich Seiler mit einem großen Bündel auf dem Rücken den Gutshof und schlug den Weg nach der Stadt ein. Auf Nebenpfaden, quer durch die Felder schleichend, folgte ich ihm, ohne daß er meiner gewahr wurde. In der Vorstadt stieg ich mit ihm dann auch in dieselbe elektrische Straßenbahn, die ich, wie ein Schatten hinter ihm bleibend, am Hauptbahnhof wieder verließ. Er kaufte sich tatsächlich ein Billett nach der westpreußischen Kreisstadt Berent und bestellte sich dann im Wartesaal ein einfaches Mittagessen, da er von dem Schalterbeamten erfahren hatte, daß ihm bis zur Abfahrt seines Zuges noch zwei volle Stunden blieben. Ich saß wenige Schritte von ihm entfernt am Nebentisch und ließ mir ebenfalls einen reichlichen Imbiß servieren, nachdem ich einen Dienstmann mit einem Briefchen an meine Wirtin abgeschickt hatte, der mir meinen Reisemantel, meine Handtasche mit etwas Wäsche und den in der Schublade des Nachttischchens liegenden Revolver herbringen sollte. –
Gegen fünf Uhr nachmittags trafen wir auf dem Berenter Bahnhof ein. Seiler hatte keine Ahnung, daß ich hinter ihm her war. Ich merkte auch an seinem ganzen Verhalten, daß er sich vollkommen sicher fühlte. Trotzdem hatte ich auf den Zwischenstationen genau aufgepaßt, ob er nicht etwa plötzlich die Weiterfahrt aufgab.
Seiler begab sich geradeswegs in die Stadt, wo er zu meinem nicht geringen Erstaunen in einem Eisenladen einen Spaten mit einem kurzen Stiel kaufte. Dann schulterte er wieder sein Bündel und ging beschleunigten Schrittes die zum Bahnhof führende Straße zurück. Es war durchaus nicht leicht, hier in der wenig belebten Kleinstadt unbemerkt die Verfolgung fortzusetzen. Ich mußte allerhand Listen anwenden, um ihm möglichst dicht auf den Fersen bleiben zu können.
Ich hatte anfänglich gedacht, Seiler würde zum Bahnhof zurückkehren und vielleicht mit dem nächsten Zuge Berent wieder verlassen. Auffallenderweise bog er jedoch plötzlich auf die Chaussee ab, die nach dem an der Straßenkreuzung angebrachten Wegweiser nach dem Turmberg führte. Die Sache wurde mir immer rätselhafter, die Verfolgung leider auch immer schwieriger. Zur Vorsicht zog ich jetzt meinen Mantel aus und hing ihn um die Schultern. So hoffte ich wenigstens für einen flüchtigen Beobachter mein Äußeres leidlich verändert zu haben.
Eine gute halbe Stunde war inzwischen vergangen. Noch immer schritten wir beide die Chaussee entlang. Seiler mitten auf dem Fahrwege, ich etwa zweihundert Meter dahinter, außerhalb der linken Baumreihe, wo ich einigermaßen durch die dicken Lindenstämme gedeckt war. Dann bemerkte ich zur Rechten die blinkenden Wasser eines großen Landsees, dessen westliches Ufer eine langgestreckte, mit einigen niedrigen Kiefern bedeckte Halbinsel bildete.
Ich hatte in den letzten Minuten auf Seiler weniger scharf acht gegeben, da das von der untergehenden Sonne mit rötlichem Schein übergossene Landschaftsbild meine Sinne völlig gefangen nahm. Zu meinem nicht geringen Schrecken bemerkte ich jetzt, daß der einsame Wanderer verschwunden war. Ungesäumt setzte ich mich in Trab, um ihn schleunigst wieder zu Gesicht zu bekommen. Ich hatte Glück. Noch im letzten Augenblick erspähte ich ihn, wie er gerade in einem Birkengehölz verschwand, das sich bis zum Ufer des Sees hinzog.
Nach einer weiteren knappen Viertelstunde, in der ich mich stets möglichst dicht in seiner Nähe hielt, oft von Baum zu Baum springend, oft lang ausgestreckt im Schutze von Heidekrautbüschen auf dem Boden hinkriechend, konnte ich erleichtert nach dieser überaus anstrengenden Jagd aufatmen. Seiler hatte nämlich die erwähnte schmale, sandige Halbinsel betreten, wo er jetzt, die Augen auf den Boden gerichtet, langsam auf und ab ging. Ich lag gut verborgen keine siebzig Meter davon hinter einem Hügel am Ufer und verfolgte mit wachsender Verwunderung das seltsame Gebahren des Mannes, der anscheinend immer ungeduldiger umherlief und sicherlich eine bestimmte Stelle zwischen den weitläufig stehenden, verkrüppelten Kiefern suchte. Plötzlich warf er sein Bündel zur Erde, schaute sich erst noch vorsichtig um und begann dann mit dem Spaten eifrig die Erde aufzuwühlen. Schon nach kurzer Zeit sah ich, wie er aus dem ausgeworfenen Loche einen dunklen, ziemlich großen Gegenstand hervorzog, den er hastig in sein Bündel verbarg.
Die Dunkelheit war schon völlig hereingebrochen, als wir – stets in der alten Reihenfolge – wieder auf dem Berenter Bahnhof eintrafen. Offen gestanden – ich konnte mit mir nicht darüber ins Reine kommen, was ich nunmehr tun sollte. Seiler hatte sich eine Fahrkarte nach Dirschau gelöst und wollte offenbar mit dem letzten Zuge abfahren. Jetzt saß er im Wartesaal und stärkte sich an einem Glase Bier und einer Schinkenstulle, während ich unschlüssig draußen vor den Fenstern auf und ab patrouillierte. Da sah ich vor mir im Lichte der Laternen Uniformknöpfe und einen Helm aufblinken. Es war ein Gendarm, der in gemütlichem Gespräch mit einem Herrn in Zivil daherkam. Kurz entschlossen sprach ich ihn an.
Wenige Minuten später standen wir vor dem uns ganz entgeistert anstarrenden Seiler, der eben mit größter Behaglichkeit das letzte Stück des Schinkenbrotes verzehren wollte.
Was haben Sie denn da vor einer Stunde auf der Halbinsel im Stensitzer See ausgebuddelt? meinte der Gendarm streng.
Seiler brachte kein Wort heraus. Leichenblaß lehnte er völlig gebrochen in seinem Stuhl, ohne auch nur ein Glied rühren zu können. Und ebenso widerstandslos ließ er sich nachher in das Berenter Gerichtsgefängnis abführen.
Am nächsten Abend klingelte ich bei Freund Minkow an. Er war zu Hause, und gleich nach der ersten Begrüßung spielte ich ganz unvermittelt meinen Trumpf aus.
Denke dir, Karlchen, ich habe nun wirklich mit meiner von dir so arg verhöhnten Privatdetektivtätigkeit bare eintausend Mark verdient.
Blech! Wenn du nichts Gescheiteres zusammenzuschwindeln weißt, so schweige dich lieber vollständig aus, meinte er, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Er schrieb gerade für einige zahlungsunlustige Patienten Mahnbriefe, was seine leicht gereizte Stimmung verständlich erscheinen ließ.
Kein Blech! sagte ich in ebenso gleichmütigem Tone. Du kannst ruhig sitzen bleiben und deine hoffentlich nicht ganz erfolglosen Geldbeitreibungsversuche fortsetzen. Inzwischen erzähle ich dir eine hochinteressante Kriminalgeschichte, bei der ich die Hauptrolle zu spielen die große Ehre und das nicht minder große Vergnügen habe. – Also:
Vor zwei Jahren wurde in dem unfern der Kreisstadt Berent gelegenen Schlosse Stensitz, das dem Grafen von Stensitz und Herfeld gehört, in einer Novembernacht ein Einbruchsdiebstahl verübt. Die Diebe, zwei frühere Bediente des Grafen, namens Kaminski und Hartung, hatten es auf die Beraubung des in dem Arbeitszimmer des Schloßherrn stehenden, in seiner Konstruktion recht veralteten Geldschranks abgesehen, der, wie den Gaunern von früher her bekannt war, zu bestimmten Zeiten recht ansehnliche Summen Bargeld nebst vielen Pretiosen – altertümlichen Brillantringen und Diamantbroschen – barg. Es gelang den Einbrechern, das eiserne Geldspind gewaltsam zu öffnen und völlig auszurauben. Auf dem Rückzuge wurden sie jedoch von den beiden Inspektoren des Grafen, die gerade zu Pferde von einem Besuch in der Nachbarschaft heimkehrten, bemerkt und mit Hilfe der Jagdmeute, die man sofort auf ihre Spuren gehetzt hatte, stundenlang verfolgt und schließlich auch eingefangen. Leider aber blieb der wertvolle Raub – zwölftausend Mark in Banknoten und Gold und etwa achtzehntausend Mark in Kleinodien –, den die Verbrecher in eine Tischdecke eingebunden und mitgenommen hatten, trotz der eifrigsten Nachforschungen, die noch in derselben Nacht bei Fackellicht angestellt, leider aber durch einen alle Fährten verwischenden Platzregen sehr erschwert wurden, spurlos verschwunden. Man hatte die beiden Gefangenen bis zu ihrer Überführung in das Berenter Gerichtsgefängnis klugerweise getrennt untergebracht, um jede Verständigung zwischen ihnen zu verhindern. Die spätere Behauptung Kaminskis, er habe das schwere Bündel auf der Flucht weggeworfen, fand insofern eine Bestätigung, als Hartung behauptete, er wisse nichts von dem Verbleib des Raubes, da sein Genosse die Beute getragen habe. – Die beiden wurden dann, da ihr Vorstrafkonto schon recht erheblich belastet war, zu langjährigem Zuchthaus verurteilt. Hartung glückte es jedoch, auf dem Transport nach dem Zuchthause durch einen tollkühnen Sprung aus dem Eisenbahnzuge zu entfliehen und sich auch fernerhin dem Arme der strafenden Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Hartung nun ist derselbe Mann, der sich vor ungefähr zwei Wochen als Tagelöhner unter dem Namen Friedrich Seiler und mit weiß Gott wo gestohlenen Ausweispapieren bei dem Gutsbesitzer Werner in Alt-Fietz verdingte, ist weiter derselbe, den ich sofort im Verdacht hatte, mit den Sträflingen dort in der Baracke am Strande heimlich in der Nacht Lichtsignale ausgetauscht zu haben, und den ich nun deshalb so hartnäckig verfolgte, bis ich ihn eben gestern abend auf dem Berenter Bahnhof festnehmenlassen lassen konnte. Der Mann ist nun nach anfänglichem Leugnen vernünftig gewesen, ein umfassendes Geständnis abzulegen.
Bei der Flucht aus dem Stensitzer Schlosse hatte, wie Hartung aussagte, Kaminski das Bündel getragen. Um die Verfolgung zu erschweren, trennten sich die beiden Einbrecher sehr bald. Hartung, der auf eine an der Landstraße stehende Pappel geklettert war, wurde jedoch schon nach kurzer Zeit entdeckt und festgenommen. Dagegen wußte sich Kaminski fast eine Stunde lang den Häschern zu entziehen. Dann ereilte auch ihn das Schicksal. Hartung ist nun stets davon überzeugt gewesen, daß sein Genosse den angeblich verloren gegangenen Raub in dieser einen Stunde irgendwo verscharrt haben müsse. Sein ganzes Streben war daher einzig und allein darauf gerichtet, sich mit dem noch im Zuchthause befindlichen Kaminski in Verbindung zu setzen, um von ihm den Ort zu erfahren, wo der Schatz verborgen war. Aber Jahre vergingen, ohne daß sich ihm hierzu auch nur die geringste Möglichkeit bot. Da erfuhr er Ende April dieses Jahres von einem eben entlassenen Zuchthäusler, daß Kaminski mit zu den Sträflingen gehörte, die zur Aufforstung der Dünen in der Nähe des Gutes Alt-Fietz verwendet und dort in einer Baracke untergebracht werden sollten. Hartung trat nun bei dem Gutsbesitzer Werner in Dienst und paßte auch bald eine gute Gelegenheit ab, wo er sich dem früheren Genossen, während dieser mit den anderen Zuchthäuslern in den Dünen bei der Arbeit war zu erkennen geben konnte. Ein verstohlenes Augenblinzeln im Vorübergehen genügte hierzu. Nach einigen Tagen gelang es Hartung dann auch, als er zwei Pferde zur See hinab zur Schwemme führte, Kaminski ganz unauffällig ein Zettelchen in die Hände zu spielen, auf dem nur die ungefährlichen Worte standen: „Elf durch Fenster auf Licht achtgeben.” – Er hatte nämlich durch vorsichtiges Nachforschen herausbekommen, daß die Sträflinge von neun Uhr abends an in dem durch eine niedrig brennende Lampe mäßig erhellten Schlafraum der Baracke, dessen zwar vergitterte Fenster nach der Landseite lagen, eingeschlossen wurden, die gut bewaffneten Aufseher aber nebenbei in einer besonderen Stube schliefen. Weiter auch, daß das mit einem hohen, dichten Stacheldrahtzaun umgebene Holzgebäude von mehreren, auf den Mann dressierten großen Hunde bewacht wurde, die jede Annäherung unmöglich machten. Da es Hartung nun zu gewagt schien, weitere Mitteilungen durch Zettel, die nur zu gewagt schien, weitere Mitteilungen durch Zettel, die nur zu leicht durch einen Zufall in unrechte Hände geraten und dann nicht nur alles verderben, sondern auch seine eigene Person der Gefahr des Wiederergriffenwerdens aussetzen konnten, an Kaminski gelangen zu lassen, hatte er einen anderen, äußerst raffinierten Plan zurechtgelegt, um dem eingeschlossenen Genossen trotz der strengen Überwachungsmaßregeln dennoch die notwendigen Nachrichten zu geben. Und dieser Plan glückte auch. Am Abend desselben Tages, als der Zuchthäusler, den er im Besitz eines so wertvollen Geheimnisses glaubte, das eng zusammengefaltete Papier mit den wenigen Worten darauf in einem günstigen Augenblick vom Erdboden aufgehoben hatte, schlich Hartung sich mit einer Küchenlampe, die er sich heimlich besorgt hatte, nach dem Backofen hinter der Scheune, dessen erhöhte Lage für seine Zwecke besonders geeignet war. Er öffnete die Tür des Ofens, kroch hinein, zündete die mit einem blanken Blechscheinwerfer versehene Lampe an und begann nun in der Richtung nach der etwa einen halben Kilometer entfernten Baracke hin zu signalisieren, indem er die einzelnen Buchstaben des Alphabets je nach ihrer Stellung in der Reihenfolge der übrigen durch ebenso viele kurze Lichtblitze durch Hoch- und Niedrigschrauben des Dochtes darstellte. Bekanntlich verständigen sich auch in Strafanstalten zwei benachbarte Zellengenossen auf eine ähnliche Art, wobei sie die einzelnen Buchstaben durch Klopfen an der Wand wiedergeben und so tatsächlich lange Gespräche führen können.
Kaminski, der den Inhalt des Zettels, wie ja sein ferneres Verhalten bewies, richtig verstanden hatte, erwiderte sehr bald mit der ihm leicht zugänglichen Lampe des Schlafraumes den Anruf. In den Nächten darauf erfolgte nun eine eifrige, aber ebenso mit größter Vorsicht geführte Aussprache hinüber und herüber. Hartung war schlau genug, dem anderen mitzuteilen, er würde, falls Kaminski ihm den Ort verriete, wo der Raub verborgen war, nicht nur alles zur baldigen Befreiung des Zuchthäuslers tun, sondern auch dessen in größter Not zurückgebliebene Familie unterstützen und ebenso die Hälfte der Beute unangetastet lassen. Nur durch diese feierlichen Versprechungen ließ der Sträfling sich bewegen, sein Geheimnis preiszugeben. – Er war während der kopflosen Flucht, die Verfolger dicht auf den Fersen, blindlings vorwärtsgestürmt und so auf die schmale Halbinsel des Stensitzer Sees geraten, der sich unweit vom gräflichen Schloß im weiten Bogen von Osten nach Norden hinzieht. Auf dieser Halbinsel trat er plötzlich mit dem Fuß in ein Loch, stolperte und stürzte zur Erde. Aber dieser schwere Fall, von dem er sich erst nach einigen Minuten erholte, gab ihm auch blitzschnell den Gedanken ein, in demselben Loche das ihm nur hinderliche Bündel zu verscharren. Die lockere Erde bedeckte er dann in der Hast mit einigen Steinen und trockenen Zweigen. Da er sich jedoch auf der kahlen, nur mit spärlichem Baumwuchs bestandenen Landzunge nicht sicher genug fühlte, beging er die große Unüberlegtheit, seine Flucht querfeldein fortzusetzen. Hierbei wurde er von den umherstreichenden Hunden gewittert, gestellt und bald darauf von den Leuten des Schloßherrn ergriffen.
Nachdem Hartung auf diese Weise durch die Lichtsignale erfahren hatte, wo die Beute zu suchen war – nebenbei geschah dies gerade damals, als ich die seltsamen Lichtblitze bei Gelegenheit unserer nächtlichen Fahrt bemerkte –, blieb er, um ja keinen Verdacht zu erregen, noch zwei Tage in Alt-Fietz und gedachte dann den Schatz zu heben, wurde dabei jedoch von mir beobachtet und, wie ich schon erwähnte, später verhaftet. – Ganz interessanter Kriminalfall, den ich da miterlebt habe, nicht war? fügte ich etwas selbstbewußt hinzu.
Freund Karlchen, der längst seine Feder beiseite gelegt und mir mit wachsender Spannung gefolgt war, bewies jetzt wieder, daß der edle Mammon in seiner Gedankenwelt eine unleidlich wichtige Rolle spielte. Denn seine nächste Frage war:
Aber die eintausend Mark, von denen du vorhin sprachst, wie steht’s eigentlich damit?
Es ist die Belohnung, die Graf von Stenitz für die Herbeischaffung des Raubes ausgesetzt hatte. Sie dürfte mir schon in den nächsten Tagen zugestellt werden. Allerdings werde ich zwei Hunderter davon sofort für wohltätige Zwecke opfern – für die Familie des Zuchthäuslers Kaminski, die tatsächlich in größtem Elend leben soll.
– Ende. –
Anmerkung:
In der Vorlage des Aachener Anzeiger fehlen durchgängig die Gänsefüßchen.