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Der grüne Brunnen

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 350

Der grüne Brunnen.

Roman von

W. v. Neuhof.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1919 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

1. Kapitel

Mainachtzauber: Mondenschein, rauschende Bäume, wispernde Gräser, laue Luft, kräftige Erdgerüche – – über alldem das geheimnisvolle Sehnen des Frühlings wie ein zarter, nur mit den feinsten Sinnen zu vernehmender Duft –

Das langgestreckte, weinumrankte Haus mit dem altväterlichen, moosbedeckten Strohdach träumte im Schatten von zwei uralten Linden, deren breitausgeladenes Astgewirr sich über dem niedrigen Schornstein vereinigte und im Nachtwinde wie ein Riesenfächer hin und her schwang.

Vor dem Hause etwas wie ein verwahrloster Hof, umgeben von einem verwitterten Bretterzaun; ein klappriger Ackerwagen sehnte sich neben einem verrosteten Pfluge und einer unbrauchbar gewordenen Egge nach ehrlicher Arbeit. Packan, der Hofhund, lag links daneben an langer dünner Kette vor seiner Hütte, deren Spitzdach helle Flecken aufwies – dort, wo Wind und Regen die schwarze Pappe gelockert und zerfetzt hatten. Packan schlief, winselte leise, träumte ebenfalls. – Wo–von? – Wer das sagen könnte – Hundeträume bleiben stets ein Geheimnis.

Dann hob er den gelben Kopf mit dem weißen Stirnfleck, spitzte die Ohren, schaute geradeaus auf den grünen Brunnen –

Das Brunnendach hatte eine Einfassung von starken Balken, auf der ein Deckel lag; die Hälfte davon war aufklappbar. Darüber schwebte der Eimer unter dem langen, beweglichen Balken an einer festen Kette hängend –

Dicke grüne Moospolster und grünlicher Schimmel überzogen die Brunneneinfassung, den Deckel, den Balken. Im Sonnenlicht sah’s von weitem aus wie ein grüner Farbenanstrich. Und war doch nur ein Werk der Natur, die alles so gleichmäßig mit einer Pflanzenpatina versehen hatte.

Packan richtete sich auf, schüttelte sich, zeigte im Mondenschein seine verpfuschte Gestalt. Er war ein wandelndes Preisrätsel. Wie viele Hundearten er mit diesen oder jenen Merkmalen in sich vereinigte, würde niemand ergründen. Aber er war stark trotz seiner Mittelgröße, wachsam trotz des schläfrigen Wesens und treu wie alle seiner Gattung, sehr treu, auch dankbar, obwohl er hierzu nicht viel Veranlassung hatte.

Seine großen Augen waren jetzt auf den grünen Brunnen gerichtet.

Das, was dort vorging, war ihm nichts Neues mehr. Aber er gab trotzdem auf alles acht. Es konnte ja sein, daß eines Nachts dem grünen Brunnen auch fremde Gestalten entstiegen. Dann würde er Lärm schlagen. Nur dann –

Jetzt blieb er still; saß da, wedelte mit der buschigen Rute, die an würdige Bernhardiner erinnerte –

Aber die drei Männer beachteten ihn nicht; standen da im Zauber der Mainacht mitten auf dem Hof und flüsterten eifrig, gingen dann auseinander; zwei durch die Zaunpforte hinaus auf den zerfahrenen ungepflegten Landweg; der dritte ins weinumrankte Haus.

Packan legte sich wieder lang auf den Boden, seine Kette klirrte leise; wieder träumte er –

Alles still ringsum. Nur die Linden raunten und flüsterten, und in der Ferne brandete wie ein stetiges Rauschen weiter Wälder das Meer.

Der Frühling zog über das nächtliche Land; weckte neues Leben überall, weckte das Sehnen. –

Am Giebelfenster des langgestreckten Hauses stand ein Mädchen. Das dunkelblonde, reiche Haar lag, zur Nacht aufgesteckt, in losen Zöpfen um den Kopf. Der leichte, seidene Morgenrock gab den Hals frei. Das Licht des Vollmondes beschien ein Gesicht von eigenartigem Reiz. Eines jener Gesichter war’s, die auffielen, die man nicht vergaß. Selbst ein Menschenkenner würde in diesem Antlitz umsonst zu lesen versuchen. Es war wie ein Buch mit einem feinen Schloß, mit einem Deckel, auf dem zwischen schönen Arabesken nur ein Fragezeichen zu sehen war.

Der junge Doktor aus dem nahen Seebade Branken hatte Astrid Melcher am Stammtisch unlängst die kalte Sphinx genannt. Der Kurdirektor von Merx hatte ihm beigepflichtet. Und der Gemeindevorsteher und Bürgermeister Adameit1 hatte den philosophisch angehauchten Arzt gefragt: „Weshalb – kalte Sphinx?“ –

Da hatte der Doktor gutmütig gelächelt und dem früheren Königsberger Magistratssekretär erwidert: „Die Sphinx ist das verkörperte Rätsel. Lesen Sie mal darüber im Lexikon nach.“

Jetzt stand die kalte Sphinx am Fenster, hatte mit den Händen die Vorhänge auseinander geschlagen und starrte regungslos ins Weite – hinweg über die frischgrünen Felder, die dunklen Gebüschstreifen und die fernen Häuser des Dörfchens Palmnicken.

Um den Mund lagerte ein Lächeln voller Sehnsucht und Erwartung. Die Augen, groß und braun, waren wie verschleiert.

‚Ob er kommen wird?‘ dachte Astrid; eine Frage, die sie seit Tagen beschäftigte und der sie in Gedanken stets hinzufügte: ‚Und wenn er kommt – was wird dann werden, – was – was?‘ Den Abschluß bildete ein Seufzer, der sich aus der Brust verstohlen losrang und nie über die Lippen durfte. Das würde zu Astrid Melchers ganzem Wesen nicht gepaßt haben. – Seufzer?! Das war Schwäche, mangelnde Selbstbeherrschung. Und solches wollte die kalte Sphinx nicht kennen.

‚Ob er kommen wird?‘ – Drei Wochen ist’s jetzt her, daß er’s versprach. ‚Ende Mai, Anfang Juni kann’s werden,‘ hatte er ihr zugeraunt unter all den vielen Menschen, in der strahlenden Lichtfülle des prunkvollen Raumes, an dem kleinen Marmortische. Und die Musik oben auf der Galerie hatte dazu einen weichen, schmeichelnden Walzer gespielt.

Das war in Berlin, im Tauentzien Cafee gewesen. Und all das lag bereits fast wie endlose Jahre zurück. Und blieb doch so unheimlich lebendig in Astrids Erinnerung. Lebendiger als vieles, was weniger verhängnisvoll werden konnte.

 

 

2. Kapitel

Der Tag begann schlecht.

Sie standen sich wieder einmal wie Feinde gegenüber. In Marga Holcks grauen, sonst so kühlen Augen flackerte es wie aufkeimender Haß.

Zwischen ihnen war der zierlich gedeckte Frühstückstisch als trennende Schranke. Die Spiegeleier wurden kalt; der Tee in der Nickelkanne ebenso.

„Alles entschuldigst du stets mit deinem Künstlertum,“ lachte sie ironisch auf. „Mit dem Rechte des Künstlers auf persönliche Freiheit! Mag sein, daß ihr sie braucht, daß das ‚Ausleben‘ unverzichtbar ist für jeden, der großes schaffen will und kann. Du – du bist hierfür den Beweis noch schuldig geblieben! Dein letztes Bild hat die Ausstellungsjury abgelehnt und –“

„Schweig – oder – oder –“ Er hatte die Lehne des altertümlichen Lederstuhles umklammert, bog den Oberkörper vor und zischte ihr die Worte förmlich zu, – Worte, denen er nichts hinzuzufügen wußte, – nichts Neues. Das, was er ihr so oft schon in ohnmächtigem Aufbegehren zugeschrieen hatte, mochte er nicht wiederholen, weil er ihre Antworten darauf schon auswendig kannte.

Ihr melodisches Lachen jetzt machte ihn stutzig. Das paßte nicht zu diesen Szenen. Ja – das war eine Abweichung vom Althergebrachten.

Sie lachte. Und ihr schönes, kaltes Gesicht trug nicht mehr den starren Ausdruck einer Erregung, die die Seele bis in die tiefsten Tiefen aufwühlt.

Er schaute sie unsicher an. Und sie nickte ihm zu.

„Wunderst du dich, mein Lieber?“ fragte sie harmlos. „Sieh’, ich habe mir nur soeben gesagt, daß ich wenig großmütig bin, dich zum Kampfe zu reizen. Die Partie ist zu ungleich. Ich – ich muß ja siegen. Das fiel mir noch zur rechten Zeit heute ein. Und – da habe ich mich selbst verlacht – mich selbst!“

Er zog die Stirn in Falten; duckte sich wie in Abwehrstellung zusammen; ahnte, daß heute bei diesem Kampf ein ihm noch unbekanntes Mittel verwendet werden sollte; fürchtete, nicht schnell genug den Hieb aus dem Dunkel scharf genug erwidern zu können. Und fühlte, – heute zum ersten Male ganz deutlich! – daß die Kluft zwischen ihr und ihm ein Abgrund war, den kein Weltweiser mehr überbrücken konnte, daß sie beide nichts miteinander gemein hatten als den Namen – seinen Namen, – nichts weiter!

„Ich – ich verstehe dich nicht,“ sagte er jetzt zögernd. Und wie er dies langsam aussprach, um den Hieb aus dem Dunkel herbeizuführen, sah er in ihren Augen noch genau dasselbe haßerfüllte Blinken wie vordem, merkte er, daß sie ihr Gesicht lügen ließ und nur äußerlich die Beruhigte spielte, um nachher doppelt triumphieren zu können über die gelungene Täuschung.

„Oh – – und doch ist’s so einfach, so selbstverständlich, lieber Siegi –“

Eine vollendete Schauspielerin, dachte er. Wie gut ihr der Ton gelingt!

„All diese Szenen zwischen uns hätten nie sein dürfen, – niemals! Immer handelte es sich darum, daß ich aufbegehrte, weil du im Kreise deiner Freunde jede Rücksicht gegen mich vergaßest und zu einer Zeit heimkehrtest, die dich entweder mit den Bäckerjungen oder den Zeitungsfrauen als den regelmäßigen Frühaufstehern zusammentreffen ließ. Dann kam stets der Kampf. Wie töricht von mir! Ich hätte schweigen sollen. Ich mußte ja die Stärkere bleiben, und du – nachgeben! Es hätte genügt, – ja – hätte genügt –“ Sie dehnte den Satz, jedes Wort, ließ den gemacht gleichgültigen Ton noch stärker hervortreten.

„– genügt, wenn ich die Verwaltung meines Vermögens allein in die Hand genommen hätte, wie mir dies in unserem Ehevertrag auf Drängen meines Vaters als besonderes Recht vorbehalten worden ist.“

Sein Körper straffte sich mit einem Ruck; die Hände sanken von der Stuhllehne herab; die Finger schlossen sich wie im Kampf zu Fäusten.

Ganz bleich war er geworden. Seine Lippen zuckten. Auf der Zunge schwebte ein Wort, ein häßliches Wort. Es wurde nicht ausgesprochen.

Mit einem neuen Ruck drehte er sich um, ging hinaus, drückte hinter sich die Tür ins Schloß, ging weiter bis zum Ende des Flurs, trat in sein Atelier ein und ließ sich hier in einen Sessel sinken. –

Marga hatte ihm nachgeschaut; hatte eine kleine Bewegung nach vorwärts gemacht, als wollte sie ihn zurückhalten. Aber in ihrem sinnlosen Haß erstickte dieses Flämmchen von Reue nur zu schnell nach fruchtlosem Aufflackern.

Ihre Augen blieben auf der Tür haften, hinter der er verschwunden. Und diese Augen wurden jetzt andere. Auch in ihren Mienen zeigte sich der Ausdruck grüblerischen Sinnens. Die Erkenntnis dessen, was sie soeben, unzurechnungsfähig in all ihrer gekränkten Eitelkeit, ihrem verletzten Stolz und dem Gefühl niederdrückender Enttäuschung, hingesprochen hatte, ohne die Folgen zu überdenken, – diese Erkenntnis schlich nun wie ein drohendes Gespenst auf sie zu.

Mit der Rechten fuhr sie in unwillkürlicher Geste über die Stirn, als wollte sie fortwischen, was dahinter noch an Gedanken ähnlicher Art sich festklammerte.

Ihre schlanke, geschmeidige Gestalt verlor die kampfesfreudige Haltung, sank zusammen; der Kopf mit den klassisch reinen Linien eines venezianischen Gemmenbildes senkte sich.

Ihre blaßroten, schmalen Lippen öffneten sich, formten halblaute Worte.

„Was – was habe ich eigentlich gesagt?! – Wie kam ich nur darauf – gerade darauf, auf diese – diese Dinge?! – Nein – das hätte nicht sein dürfen! Welche Blöße habe ich mir gegeben! Das tut kein Weib, mag es den Mann auch noch so sehr demütigen wollen, – das nicht!“

Schwerfällig setzte sie sich auf den nächsten Stuhl, starrte vor sich hin. Ihr Blick lag auf der schwersilbernen, kunstvoll getriebenen Zuckerbüchse. Ein Geschenk ihrer Eltern zum ersten Jahrestage der Hochzeit war’s, – aber zugleich wie ein Symbol dieser Ehe, deren Partner Gold und Liebe, Reichtum und Eitelkeit zusammengeführt hatten.

Die Erkenntnis kam und siegte – besiegte Haß und Bitterkeit.

Marga flüsterte: „Wie konnte ich nur?! Das – das war gemein, das war meiner unwürdig. Wie konnte ich nur?! Nie wird er mir’s vergeben, nie – nie!“

In ihrem Herzen wühlte die Angst, ihn ganz zu verlieren. Wäre er ihr bereits gleichgültig gewesen, wie sie es sich so oft eingeredet hatte, dann – dann hätten sich diese Szenen wohl nicht so oft wiederholt.

Sie war jetzt ehrlich sich selbst gegenüber wie seit langem nicht. Sie liebte ihn ja doch noch, liebte ihn mit derselben schrankenlosen Selbstsucht, die zu all diesen Kämpfen die Ursache abgegeben hatte.

Plötzlich stand sie auf, eilte davon – hin zu ihm. Sie wollte retten, was noch zu retten war, – wenn noch etwas zu retten war! Ihre seidenen Röcke rauschten; das duftige Spitzenmorgenkleid schmiegte sich an ihren Körper, wie sie so den Flur entlanghastete, wehte hinter ihr her.

Das Atelier war leer. Mantel, Hut und der Stock mit dem Horngriff fehlten. – Er war ausgegangen, hatte die Hintertreppe benutzt.

Margas Blick flog über den Schreibtisch hin.

Ah – ihre Vermutung stimmte. Ein Brief lag dort – für sie – ganz frisch die Tinte auf dem Umschlag.

Sie riß ihn auf, – las –:

‚Ich kehre nicht mehr zurück. Meine Sachen lasse ich abholen, – das heißt die, die noch aus der Zeit stammen, als ich mich noch nicht verkauft hatte. Sie befinden sich sämtlich in dem gelben Fichtenschrank. Klage auf Scheidung – meinetwegen, weil ich Dich geschlagen habe. –

Siegfried.‘

Die Hand mit dem Briefbogen sank herab.

‚Zu spät,‘ dachte Marga Holck. ‚Zu spät. – Ich ahnte es. Und diese letzten Zeilen: Ganz er – ganz! Biegen oder Brechen! – Scheidung – Scheidung!‘

In ihren Augen glomm wieder langsam jenes Leuchten auf, das dem milderen Lichte der Einsicht in Minuten strenger Selbstabrechnung vorhin im Speisezimmer gewichen war.

Margas dunkle Brauen zogen sich zusammen; das schmale, feine Gesicht bekam scharfe Linien.

„Scheidung, – niemals! Ich halte dich, Siegi Holck! Und ich weiß, wie –“

Ein Auflachen, kurz, drohend. –

Marga ging wieder hinüber in die große, vornehme Wohnung, in der alles ihr gehörte, alles, jedes Stück. Was sein gewesen, als das Jawort der Beginn wilden Rausches, süßlicher Szenen, schneller Versöhnung, abermaliger Kämpfe wurde, enthielt der eine armselige Schrank dort im Hinterstübchen des Ateliers.

Marga durchschritt die Zimmerfluchten. Ihre goldbestickten türkischen Pantöffelchen glitten über echte Perser hin, ihre Blicke über raffinierten Prunk, der doch so unaufdringlich war, so gar nicht protzend.

Das alles gehörte ihr. Und doch war es sein Werk; sein verfeinerter Geschmack hatte gewählt, geordnet, – es war geistiges Eigentum. In dieser Beziehung war er ein Künstler. Die Holcksche Wohnung galt als Muster wahrer Vornehmheit.

Marga machte im Herrenzimmer vor seinem Schreibtisch halt, der hier mehr zur Zierde stand – weil er mit zur Einrichtung gehörte. Benutzen tat er ja doch nur den bescheideneren in seinem Atelier.

Auf dem wuchtigen, breiten Diplomaten stand eines jener kleinen Ebenholzschränkchen, reich verziert mit eingelegtem Elfenbein und Silber, wie es die chinesische Hausindustrie vor Jahren noch zu oft geradezu lächerlich billigen Preisen in den Handel brachte; ein Kunstwerk in seiner Art; für Siegi Holck ein Versteck für Dinge, die weit in die Vergangenheit zurückreichten.

Marga kannte die Geheimschublade; nicht weil er ihr anvertraut hatte, daß das Schränkchen eine solche enthielt; nein, – weil sie einmal hinter den Vorhängen zum Musiksalon gestanden und ihn belauscht hatte – deshalb!

 

 

3. Kapitel

Das grobgeschnittene Gesicht strahlte.

„Ja ja – Berlin! Man lebt schon auf, wenn man in den Bahnhof Alexanderplatz einfährt. Bei mir wenigstens ist’s so. Und dann – dann hat man’s wieder, das geliebte Berlin! – Kind, du ahnst ja gar nicht, wie ich’s vermisse dort droben an der Ostküste – die Sehnsucht hört nicht auf –“

„Warum sind wir denn fortgegangen von hier – warum?! Ich hab’s nie begriffen, Papa!“ Astrid Melcher schaute ihren Vater verstohlen an, dann wieder hinaus auf die Straße, die sich unterhalb der Terrasse des berühmten Hotels hinzog.

Robert Melcher war verlegen, spielte mit dem Messerbänkchen. „Ich denke, du kennst die Gründe,“ meinte er zögernd.

Astrid nickte. „Ich kenne die, die man mir genannt hat, als wir im vorigen Frühjahr nach Lindental übersiedelten.“

Er prüfte mit schnellem Blick ihre Mienen.

„Das klang eben so, als vermutest du, es gebe noch eine andere Veranlassung für unseren Fortzug von Berlin.“

„Soll ich ehrlich sein, Papa?“

„Hm – merkwürdige Frage!“

Der Kellner brachte den Braten; fragte, ob die Herrschaften Butter und Käse oder Kaffee wünschten.

„Beides – beides! In Berlin habe ich stets Hunger. – Du doch auch, Kind, – nicht wahr? Wir sind ja heute vormittag genug umhergelaufen –“

Der Kellner verschwand. Und Melcher begann den Braten zu loben. „Hier gibt’s doch was fürs Geld, obwohl’s ein erstes Hotel ist –“

Astrid schwieg und dachte: ‚Er ist froh, daß der dem heiklen Thema entgangen ist, –‘

Die Tische auf der Terrasse waren sämtlich besetzt. Jetzt im Frühjahr ergoß sich der erste Fremdenstrom über die Reichshauptstadt. Ein einzelner Herr ging langsam durch die Tischreihen, suchte, wo er noch Platz finden konnte. Dann steuerte er auf Melchers zu.

„Sie gestatten –“

Melcher schaute auf, nickte freundlich. „Aber bitte sehr –“

Astrid genügte ein Blick. Sie war nicht umsonst in Berlin großgeworden. Der Tischnachbar war ‚Klasse‘, wie der Papa sich stets auszudrücken pflegte. Und nicht nur Klasse; sogar das, was man eine interessante Erscheinung nennt. Vielleicht ein Offizier in Zivil oder ein höherer Beamter. Jedenfalls kein Provinzler. Das bewiesen so Kleinigkeiten in seinem Benehmen, für die nur ein Berliner ein Auge hat.

Nach einer Weile entspann sich zwischen Melcher und dem Fremden ein Gespräch. Astrid beteiligte sich nicht. Blätterte in der Illustrierten, die sie sich vorhin gekauft hatte. Trotzdem gab sie genau auf die Unterhaltung acht.

Die Stimme des Fremden war angenehm weich, fast zu wohlklingend. Etwas Besonderes lag in dem Ton, in dem er jetzt sagte:

„Unser Sehnen gilt leider zumeist Unerreichbarem. Sie wünschen Berlin nach der Samlandküste verlegt, ich die Samlandküste nach der Oberspree.“

Melcher lachte. „Unsere Wünsche sind beide gleich unbescheiden. – Kennen Sie Ostpreußen?“

„Nein. Aber ich habe gerade vom Samland viel gehört und auch viele Abbildungen gesehen. Es war längst mein Wunsch, dort einmal ein paar Wochen zu verleben. Ich bin Maler, und zwar Landschaftsmaler.“

Melcher als der ältere hielt es jetzt für angebracht, sich vorzustellen.

„Gutsbesitzer Melcher, Lindental, – meine Tochter Astrid.“

„Hold –“ Er verbeugte sich auch vor Astrid, indem er sich halb vom Stuhl erhob.

Das Gespräch wurde zu dreien fortgeführt. Astrid fühlte geradezu, daß dieser Kunstmaler an irgend einer schweren Bürde trug. Bisweilen klang durch seine Bemerkungen Bitterkeit und Menschenverachtung wie eine Auflehnung gegen ihres Vaters genußfrohe Lebensbejahung hindurch.

Man blieb bis gegen drei Uhr zusammen. Dann verabschiedete Holck sich.

„Ein etwas kratzbürstiger Herr,“ meinte Melcher und blickte ihm nach. – Astrid schüttelte den Kopf. „Deine Menschenkenntnis läßt dich im Stich, Papa. Der Maler hat böse Lebenserfahrungen hinter sich. Darauf paßt der Ausdruck kratzbürstig schlecht.“

„Mag sein. Jedenfalls ein Mann, der euch Weibern leicht den Kopf verdreht. Gerade diese Sorte mit dem wehleidigen Orgelton in der Stimme und dann wieder mit der Ironie eines über alles erhabenen Geistes ist besonders gefährlich. Wie ein Maler schaut er eigentlich nicht aus.“ –

An demselben Tage führte der Strudel der Millionenstadt in seinen unberechenbaren Launen die Tischnachbarn im Cafee Tauentzien abends wieder zusammen.

Melcher sah Holck zuerst, winkte ihn heran. Der Maler war offenbar angenehm überrascht. Man tauschte Händedrücke, als ob man sich bereits seit langem kannte. Astrid wußte selbst nicht, wie sie dazu kam, ihm die Hand zu reichen. Sie handelte impulsiv, wie so oft; ärgerte sich hinterher. Und er hatte sie mit so seltsam frohen Augen angeschaut, ihre Hand länger als nötig in der seinen behalten.

Nach einer Weile sagte er: „Ich habe mich hier mit einem Freunde verabredet. Darf ich ihn ebenfalls an den Tisch bitten?“

„Aber natürlich! Selbstmurmelnd!“ Der Gutsbesitzer war in glänzender Laune. Das Leben und Treiben um ihn her war Berlin – Berlin! Und mit Grauen dachte er an Lindental, an seine Frau, – an anderes noch!

Astrid sprach von all den Besorgungen, die man im Laufe des Tages erledigt hatte. „Für mich eine Qual,“ meinte sie. „Es ist so geisttötend –“

Hold lächelte. „Damen erledigen doch so gern Einkäufe –“

„Meine Astrid nicht!“ polterte Melcher dazwischen. „Die tut überhaupt in allem das gerade Gegenteil vom Herkömmlichen –“

„Papa!“

„Na – beiß’ nur nicht gleich mein Kind! Wahrheit muß Wahrheit bleiben. – Ich hab’s nicht leicht mit dem Mädel, Herr Holck. Habe daheim nur immer den Friedensengel zu spielen.“ Seine Stimme war schärfer geworden. Das war nicht mehr Scherz; das kam wie ein Vorwurf über die Lippen.

Astrids große braune Augen suchten die seinen. Der Blick war fast herrisch. Und von den Mundwinkeln zogen sich jetzt zwei feine Falten abwärts. Das Gesicht hatte so etwas von dem einer willensstarken, großen Herrscherin. Holck dachte an das Bild der Königin Semiramis, wie es Sternheim gemalt hat: Die liebestolle Frau als Fürstin, nur als Fürstin! – So sah Astrid jetzt aus. Und Holck fragte sich: ‚Gibt es wirklich noch kompliziertere Charaktere als dein Weib, von dem du dich trennen willst?‘ Sagte dann laut:

„Friedensengel, sagten Sie, Herr Melcher? Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß –“

Da mischte sich Astrid von selbst ein, unterbrach ihn: „Zwischen meiner Stiefmutter und mir gibt es oft Mißverständnisse. Der Altersunterschied ist zu gering; und ich bin eine sehr selbstständige Natur.“ – Seltsam – ein Lächeln spielte jetzt um ihren Mund, ein ganz eigenes Lächeln. Holck kannte sich doch mit Weibern aus. Aber diese hier, – diese, – er fühlte geradezu: Das war etwas ganz Rares, ein Studienobjekt, – gut für Tassilo; dem machte es ja Spaß, Frauenseelen zu sezieren. – Was sollte nur hier gerade dieses Lächeln? Und – war es geringschätzig, überheblich, ironisch oder – oder? Ja, wie war es eigentlich? – Durch seinen Kopf schoß ein Gedanke, eine Erinnerung an seine Hochzeitsreise nach Ägypten, – die Pyramiden, das Riesensteinbild der Sphinx – Sphinx – Sphinxlächeln.

Da kam Tassilo Bratzki.

 

 

4. Kapitel

Und Holck rief: „He – Tasso – Tassilo!“

Melcher schaute hin. „Oh – Ihr Freund!“ Er war enttäuscht. Mehr noch, etwas erstaunt, daß der elegante Maler diesen – diesen Herrn, der wie ein besserer italienischer Drehorgelspieler aussah, Freund nannte, jetzt sogar mit Nachdruck sagte:

„Ja, mein einziger! Freundschaften sind selten. Mit nichts wird so viel Unfug getrieben wie mit diesem Worte.“

„Sie haben recht,“ meinte Astrid leise. „Es gibt keinen Bund zwischen zwei Menschen, der über der Freundschaft steht. Selbst die Liebe nicht. Liebe ist nie selbstlos. Wenn sie es ist, ist es eben keine wahre Liebe.“

„Merkwürdige Gedanken für ein junges Mädchen,“ dachte der Maler, begrüßte den Freund, erledigte die Vorstellung.

„Bildhauer Tassilo Bratzki.“

Ah – auch ein Künstler, – natürlich! Das entschuldigte das vernachlässigte Äußere und die zu langen Haare, sagte Melcher zu sich.

Bratzki setzte sich neben ihn.

„Glauben Sie es ihm nicht. Er renommiert gern. Er stempelt mich zu etwas, was ich gar nicht bin,“ begann Holcks Freund die Unterhaltung. „Ebenso gut könnte man einen Straßenbahnschienenreiniger Elektroingenieur nennen. Meine Bildhauerei beschränkt sich auf ein besseres Töpferhandwerk. Die Bratzki Vasen, – Kompottschüssel, – Tee- und Kaffeeservice sind berühmt. Auch ein Ruhm!“ Diese Selbstverspottung entbehrte jeder Bitterkeit.

Astrid widersprach ihm. „Ich habe bei Wertheim Entwürfe von Ihnen gesehen. Sie sind ein Künstler.“ Sie sagte es einfach und ohne jede Sucht originell zu erscheinen.

Melcher verstand nichts von Kunst. „Herrschaften, – tun Sie mir einen Gefallen: Nur nicht Fachsimpeln. Dabei schlafe ich ein! – Herr Bratzki, Ihrer Aussprache nach sind Sie Pole, – stimmt’s?“

„Ne – Kurländer. Aus Riga.“

„Ah. Sehn Sie an. Riga. Von dort stammt auch meine Frau, – meine jetzige, zweite Frau. Sie schwärmt von Riga, wie ich von Berlin.“ So belegte er den Töpfer mit Beschlag.

Holck freute sich, daß er sich Astrid ganz widmen konnte. Sie reizte ihn. Nicht das Weib; Nein – unter alles, was mit Liebe auch nur ganz entfernt verwandt war, hatte er einen dicken Strich gemacht – früh im Schlafzimmer, als Marga ihm bewies, welch niedrige Seele sie besaß. Er hatte genug von der Liebe für alle Zeiten. Sein Leben sollte nur noch der Kunst gehören.

Astrid reizte ihn als Mensch von besonderer Eigenart. In diesem jungen, pikantschönen Mädchen schlummerte fraglos eine Seele, die noch in der Entwicklung begriffen war. – Gärender Most. – Was würde daraus werden? Alles kam auf das Schicksal an. Was es Astrid an Fügungen sandte in nächster Zeit, würde diese Seele beeinflussen, modeln – so oder so – zum Guten, zum Schlechten.

Holck begann vom Samland zu sprechen, fragte dieses, jenes – horchte gespannt auf ihre Antworten. Vieles klang wie gewollte Eigenart. Und war es doch nicht. Man hörte es heraus, wenn man Frauen so kannte wie Holck sie kannte.

„Ich hasse das Meer,“ sagte sie unter anderem. „Es betrügt uns. Genau wie die Musik; löst Stimmungen in uns aus, die unwahr sind, macht uns schwach, träumerisch –“

Sie neigten die Köpfe näher zusammen; beider Atem mengte sich, sie fühlten eine gewisse Seelenverwandschaft; gestanden sich dies offen ein; keiner suchte den anderen zu täuschen; sie gaben sich, wie sie waren.

Holck streifte seine Ehe mit wenigen Worten.

„Ein Künstler sollte nie heiraten,“ sagte er. „Es gibt keine Frau, die selbstlos genug ist einzusehen, daß man dem frei schaffenden Geiste nicht die Schranken des Alltags auferlegen darf.“ –

Die Zeit verrann mit Windeseile. Melcher mahnte zum Aufbruch; gähnte zwanglos.

„Ich werde Sie vermissen dort in meiner Einsamkeit,“ sagte Astrid. „Vielleicht würden wir beide Freunde werden –“

Holck nickte. Dann nach einer kurzen Pause schweigen versprach er zu kommen – nach der Samlandküste, an der die See mit gierigem Zahne frißt, daß zuweilen breite Abhangsstreifen ins Meer gleiten. –

Die Freunde hatten Melchers bis zum Hotel begleitet, gingen jetzt noch in den Kerkau Palast. Beide waren begeisterte Billardspieler.

Doch Holck spielte schlecht.

„Es ist heute nichts!“ meinte er bald darauf. „Lassen wir’s bleiben. Ich – ich habe dir noch was anzuvertrauen, Tasso.“

Bratzki machte Kunstbälle, hörte zu; hörte von Frau Marga, geb. Würgheim; von der Scheidung. – Holck hatte keine Geheimnisse vor ihm. Und er fühlte den Wunsch sich auszusprechen

Der Bildhauer mit dem weichen Italienergesicht und den dunklen Schwärmeraugen legte das Queue hin, wendete sich dem Freunde zu:

„Es mußte so kommen, Siegi, – mußte! Marga ist eine Mollnatur in jeder Beziehung. Und – Würgheims echte Tochter. Man sagt von dem Alten, daß er rein aus Machtgefühl so manche kleine chemische Fabrik geschluckt hat – nicht weil’s die Klugheit riet. Marga nahm dich aus Eitelkeit und Begehrlichkeit. In den Salons von Berlin W. warst du der ‚schöne Holck‘; all die getauften Judenmädel und christlichen jungen Dämchen himmelten dich an. – Ja – sie nahm dich, wollte dich aufschlucken. Aber der Bissen war zu widerspenstig; auch nicht so schmackhaft, wie er schien. Du warst als der Bahnbrecher einer neuen Richtung in der Malerei von einem Teile der Presse bezeichnet worden; du versagtest; Margas Hoffnungen auf einen weltberühmten Gatten schwanden; nicht minder unbefriedigt war sie von dem Ehemann; das orientalische Blut in ihr verlangte mehr, als du spenden wolltest; die Gier stieß dich ab; die Unersättlichkeit trieb dich an unseren Stammtisch zurück –“

Eine längere Pause. Dann: „Lieber Siegi, du bist auf dem besten Wege, eine zweite Enttäuschung ähnlicher Art vorzubereiten. Ich warne dich!“

„Was heißt das?“

„Astrid Melcher! – Ich kann zu jemand sprechen und doch ein anderes Gespräch verfolgen. Ich hörte, was ihr euch zu sagen hattet. – Geh’ nicht nach Ostpreußen, Siegi!“

Holck lachte hell auf.

„Mein Junge, deine Unkenrufe sind hier wirklich überflüssig. Diese Astrid ist kein Weibchen, das geliebt sein will. Ich traue ihr alles zu, nur keine – Sinne!“

Bratzki erwiderte langsam, indem er sich eine Strähne seines schwarzen Haares aus der hohen Stirn strich:

„Ich komme mit. Ich bin dein Freund.“

 

 

5. Kapitel

Marga Holck saß im Klubsessel ihrem Vater gegenüber. – Der geheime Kommerzienrat Friedrich Würgheim sah wie ihr älterer Bruder aus. Schlank, über Mittelgröße, mit einem frischen Gesicht, dessen Magerkeit es mit zum Charakterkopf machte, verstand er sich besser als der jüngste, reichste Tauentzien Bummler anzuziehen; vermied in seiner Kleidung alles Auffallende, war trotzdem stets modern, wie geschniegelt, und diente vielen seinesgleichen zum Muster, dem doch keiner gleichkam.

Er schüttelte jetzt mißbilligend den Kopf, sagte:

„Das war eine böse Entgleisung, Kind.“

„Leider. Ich habe es auch sofort eingesehen.“

Er dachte nach, strich mit der zarten Hand über den nachgefärbten, kurzen Schnurrbart hin. – Dann:

„Natürlich darf aus der Scheidung nichts werden. Der Name Würgheim verträgt gerade jetzt einen solchen öffentlichen Skandal nicht. Mein Vater ist glücklich das ‚er‘ hinter unserem Namen losgeworden; ich hoffe auf das ‚von‘ vor dem ‚Würgheimer‘ ohne ‚er‘. Das kann sich bald ereignen. Majestät hat mich letztens in Kiel wieder durch eine längere Unterhaltung ausgezeichnet und nach unseren pommerschen Besitzungen gefragt. Genug: Ich werde geadelt werden. Deshalb bleibt die Ehe – vorläufig – bestehen. Holck wird kaum Schwierigkeiten machen. Ich kenne ihn. Er mit seiner schönheitsdurstigen Seele, jetzt noch durch das Wohlleben während anderthalb Jahren an kleinliche Sorgen nicht mehr gewöhnt, wird bereits nach einem Monat einsehen, daß auf alles andere leichter zu verzichten ist als auf Reichtum.“

Marga ließ die goldene Kette ihrer Lorgnette durch die Finger gleiten.

„Du unterschätzt ihn, Papa. Er ist stolz. Ich habe ihn zu tief gedemütigt. Er wird lieber hungern, als zu mir zurückkehren.“

Würgheim schüttelte abermals den Kopf.

„Das soll er ja gar nicht. Er soll nur helfen, den Schein zu wahren. Die Welt muß glauben, zwischen euch sei noch alles in schönster Ordnung.“

„Die Welt?! Die so gern spioniert? Alles wird –“

„Nichts wird!“ unterbrach er sie. „Ich werde mit Holck sprechen.“

Marga blickte zu Boden, bewegte nervös die Spitzen ihrer Lackschuhe, ließ sie gegeneinander klappen.

„Papa, ich glaube, – diesen Gang kannst du dir sparen. Ich – ich will allein versuchen, ihn umzustimmen.“

„Soeben sagtest du noch etwas von ‚Er wird lieber hungern‘ – wie reimt sich das zusammen?“

„Ich – ich kann ihn zwingen!“ Sie stand plötzlich auf, ging an das Fenster, sah in den Fabrikhof hinab. Würgheims Privatkontor lag im Vordergebäude mitten zwischen den zahllosen Bureauzimmern.

„Und ich will ihn zwingen, Papa! Will! Er muß mein bleiben! Er kennt mich zu gut; der Gedanke ist mir unerträglich, daß er mir ein Fremder sein wird und doch das – das alles weiß – aus unserer Ehe – von mir –“

„Ich verstehe.“ Er erhob sich, trat hinter sein einziges Kind.

„Marga, er wird dir ein Fremder sein, – aber auch allen übrigen Menschen; er wird Europa verlassen – für immer; jenseits irgend eines Weltmeeres ist er auch für dich so gut wie tot. Du brauchst dich nicht mehr – zu schämen vor ihm.“ Er sprach leise, eindringlich. „Hold ist eine Niete für uns. Marga von Würgheim kann den Fürsten von Lerda haben, wenn sie will. Die Sanierung seiner Besitzungen erfordert kaum zehn Millionen –“

Marga Holck zuckte die Achseln, drehte sich dann jäh um, sah dem Vater scharf ins Gesicht. Ihre grauen Augen flackerten, ihre Nasenflügel vibrierten. Sie war in einer Erregung, die er nicht begriff. Er wartete auf ihre Worte. –

Und sie kammen – glitten über die Lippen wie ein feierlicher, genau überlegter Eid.

„Ich gebe ihn nicht frei. Ich liebe ihn. Er bleibt mein!“

„Also das!“ sagte Würgheim wie zu sich selbst. Schürzte dann die Oberlippe in gutmütigem Spott. „Kind, Liebe, – Liebe! Was ist Liebe? – Rausch – nichts weiter. Wer ihm bei dem anderen Teil auslöst, bleibt sich ziemlich gleich; wenn dieser andere Teil nicht gerade widerwärtig ist. – Doch – wie du willst! – Jedenfalls darf es aber nicht zu einem Eheskandal kommen. Sei überzeugt: Ich greife rechtzeitig ein; behalte euch beide im Auge.“ Es klang wie eine versteckte Drohung.

Marga lächelte jetzt.

„Es scheint, wir gehen heute zum ersten Mal als Gegner auseinander, großer Papa. – Sind die Lerdaschen, bisher so schlecht bewirtschafteten Güter das wirklich wert?“

Er schwieg, meinte dann leise: „Schade! Ich glaubte dich mir ähnlicher!“

Sie blickte ihn fragend an.

„Es gibt nur ein wahres Glück,“ fuhr er lebhaft fort, richtete sich höher auf. „Das ist: Macht – Macht! Sie schließt alles andere in sich ein; alles!“

Marga Holcks Augen wurden anders, träumerisch, erinnerungsvoll.

„Ich bin Weib, großer Papa,“ sagte sie mit schwerer Betonung, reichte ihm die Hand, und er war allein.

Vor der Fabrik wartete das Auto. Sie ließ sich nach der Potsdamer Straße fahren, steig aus, ging zu Fuß weiter, verschwand in einem Hause, neben dessen Eingang ein Riesenschild sich an der Mauer wölbte: ‚Müller und Marx, Detektivinstitut‘.

Herr Marx hörte die neue Klientin an, die den dichten Schleier nicht abgelegt hatte und von deren Gesicht er zu wenig sah, um sie später wiederzuerkennen.

„Der Maler Holck hat einen Freund, Tassilo Bratzki,“ erklärte die Verschleierte langsam. „Er wohnt am Lietzensee in Charlottenburg, Nummer 12. – Ich möchte genau darüber unterrichtet werden – von sofort an, – was die beiden treiben. Sie verstehen mich.“

Marga zahlte dreihundert Mark Vorschuß. Marx dienerte wie ein Lakai, als sie sich verabschiedete. Er witterte einen guten Bissen; schickte einen Angestellten hinter ihr drein, der dann aber unverrichteter Sache sehr bald zurückkam. „Im Auto davon,“ meldete er. „Verfolgung war unmöglich.“

Marx notierte im Geschäftsbuch: ‚Angebliches Frl. Anna Hein, – Beobachtung Holck, Bratzki: – Mark 300.“ –

Das war um die Mittagszeit.

Abends saß im Tauentzien Cafee drei Tische von dem Platze Melchers entfernt Herr Anton Marx, Kriminalwachtmeister a.D., und verdiente einen Teil des Vorschusses.

 

 

6. Kapitel

Tasso Bratzki hatte den Freund mit in sein Junggesellenheim genommen, ihm im Atelier auf dem Diwan ein Lager hergerichtet und noch lange und eindringlich mit ihm über Marga und auch über Astrid gesprochen.

Auch über die unangenehmste Seite dieser Trennung von der Tochter Friedrich Würgheims: Über den Geldpunkt.

Holck war ohne seine Frau ein Bettler. Doch Bratzki regelte auch das, schoß dem Freund zunächst mal tausend Mark vor. – Holck war erstaunt, daß der stets beinahe schäbig gekleidete ‚Töpfer‘ über so große Ersparnisse verfügte.

Bratzki machte ein sehr zerknirschtes Gesicht.

„Sieh mal, mein Junge,“ sagte er verlegen, „in einem Punkt habe ich dich stets so etwas getäuscht. Ich bin eigentlich reich. Mein Vater hat mir genug hinterlassen, um als Rentier leben zu können. Aber – das paßte mir nicht! Ich wollte den Happen, den ich in den Mund schob, mir allein verdient haben. Kurz – von dem väterlichen Mammon fließen seit acht Jahren Zinsen und Zinseszinsen zum Kapital, das auf diese Weise unheimlich angeschwollen ist. Zur Zeit – hm ja – erschrick nicht – bin ich für eine halbe Million gut.“

Holck, der auf dem Diwan saß und die Stiefel gerade auszog, murmelte nur ein: „Heuchler!“ vor sich hin, dachte weiter: ‚Da sag’ noch einer, daß Tasso kein Original ist!‘

So wurde die pekuniäre Seite der Angelegenheit erledigt. – Am Morgen beim Frühstück kam die andere heran.

Tasso hatte schon gut vorgearbeitet, und so sah Holck denn ein, daß es am besten sei, zu verreisen und abzuwarten, was Marga unternehmen würde.

Ein Dienstmann mit einem Handwagen sollte den Inhalt des gelben Fichtenschrankes aus der Wohnung in der Heikermannstraße abholen, fand aber keinen Einlaß. Der Portier bedeutete ihm, Herr und Frau Holck seien plötzlich nach Italien abgereist, die Dienstboten entlassen und daher sei – ‚nichts zu wollen‘.

Der Dienstmann zog ab. Er wurde aus der Geschichte nicht recht klug. Herr Holck hatte ihn doch beauftragt, die Sachen zu holen. Und nun sollte der unterwegs nach Italien sein?! – Die fünf Mark, die er für den vergeblichen Gang erhielt, beschwichtigten seine argwöhnischen Gedanken.

Als die Freunde wieder allein waren, sagte Holck:

„Ich merke, sie will alles Aufsehen vermeiden. Daher die Reise gen Italien. Vielleicht steckt auch der Alte dahinter. Der fürchtet nichts so sehr wie einen Eklat. Bin nur neugierig, wie die Geschichte sich weiter entwickeln wird.“

„Kann dir gleichgültig sein. Jedenfalls fahren wir abends nach Swinemünde. Die Ostsee liebe ich nun mal. Aber nur bis zur ostpreußischen Grenze hinauf. Du verstehst, mein Junge: Lindental liegt in Ostpreußen, und ein gewisser Jemand hat Astrid versprochen, die Bernsteinküste zu besuchen, wie man ja auch den samländischen Uferstreifen nennt; Tertianererinnerungen, weißt du. – Besinne dich: Phönizier holten von dort das Elektron, die gelben Meeressteine, die doch nur Baumharz sind.“ –

Swinemünde war noch menschenleer. Die Freunde unternahmen weite Wanderungen durch die Wälder, Segelfahrten, Dampfertouren nach Rügen; bekamen braune Gesichter, braune Hände; kümmerten sich um keine Seele sonst, mieden den Kurpark, die Cafés, fühlten sich in ihrem kleinen Häuschen bei den biederen alten Fischersleuten sehr wohl.

So gingen zwei Wochen hin. Bisher hatte man keinen Bekannten getroffen. –

Dann kam ein Brief von Marga. Aus dem nahen Heringsdorf seltsamerweise. – Sie bat Holck um eine Gelegenheit zur Aussprache unter vier Augen, schlug eine Stelle am Strande vor als Treffpunkt.

Bratzki nahm den Brief, las ihn, zerriß ihn in Fetzen, die er verbrannte, und begann zu packen.

Holck sagte nichts. Nahm den neuen Koffer und packte gleichfalls. Abends fuhren sie ab. Nach Stettin zunächst. Sie wollten ihre Ausrüstung hier für eine Tour nach Norwegen ergänzen.

Als sie dann aber anderen Tags ein Geschäft suchten, um Filme für Bratzkis Kamera einzukaufen, sagte Holck plötzlich:

„Fahr’ allein. Ich halte mein Versprechen.“

„Astrid?“ fragte der Bildhauer ernst, der jetzt mit kurzgeschnittenem Haar und in einem neuen Sommeranzug sehr manierlich aussah.

„Ja – Astrid!“

„Gut. Aber – noch acht Tage bleiben wir hier. Ich will sehen, ob deine Frau uns weiter verfolgt.“

Bratzki wandte dann allerlei kleine Kniffe an, um Marga die Fährte verlieren zu lassen; drei Mal wechselten die Freunde das Hotel, reisten scheinbar wieder ab, wohnten schließlich in einem bescheidenen Vorstadtgasthof.

Am sechsten Tage abermals ein Brief Margas.

Der Bildhauer fluchte. – „Ich wette, sie hat einen gewerbsmäßigen zweibeinigen Spürhund auf uns gehetzt! – Lies – was will sie denn jetzt?“

Holck überflog den nach Margas Lieblingsparfüm stark duftenden Bogen. Bratzki beobachtete sein Gesicht, sah das leise Zusammenzucken, den Schreck, den die Stirn des Freundes deutlich verriet.

Der Maler reichte ihm nun den Brief. Seine Stimme klang wie gebrochen, als er sagte:

„Sie gibt mich nicht frei, Tasso! Und – die Andeutung in den letzten Zeilen – hm – das ist eine Drohung. Ich darf dir leider über die Sache keine nähere Aufklärung geben.“

Bratzki knurrte etwas, das wie ‚Verdammtes Weibspack!‘ klang.

Das, was Holck als Drohung auffaßte, lautete wörtlich:

‚Du entgehst mir nicht! Wir haben zu viele gemeinsame Erinnerungen. – Auch an ein Ebenholzschränkchen auf Deinem Diplomaten. Ich gebe Dir vier Wochen Zeit, Siegi. Bis dahin mußt Du Dich entschieden haben, ob Du die Trennung aufrecht zu erhalten gedenkst; bis dahin vermeide es, Berlinern Dich zu zeigen. Für unsere Bekannten sind wir in Monte Carlo zur Zeit. Ich erwarte, daß Du meinen Wünschen nachkommst. Es dürfte für Dich besser sein, wenn das Geheimfach keine Rolle in diesem Zerwürfnis zwischen uns spielt. Ich habe Dich um Verzeihung gebeten, Dir gelobt, mich zu ändern, Dir volle Freiheit zu lassen. Mehr kann ich nicht tun. Willst Du noch hören, daß ich – doch nein! Ich habe auch meinen Stolz! – Marga.‘

Bratzki verbrannte den Brief sofort über dem Leuchter auf Holcks Geheiß; fragte, in die auflodernde Flamme sehend:

„Vier Wochen? – Und was dann?“

Der Maler saß wie ein zum Tode Verurteilter in dem roten, verschossenen Plüschsessel, stierte auf den abgetretenen, gestrichenen Fußboden und erwiderte erst nach einer Weile leise:

„Ich – ich muß gehorchen. Vier Wochen – eine Galgenfrist – dann – dann bin ich wieder Sklave des Mammons.“

Bratzki lehnte am Fenster; zog jetzt die starken, geschweiften Augenbrauen hoch, pfiff durch die Zähne und meinte:

„Du mußt gehorchen?! Das sagt genug! – Es handelt sich natürlich um Papiere, die du in dem Schränkchen verborgen hattest?“

„Ja. Aber frag’ nicht weiter, Tasso. Ich kann wirklich nicht darüber sprechen. – Marga muß mir nachspioniert haben. Hätte ich die Briefe doch lieber dir in Verwahrung gegeben, als ich heiratete.“

„Also eine Sache vor deiner Ehe! – Mein armer Junge!“

Holck nickte mechanisch. Sein Kopf blieb tief gesenkt.

„Jede Schuld rächt sich auf Erden, Tasso, – jede,“ sprach er halblaut vor sich hin. „Und dabei ist’s eine so merkwürdige Verkettung von Umständen, daß man wirklich das Wort von ‚der Ironie des Schicksals‘ hier gebrauchen kann.“

Dann richtete er sich plötzlich auf, sprang hoch, trat dicht vor Bratzki hin, legte ihm die Hände auf die Schultern und stieß hervor:

„Ich wünschte, ich dürfte mich dir anvertrauen, Tasso. Vielleicht würdest du einen Ausweg finden. Du hast mehr Lebenserfahrungen als ich. Aber – aber –“

Die Hände glitten abwärts, ballten sich zu Fäusten, öffneten sich wieder. Und ganz trostlos klang’s jetzt:

„Es gibt keinen Ausweg – nein! Marga hat mich in ihrer Gewalt. Man sieht ja, wie sie hinter mir, hinter uns her ist. Sie hat uns auch hier aufgestöbert. Und – wollte ich Europa verlassen, sie würde mich – welch ein Weib – welch ein Weib! Und – ich Tor – ich Narr, – so unvorsichtig zu sein!“

Bratzki hatte den Freund noch nie so verstört gesehen. Holck tat ihm unendlich leid; er kannte ihn ja – wahrscheinlich sogar besser als jener sich selbst. Schlechtes hatte er sicher nichts auf dem Gewissen, wenigstens nichts, was häßlich und gemein gewesen wäre; dazu war er gar nicht imstande mit seinem aufrichtigen, ehrlichen Charakter, also – was konnte es nur sein, was in aller Welt?

„Vier Wochen sind eine lange Zeit, mein Junge!“ sagte er jetzt tröstend. „Vielleicht genügen sie mir, diese Schlinge durchzuschneiden, ohne daß du dein Geheimnis mir preisgibst. – Kopf hoch Siegi! Donner noch eins! Sei kein Waschlappen! Wir beide werden doch wohl eine Marga Würgheim unterkriegen. Wäre ja noch schöner!“

„Marga Würgheim vielleicht. – Aber Friedrich Würgheim?“ meinte Holck hoffnungslos. „Sicher steckt sie doch mit dem Alten unter einer Decke. Und gegen den Geheimen Kommerzienrat Würgheim bin ich doch nur ein – ein Stäubchen, das er – wegbläst, wenn’s ihm beliebt.“

„Abwarten!“ Bratzki hatte Holck den Arm um die Schulter gelegt. „Auch fünfzigfache Millionäre haben ihre Achillesferse, Siegi, – glaube mir! Laß mich nur machen.“

 

 

7. Kapitel

Astrid Melcher ließ die Vorhänge des Giebelfensters zusammenfallen, trat zurück, ging zu dem altmodischen Damenschreibtisch, auf dem eine billige Petroleumlampe brannte, setzte sich und griff nach der flachen Schale mit den schweren, englischen Zigaretten, die sie stets aus demselben Geschäft aus Königsberg bezog.

Sie sog die ersten Züge tief in die Lunge ein. Die Zigaretten waren mit Opium präpariert, rochen fast widerlich süßlich. Ein leichter Schwindel umnebelte des jungen Weibes Hirn, ließ wieder nach; es blieb nur noch eine besondere Mattigkeit, ein seltsamer Zustand von körperlicher Erschlaffung, während der Geist desto lebendiger arbeitete.

Astrid griff zur Feder, setzte die unterbrochene Arbeit fort. Mit leisem Kratzen flog der gespaltene Stahl über das Papier, schuf Worte, Sätze, – den Schluß eines Romankapitels.

Mit feinem Klingen schlug die alte Porzellanuhr auf dem Schränkchen die zweite Morgenstunde. Da ging auch Astrid zur Ruhe, obwohl sie noch keinerlei Müdigkeit verspürte.

Der Schlaf wollte nicht kommen. Durch einen Spalt der dichten, blauen Vorhänge fiel ein schmaler Streifen des Mondlichtes gerade vor Astrids Bett auf die weißgescheuerten Dielen.

Der Streifen wanderte langsam. Astrid schaute hin wie hypnotisiert. Jetzt hatte der helle, leuchtende Strich eine breite Ritze zwischen zwei Fußbodenbrettern erreicht; jetzt blinkte dort ein winziges Fleckchen in anderem Lichte auf. Der Mondschein traf ein Stückchen Metall, – oder Glas.

Astrid folgte einer Eingebung des Augenblicks, stand auf, kniete nieder, fuhr mit dem Zeigefinger in dem Staub der Ritze entlang und – hielt einen Hemdknopf in der Hand, einen goldenen Knopf mit einem kleinen Brillanten. –

Erst gegen Morgen schlief sie ein. Und es war elf Uhr vormittags, als sie die steile Treppe hinablief und die Tür zum Wohnzimmer öffnete.

Frau Senta Melcher saß am Fenster und las die Zeitung, die der Postbote soeben gebracht hatte.

„Guten Morgen,“ sagte Astrid kühl, nahm an dem großen Mitteltisch Platz, wo für sie noch der Kaffee bereitstand, zog den wollenen Wärmer von der Kanne und schenkte die Tasse voll.

Frau Senta hatte auf den Gruß nichts erwidert. Die Zeitung beiseite legend, meinte sie nun spitzen Tones:

„Nächstens kannst du das erste Frühstück, das zweite und das Mittagessen gleichzeitig einnehmen. Es ist elf Uhr – elf!“

Astrid belegte eine Brotschnitte mit kalten Eischeiben.

„So – erst elf?!“ sagte sie gleichgültig. „Da habe ich ja noch zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt des Zuges.“

Frau Senta stand auf, stellte sich an den Tisch. Ihre hellen Augen schauten mit einem Ausdruck mühsam beherrschten Hasses auf Astrid herab.

„Weiß er, daß du wieder nach Königsberg willst?“ fragte sie laut und klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Es schickt sich für ein junges Mädchen nicht, stets ohne Begleitung ganze Tage –“

Ein Auflachen Astrids schnitt ihr den Satz entzwei.

„Was sich schickt, weiß ich sehr gut,“ meinte sie und blickte zu dem rotblonden, üppigen Weibe auf, das auch heute wieder versuchte, ihr einen fremden Willen aufzuzwingen. In ihren Augen war aber keine feindselige Ablehnung, vielmehr deutliche, überlegene Geringschätzung. „Jedenfalls würde ich, wenn ich Senta hieße, nicht von Dingen reden, die mir so fern liegen,“ fügte sie dann hinzu.

„Das soll heißen?“ Die Frage war wie das Aufzucken einer blanken Waffe.

„Daß du zur Erzieherin einer Mündigen zu jung bist –“

„Aber zum Geldgeben bin ich nicht zu jung –!“ stieß die Frau fast keuchend hervor. „Von meinem Gelde bezahlst du diese Fahrten – dein Vater besitzt nichts – nichts! Vergiß das nicht!“

„Du befindest dich in einem großen Irrtum,“ erwiderte Astrid gelassen. „Mein Vater hat mir noch nie Geld zu diesem Zwecke gegeben – auch zu anderen nicht. Im übrigen – ich möchte ungestört frühstücken –!“ –

Frau Senta trommelte lauter auf den Tisch, der unter einer hellen Wachstuchdecke seine ehrwürdige Schäbigkeit verbarg. Und wieder kam’s halb zischend heraus:

„So – so –, – von wem hast du denn –“

In diesem Augenblick trat Melcher ein.

Es war nicht der, dem Berlin als der Inbegriff aller Freuden galt, der in gutem Anzug als zu den besseren Ständen gehöriger Herr auf der Hotelterrasse mit seiner Tochter gespeist, der dann Holck höflich begrüßt hatte. Er sah jetzt aus wie ein einfacher Landmann, der überall selbst mit Hand anlegt; fast ärmlich; jedenfalls nicht wie ein gebildeter, intelligenter Mensch. Das war er ja in Wirklichkeit, wenn er sich auch gern gehen ließ.

Ein einziger Blick auf die beiden Frauengestalten genügte ihm.

„Morgen, Kind – – habt ihr euch etwa schon wieder bei den Köpfen? Was gibt’s denn?“ Es sollte scherzhaft klingen. Aber sein Gesicht verriet, wie unangenehm es ihm war, hier in eine der leider so häufigen Aussprachen hineingeplatzt zu sein. Seine Augen hatten sogar einen ängstlichen Ausdruck, als sie jetzt auf Sentas Antlitz haften blieben, das mit seinen derben, aber regelmäßigen Zügen vortrefflich zu dem kraftstrotzenden Körper paßte.

„Robert,“ rief sie im Tone höchster Empörung, „Robert, deine Tochter hat es gewagt, mir vorzuwerfen, ich wüßte nicht, was sich schickt – allerdings – natürlich folgten dieser Bemerkung die üblichen Bemäntelungen. Aber –“

Astrid war aufgesprungen. Der Stuhl fiel um, polterte laut auf den gescheuerten Dielen. Die Hand gegen Senta ausstreckend, sagte sie eisig, ihr so das Wort abschneidend:

„Ich hätte dir allerdings diesen Vorwurf machen können. Ich verzichte darauf. – Du warst es, die mich soeben beleidigte. Nie habe ich nur einen Pfennig deines Geldes für mich verbraucht – nie! Das weißt du auch! Und das ist ja gerade dein Ärger! Vielleicht wolltest du auch jetzt nur abermals versuchen, mir das zu entlocken, was deine Neugier seit langem reizt. Woher ich die Mittel habe, die mich von dir unabhängig machen!“

„Kinder, – aber – aber, – seid doch friedlich!“ meinte Melcher ängstlich und verlegen. „Ich bitte euch, es ist doch –“

„Schweig’!“ schrie seine Frau ihn an. „Schweig’! Du kannst nichts als beschönigen, als immer zwischen uns hin und her lavieren –! – Sorge dafür, daß wir nicht ins Gerede kommen –! Das wäre angebrachter, als stets den Friedensstifter zu heucheln –! Astrids Fahrten nach Königsberg –“

Das junge Mädchen trat plötzlich ganz dicht vor die fast Kreischende hin. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt sie den goldenen Knopf halb verborgen. Ihr Vater konnte nicht sehen, was sie jetzt der Stiefmutter zeigte –

Die Wirkung dieser Handbewegung dicht unter die Augen der rotblonden Frau war eindrucksvoll genug.

Mitten im Satz abbrechend, starrte sie auf den Hemdknopf, dessen Brillant wie ein blitzender Fleck in dem Golde lagerte; starrte darauf hin, wechselte die Farbe, blickte Astrid scheu an und – sagte mit bewundernswerter Selbstbeherrschung:

„Nein – was geht das alles mich an –?! Du hast recht, Robert, – Astrid – entschuldige, wenn –“

„Nicht nötig!“ Es klang wie eisiger Tropfenfall. „Nicht nötig, Senta. Wenn wir beide uns daran gewöhnen, unsere Handlungen gegenseitig nicht zu kritisieren, werden wir schon nebeneinander hier hausen können – ohne derartige Szenen, die von deiner Seite zwecklos sind.“

Frau Melchers hellgraue Augen, die einen leicht bläulichen Schimmer hatten und daher wie ausgeblichen wirkten, ruhten auf dem kalten, starren, schönen Gesicht der Stieftochter mit angstvollem Forschen. Sie verstand Astrid; wußte, worauf sie mit diesem ‚gegenseitig nicht kritisieren‘ anspielte. Der Knopf, – dieser Knopf, der so eifrig gesucht worden war, – woher nur hatte das Mädchen ihn –? Und – würde Astrid noch mehr diesen Sätzen hinzufügen, würde sie es zu offenem Kampf kommen lassen –?

Doch – die Feindin schwieg, setzte sich wieder, hob die Tasse zum Munde. Und Sentas Züge veränderten sich, als ob ein Bogen entspannt würde. In ihrem nie rastenden Hirn aber sprang der Gedanke auf: ‚Kein Frieden! Nein – nur eine Waffenruhe. Und du wirst sie nützen, diese Zeit; dann ein Überfall, eine List, irgend eine, und der Sieg –!‘

Sie empfand gerade heute deutlicher denn je die ganze Größe ihres Hasses. Alles an diesem Mädchen haßte sie: Das feine Gesicht, in dem auch nicht eine Kleinigkeit an das grobgemeißelte des Vaters erinnerte, die überlegene Bildung, die gelassene Ruhe, die abgerundeten Bewegungen – – und auch den offenbaren Mangel an Temperament, die toten oder doch noch schlummernden Sinne. Und gerade die waren es gewesen, die Senta im Kampfe des Lebens umhergeworfen hatten wie auf sturmgepeitschtem Meere, bald hinab in ein Wellental, umgeben von dem lauernden Verderben hochgetürmter Wasserberge, bald hinauf auf den Kamm einer dem Himmel sich entgegen reckenden Woge, hinauf auf eine Höhe, von der man alles ringsum überschaute, die Gefahr vergaß, sich freute des grandiosen Anblicks der tobenden See – und diese See war das Leben. Wohl für alle; für die stillen, zufriedenen Menschen auch; aber eine See ohne Stürme.

Anders für Senta. Was hinter ihr lag, war ein wildes Leben der Leidenschaft, ein Meer, das wenig stille Tage kannte. Und auch hier in Lindental, nach der schnell geschlossenen Ehe mit dem über zwanzig Jahre älteren Manne, sang der rauhe Wind weiter seine nervenaufpeitschende Melodie –

Das war Senta Melcher, geborene Turnissoff aus Riga – –

 

 

8. Kapitel

So kam es, daß ihm plötzlich auch der Maler einfiel.

Senta saß wieder am Fenster und las den Zeitungsroman. Die Menschen darin trieften alle von Edelmut, Sittenreinheit, Bescheidenheit, oder waren ausgemachte Schurken. Für letztere interessierte sie sich am meisten. Sie las langsam, Wort für Wort, um den Genuß zu erhöhen, zu verlängern.

Marie, die einzige Magd in Lindental, kam und räumte den Tisch ab. Sie hatte die Holzpantinen draußen im Flur gelassen. Ein Kurzsichtiger hätte geglaubt, sie trage Strümpfe. Aber sie ging von April bis November barfuß. Dafür wusch sie sich die Füße nur, wenn Astrid energisch wurde. – Sonst gab es keine Dienstboten im Hause. Vom Herbst an würde das anders werden, wenn die abgebrannten Wirtschaftsgebäude fertig hergerichtet waren.

Melcher sagte plötzlich:

„Eigentlich hätte Holck auch mal schreiben können. Er hat mir doch ‘ne Ansichtskarte versprochen.“ Er sammelte Ansichten von Berlin.

Astrid drohte Marie mit dem Finger, zeigte auf die erdfarbenen Naturstrümpfe und erwiderte dann dem Vater:

„Was sollte er wohl schreiben?! Er denkt sicherlich nicht mehr an uns.“

Melcher schaute zu seiner Frau hin, der gegenüber man diese Zufallsbekanntschaften, den Maler und den Bildhauer nur ganz kurz erwähnt hatte. Ihr war das alles ja so gleichgültig. Die Welt hatte für sie nur Interesse, so weit sie sie vor sich hatte.

„Sagtest du nicht, Kind, daß er vielleicht zum Sommer hier an die Samlandküste käme?“ meinte er leiser.

Da hob Senta den Kopf.

„Wie – zu uns etwa?“ fragte sie schnell. „Ein Fremder? Einer, den ihr in der Kneipe kennengelernt habt?“

„Zu uns? – Davon spricht doch niemand,“ warf Astrid hin und sah nach der Wanduhr. Um eins ging der Zug von Palmnicken ab. Es wurde Zeit, daß sie aufbrach. – Sie erhob sich.

Marie riß plötzlich die Tür von draußen ungestüm auf. Man hörte Packan auf dem Hofe wie toll kläffen und halb heulende Laute ausstoßen.

„Zwei Herren sind da, feine Herren,“ rief die Magd. „Aus Berlin. Hier – das haben sie mir gegeben –“

Die Visitenkarten trugen die Stempel von Maries unsauberen Fingern.

„Holck und Bratzki –,“ sagte Astrid tonlos. Sie war blaß geworden, reichte nun die Karten dem Vater.

Der strahlte. „Ah – beide – beide! Das gibt doch wenigstens mal Leben in die Bude –“

Frau Senta hatte den Oberkörper weit vorgebeugt. Die Zeitung fiel von ihrem Schoß auf die Dielen.

„Bratzki?“ fragte sie. Sie sprach den Namen aus, als käme er ihr schwer über die Zunge.

„Ja – Frauchen, – Bratzki! Ein fideles Huhn – ein Töpfer, wie er sich nennt. Bildhauer ist er. – Marie, rein mit den beiden – – nein, ich werde lieber selbst –“ Er eilte hinaus.

Astrid spielte mit ihrer langgliedrigen, silbernen Uhrkette, stand da, blickte zu Boden. War es Freude, die sie so aufregte, daß sie sich mühsam zur Ruhe zwingen mußte, – Freude über Holcks Ankunft? Oder – oder schämte sie sich, daß er sie hier in dieser fast ärmlichen Umgebung wiederfand –? War es etwas anderes, daß ihr Herz so schnell jagen ließ –?

Frau Senta beobachtete sie verstohlen. Aber auch in dem Benehmen des rotblonden Weibes war jetzt eine seltsame Unrast. Sie hob die Zeitung auf, glättete sie, rückte an den Sächelchen auf ihrem Nähtischchen herum, strich mit der Hand über die Stirn, blickte wieder auf Astrid, stand auf, fragte zögernd:

„Bratzki? Das ist also der Freund des Malers – Ihr hattet seinen Namen gar nicht genannt. Wie sieht er aus –? Wie heißt er mit Vornamen –?“ Die einzelnen Fragen kamen immer schneller über die vollen, roten Lippen, die stets feucht schimmerten wie ein betautes Blatt –

„Tassilo, glaube ich,“ erwiderte Astrid zerstreut. Sie lauschte nach dem Flur hinaus, wo jetzt Stimmen laut wurden. Daher entging ihr, daß es aus Sentas Mund wie ein Hauch kam – ein Wort –

„Tassilo –!“

Die Tür ging auf. Lachend schob Melcher die Gäste ins Zimmer. Aber – – Senta war nicht mehr darin, war in die nebenan liegende Stube gehuscht, die der Gutsbesitzer stolz ‚sein Kontor‘ nannte.

Holck eilte auf Astrid zu mit vorgestreckter Hand. Sein Gesicht spiegelte die ehrliche Wiedersehensfreude deutlich wider. Seine Augen umfaßten des Mädchens Gestalt, an das er so oft gedacht hatte, suchten die dunklen Augen, das feine, pikante Antlitz –

Da stutzte er. Astrids Mienen waren wie erkaltet unter einem Eiseshauch. Wie einem ihr Wildfremden, der ungelegen kommt, blickte sie ihm entgegen.

„Gnädiges Fräulein, ich habe –“ So weit kam er. Schwieg, schaute, forschte –

‚Sphinx –! Sphinx –!‘ rief eine Stimme in seinem Innern; eine zweite ‚Vorsicht – Vorsicht –!‘

Astrid reichte ihm jetzt die Hand.

„Ich begrüße Sie und Ihren Freund an der Samlandküste!“ sagte sie kühl und förmlich.

Bratzki hatte flüchtig beider Gesichter betrachtet, trat vor, meinte sorglos auflachend:

„Na – sehr freundlich ist das Samland gerade nicht –“

Astrids große Augen wurden noch abweisender.

„Jedes Land hat seine Eigenart, Herr Bratzki.“

„Scheint so, gnädiges Fräulein.“ Er tat weiter ganz harmlos und vergnügt, schüttelte ihr sehr kräftig die schlanke, wenn auch etwas große Hand und fügte hinzu: „Sie haben Holck ganz aus dem Text gebracht. Er hatte eine feine Begrüßungsrede auswendig gelernt –“

Melcher hatte inzwischen aus dem Nußbaumbüfett in heiterer Geschäftigkeit Likörgläser und eine Flasche Kirschschnaps hervorgeholt –

„Hier – ran an die Gewehre –! Das ist ostpreußische Art, Herr Holck! Was Wärmendes gleich zuerst in den Magen! – Was die Astrid da vom Samland schnackte – ich hab’ nicht recht hingehört – wird Sie wohl kaum sehr warm gemacht haben. Ich kenne doch mein Querkopf-Mädel! – Prosit, meine Herren, – herzlich willkommen – – so, nun noch Glimmstengel –“ Er stockte, wandte sich an Astrid –

„Wo ist denn Senta –?“

„Ich weiß nicht, Papa. Wohl in deinem Kontor.“

„He – Frauchen –!! –“ Seine Stimme drang nur zu deutlich bis zu dem rotblonden Weibe hin, das nebenan vor dem kleinen Spiegel stand und sich immer wieder fragte: ‚Wird er dich erkennen? Und wenn – – was dann –?!‘

Da – ein Gedanke –!! Ja – so – so nur konnte sie die Situation vorläufig retten, – Zeit gewinnen –

Noch ein Blick in das Glas in dem billigen Rahmen, dann schritt sie zur Tür –

Holck war überrascht. – ‚Welch prachtvolles Weib!‘ durchfuhr es ihn. Er verbeugte sich tief.

Tasso Bratzki zuckte zusammen. – Unmöglich – unmöglich –! Das konnte nur eine Ähnlichkeit sein –

„Und hier Herr Bildhauer Bratzki, Frauchen – auch ‘ne Tauentzien-Bekanntschaft; du weißt ja –“ sagte Melcher laut und noch vergnügter; denn Sentas Gesicht war freundlich; ihre Begrüßungsworte fast zu herzlich.

Bratzki hielt ihre Hand mit seinen sehnigen Fingern umspannt – „Gnädige Frau, Sie sind uns hoffentlich nicht böse, daß wir Sie so überfallen. Die ostpreußische Gastfreundschaft soll ja fast noch die meiner Heimat, Kurlands, übertreffen –“

Er gab ihre Hand frei. Nur die beiden Augenpaare ruhten noch ineinander –

„Ah – Kurland! Auch meine Heimat! Welch froher Zufall,“ meinte Senta lächelnd. „Ich stamme aus Libau. Und Sie, Herr – Bratzki, – wenn ich den Namen richtig verstanden habe –“

„Allerdings. – Ich bin Riganer, gnädige Frau.“

„Nein, – wirklich? Da kennen Sie wohl gar auch meinen Onkel, den Staatsrat Turnissoff, und meine Kusine – die älteste Turnissoff, meine Doppelgängerin. Mein Vater ist Onkel Dmitris Bruder –“

Holck stand mit Astrid am Fenster, hatte sofort nach der Begrüßung der Hausfrau ihr zugeflüstert:

„Sie haben mich bitter enttäuscht – ich hatte gehofft, Sie würden sich wenigstens etwas darüber freuen, daß ich mein Versprechen gehalten habe –“

Diesen beiden Menschen, die heute hier einen seltsamen Kampf einleiteten, waren Frau Sentas nicht allzu laut gesprochene Angaben über ihre Familie entgangen. Nicht so Melcher – er sah seine Frau an, schüttelte den Kopf, öffnete schon die Lippen, – – fühlte dann aber seines Weibes scharfen, warnenden Blick, drehte sich um und holte die Zigarrenkiste.

Aber seine frohe Stimmung hatte einen bösen Dämpfer erhalten. Es dauerte eine geraume Weile, bis er das Unbehagen wieder abgeschüttelt hatte. Wozu log Senta nur, fragte er sich voll ungewisser Angst. Und – mußten diese Lügen nicht sehr bald offenbar werden? Astrid wußte ja, daß nicht Libau, sondern Riga ihre Vaterstadt, daß Dmitri Turnissoff ihr Vater, nicht ihr Onkel war – weshalb dies nur – weshalb? So sah es in Robert Melchers Innerem aus, bis Bratzkis harmlose Ausgelassenheit und zwanglose Vertraulichkeit die Gespenster bannte.

Die Unterhaltung wurde immer reger.

Auch Holck und Astrid beteiligten sich. Doch der Maler konnte ebenfalls gleich dem Hausherrn nicht so leicht über etwas hinwegkommen, – über des merkwürdigen Mädchens Antwort auf seine Worte, die seiner leisen Enttäuschung Ausdruck gegeben hatten.

Astrid hatte ihm entgegnet und dabei zum Fenster auf den verwilderten Obstgarten hinausgeschaut, der sich hinter dem Hause einen flachen Abhang hinabzog:

„Freuen soll ich mich? Nein – da verlangen Sie zu viel. Weiß ich, was Ihr Besuch mir bringen wird? Werde ich mich nicht, wenn ich wieder allein bin, noch einsamer fühlen?“

Dann war sie langsam auf den großen Mitteltisch zugeschritten, hatte Aschbecher und Zündhölzer zurechtgestellt und zu Bratzki gesagt: „Schade – in Berlin waren Sie weit mehr Sie selbst. Zu Ihnen passen lange Haare viel besser –“ Sie hatte dazu übermütig aufgelacht.

„Welcher Wechsel in Gedanken und im Benehmen!“ stellte Holck in ungläubigem Erstaunen fest. „Welch ein Mädchen –! Wer soll aus diesem Wesen wohl klug werden –?!“ –

Bratzki erzählte, daß in Palmnicken die wenigen Sommerwohnungen bereits vergeben seien. „Wir müssen also weiterpilgern – leider! Und uns gefällt es hier so gut! – Oder, gnädige Frau, könnten Sie uns aufnehmen? Natürlich als Sommerfrischler – mit voller Pension –!“

Melcher war gespannt auf ihre Antwort.

„Vielleicht ließe es sich einrichten,“ sagte Senta nachdenklich. „Drüben auf der anderen Seite stehen zwei Stuben leer. Nur mit den Möbeln wird es hapern. Aber – wenn die Herren bescheiden sind –“

Astrid hatte nur einen langen, verwunderten Blick für die Stiefmutter. Und Melcher wieder rief ganz glücklich: „Ja – bleiben Sie bei uns, meine Herren. Satt sollen Sie werden! Ich bin selbst für was Gutes.“

Astrid erhob sich unvermittelt.

„Auf Wiedersehen. Ich versäume den Zug, wenn ich mich nicht beeile.“ Sie nickte Holck und Bratzki kurz zu, reichte dem Vater die Hand, sagte noch zu Senta: „Aus meinem Zimmer kann so manches entfernt werden – der runde Tisch, Stühle und der braune Schrank“ und verließ den großen Raum, in dem bereits der bläuliche Zigarrenrauch in dünnen Schwaden hing.

 

 

9. Kapitel

Holck begann sich nun Frau Senta zu widmen. – Das war also Astrids Stiefmutter, mit der es so häufig Veranlassung zu Reibereien für das junge Mädchen gab. Er wollte zusehen, was von ihr zu halten war. Die Opalaugen verrieten so allerlei, mehr noch der üppige Mund. In ihren Reden war sie sehr vorsichtig. Er merkte, sie wog jedes Wort genau ab. – Nicht ganz ungefährlich, lautete sein Schlußurteil.

Melcher wollte nun den Herren die beiden Zimmer zeigen. Deren Fenster gingen nach dem Gemüsegarten hinaus. – Das Gutshaus Lindental war überhaupt ein recht bescheidener Bau. Der Hof vor dem Haupteingang wie bei kleinen Bauerngehöften; das Gebäude selbst, ein lang–gestrecktes, schmuckloses Viereck mit Spitzdach, nur einstöckig; in der Mitte vom Eingang nach der Hintertür ein breiter Flur; ein zweiter wieder, der das Haus der Länge nach teilte.

Holck und Bratzki sollten in den beiden Hinterzimmern des linken Flügels untergebracht werden. Und so geschah es auch. Sie hatten selbst die noch fehlenden Möbel zusammengetragen; arbeiteten ebenso wie Melcher in Hemdsärmeln, während die strumpffeindliche Marie und Frau Senta das Mittagessen in der im anderen Flügel gelegenen Küche zubereiteten und den Tisch deckten.

Während dieser nicht ganz einfach zu erledigenden Ausstattung der Fremdenzimmer hatte Holck auch Gelegenheit, Astrids Giebelstube kennenzulernen.

Holck suchte unwillkürlich nach Photographien, schaute hierhin, dorthin. Vielleicht verrieten diese so einiges über die Bewohnerin. – Nur ein Bild entdeckte er in kostbarem Bronzerahmen auf dem Schreibtisch. Es mußte Astrids Mutter sein. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.

Er las jetzt die Titel der Bücher, die auf dem Schreibtisch und einem Wandbrett standen. Die Titel –: Das war Astrid – Astrid die Sphinx! – Neben Nitzsches Werken Bölsches ‚Liebesleben in der Natur‘, weiter: Heine, Ewers Zauberlehrling, Madame de Staels Erinnerungen, die Memoiren Napoleons von Lenglock, Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, Hardens ‚Köpfe‘; und so fort. Kaum vier, fünf Romane darunter; unter diesen drei hochmoderne Sachen von Anna Mark, einer jetzt gerade sehr viel gelesenen Schriftstellerin, von der niemand den richtigen Namen kannte. – Holck mußte jetzt an Marga denken, sie hatte die Romane der nur unter ihrem Pseudonym schreibenden Dame stets verschlungen, hatte auch ihn gezwungen, sie zu lesen, obwohl er ungern hierfür auch nur eine Stunde opferte. Aber – merkwürdig! – er war bereits nach den ersten zwanzig Seiten auf den Geschmack gekommen. Es war nicht die schwüle Sinnlichkeit, dieses Aufdecken wildester menschlicher Triebe, die ihn fesselten. Nein, es war die feine Kunst, die Seelen der handelnden Personen sozusagen zu öffnen wie eine Muschel und einen genauen Blick in das Innere, in jeden Winkel zu gewähren. Mit seltenem Scharfblick und bewundernswertem Verständnis für besondere Charaktere hatte die Verfasserin ihre Helden und Heldinnen geschaffen, ihnen Leben eingehaucht, ihnen alles Marionettenhafte, Schablonenmäßige genommen. Und die Handlung dieser seltsamen Werke eines fast überreif zu nennenden Frauenverstandes? – Handlung im gewöhnlichen Sinne gab es nicht! Da war kein Sterben, kein Auseinandergehen, kein sich Finden zum Schluß. Stets nur ein paar Sätze, die ungefähr auf die ferneren Schicksale hindeuteten. Diese Romane waren so, als ob man aus dem Leben eines Menschen ein Jahr herausschnitt; das war dann der Roman. Vieles mußte der Leser sich selbst ergänzen, vieles erschien unvollständig, zu flüchtig gestreift. Aber das Ganze wirkte ohne Zweifel, packte, riß mit fort, wühlte auch die eigene Seele auf. –

Bratzki kam und holte einen Stuhl, der hier überflüssig war. Auch Melcher keuchte die steile Treppe hoch; wollte Astrid einen Leuchter entführen. Nun standen die drei Männer in dem Mädchenstübchen und lachten über ihre schweißigen Gesichter, über die ganze Arbeit, dieses Zusammensuchen jedes einzelnen Stückes.

Bratzki setzte sich auf den kleinen, fellbedeckten Diwan, rieb sich die Stirn trocken und sagte:

„Ne – macht mir das bloß Spaß! Es ist wirklich so, als ob ich mir mein Heim selbst einrichten darf.“

„Das Möbellager ist leider etwas bescheiden,“ meinte Melcher. „Schadet nichts! Sie sollen’s schon gemütlich haben.“

Dann kam er auf den Erwerb von Lindental zu sprechen.

„Stolz kann ich auf meine Klitsche nicht sein – wahrhaftig nicht. Sie gehört mir auch gar nicht. Meiner Frau vielmehr. Als ich vor zwei Jahren in Berlin, Französische Straße mit meiner Buchhandlung pleite ging und alles – alles verloren hatte, führte mir die Vorsehung Senta in den Weg. Die Liebe kam bei mir altem Esel schneller als das Niesen nach einer Prise; die Hochzeit schloß sich im selben Galopptempo an. Und Senta war’s, die die Geschichte hier befingert hat. Ich blieb ganz aus dem Spiel. Wie und woher sie erfahren hatte, daß dieses heruntergewirtschaftete, niedergebrannte – was die Wirtschaftsgebäude anbetrifft! – Restgütchen verkäuflich war, weshalb sie es durchaus –“ Er brach plötzlich mitten im Satz ab, räusperte sich und fuhr fort: „Na – kurz und gut – sie kaufte es und wir zogen von Berlin fort. Der Abschied ist mir höllisch sauer geworden – Tatsache! Und nun – nun wird vom Herbst ab das richtige Leben eines Gutsbesitzers über ganze dreihundertundachtzig Morgen Land beginnen.“

Er seufzte. „Erst Buchhändler, nun Stoppelhopser! Klingt wie Eis und Sonne. Bißchen sehr verschiedene Berufsarten. Aber – ich bin drüben bei dem Nachbar in Palmnicken eifrig in die Lehre gegangen und hoffe die Sache schon zu schmeißen. Wir Berliner sind doch helle!“

Bratzki belud sich mit dem Stuhl, nahm noch eine Lampe in die Hand und verschwand, indem er Melcher zurief: „Falls hier Öfen – Kachelöfen – zu reparieren sind, – Sie wissen, ich bin Töpfer!“

Unten im Flur begegnete er der Hausfrau. Sie stand in der offenen Tür des Wohnzimmers, winkte ihm verstohlen zu, flüsterte: „Ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Er setzte die Sachen in einem der Fremdenzimmer ab und ging hinüber zu ihr. Sie schloß die Tür, schritt voran und führte ihn in das Kontor.

Hier hatten sie sich nun allein ohne Zeugen; standen sich auf zwei Schritt gegenüber.

Bratzki war gespannt, was sie von ihm wollte. Er schaute sie prüfend an, lächelte ganz wenig. –

Da begann sie schon, und sie spielte ihre Rolle vorzüglich:

„Herr Bratzki, ich möchte mit Ihnen Ihres Freundes wegen reden. Es hat auf mich heute stark den Eindruck gemacht, daß Herr Holck Astrids wegen hierher gekommen ist. Sie verstehen mich wohl. Sollte dies der Fall sein, so rate ich Ihnen dringend, Herrn Holck vor Astrid zu warnen. Ich halte mich zu dieser Warnung für verpflichtet. Meine Stieftochter ist bereits dreimal verlobt gewesen. Sie – sie ist ein Wesen, dem kein Mann genügt. Sie ist ein Blender, heuchelt Leidenschaft, wo doch nur kühle Berechnung ist, treibt ihr Spiel mit Männerherzen, dünkt sich erhaben über alle und alles und – macht meinem Mann und mir das Leben schwer – sehr, sehr schwer –“ Sie wollte offenbar noch mehr sagen. Aber das Lächeln, das um Bratzkis Mund nicht weichen wollte, verwirrte sie zu sehr. Sie schwieg und blickte zu Boden.

„Wollten Sie mich wirklich dieserhalb sprechen?“ fragte der Bildhauer den Oberkörper vorneigend. „Oder – sollte es nicht vielmehr eine Unterhaltung über – Riga werden?“

Senta Melchers Zweck war erreicht. Soeben hatte er angedeutet, daß er an die ‚täuschende Ähnlichkeit‘ nicht glaubte.

Langsam hob sie jetzt den Kopf. Sie war nicht feige, scheute den Kampf nicht; ihre Unsicherheit war schon wieder verflogen.

„Über Riga, Herr Bratzki? – Wie kommen Sie darauf?“ meinte sie, ein verwundertes Gesicht machend. „Hören Sie – dahinter steckt mehr! Ich liebe aber keine Spitzfindigkeiten.“

Er verbeugte sich leicht. „Aber gnädige Frau – dahinter steckt nur der Wunsch, mich nach den näheren Schicksalen Ihrer ältesten Kusine, die doch auch wie Sie Senta Turnissoff heißt, zu erkundigen. Ganz unter uns: Jene Senta stand mir einst näher! – Ein wenig Interesse habe ich noch immer für sie –“

„Oh – Senta, – arme Kusine. – Verdorben; gestorben, vielleicht in einem russischen Gefängnis; von den Ihrigen verstoßen. – Mehr weiß ich nicht.“

„Es – genügt, gnädige Frau. – Was aber Ihre Warnung anbetrifft – teilen Sie mir näheres mit, wenn ich hier Unheil verhüten soll.“

„Astrid mag einem Manne eine gute Freundin sein – für kurze Zeit. Dann ist auch dieses schwache Gefühl verflogen. Ich könnte Ihnen warnende Beispiele aufzählen. Es widerstrebt mir, so über meine Stieftochter zu sprechen. Aber – wir haben schon genug Aufregungen ihretwegen gehabt. Und – Sie beide sind doch halb und halb unsere Gäste! Es gibt eine Heiligkeit der Gastfreundschaft. Man soll die, die den Schutz des eigenen Daches genießen, vor jeder Widerwärtigkeit bewahren.“

Bratzki nickte. „Sehr gütig von Ihnen. – Holck ist verheiratet, gnädige Frau, wenn auch nicht eben glücklich. Gebranntes Kind scheut’s Feuer.“

„Ah – verheiratet!“

„Allerdings. Das braucht hier aber nicht jeder zu wissen.“ Seine Stimme wurde schärfer. „Wir haben unsere Gründe, hier unerkannt zu bleiben. Mit Ihrem Gatten ist schon alles vereinbart. Wollen als Berliner Kaufleute gelten. Bitte merken Sie sich das, gnädige Frau. Also Kaufleute – Geschäftsfreunde Ihres Mannes. Auch die Anmeldung bei der Ortsbehörde wird so lauten. – Ich kann mich doch in dieser Hinsicht auf Sie verlassen?“ Das war jetzt bereits eine versteckte Drohung. Der Ton war unverkennbar.

Die Opalaugen blickten sanft und harmlos.

„Aber gewiß, Herr Bratzki, – vollständig!“

Nebenan lautes Sprechen, Schritte. – Melcher trat ein. In seinem rotbraunen, derben Gesicht mit dem fahlblonden, leicht ergrauten Spitzbart erschien ein argwöhnischer Zug. Die beiden hier allein, Senta und der, den sie vorhin belogen hatte?!

Frau Senta sagte ohne jede Spur von Verwirrung:

„Robert, ich möchte dir das Bild da entführen. Die Wände drüben sind so kahl,“

Bratzki zuckte lachend die Achseln. „Ich wollte Ihrer verehrten Gattin das ausreden. Aber – ich habe nie über eine Frau gesiegt. Das muß verstanden sein.“ Er zog dazu ein so komisches Gesicht, daß der Hausherr ihm auf die Schulter schlug und vergnügt meinte: „Na – na, – nie gesiegt? Ihr gerade, Ihr Künstler aus Berlin?!“

Das Bild wechselte den Platz, kam in das Wohnzimmer der Freunde.

 

 

10. Kapitel

Das gemeinsame Mittagessen verlief sehr heiter und angeregt. Holck fühlte sich wirklich wie befreit hier. Die kleinen Anfälle von Mißstimmung, die teils durch Gedanken an Marga, teils durch Astrid verursacht wurden, überwand er schnell. Das Bewußtsein, seiner Frau entschlüpf zu sein, ihre Spione irregeführt zu haben, machte ihn zuversichtlich und froh.

Nach Tisch holten Holck und Bratzki ihre Koffer vom Bahnhof ab. Zwei kleine Bengel mit einer Karre ersetzten den Dienstmann. Das Wetter war warm und windstill. Die Freunde gingen hinter der Karre her, deren schlecht geschmiertes Rad gräßlich quietschte. Der Landweg lief zwischen Feldern hin, durchschnitt ein Wäldchen; überquerte die alte schon stark verwitterte Holzbrücke des wenig Wasser führenden Baches. Über den Baumwipfeln schwebte ein großer Krähenschwarm. Das Krächzen der wild durcheinander fliegenden Vögel war deutlich zu hören.

„Se hewwen ne Uhl2,“ sagte einer der kleinen Bengel, sich umdrehend und nach oben zeigend.

„Stimmt,“ meinte Bratzki. „Dort, wo der dicke Klumpen der Krähen ist, kämpft der arme Nachtvogel um sein Leben. Ein ungleicher Kampf, eine Tragödie aus dem Tierreich, eine Szene erbitterter, ewiger Feindschaft.“

„Jeder Kampf ist ungleich,“ sagte Holck, an Marga denkend. „Der, der ihn beginnt, hofft stets auf den Sieg, fühlt sich stärker.“

„Es gibt auch eine Selbstüberschätzung. Ein Beispiel ist die Rotblonde mit den undurchsichtigen Opalaugen.“

Holck blickte den Freund an, blieb stehen. Bratzki säbelte mit dem Stock Unkraut am Wegrand ab, fuhr fort: „Ich kenne Senta Melcher sehr genau – sehr genau. Sie versuchte, mich zu belügen.“ Er schilderte, was bisher zwischen ihnen sich abgespielt hatte. „Sie ist eine Abenteurerin, nichts weiter; genußsüchtig, eitel, intrigant, falsch, männertoll und besonders – geldgierig! Jedenfalls überaus gefährlich. Das gefährlichste Weib, das ich kenne.“

Holck schüttelte den Kopf. „Wie mag nur dieser biedere Melcher auf sie hereingefallen sein?“

Sie gingen weiter. Das Quietschen der Karre klang nur noch leise herüber, störte nicht mehr.

„Ja – wie?! – Sieh’ mal, alter Junge, das habe ich mir auch schon überlegt. Natürlich hat sie ihn aus kalter Berechnung genommen. Eine Senta Turnissoff als Ehefrau – ein Unding! Und noch als Frau dieses Mannes, der – hm ja – hast du was gemerkt, Siegi?“

„Was denn?“

„Mit diesem Restgut Lindental stimmt irgend etwas nicht. Besinne dich! Melcher vollendete den einen Satz nicht, als er darüber sich äußern wollte, weshalb seine Frau gerade auf diese elende Klitsche verfallen ist.“

„Allerdings, – aber –“

„Ja – das ist das eine. Und dann – der Mann schleppt irgend eine Last mit sich herum. Er ist in seinem Benehmen zu unausgeglichen für ein reines Gewissen, hat Angst vor der Rotblonden, traut ihr nicht. Du weißt, ich bin ein guter Menschenbeobachter. Ich kann aus Gesichtern viel herauslesen, höre auch, was nicht gesagt wird.“

Holck lachte. „Tasso, du bist schon wieder auf der Jagd nach Seelen, die für dein geistiges Seziermesser gut sind. Meinetwegen: Seziere! Nur – laß mir freie Hand bei Astrid. Die möchte ich allein für mich haben. Sie wird die Maske lüften müssen.“

Bratzki schwieg dazu.

„Na – etwa nicht einverstanden?“ meinte Holck.

„Sie war bereits dreimal verlobt, wußte mir Senta zu berichten,“ erklärte Bratzki ernst. „Sie warnte mich vor dem Mädchen. Dabei log sie nicht, was die Tatsachen als solche anbetrifft.“

Holck schritt hastiger aus. – Welch merkwürdiges Geschöpf! Dreimal verlobt! Also doch Versuche, die Liebe kennen zu lernen. Aber – stets bisher den Unrichtigen gefunden. –

Nach dem Kaffee nahm er sein Skizzenbuch und wanderte nach dem ‚Großen Haufen Berge‘, den Melcher ihm als Aussichtspunkt empfohlen hatte. Bratzki wieder spielte hier ganz den Naturburschen; half, ohne Kragen und Krawatte, dem Hausherrn beim Kalken der Obstbäume.

Frau Senta war nach Palmnicken hinübergegangen, um dort allerlei einzukaufen. Es wurde eine ganze Kiste voll, die der Kramhändler dann selbst nach Lindental fuhr.

Senta ging, nachdem die Besorgungen erledigt waren, zum Strande hinab. An einer Stelle, wo große Steinblöcke aufgetürmt lagen und ein Erdrutsch eine grüne Insel auf dem hellen Strande geschaffen hatte, setzte sie sich unter eine entwurzelte Buche, die ihre Krone weit über das Wasser streckte. Dieser Platz wurde kaum je besucht. Die Steine mit ihren scharfen Kanten verwehrten den Zugang, zwangen zu kühnen Sprüngen. Senta war bereits gewöhnt, diese Hindernisse zu nehmen.

Sie war heute unzufrieden mit sich und der ganzen Welt. Bratzkis Auftauchen hier in Lindental hatte sie wieder erkennen lassen, wie dünn die Schneeschicht war, die über der Gletscherspalte lag; und diesen einstigen Abgrund, eine Enthüllung all ihrer schweren Geheimnisse, fürchtete sie; die Schneeschicht konnte bersten – und dann – dann –

Gerade Bratzki mußte ihren Weg wieder kreuzen – gerade der – der! Sie schloß die Augen – schaute allerlei Bilder der Vergangenheit. – Und diese Bilder sagten ihr, daß sie von Bratzki keine Schonung zu erwarten hatte, falls der Stein hier ins Rollen kam während seiner Anwesenheit. – Also – doppelt vorsichtig sein – klug sein. Vielleicht war der noch empfänglich für den Duft rotblonden Haares, für lockende Augen.

Ein Geräusch ließ sie aufschaun. – „Endlich!“ sagte sie ärgerlich zu dem Manne, der ihr nun die Hand hinstreckte. „Ich habe wenig Zeit.“

Er setzte sich neben sie, umschlang sie. Nur widerwillig duldete sie seine ungestümen Zärtlichkeiten.

„Laß das Getändel jetzt, Fritz!“ sagte sie hart. „Ich habe dir viel zu erzählen; wenig Erfreuliches leider.“ Sie begann von Holck und Bratzki zu sprechen. Daß es zwischen ihr und dem Bildhauer einmal recht enge Beziehungen gegeben hatte, verschwieg sie, erwähnte nur, daß er Rigaer sei und was sie von ihm fürchte.

Nach einer halben Stunde trennten sie sich wieder. Senta verließ die kleine Insel in dem hellen Sande. Auf dem Feldwege begegnete sie Holck. Er zeigte ihr zwei flüchtige Bleistiftskizzen von einer bewaldeten Schlucht, die als Hintergrund das weite Meer hatten, schwärmte von dem poetischen Plätzchen. „Es wird ein gutes Bild werden. Ich gehe schon morgen an die Arbeit.“

„Malen Sie mich!“ sagte sie unvermittelt, und ihre Opalaugen leuchteten unter noch trüberen Schleiern. Die Augen fraßen sich in die seinen ein; verwirrten ihn. Nie hätte er diesem Weibe zugetraut, daß sie mit ihrer lockenden Kraftfülle so schnell einen Mann, besonders ihn, derart beeinflussen könnte.

„Ich bin nur Landschafter,“ meinte er und schaute zur Seite.

Sie stand dicht vor ihm. Er spürte den Duft ihres Körpers, ihres Haares, bog den Kopf zurück. – Margas Parfüm hatte ihn stets angewidert. Die Liebe ist unverfälschte Natur und verlangt natürliches. Bei Marga war alles Unnatur; das Berliner Leben, das Sodom und Gomorra, Berlin W. genannt, hatte sie frühzeitig übersättigt, ihre Moralbegriffe verwirrt, ihre Leidenschaftlichkeit vergiftet, ihrem ganzen Wesen jenen kennzeichenbaren Hauch von verfeinerter Perversität gegeben, die der Uneingeweihte so oft als geistige Überlegenheit hinnimmt. –

Und hier nun ein anderer Typ von Weib, ein ähnlicher, und doch auch grundverschiedener. Holck glaubte die Rotblonde bereits genügend durchschaut zu haben. Und er irrte sich auch wirklich in den Hauptpunkten nicht. Hier stand ihm eine kluge, raffinierte Abenteurerin gegenüber; blühend, frisch, gesund an Körper; die Seele zwar auch vergiftet, aber in anderer Art; Sucht nach mühelosem Wohlleben war hier die Triebfeder zu allem Schlechten; dafür waren die Liebesinstinkte unverdorben geblieben, nur daß sie mit ausgenutzt wurden zu dem, was dieses Weibes Hauptstreben war: Leben, Genießen, Vergeuden – ohne ernste Arbeit, ohne ehrliche Tätigkeit.

Holck bog den Kopf zurück. Er wollte diesem Weibesduft entgehen; merkte, daß er doch noch Mann war, daß Marga doch noch einen Rest von gesundem Begehren zurückgelassen hatte. Und diese Einsicht ärgerte ihn, enttäuschte ihn.

Senta lächelte ihn an. Und in demselben Maße, wie sein Oberkörper zurückwich, bog sich der ihre vor.

„Sie sollen mich als Nixe malen in der Schlucht,“ sagte sie leise. „Wenn ich mein rotblondes Haar auflöse, bin ich ein richtiges Rautendelein3. – Wollen Sie?“ Ein girrendes Lachen beschloß die Worte.

Holck nahm sich zusammen, schüttelte den Bann gewaltsam ab. Auch er lachte jetzt scheinbar harmlos auf.

„Ob ich will? – Oh – das schon! Aber ich weiß ja, gnädige Frau, – Sie scherzen nur! Zu einem Rautendelein gibt sich eine Dame doch nicht her!“

Senta kniff die Lippen einen Moment fest zusammen. Sie hatte sich eine Abfuhr geholt. Das wollte sie ihm nicht vergessen.

„Sie haben ganz recht, Herr Holck. Nur ein Scherz von mir. – Kommen Sie. Sonst muß man daheim auf uns mit dem Abendessen warten.“ Ihre Stimme war freundlich. Aber Holck wußte trotzdem Bescheid. ‚Es soll Feindschaft sein zwischen dir und diesem Weibe –‘ Er dachte an dieses Bibelwort.

Da trug auch gerade der Abendwind von dem Palmnicker Kirchlein das Abendläuten mit verschwommenen dünnen Glockenklängen herüber.

Senta ging schnell; begann von allerlei zu sprechen; wechselte sprunghaft den Gegenstand der Unterhaltung. –

Nach dem Abendbrot braute der Hausherr einen steifen Grog, den man in der Laube im Obstgarten trank.

Auch Senta sprach dem scharfen Getränk eifrig zu. Ihr Gatte nannte die Berliner Gäste scherzend Drückeberger. „So trinken Sie doch! Herr im Himmel, das wollen nun Männer sein! Lächerlich! Ohne die nötige Bettschwere geht hier in Ostpreußen niemand in die Federn!“

Holck merkte, wie ihm ganz wirr im Kopfe wurde. Er redete viel; redete überlaut: „Ich habe einen regulären Schwips! Tatsache, gnädige Frau.“

Wieder ihr girrendes Lachen.

Dann fragte Bratzki: „Wann kommt eigentlich Fräulein Astrid von Königsberg zurück? Und – geht Sie bei der Dunkelheit etwa allein vom Bahnhof den einsamen Weg bis hierher?“

„Ne, Verehrtester, – obwohl das Mädel keine Spur von Angst hat – vor nichts!“ erwiderte Melcher mit gewissem Stolz. „Sie bleibt stets über Nacht in der Stadt, logiert in einem Fremdenheim –“

„Oder bei einer – Bekannten,“ fügte Frau Senta langsam hinzu. Für Holcks Ohren hatte das letzte Wort eine ganz besondere Betonung. Er hörte trotz der Wirkung des Alkohols diese versteckte Niederträchtigkeit sehr deutlich heraus. Es konnte ja nur böswillige Verleumdung sein – konnte nur. Die beiden Frauen liebten sich nicht; die Rotblonde haßte die Stieftochter vielleicht aus irgend welchen Gründen.

Nein – es war nur eine böswillige Verdächtigung. Und trotzdem: Ein Stachel blieb doch in seinem Herzen zurück. Er mußte jetzt immer aufs neue an Astrid dort in Königsberg denken. Was trieb sie dorthin? – Er wußte es nicht. Auch Melcher als Vater hatte vorhin beim Abendbrot gesagt: ‚Das Mädel ist so selbstständig. Meinen Sie, sie deutet je auch nur an, was sie in der Stadt zu erledigen hat?! Nie – fällt ihr gar nicht ein! Sie fährt hin, sagt Auf Wiedersehen, kehrt zurück, sagt Guten Tag – und abgemacht.‘

Im Flieder drüben schluchzte der Sprosser. Und Holck kam in seinem alkoholumnebelten Hirn die ganze Welt verlogen und schlecht vor; er stand plötzlich auf; er müßte ins Bett, wäre müde von der Reise. Gemeinsam trug man die Lampe, die Gläser, den Teekocher und all das Andere ins Haus, sagte sich Gute Nacht.

Auch Bratzki hatte den Zungenschlag; also auch zu viel getrunken. Er war den Abend über sehr still gewesen. Beim Auseinandergehen klopfte ihm Melcher auf die Schulter.

„Verehrtester – der ostpreußische Maitrank hat’s in sich, nicht wahr?! – Ja – ja, ich hab’ mich auch erst dran gewöhnen müssen.“

 

 

11. Kapitel

Holck saß auf dem Bettrand und mischte in einem Glase Mundwasser zurecht, spritzte sich dabei eine ganze Menge Odol auf die Hand.

„Siegi, du hast den Tatterich“ meinte Bratzki, der noch völlig angekleidet war.

„Stimmt! Alter Junge – es war zu viel von dem Gesöff!“

„Du hättest dir an Frau Senta und dem bierehrlichen Melcher ein Beispiel nehmen sollen,“ sagte Bratzki leise, indem er sich auf den Rohrstuhl am Fußende des Bettes setzte.

Holck schaute auf. „Was – was heißt das, Tasso?“

„Die beiden schonten sich; taten nur, als ob sie mehr vertrügen als wir –“

„Ah! Und – und –“ Holck stellte das Glas auf das Tischchen neben sich.

„Ja – und das beweist mir, daß das Ehepaar den frommen Wunsch hat, wir möchten doch recht fest schlafen!“

Der Maler nahm das Glas, spülte sehr nachdrücklich den Mund, griff dann nach einem Migränestift und rieb die Stirn ein.

„So,“ meinte er, „nun ist mir wohler und klarer im Kopf. – Du argwöhnst irgend etwas, Tasso?“

„Ja! Aber leg’ dich nur ruhig schlafen. Vorhin war’s mir so –“ –

Er flüsterte jetzt – „als ob vor unserem Fenster jemand sich bewegte. Ich möchte wetten, wir werden beobachtet –“

Und laut und grundlos auflachend rief er plötzlich mit voller Stimme: „Junge – du bist ja blau – richtig blau! Daher: Rin in die Klappe!“

Holck ging sofort auf die Komödie ein. „Blau – blau ist der Himmel, grün ist die See, weiß ist der Schimmel, weiß ist der Schnee,“ sang er, warf sich hintenüber in die Kissen und zog die Decke hoch. „Gute Nacht, Tasso!“

„Gute Nacht!“ – Bratzki begann sich auszukleiden, löschte dann die Lampe aus und – schlüpfte wieder in seine Kleider, behielt aber die weichen Ledermorgenschuhe an.

Lautlos schlich er darauf zum Fenster, spähte von der Seite, wo zwischen dem geblümten Vorhang und der Wand ein schmaler Spalt war, in den Garten hinaus.

Er wartete gut zehn Minuten. Katze und Kater jagten sich hin und her; sie war recht ablehnend; er ebenso hartnäckig in seinem Werben. – Endlich verschwanden sie nach dem Weiher zu. Dann verkroch sich auch der Mond hinter einer Wolke.

Bratzki benutzte diese Gelegenheit, öffnete leise das Fenster und kletterte hinaus, duckte sich sofort hinter ein paar Rhododendronbüschen zusammen und musterte argwöhnisch die Hausfront. Dann schlich er weiter auf den anderen Flügel des Gebäudes zu. Alle Fenster dunkel; dicke, blechbeschlagene Laden lagen davor, die von innen festgeschraubt wurden. Sie sahen ganz neu aus; konnten erst kürzlich angebracht worden sein. Im linken Flügel fehlten sie, da die Stuben dort nicht oder doch nur als Rumpelkammern benutzt wurden.

Der Bildhauer verfolgte das, was er sich vorgenommen hatte, mit Vorsicht und Beharrlichkeit weiter. Er sezierte gern Menschenseelen; wenn es sein mußte, spürte er aber auch anderen Dingen nach. Er hatte sich folgendes gesagt: ‚Melchers wollten euch beide vollpumpen, damit ihr sie nicht bei irgend etwas stört. Dieses Etwas muß aber wahrscheinlich außerhalb des Hauses liegen, sonst wäre ja das Groggelage überflüssig gewesen. Entweder werden sie das Haus heimlich verlassen, um das Etwas erledigen zu können, oder aber es wird sich Besuch einfinden, der nicht bemerkt werden soll.‘

Diesen Schlußfolgerungen entsprechend suchte er nun im Schutz einiger Haselnußsträucher und Brombeerbüsche tief geduckt den Landweg zu erreichen, der auf das Zauntor zulief. Hinter einer dicken Weide am nahen Feldrain fand er einen bequemen Beobachtungsplatz; setzte sich in das taufeuchte Gras, zog die Beine an und stützte die Arme auf die Knie. So hockte er regungslos da.

Der Mond war wieder hinter den ziehenden Wolken hervorgetreten. Kaum zwanzig Schritt vor Bratzki erhob sich der verwitterte hohe Holzzaun, der den Hof einschloß und die Vorderfront des Hauses verdeckte. Über den Zaun hinweg ragten die breiten Kronen der beiden Linden und das altväterliche, gemütliche Strohdach.

Bratzki hörte, wie Packans Kette klirrte, wenn der Hund sich bewegte. Dann – ein anderes Geräusch. Eine Tür war geöffnet worden, deren Angeln kreischten. Das konnte nur die Haustür sein.

Der Bildhauer frohlockte. Er war jetzt überzeugt, daß er nicht umsonst hier im feuchten Grase saß.

Eine Weile tiefe Stille. Dann etwas wie ein dumpfer, hohlklingender Schlag vom Hofe her.

Und nun – Bratzki duckte sich noch mehr zusammen – nun kamen von Palmnicken her zwei Männer eilig den Weg entlang, machten vor der schmäleren Zaunpforte halt und – verschwanden dahinter; es war ihnen von innen geöffnet worden.

Bratzki schonte seinen Anzug nicht. Auf allen Vieren kroch er jetzt vorwärts. Dicht am Zaun links von der Einfahrt standen Sonnenblumen und hohe Disteln. Dahinter stellte er sich auf; suchte nach einer Ritze zwischen den Zaunbrettern; fand auch eine ganz schmale, lugte hindurch.

Das Bild des Hofes hatte er noch vom Tage her gut in der Erinnerung. Da war der armselige Ackerwagen, ein paar landwirtschaftliche Geräte, dort Packans Hundehütte; der gelbe, vierbeinige Mischling saß davor mit spitzen Ohren. Und – und links davon der moosüberwucherte, grüne Brunnen, von dem Melcher behauptet hatte, er gäbe nur brackiges, ungenießbares Wasser.

Bratzkis Haltung drückte jetzt in jeder Körperlinie die atemlose Spannung aus, mit der er das beobachtete, was auf dem Hofe vorsichging.

Von Palmnicken drangen die Schläge der Kirchturmuhr verschwommen herüber.

Mitternacht.

Bratzki verzog die Lippen. Geisterstunde! – Und beobachtete weiter.

Wieder der dumpfe, hohlklingende Krach, jetzt nur deutlicher; jetzt wußte der Bildhauer, wer und was ihn verursachte.

Dann gab es nichts mehr zu sehen auf dem Hofe. Friedlich, still lag er da; Packan hatte sich lang hingestreckt; schlief wahrscheinlich. Um die Kronen der Linden schwebten lautlos Fledermäuse – wie winzige Gespenster, wie verkörperte Geheimnisse des alten Hauses.

Und in der halb offenen Tür dieses Hauses lehnte ein Weib; der Schatten des Blätterdaches über ihr schützte ihre Gestalt vor den enthüllenden Strahlen des Nachtgestirns. Bratzki wußte trotzdem: Es war Senta – die rote Senta, wie man sie in München in jenem Viertel genannt hatte, wo all die Künstler hausen, – Künstler und solche, die es werden wollen; rote Senta – das vielbegehrte Modell für die Bildhauer.

Es gab nichts mehr zu beobachten auf dem Hofe. Aber es war, als ob die dunkle Frauengestalt dort drüben Bilder ausstrahlte, die den stillen Hof jetzt belebten.

Da war ein kleines Dachatelier. Mitten darin stand das lebensgroße Gipsmodell einer Amazone, die in der erhobenen Linken das abgeschlagene Haupt eines Mannes an den Haaren hielt, – eines besiegten Feindes. Die Siegerin starrte mit dem Ausdruck schmerzlichsten Entsetzens in das verzerrte Gesicht. –

Bratzki hatte die Amazone für die nächste Ausstellung bestimmt – bereits mit der Ausführung in Marmor begonnen. Senta hatte ihm freiwillig Modell gestanden – aus Liebe zu ihm – wie sie sagte, wie er glaubte. Und eines Abends war sie dann hinaufgeschlichen in das Atelier, hatte die Gipsfigur mit dem Hammer zertrümmert, hatte sich auf einen Sessel gesetzt und gewartet, bis der heimkehrte, den sie strafen wollte, weil er nicht duldete, daß sie auch anderen Modell stand – dem millionenschweren Mexikaner, den Bratzki stets nur Marmorschädling nannte, der ein Dilettant, ein Stümper war, das kostbare Material nur verhunzte. – Und der, der von der Amazone Ruhm und Ehren erhofft hatte, kam – zündete ein Licht an – sah – sah die Trümmer – taumelte, fiel in die Knie, brüllte auf wie ein zu Tode Getroffener.

Da hatte die rote Senta sich erhoben, ihm ein paar Worte zugerufen, war geflohen – Bratzki hatte sich nie wieder an ein großes Werk herangewagt, wurde – der Töpfer, ging nach Berlin, verkroch sich vor den Menschen, – bis er Holck kennenlernte. Der führte ihn zurück ins Leben, langsam, allmählich. So wurden sie Freunde. Tasso Bratzki würde Siegi Holck das nie vergessen, was er damals für ihn getan. Einen mit sich und der ganzen Welt Zerfallenen, einen Verzweifelten hatte er wiederaufgerichtet. Es war eine schwere Arbeit gewesen. –

Bratzki, der jetzt hinter Sonnenblumen und Disteln im Mondschein stand, schob den Hut aus der Stirn, fuhr mit der Hand über die Augen. Weg mit diesen Erinnerungen, die nur ein Gutes hatten, einen beglückenden Abschluß: Die Freundschaft. –

Senta, die rote Senta war verschwunden. Die Fledermäuse flatterten um die Linden; Packan schlief, träumte, winselte, bellte leise auf.

Und der Mann hinterm Zaune harrte noch Stunden aus. Er hatte Geduld; er sah die Vergeltung vor sich, ein Ziel, – den Ausgleich für die zerstörte Amazone.

 

 

12. Kapitel

Holck träumte. Marga stand vor ihm als Glücksgöttin; aus dem riesigen Füllhorn in ihren Armen floß ein Strom von Goldstücken heraus, bildete am Boden Buchstaben, – einen Satz:

‚Sorgen fressen Gedanken‘.

Dann schlug Marga ihm lachend mit dem leeren Füllhorn auf die Schulter, rief: „Wach’ auf – wach’ auf – mein Junge!“

Traum und Wirklichkeit vermengten sich. Bratzki rüttelte Holck abermals.

„Raus aus den Federn. Es ist zehn Uhr, Siegi!“

Holck fuhr hoch. „Wirklich – zehn bereits?“

„Allerdings. Ich habe schon gefrühstückt und mit der Sphinx geplaudert.“

Holck kleidete sich eilig an; brummte darüber, daß er die Dusche vermisse, daß die Waschschüssel nur ein Spucknapf sei, daß ein Frottiertuch fehle.

Der Bildhauer ging im Schlafzimmer auf und ab.

„In der feudalen Wohnung in der Heidemannstraße gab’s das alles – gewiß, – aber auch eine Marga als peinliche und peinigende Mitbewohnerin!“ meinte er ironisch.

Im Wohnzimmer nebenan stand für Holck auf einem großen Tablett der Morgenimbiß. Er aß nachher mit wahrem Bärenhunger; bemängelte trotzdem die plumpen Messer, Gabeln und die geschmacklose Tasse.

„Du hast deinen kritischen Tag,“ lachte Bratzki. „Einen so köstlichen Schinken wie den, den du eben verschlingst, kann dir selbst der allmächtige Würgheim schwer beschaffen.“ –

Dann gingen sie in den Garten, begrüßten Melcher, der die Obstbäume mit der Drahtbürste reinigte, boten ihm ihre Hilfe an und schafften dann zu dreien weiter.

Holck schaute immer wieder verstohlen nach dem Hause hin. Er wartete auf Astrid. Aber sie blieb unsichtbar.

Schließlich fragte er Melcher nach ihr. – „Oh – sie ist auch fleißig – auf ihre Art,“ meinte der und zuckte die Achseln.

„Wohl in der Wirtschaft?“

„Ha ha ha – großartig – Wirtschaft! Astrid! Womöglich am Kochherd! – Ne, lieber Herr Holck, – sie arbeitet oben bei verschlossener Tür, studiert Kunstgeschichte, büffelt fremde Sprachen, – oder ähnliches.“

Punkt zwölf wurde in Lindental Mittag gegessen – stets. Da sah Holck Astrid wieder. Sie war sehr schweigsam, wenn auch freundlich zu den beiden Gästen. Nach Tisch begleitete Holck sie auf den Hof. Astrid fütterte Packan gewöhnlich selbst. Nur wenn sie in Königsberg war, überließ sie es der strumpffeindlichen Marie.

Der Hund liebte sie; war dankbar für die Sorge, die Astrid ihm widmete. Aber – Zärtlichkeiten nach Hundeart wagte er nicht. – Holck beobachtete Mädchen und Tier sehr genau. Ihn dauerte Packan; er merkte, wie gern der Hund seiner Herrin bewiesen hätte, was er für sie empfand. Astrids Augen hielten ihn im Bann. Als er sich einmal an ihr aufzurichten suchte, stieß sie ihn zurück. „Laß das! Du solltest mich kennen!“

Holck wurde wieder nicht klug aus ihr.

Dann ging sie, setzte sich auf den Brunnendeckel und schaute einem Maulwurf zu, der, noch unsichtbar, gerade einen Hügel aufwarf, jetzt die Rüsselschnauze aus der gelockerten Erde herausstreckte und – damit sein Todesurteil gesprochen hatte; denn auf Astrids leisen Zuruf war der von der Kette losgehakte Packan mit einem sicheren Sprung sein Mörder geworden, schlackerte jetzt den schwarzen, walzenförmigen Körper zwischen den Zähnen und warf ihn dann beiseite.

Holck dachte: ‚Sphinx – ich werde dieses Rätsel von Weib nie lösen!‘

Astrid blickte zu ihm auf. „Maulwürfe sind mir eigentlich sehr sympathische Tiere,“ sagte sie, und in ihren dunklen Augen glitzerte überlegener Spott. „Sie arbeiten stets im verborgenen, brechen sich Bahn, ohne daß jemand etwas davon sieht.“

Holck konnte nur den Kopf schütteln. „Dieser Vergleich, falls es einer sein soll, ist mir zu hoch,“ meinte er.

„Gut. Sprechen wir von etwas Niedrigerem, wenn Ihnen ein Maulwurf zu hoch ist. Dieser Brunnen zum Beispiel. Er ist sehr tief. Stellen Sie sich vor, er hätte keinen Deckel, und mich käme die Lust an, mich hinabzustürzen. Ich brauchte mich nur hintenüber zu beugen, bis ich das Gleichgewicht verliere. Dann wäre meinerseits alles getan. Ich würde hinabfallen, unten im Wasser versinken. Um Mitternacht könnte ich dann als Nixlein hier sitzen und mir das nasse Haar mit goldenem Kamme kämmen; auf meinem Kopf würde eine grüne, große Kröte sitzen und dreimal Quak machen. Sie aber wären der Ritter, der dem Nixlein nachstellt. Sie kommen herbeigeschlichen, umfangen mich. Da spritzt Ihnen die Kröte ihr Gift ins Gesicht; den Betäubten ziehe ich mit hinab in meine feuchte, kühle Wohnung.“

Der Maler hatte den Blick gesenkt; grübelte angestrengt nach; sein gutes Gedächtnis half ihm dabei.

„Das, was Sie da soeben so hübsch ausspannen, verehrteste Nixe,“ meinte er, „ist ein Plagiat – gestohlen aus dem Roman ‚Weibertränen‘ von Anna Mark. Ich besinne mich auf die Stelle ganz genau.“

Astrid nickte. „Allerdings – gestohlen!“ Um ihren Mund spielte ein Lächeln. Dann stand sie auf. „Kommen Sie mit an den Strand, Herr Ritter?“

Sie gingen und kehrten erst zum Abendessen heim.

Drei weitere sonnige Tage vergingen. In Lindental schien alles eitel Ruhe und Frieden. Holck hatte sein Skizzenbuch nicht wieder mitgenommen, war nie allein, wenn er die Umgegend durchstreife. Zumeist hatte er Astrid als Begleiterin; seltener Tasso Bratzki, der plötzlich leidenschaftlicher Angler geworden war und im Weiher den Schleien und Karauschen nachstellte.

Eitel Ruhe und Frieden! – Und doch trieben geheime, verborgene Kräfte die Menschen hier ihrem Schicksal unaufhaltsam entgegen, – schrittweise nur, in ganz kleinen, kaum merklichen Schritten. Aber es waren doch immer geringe Vorwärtsbewegungen dem Ziele zu, Bewegungen, die nur von jedem allein empfunden werden konnten. –

Melcher saß in seinem Kontor und rechnete. Frau Senta stand am Fenster und blickte auf den Hof hinaus. Auf dem Deckel des grünen Brunnens pickte eine freche Krähe an einem Knochen herum, den sie Packan gestohlen hatte, der wie ein Toller an seiner Kette raste. Die Krähe kümmerte sich nicht darum. Sie wußte: Die Kette hält! – Sie hatte hier nicht zum ersten Male gediebt.

Melcher sagte jetzt halblaut: „Bis heute sind’s sechstausend Mark. Die Sache macht sich –“

Seine Frau kam langsam zum Schreibtisch.

„Lächerlich!“ meinte sie. „Nur sechstausend! Und deswegen den ganzen Apparat – all die Nächte!“

Er zuckte die Achseln. „Sei doch zufrieden. Leicht genug verdient wird’s! Zu dreien geht’s einfach zu langsam. Wenn man nur noch zwei – drei ins Vertrauen ziehen könnte –“

„Wen? – Bei dem Risiko! – Nein, – der Fehler ist der, daß Knaust zu viel verdient. Er begaunert uns, möchte am liebsten die Preise noch mehr herabdrücken –“

„Ganz recht. Aber rede doch mal mit ihm. Der Kerl wird ja nie grob, aber – unverschämt genug sind seine Bemerkungen –“

„Wenn man ihn nur irgendwie ausschalten könnte, Robert. Der Miletzki ist ja so dämlich. Mit dem werden wir schon fertig.“

Sie schwiegen eine Weile. Es waren keine guten Gedanken, die diese Stille ausfüllten. – Dann stand Melcher auf.

„Sag’ mal, Senta,“ begann er zögernd, „ich habe dich schon immer fragen wollen: Weshalb beschwindeltest du eigentlich den Bratzki damals? – Du erinnerst dich wohl – als du angeblich deines Vaters Nichte sein wolltest – aus –“

Sie lehnte sich an ihn, lachte leise auf. „Warum? – Aus Vorsicht! – Bratzki kennt Riga, kennt meine Familie. Vielleicht steht er mit Leuten dort in Briefverkehr, die die Turnissoffs ebenfalls kennen. Da hätte er vielleicht geschrieben: ‚Ich habe die Senta an der Samlandküste wiedergesehen –‘ und du weißt – es ist für uns besser, man wird nicht auf mich und dieses Haus aufmerksam.“

Er nickte zerstreut. Ganz klar war ihm diese Begründung nicht. Aber zu weiteren Fragen ließ sie ihm keine Zeit. Er war froh, daß sie wieder einmal etwas zärtlich zu ihm war, nutzte die Stunde. –

Derweilen wanderten Astrid und Holck am Stand entlang. Beide barfuß; die Schuhe über die Schulter gehängt. Astrid lief voran und schlug mit den Schuhen, deren Bändel sie zusammengeknoten hatte, nach einem Zitronenfalter. Dann schrie sie leise auf. Sie hatte sich eine Glasscherbe in die rechte Fußsohle getreten.

Nun saß sie im Moose und er verband ihr die kleine Wunde mit dem Taschentuch, das in lange Streifen gerissen war. Er hatte ihren warmen, tadellos geformten Fuß in den Händen, sah den feinen Enkel, die weiße Haut, die blauen Äderchen; seine Hände zitterten zuweilen.

Dann setzte er sich neben sie. Sie begann sich die Strümpfe überzustreifen.

„Astrid,“ sagte er gepreßt. – Sie schaute nicht auf.

„Was gibt’s denn?“

Da riß er sie an sich – brutal, mit aller Kraft, keuchte ihr förmlich ins Ohr:

„Du – – du – ich lasse nicht länger mit mir spielen! Ich bin kein – kein –“

Ehe er sie noch küssen konnte, hatte sie ihm mit zurückgebogenem Kopf und einem Lächeln, das wie ein eisiger Wasserguß wirkte, zugerufen:

„Also reif – reif für –“

Er stutzte. Da machte sie sich frei, schüttelte ihn ab, sprang auf, sagte kalt, ohne jede Erregung:

„Ja – reif –, reif, Siegi Holck! Wofür?! – Das erkläre ich Ihnen ein andermal. – Da – heben Sie mir den Schuh auf, edler Ritter! Und ziehen Sie gleichfalls die Kulturhüllen über Ihre Gehwerkzeuge. Dort hinten kommt der Pfarrer mit dem eleganten Herrn Knaust –“

Holcks Kopf fuhr hoch.

„Knaust?“ wiederholte er fragend.

„Ja – Eduard Knaust, patentierter Patentfatzke!“ Sie lachte.

Und Holck meinte nachdenklich: „Die Beschreibung genügt –“

„Sie kennen ihn? Von früher her oder erst –“

„Von früher – leider! – Ich möchte ihm nicht begegnen.“

Nach einer Weile, als sie den Rand der Schlucht erreicht hatten, fragte Astrid:

„Weshalb wollten Sie Knaust ausweichen?“

„Bedaure wirklich – Staatsgeheimnisse!“ Er suchte die Sache ins Scherzhafte zu ziehen. „Was treibt der patentierte Patentfatzke denn hier in Palmnicken?“

„Er fertigt Bernsteinschnitzereien an, kauft auch Bernstein auf. Er hat in Berlin eine Fabrik, so weit ich weiß.“

„Ach so! – Also umgesattelt.“

Damit war Knaust erledigt. – Astrid schien den Überfall in der Schlucht sehr schnell und ebenso vollständig vergessen zu haben. Nur als Holck auf dem Heimweg in sie drang, was sie mit dem ‚Reif für –‘ gemeint hätte, blickte sie ihn fast finster an und erwiderte:

„Fragen Sie nicht! Gerade das Warten auf meine Erklärung soll Ihre Strafe für den Versuch sein, das Nixlein küssen gewollt zu haben.“

„Astrid!“ entfuhr es ihm da, „Astrid – Sie – Sie sind eine –“

„Halt,“ unterbrach sie ihn und lächelte ihn geradezu kokett an. „Halt, Herr Ritter – keine Beleidigungen! Sie hatten, scheint’s, das Wort Teufelin oder ähnliches auf der Zunge. Und dabei bin ich doch nur eine harmlose Sphinx –“

 

 

13. Kapitel

Etwa zu derselben Zeit saß Tasso Bratzki am Ende des kleinen, in den Weiher hinausgebauten Laufsteges und paßte auf den roten Schwimmer seiner Angel auf.

Die Schleie bissen heute wie auf Verabredung. Er hatte bereits neun stattliche Burschen im Netz.

Soeben schoß der rote Kork wieder in die Tiefe. Bratzki ruckte mit der Angel an. – Ah – wieder einer! Am Haken zappelte jetzt ein handbreiter goldbrauner Schlei.

Da sagte jemand hinter Bratzki: „Gratulier’ och scheen!“ – Es war der Briefträger mit einem Einschreibebrief.

Tasso stutzte, als er die Handschrift sah; gab dem Stephansjünger ein Trinkgeld und eine Zigarre und setzte sich wieder.

„Verdammt!“ murmelte er, die Angel beiseite legend. „Sie hat uns tatsächlich wieder aufgestöbert. So ein Weib! – Na – schadet vielleicht nichts –“

Er schnitt den Umschlag auf, las den stark parfümierten Bogen feinsten Büttenpapiers gespannt durch.

Pillau, den 6. Juni 1912

Pensionat v. Rockel

Herrn Bildhauer Tassilo Bratzki!

In Siegis Interesse rate ich Ihnen, Ihren ganzen Einfluß auf ihn dahin geltend zu machen, daß er sich mit mir aussöhnt. Falls er die Spaziergänge mit Astrid Melcher nicht sofort einstellt und nicht binnen drei Tagen Lindental verläßt, werde ich das Ebenholzschränkchen sprechen lassen. Dann wird Berlin begreifen, daß ich mich scheiden lassen muß. – Von dieser Astrid nur so viel, daß sie bei ihren Besuchen Königsbergs dort im Hause Königstraße 14, 2 Treppen bei Mark absteigt. Vielleicht hat ihr Vater für diese Wohnung Interesse; es täte Not! –

Marga Holck, geb. v. Würgheim.

Bratzki packte sein Angelzeug zusammen und schritt dem Hause zu. Astrid und Holck waren vor wenigen Minuten heimgekehrt. Der Maler stand im Schlafzimmer am Fenster und hatte ein Paar Lackknopfstiefel in der Hand.

Bei Bratzkis Eintritt begann er sofort auf die ‚dämliche‘ Marie loszuwettern, die die Lackschuhe schon wieder mit Wichse geputzt hatte.

„Total verdorben natürlich – total! Muß mir bei Schönfelder neue bestellen.“ Er schleuderte die Stiefel in die Ecke.

„Nein, diese Wirtschaft hier, – unglaublich!“ machte er seinem Herzen weiter Luft. Dann nach einer kurzen Pause: „Schönfelder! Hat sich was! Das war einmal! Da kostet das Paar achtzig Mark! – Also werde ich mich wohl zu fertigem Schuhzeug bekehren lassen! Habe hier ja schon manches gelernt: Bauernfraß futtern, ohne Masseur, ohne Dusche auskommen, Skat spielen, Oberhemden drei Tage tragen – und so weiter – ganz heiter – immer die Leiter – auf und ab!“

Bratzki legte die Angelsachen auf den Fichtenschrank, sagte dann:

„Du bist gerade in der richtigen Stimmung. – Lies!“ Er reichte ihm Margas Brief.

Holck fuhr zurück. „Von Marga?!“ – Dann las er, offenbar sehr neugierig auf diese neue Mitteilung.

Bratzki beobachtete ihn, fragte nur:

„Na – was hältst du davon?“

Holck schwieg, lehnte sich an den Tisch, schob den Briefbogen in die Brusttasche und schaute auf die Bastmatte vor seinem Bett, rief dann: „Da – wieder ein Floh!“ Er zeigte auf den gescheuerten Fußboden. „Dort hopst die Bestie. Drei dieser Blutsauger habe ich heute früh wieder aus meinem Nachthemd herausgeangelt. Diese Bude – pardon – Gutshaus! – ist eine Flohbrutanstalt, aber keine Wohngelegenheit für Kulturmenschen!“

„In der Heidemannstraße gab es keine Flöhe – sehr richtig!“ sagte Bratzki.

„Nein – Gott sei Dank nicht!“ Und nach einer Pause: „Was mag Marga nur mit der Anspielung auf Königstraße 14 meinen?“

„Weiß ich nicht. – Hast du sonst nichts zu dem Brief zu bemerken?“

„Na ja – was tut man da nur?“

„Hm – ja, was? – Ich wäre noch so gern hiergeblieben, bis – bis Melcher uns wieder mit Grog freihält.“

„Laß doch die Witze!“

„Sind keine, mein Sohn, ist bitterster Ernst.“

Holck wurde aufmerksam.

„So? Inwiefern?“

Bratzki trat dicht vor den Freund hin, begann zu flüstern:

„Ich habe dich damals nach dem ersten Grogabend beschwindelt, Siegi, als ich dir erzählte, ich hätte nichts wichtiges beobachtet. Das gerade Gegenteil ist der Fall.“ Er berichtete von dem Beginn seiner ‚nächtlichen Aufklärung‘, wie er sich ausdrückte, fuhr dann fort:

„Vier Personen standen dicht bei dem grünen Brunnen; Senta, ihr Mann und die beiden, die von Palmnicken her den Landweg entlanggekommen waren. Die lange Feuerleiter, die rechts am Zaun hängt, wurde in den Brunnen hinabgelassen. Als die Leute den Deckel zurückschlugen, gab es einen dumpfen, hohlklingenden Krach. Dann verschwanden die drei Männer in der Tiefe, kletterten einer nach dem andern auf der Leiter abwärts. Senta blieb noch eine Weile stehen, beugte sich über das Brunnenloch, lauschte hinein und ging darauf langsam dem Hause zu. Hier lehnte sie sich an die Eingangstür und schien vor sich hin zu träumen. Die ganze Szenerie war auch sehr geeignet dazu, allerlei Gedanken nachzuhängen. Das Mondlicht gab dem öden verwahrlosten Hofraum einen Schimmer von Poesie. Auch ich habe das empfunden, ganz abgesehen von den merkwürdigen Dingen, die ich vorher noch beobachtet hatte. Nach gut einer halben Stunde schien Senta müde zu werden; ich hörte sie herzhaft gähnen. Dann wurde die Haustür leise ins Schloß gedrückt. –

Vier endlos lange Stunden mußte ich auf die Rückkehr der drei Männer warten. Doch meine Geduld wurde belohnt. Sie stiegen aus dem Brunnen heraus, als der Morgen bereits graute, brachten die Leiter an ihren Platz zurück, trennten sich. Zwei gingen nach Palmnicken; Melcher ins Haus. – So, Siegi, – das ist alles.“

Holck hatte mit ungläubigem Staunen zugehört.

„Das ist ja wie ein Kapitel aus einem Kolportageroman,“ meinte er kopfschüttelnd. „Was bedeutet das alles? Hatten die drei Laternen bei sich? Sonst noch etwas? Und wer waren die beiden aus Palmnicken? Kennst du sie?“ Er hatte hastig und voller Interesse gesprochen, Marga war ganz vergessen.

„Viele Fragen auf einem Haufen, Siegi,“ sagte Bratzki und zündete sich eine Zigarette an. „Sie hatten nur elektrische Taschenlampen, sonst nichts. Nur einer trug noch einen Rucksack auf dem Rücken. Dieser Mann war der Berliner Bernsteinhändler Knaust; ich habe ihn letztens im Dorfkruge kennen gelernt. So ein halber Künstler ist’s, dazu noch ein wandelndes Modenblatt. Einen angenehmen Eindruck macht er nicht. – Der zweite aus Palmnicken wieder ist ein Freund des geschniegelten Gecken, auch ein Berliner; heißt Miletzki. Sie wohnen in einem Häuschen außerhalb des Ortes bei einer Witwe, sind nur zeitweise hier, aber doch recht häufig.“

„Du bist ja schon sehr gut unterrichtet, Tasso. – Aber nun die Hauptsache: Was treiben die Menschen da unten im Brunnen? – Du dürftest dieser Frage doch wohl die Hauptaufmerksamkeit gewidmet haben.“

„Natürlich! – Zunächst tappte ich völlig im Dunkeln. Bis gestern nachmittag. Da –“

Draußen im Flur erklang eine helle Glocke, – das Zeichen zum Mittagessen.

„Na – ich gebe dir die weiteren Aufklärungen also als Nachtisch, Siegi. – Gehen wir. Es gibt heute gebratene Tauben. Ich sah, wie Marie sie morgens rupfte.“

„Gott sei Dank, – mal was anderes als Suppe!“

 

 

14. Kapitel

Der Briefträger hatte auch für Frau Senta einen Brief gebracht – aus Königsberg von einem Winkelkonsulenten, der jedes Geschäft machte, an dem etwas zu verdienen war – jedes, ob sauber oder unsauber.

Dieser Brief übte auf das rotblonde Weib eine ähnliche Wirkung aus wie der stark parfümierte auf Holck. Senta war bei Tisch zerstreut; bisweilen schaute sie Astrid nachdenklich an, ohne es selbst zu wissen. Dann wieder ihren Mann, der heute überaus lustig war, zwei Flaschen Obstwein bringen ließ und seiner Frau des öfteren heimlich zublinzelte, als ob er sagen wollte: ‚Ja ja – wir sind doch noch recht verliebte Leute.‘ Diese Stimmung hatte das Kontor herbeigeführt, die Zusammenstellung des Gewinns und das, was folgte.

Die gebratenen Tauben, sauber in Speckscheiben gehüllt und in fetter Sahnetunke schwimmend, schmeckten ausgezeichnet. Senta erntete viel Lob und Anerkennung. Vom Kochen verstand sie was; das mußte ihr jeder lassen. –

Man sagte sich gesegnete Mahlzeit, und Holck und Bratzki gingen in den Obstgarten, um wie immer in ihren Hängematten ein Stündchen zu verdauen.

Astrid erklärte ihrem Vater so nebenbei, daß sie um zwei nach Königsberg führe und sofort aufbrechen müßte. Ob sie ihm etwas mitbringen solle, fügte sie hinzu.

Senta saß vor ihrem Nähtisch. Ihr Gesicht war röter als sonst. Der Tag war gekommen, an dem sie mit diesem Mädchen, das sie still und tief haßte, abrechnen konnte. Ihre Brust schien sich zu weiten vor heimlichem Triumpf.

Marie trug das Tablett hinaus; würde nicht mehr stören.

Senta räusperte sich. Astrid hatte bereits den Türdrücker in der Hand. Da sagte Senta scharf:

„Du wirst nicht nach Königsberg fahren!“

Melcher, der, am Ofen lehnend, seine Pfeife stopfte, zuckte zusammen; so drohend, so befehlend hatten die Worte geklungen. Er dachte: Was gibt’s nun wieder?! Schrecklich – dieses Weibsvolk! Aber heute war er eher als sonst geneigt, Astrid den größeren Teil der Schuld zuzuschieben; denn Sentas weiche Lippen spürte er noch immer auf den seinen.

Astrid hatte sich langsam umgewandt, behielt den Drücker in der Hand, ihre Augen maßen die Stiefmutter mit einem Blick, der nichts als eine Aufforderung zum Weitersprechen enthielt, der in seiner kühlen Gelassenheit eine Natur wie Senta reizen und unvorsichtig machen mußte.

Dann fragte Astrid ebenso gleichmütig:

„Geht der Zug heute nicht?“

Das war zu viel für das rotblonde Weib. Ihr Gesicht wurde fast zur Fratze; alle Vernunft ging unter in den hochstürmenden Wogen einer bisher ohnmächtigen Feindseligkeit.

„Dirne!“ rief sie heiser, „Dirne! Ich weiß jetzt alles – alles! Du hast einen Geliebten in Königsberg, du –“

Astrid war mit zwei schnellen Schritten dicht vor ihr. Auch sie schien verwandelt. So hatte Melcher seine Einzige noch nie gesehen bisher.

Ihre Mienen drückten gleichzeitig höchste Entrüstung, Widerwillen und die hehre Offenheit des guten Gewissens aus. Ihre Hand gegen Senta ausstreckend, fiel sie der Erregten scharf ins Wort:

„Schweig! Ich sage dir: Schweige! Wenn es einen Menschen gibt, der weniger geeignet ist, Richter über andere zu spielen, dann bist du’s. Das weißt du recht gut. Ich warne dich! Verstehst du – warne dich! – Sofort nimmst du die Schmähung zurück – augenblicklich!“

Senta empfand auch jetzt wieder mit peinvoller Deutlichkeit das unnachahmbar Überlegene in Astrids ganzem Wesen. Aber dieses Gefühl fachte ihre Gier, die Feindin niederzuringen nur noch mehr an.

Eine höhnische Lache kam über ihre Lippen.

„Komödiantin!“ rief sie. „Scheinheilige Heuchlerin! Lächerliche Marionette, die die verkörperte Eigenart darzustellen sucht! Du hast einen Geliebten! Es ist der Zahnarzt Doktor Mark, der Königstraße 14 wohnt. Dort steigst du ab – dort – nicht in einem Fremdenheim!“ Abermals das grelle Gelächter, das dem armen Melcher das Blut aus den Wangen trieb.

Astrid hatte den vorgestreckten Arm sinken lassen, drehte sich um, zog einen Stuhl herbei, setzte sich und sagte zu ihrem Vater:

„Bitte, nimm gleichfalls Platz. Man soll derartige Aussprachen sitzend erledigen. Wort und Gebärde werden ruhiger, wenn der Körper nicht in Bewegung ist.“

„Phrasen! Getue!“ warf Senta höhnisch ein.

„Für dich vielleicht,“ meinte Astrid. „Zwischen deinem und meinem Verständnis für die Umwelt steht eine Schranke, die Seelenbildung heißt. Man kann das Wort auch trennen und sagen: Seele und Bildung!“

„Deine Seele enthält Verworfenheit, deine Bildung ist die Sucht nach Ungewöhnlichem,“ lachte die Andere auf.

„Bleiben wir beim Thema,“ sagte Astrid ohne Erregung. „Papa, bereite dich vor, sowohl Überraschungen als auch sehr Trauriges anhören zu müssen. – Es mag Menschen gegen, die den Gegner nicht mit gleichen Waffen bekämpfen wollen. Rache soll kleinlich sein. Es kommt auf die Charaktere an. Hier wäre Verzicht auf ein Kampfmittel Schwäche. – Senta, wir hatten an dem Tage, an dem ich dir Knausts Brillantenknopf zeigte, – es war hier an derselben Stelle – einen Waffenstillstand geschlossen. Du hast ihn jetzt aufgekündigt. Du zwingst mich, all das preiszugeben, was ich als Geheimnis gehütet habe, teils, weil ich selbst dabei mitbeteiligt war, dann um dich zu schonen, Papa.“

Melcher saß wie auf Nadeln, trommelte einen Sturmmarsch auf der Wachstuchdecke.

„Weiter – weiter,“ brummte er. „Wozu diese Einleitung?“ Er suchte die geheime Angst in seinem Innern durch einen halb strengen Ton zu verbergen.

„Zunächst zu der Frage, woher ich das Geld habe, mit dem ich meine Ausgaben bestreite, folgendes“, fuhr Astrid fort. „Seit einem Jahre habe ich als Schriftstellerin großen Erfolg. Daher auch Einnahmen, deren Höhe ich verschweigen will. Es könnte nach Prahlsucht aussehen. Der Name Anna Mark ist nicht mehr ganz unbekannt in Deutschland. – Anna Mark. Ich bin Astrid, Anna, Käthe getauft. Und – Doktor Ernst Mark ist mein rechtmäßiger Gatte.“

Melcher fand endlich die Sprache wieder. „Soll das – das ein Scherz sein, Astrid?“ meinte er gereizt. Sein Gesicht war ärgerlich und drohend.

„Nein, Papa. – Ich bin seit dem Februar Marks Frau. Die ganzen Umstände machten es mir leicht, diesen Schritt vor dir geheim zu halten.“

Er fühlte, daß alles der Wahrheit entsprach. Astrid log nie. Und er sagte nun: „Kind – Kind, das hast du mir verheimlicht? Weshalb?“

„Du würdest die Gründe doch nicht verstehen, Papa. Begnüge dich schon damit, daß du es jetzt erfährst.“ Astrid wandte den Kopf nach Senta hin. In deren Gesicht lag jetzt ein Ausdruck aufsteigender Angst. Auch sie zweifelte nicht daran, daß ihre Stieftochter tatsächlich Marks Frau geworden, denn der junge, bescheidene Zahnarzt war Astrids dritter Verlobter gewesen, die Brautschaft dann aber scheinbar auseinander gegangen. Die Erkenntnis, auch heute wieder das Spiel zu verlieren, war sehr schnell in Senta nach diesen Eröffnungen aufgedämmert – sehr schnell! Die triumphierende Freude war verflogen. Niedergeschlagenheit, Furcht vor dem Kommenden bedrückten das reife, starke Weib. Und das, was jetzt folgte, sagte sie sich, war ein Kampf auf Leben und Tod.

Astrid schaute Senta an wie eine Wildfremde. Das traf härter als offene Verachtung.

„Wie kam der Brillantenknopf dieses Mannes in mein Zimmer?“ fragte sie. „Du weißt es – denn du erschrakst, als du ihn sahst – und gerade in meinem Besitz. – Mache keine Ausflüchte. Ich kenne deine Beziehungen zu Knaust.“

Senta flog empor, auf ihren Mann zu; fiel vor ihm in die Knie, umschlang ihn, rief schluchzend:

„Robert, schütze mich vor ihr, – Schütze mich! Du siehst ja, wie berechnend sie ist. Heimlich verheiratet! Und du als Vater erfährst nichts – nichts –“ Sie war keine ungefährliche Gegnerin. Was sie tat, war klug, was sie sagte, freilich ungereimt. Er aber fühlte nur diesen schönen Körper sich an den seinen schmiegen, dachte nur an ihre Zärtlichkeit. Und diese Erinnerungen schufen einen Schleier vor seiner klaren Überlegung. So wurde ihm das Ungereimte logisch und überzeugend.

Sentas Tränen flossen; ihre Stimme wurde klagend, wimmernd. „Ich habe Knaust ihr Zimmer gezeigt, als ihr in Berlin wart; er half mir auch, den Schrank umstellen. Da mag er den Knopf verloren haben –“

Astrid beobachtete das Paar: den alternden Mann, dem die Sinne die Augen blendeten, das Weib, das ihre höchste Macht ins Treffen führte, ihn mit den Armen immer enger an sich zog, ihren Körper sich hochwinden ließ an ihm wie eine Schlange.

Dann sagte sie: „Es ist nicht nur der Knopf, Papa. Senta hat sich mit Knaust Stelldicheins am Strande gegeben; sie beurlaubte Marie nach Hause, als wir verreist waren; sie – sie war schon vor eurer Heirat seine Geliebte!“

Senta stieß einen Schrei aus, der einer Schauspielerin alle Ehre gemacht hätte.

„Entweder sie oder ich, Robert,“ schrie sie, sich aufrichtend und zurücktretend. „Sie oder ich! Entscheide dich sofort! Eine verläßt von uns noch heute dieses Haus!“

Melchers Mundwinkel zogen sich abwärts. – Knaust – Knaust, – derselbe Mann, den er selbst längst beargwöhnte. Er zauderte, blickte vor sich hin, sah auf dem Tische zwei Fliegen, die sich dahintrappelnd verfolgten – Liebesspiel in der Natur, – dachte an die weichen Glieder seines Weibes.

„Entschuldige dich!“ begehrte Senta auf. „Oder du siehst mich nie wieder!“ – Das wirkte.

Melcher hüstelte, strich den Bart.

„Ihr werdet nie nebeneinander in Eintracht leben können,“ meinte er, jedes Wort mühsam suchend. „Astrids Platz ist bei ihrem Manne. Das erledigt dies – dies Gezänke.“

Sentas Augen frohlockten. Ihre Worte klangen anders.

„Ich werde ebenfalls dein Haus verlassen,“ sagte sie aufschluchzend. „Astrids Verdächtigungen werden dich quälen, werden nicht mehr zur Ruhe kommen in dir. Ich kann so nicht fortleben, – lieber allein sein, – so ohne dein volles Vertrauen wie bisher –“

Melcher wollte ganz einlenken. Aber es kam nicht dazu. Astrid war aufgestanden.

„Leb’ wohl, Papa,“ sagte sie herzlich. „Solltest du Sehnsucht nach mir haben, dann weißt du, wo ich zu finden bin. Nicht jeder vermag in der kurzen Zeitspanne weniger Minuten zu erkennen, wo die Wahrheit aufhört, die Lüge beginnt; nicht jeder hat die Kraft, das zur rechten Zeit auszuschalten, was als einer der stärksten Instinkte in uns lebt und zum Dämon werden kann. – Leb wohl!“ Sie reichte ihm die Hand. „Ich habe den Mittagszug versäumt. Ich fahre abends. Die Mahlzeiten werde ich oben bei mir einnehmen.“

Er ließ ihre Hand nicht los, schaute zu ihr unsicher auf.

Da machte sie sich frei und schritt hinaus – besiegt.

 

 

15. Kapitel

Astrid ging in den Garten. –

Die beiden Hängematten trennte etwa einen Meter Zwischenraum.

Holck sagte gerade: „Ich wünschte, es gäbe heute wieder einen Grogabend. Dann würden wir zu zweien wachen und den Leuten in den Brunnen nachsteigen. Wir müssen uns –“

Astrid war über die weiche Grasnarbe lautlos nähergekommen, hörte die letzten Sätze, machte sich aber sofort bemerkbar, indem sie Holck mit einem: „Ich möchte mich von Ihnen verabschieden“ unterbrach.

Bratzki blieb lang liegen, hob nur den Kopf. Holck setzte sich schnell aufrecht.

Astrid nickte den Freunden zu, stand jetzt zwischen den Hängematten am Fußende.

„Ich verlasse heute abend Lindental für immer,“ meinte sie, bevor einer der beiden noch etwas entgegnen konnte. „Soeben hat das Eheweib über die Tochter triumphiert, gesiegt. – Sie werden mich nach dieser Andeutung auch ohne längere Erklärung verstehen.“

Bratzki hob den Oberkörper, stützte sich mit den Händen auf die Ränder der Hängematte und meinte:

„Wenn Ihnen an einem neuen Angriff etwas gelegen ist: Ich helfe Ihnen! Ich kenne Senta Turnissoff von früher her.“

„Neuer Angriff? Nein! Es ist besser, mein Vater lebt weiter in dieser Welt falscher Vorstellungen. Er ist in seiner Weise glücklich.“

Bratzki machte ein unzufriedenes Gesicht. „Einer Senta darf man auch einen Scheinsieg nicht überlassen, Fräulein Astrid. Sollen Sie dieser Frau wegen allein in die Welt hinaus?!“

„Mein wahres Heim, meine neue Heimat ist nicht hier in Lindental,“ sagte sie mit einem leisen Lächeln. „Ich bin verheiratet; heiße eigentlich Frau Astrid Mark, oder – Anna Mark. Der Name ist bekannter.“ Ihre Augen ruhten auf Holck. „Besinnen Sie sich auf das kleine Märchen von der Nixe mit der Kröte auf dem Kopf, lieber Holck? – Sie nicken! Nun denn: Ich hatte es leicht, das Geschichtchen Ihnen fast wörtlich aus dem Roman zu wiederholen, den ich selbst geschrieben hatte!“

Auch Bratzki hatte diese Überraschung stumm gemacht. – Astrid verheiratet! Wer hätte das je geahnt.

„Ihnen beiden,“ fuhr sie da schon fort, „möchte ich die Gründe nicht verschweigen, weshalb ich diese Ehe geheim hielt; Sie beide sind Künstler, werden mich leichter verstehen, als dies bei meinem Vater der Fall gewesen wäre. – Ich liebe meine Kunst über alles. In meinem Leben nimmt sie die erste Stelle ein; die Liebe erst die zweite; der Ehrgeiz die dritte. Als ich zu schreiben begann, schon mit siebzehn Jahren, tat ich es nur für mich. Diese Arbeit war mit der größte Genuß; ich allein bildete meinen Leserkreis. Als meine ersten Novellen gedruckt und honoriert waren, kam der Ehrgeiz. Nie wuchs er über den Eigennutz hinaus, nie war er es, der mich ganze Nächte wachhielt. –

Ich lernte Doktor Mark kennen; war bereits das, was man eine Tagesberühmtheit nennt. Er warb um mich. Ich liebte ihn auch; wir verlobten uns heimlich. Damit begann der Kampf zwischen uns. Er wollte, daß die Liebe die Kunst zurückdrängen sollte; hatte eine Ehe im Auge, in der ich Hausfrau und Gattin, dann erst Weib sein sollte, das aus der Überfülle der Phantasie Menschenschicksale flicht. Er unterlag, da ich fest blieb, da ich ihn aufgeben wollte, falls er nicht in eine Ehe nach meinen Wünschen willigte. In seinem Heim, in unserem Heim hätte mir die Sammlung für ein restloses Ausbeuten meiner Arbeitskraft gefehlt, hätten mich die Kleinlichkeiten eines gemeinsamen Hausstandes, all das Alltägliche, nicht zu Vermeidende ständigen Beisammenseins abgelenkt, zersplittert und hinabgezogen in das oft befahrene Geleis staatlich begünstigter Menschheitsergänzung. Der frei schaffende Künstler wird großes nur hervorbringen, wenn er in jedem Augenblick die Möglichkeit hat, eine gehobene Stimmung auszunutzen, sich abzusondern, jedem Eindringen ablenkender Einflüsse einen Riegel vorzuschieben. Das konnte ich nur hier in Lindental – oben in meinem Zimmer. Königstraße 14 wäre ich Sklavin meiner Ehe geworden, hätte mein Mann wohl kaum geduldet, daß das Morgengrauen mich noch am Schreibtisch fand. –

Deshalb also mußte meine Heirat Geheimnis bleiben. Die große Philisterwelt hätte ja nie verstanden, warum Frau Doktor Mark von ihrem Gatten getrennt lebte, hätte meinen braven Fritz bedauert, belächelt, mich verurteilt. –

Nun werde ich doch mich fügen müssen –“ Sie lächelte, ihr Gesicht strahlte. „Denn es gibt etwas, das doch noch über der Kunst steht, selbst für mich. Senta hätte mich nie zu hausbackener Ehegemeinschaft gezwungen. Etwas anderes spricht hier ein ernstes, beglückendes Machtwort“ –! Sie schwieg, errötete leicht, blickte zu Boden.

Da sagte Bratzki leise: „Das Muttergefühl!“

Astrid nickte. „Ja! Fritz und ich werden nicht mehr lange allein sein, – bald zu dreien. – Und unser Kind wird eine Mutter haben, die es hegt und pflegt, wie jede Mutter es tut –“

Bratzki streckte ihr die Hand hin. „Sie sind ein seltener Mensch, gnädige Frau.“

Holck saß wie mit Blut übergossen in seiner Hängematte; dachte an den heutigen Vormittag – an die Schlucht am Strande, den spitzen Stein, an Astrids rätselhafte Worte – ‚reif für –‘

Er stotterte eine Entschuldigung, begann: „Gnädige Frau, verzeihen Sie mir, daß ich –“

Da unterbrach sie ihn freundlich und neckisch. „Wir bleiben Freunde, lieber Holck. Nennen Sie mich ruhig Frau Astrid. Und auch Sie, lieber Bratzki.“

Holck rief ganz begeistert: „Sie haben großen Einfluß auf alle Menschen, die Ihnen begegnen. Sie sind mehr als nur Künstlerin mit der Gedanken bannenden Feder, sind eine gute Fee und –“

„Nein – nein,“ lachte sie. Wurde aber sofort wieder ernst. „Ich werde Ihnen beweisen, lieber Holck, daß diese Fee auch sehr unangenehme Gaben verteilen kann. – Ich habe Sie in diesen Tagen hier genau kennen gelernt, auch Ihren inneren Menschen. Darf ich ganz ehrlich sein? – Nun denn: Sie, lieber Holck, werden in Ihrer Kunst im Gegensatz zu mir und vielen anderen nur dann Hervorragendes leisten, wenn Sie – sorgenlos, umgeben von Schönheit, Geschmack, Verfeinerung, leben. Lindental war der Prüfstein für Sie. Sie haben wohl selbst schon insgeheim Sehnsucht nach der – Heidemannstraße, sind hier eben wieder reif für – Marga geworden.“

Holck hatte den Kopf tief gesenkt, schwieg.

Und Bratzki sagte nun: „Es ist richtig. Du bist reif für die neue Marga, die dir jetzt all das gewähren wird, was zwischen euch früher als versagte Freiheiten den Zündstoff für die heftigen Szenen abgab.“

Der Maler hob den Kopf, schaute Astrid offen an.

„Bis vor wenigen Sekunden wußte ich nicht, wie es um mich bestellt war,“ erklärte er fest. „Jetzt weiß ichs.“

„Aus Ihrer Seele tiefem Brunnen mußten andere die Erkenntnis Ihrer selbst schöpfen, lieber Holck,“ meinte Astrid sinnend. „Nicht jeder findet so hilfsbereite Hände. Wie Unzählige nur vergeuden Jahre nutzlos damit, in ihrer Seele Brunnen nach dem Besten zu suchen, was für sie das Wasser des Lebens werden kann: Die Erkenntnis über sich selbst, auf der man dann weiter sein Dasein aufbauen kann als auf einem guten Fundament. –

So – und nun will ich nach Palmnicken hinüber, will meinen Fritz antelephonieren. – Auf Wiedersehen!“

Schnell eilte sie davon.

Bratzki schaute ihr nach, sagte: „Schade – ich hätte sie auch geheiratet.“

 

 

16. Kapitel

Die Freunde hingen eine Weile ihren Gedanken nach. Dann meinte Bratzki: „Wir bleiben also jedenfalls bei dem, was wir uns vorgenommen haben. Melcher hat uns bei Tisch zu einem ‚Abend-Lauben-Grog‘ eingeladen. Wir werden ihn um seiner Tochter willen schonen und von diesem rothaarigen Weibe befreien.“ –

Der Mond lugte in den Hof hinab; sah Packan mit spitzen Ohren vor der Hütte liegen, sah drei Männer und eine Frau an dem grünen Brunnen stehen.

Zwei der Leute ließen die lange Leiter hinab. Dann stiegen drei in den engen Schacht ein. Die Frau blieb allein zurück. –

Von Palmnicken kamen eng umschlungen Astrid und Fritz Mark daher. Telephonisch war er von ihr hergerufen worden, denn sie hatte die Sätze gehört, die Holck über den Brunnen heute in der Hängematte gesprochen. Da war ein längst schon reger Verdacht, aufgekeimt aus kleinen Beobachtungen, zur Gewißheit geworden. Es galt den Vater zu schützen. Und hierbei sollte der helfen, dessen Namen Astrid seit Monaten trug.

Astrid schmiegte sich fester an ihren Gatten.

„Fritz, ich habe etwas zu beichten,“ sagte sie leise und blickte geradeaus in das nächtliche, mondscheindämmernde Land. „Etwas Schlechtes, Fritz. Es muß herunter von meinen Herzen: – Holck – Holck hätte mir gefährlich werden können!“

Er blieb still.

„Fritz, – ich habe sogar ein wenig mit dem Feuer gespielt – nur in Gedanken; aber das ist vielleicht noch schlimmer. Gedankensünden sind Feigheiten. – Holck schien mir – ein Vollmensch zu sein; schien! Als ich ihn durchschaute, als ich seine Seele offen vor mir sah, als ich ihm voraussagen konnte, daß er vielleicht Hervorragendes, aber nie ganz Großes in seiner Kunst leisten würde, da – da fand ich mich von selbst zurück, da – war mein Fritz mir doch wieder der Eine, Einzige –“

Er blieb still. Preßte nur ihren Arm.

„Fritz – vielleicht war Holck mir auch nur Studienobjekt, – vielleicht sehe ich selbst nicht ganz klar. Aber ich mußte es dir jedenfalls beichten. – Bist du – verletzt?!“

Der schlanke Mann lachte sieges- und selbstbewußt.

„Närrchen – ich kenne dich doch! Als Schriftstellerin interessierte dich Holck, nicht als Weib. Hättest du sonst wohl stets so offen über ihn gesprochen – so ohne jede Scheu mir berichtet, worüber ihr euch auf den Spaziergängen unterhalten habt?“

Da blieb sie stehen, legte ihm die Arme um den Hals, küßte ihn, sagte weich und lieb: „Ich mag viel von einer Sphinx an mir haben. Aber: Die Sphinx wird sterben wenn – wenn wir erst zu dreien sind.“

*

Holck und Bratzki standen neben den Sonnenblumen und Disteln dicht am Zaun und spähten in den Hof hinein.

Senta hatte sich auf den Brunnenrand gesetzt, – rauchte Zigaretten; auch noch eine Liebhaberei aus der Rigaer Jugendzeit.

Dann stand sie auf, ging ins Haus; müde, ohne Kraft; wie zerbrochen war sie. – Im Schlafzimmer setzte sie sich in den Schaukelstuhl, der zwischen den Fenstern stand, grübelte weiter. Ihre Gedanken umspielten wieder die Münchener Zeit, – als sie Modell gewesen, als das Gold ihr in Strömen zufloß, als Bratzki die Amazone geschaffen, die sie dann vernichtet hatte; nicht nur die Amazone, – nein, ein ganzes Künstlerleben! Bratzki war seitdem nur mehr ein Mann ohne großes Streben, einer, der zur Hälfte seine Seele ausgehaucht, als er vor den Trümmern seiner größten Schöpfung stand. Und diese halbe Mörderin war sie – sie, Senta Turnissoff. Das – das hatte sie nie vergessen. Ihr Gewissen war alles andere als zart. Und doch – seltsam genug: Gerade der Gedanke, vielleicht ein bedeutendes Talent in seiner Entwicklung niedergehalten zu haben, beunruhigte sie so oft. Auch jetzt wieder. Bratzki war hier in Lindental erschienen. Der Bratzki, den sie einst geliebt, den sie nur aufgegeben, weil sie sich seinem starken Willen in all ihrer ungezügelten Selbstherrlichkeit nicht beugen mochte, weil sie fürchtete, er könnte sie ganz unterjochen. – Bratzki! In Münchener Künstlerkreisen nannte man ihn vielfach den eisernen Bratzki. Er war Mann – in allem – stets. Nur einmal hatte er versagt: Vor der gemordeten Amazone. –

Ja – ein Mann, wie er für ein Weib wie sie paßte, – eine Vollnatur, ein Herrscher. All die anderen, die ihren Weg gekreuzt: Nichts als Schwächlinge! – Sein Einfluß auf sie war in den Jahren, die inzwischen entschwunden, nicht geringer geworden. Täglich spürte sie es mehr. Er hatte Unruhe, Unstetigkeit in ihr Herz gebracht. Obwohl er sie wie eine Fremde behandelte, fühlte sie doch, daß er nichts vergessen hatte; nichts! Seine Augen ruhten oft so nachdenklich auf ihr, auf ihrem Gesicht. Was wollte er von ihr? Sich rächen? – Wohl kaum. Dazu war er zu groß – in allem. –

Und sie selbst? War die alte Neigung wieder erwacht? Sehnte sie sich danach, sich von ihm beherrschen zu lassen, ahnte sie, daß nur er sie zurückführen konnte aus dem Sumpfe des Lebens auf festen Boden?

Senta sank der Kopf auf die Brust. Eine Träne tropfte auf ihre Hand. –

*

Das junge Paar näherte sich vorsichtig dem Zauntor.

„Holck und Bratzki müssen hier irgendwo versteckt sein,“ meinte Astrid flüsternd und lugte durch eine Spalte in den Hof.

„Guten Abend!“ sagte jemand hinter ihnen.

Es war Bratzki. – Dann kam auch der Maler herbei. Man sprach leise miteinander.

„Ich habe dieselbe Vermutung wie Sie,“ meinte Astrid zu Tasso Bratzki. „Es kann sich nur darum handeln. – Was hätten sie sonst in dem Brunnen zu suchen? – Werden Sie meinen Vater schonen?“

„Ja! Weil Sie seine Tochter sind, Frau Astrid.“

„Ich danke Ihnen.“

Es war eine merkwürdige Szene. Astrid empfand dies gerade als Schriftstellerin stärker als die anderen.

Dann kletterte Bratzki über den Zaun, nachdem er Packan leise angerufen hatte, damit der Hund nicht laut wurde.

Packan hatte Astrid längst gewittert. Er stand aufrecht, winselte ganz leise. – Bratzki öffnete die verschlossene Pforte, indem er von innen den Riegel mit einer Latte zurückschob.

Nun lauschten vier Menschen tief vornübergebeugt in den dumpfen Brunnen hinein.

„Wir warten hier am besten, bis sie wieder auftauchen,“ meinte Astrid und setzte sich auf den Brunnenrand.

„Ich nicht,“ erwiderte Bratzki. „Ich möchte selbst hinab, sie belauschen. Wenn ich vorsichtig bin, ist keine Gefahr dabei. Außerdem – ich habe meinen Revolver mit.“

Tassilo Bratzki nahm die elektrische Taschenlampe, in die er vorhin eine neue Batterie geschoben hatte, in die Rechte, stieg auf die Leiter, stieg abwärts. Die kalte feuchte Luft legte sich beklemmend auf seine Brust. Er schaltete die Lampe ein. Das Brunnenloch war oben mit morschem Holz verkleidet. Dann kam Mauerwerk von einer Ziegelart, wie man sie vor langer, langer Zeit hergestellt hatte.

Der Lichtkegel glitt über die Wände hin; spiegelte sich wider in dem dunklen Wasser unten. Und dicht über dessen Oberfläche führte eine viereckige Öffnung in die Erde hinein – bildete die offene Pforte zu dem Geheimnis des grünen Brunnens. Dahinter lief ein gemauerter, mannshoher und etwa anderthalb Meter breiter Gang nach Westen zu – also in schräger Richtung auf das Meer hin.

Bratzki ging langsam, schaltete die Lampe immer nur für Sekunden ein; blieb häufig stehen, lauschte angestrengt; schritt tastend weiter.

Der Gang schien endlos. Dann zweigte nach links ein ebenso breiter ab. – Der Bildhauer stand an der Einmündung und überlegte; wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es hier unten fast kalt war.

Er wollte umkehren. Streckte dann plötzlich horchend den Kopf vor. In der Ferne war irgend ein Geräusch laut geworden. Und der Gang pflanzte den Schall ganz deutlich fort. Es klang wie ein Rauschen, Gurgeln; schwoll an zu dumpfem Brausen.

Bratzki hielt die Taschenlampe tief, leuchtete vor sich auf den Boden.

Eine feine Welle schmutzigen Wassers kroch da heran; langsam noch; leckte um des Bildhauers Füße; erhielt Verstärkung, beeilte sich mehr, reckte sich höher, glitt weiter.

Bratzki stand jetzt im Wasser. Es stieg zusehends. Da hastete er zurück. Es war höchste Zeit. Hinter ihm blieb stets wie das Keuchen eines verfolgenden Raubtiers das Plätschern der anschwellenden Wasser, trieb ihn in die Flucht.

Als er den Brunnen erreichte, sich auf die Leiter schwang, rann es bereits aus dem Gange heraus wie ein Bächlein, – kleine Rinnsale, die sich mit dem Brunnenwasser unten vermischten, sehr schnell zu einem Bache wurden, der hier zu münden schien und den unterirdischen Gang zum Kanal machte.

Aus dem Bache wurde ein starker Wasserstrom. Er füllte den Brunnen wie eine Riesenkanne.

Bratzki wich vor der steigenden Flut zurück, stieg Sprosse für Sprosse nach oben.

Holck rief ihn an: „Was gibt’s, Tasso?“

Und Astrid fragte: „Was bedeutet das Plätschern?“

Bratzki schaute empor, sah die drei Menschen, die zu ihm hinabspähten, gegen den Hintergrund des Sternenhimmels sich deutlich abheben mit ihren Oberkörpern über dem Brunnenrand.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete er laut. „Es scheint irgendwo ein Wassereinbruch erfolgt zu sein.“

Der grüne Brunnen füllte sich mehr und mehr. Das Wasser reichte bereits bis zur halben Höhe des Mauerloches, aus dem gurgelnd der Zustrom erfolgte. Bald verschwand das Loch ganz unter der höher kriechenden Flut, die dann aber plötzlich zu steigen aufhörte, nachdem sie den halben Brunnen verschluckt hatte.

Der Bildhauer wartete noch eine Weile, kletterte dann heraus aus dem jetzt unheimlich stillen Schacht, stand vor den drei Menschen, sah ihnen in die bleichen Gesichter und sagte leise:

„Was da unten weilt, kehrt nicht zurück!“

Astrid stützte sich auf den Arm ihres Gatten.

„Es kann nur das Meer sein, das seine Schätze verteidigte,“ meinte sie und erschauerte. „Mein armer Vater! Jede Schuld rächt sich auf Erden!“

 

 

17. Kapitel

Frau Senta lauschte. Vor dem Fenster Schritte – auch leise Stimmen; jetzt klopfte es gegen die festen Laden. Und – Astrid die Feindin, rief:

„Öffne – öffne, – es ist ein Unglück geschehen!“

Im Wohnzimmer brannte die Hängelampe über dem großen Eßtisch. Senta stand an dem braunen Kachelofen, die Hände auf dem Rücken, als wollte sie sich wärmen. Sie war blaß; die Augen, matt, glanzlos, blickten Bratzki an, der soeben kurz berichtete, was er dort unten erlebt hatte. Er saß am Tische; Holck neben ihm. Im Hintergrunde auf dem harten Sofa lehnte Astrid an der Brust ihres Mannes.

Dann begann Senta zu sprechen. Es war eine erloschene Stimme, die ohne Rücksicht, ohne Scheu jetzt beichtete.

„Ich habe bereits vor zwei Jahren in diesem Hause gewohnt – als Gesellschafterin eines alten Ehepaares, das hier im Sommer an der See Erholung suchte. Ich hörte von alten Leuten aus Palmnicken oft eine Sage erzählen, bald mehr, bald weniger ausgeschmückt, daß zur Zeit der Ordensritter hier im Samland bei Palmnicken ein Bernsteinwerk bestanden hätte, dessen Eingang in Gestalt eines Brunnens angelegt gewesen wäre, um diese Art der Bernsteingewinnung geheim zu halten. Die Ordensritter wollten nicht, daß auch an anderen Stellen der Samlandküste auf die leichte Weise nach dem lapis ardens, dem brennenden Stein, gesucht und so größere Mengen davon gefunden würden, die seinen Wert herabgesetzt hätten. –

So begann ich mich für die Bernsteingewinnung, den Bernstein selbst, zu interessieren, verschaffte mir ein Werk darüber, fand darin ausgeführt, daß tatsächlich bereits der deutsche Ritterorden um das Jahr 1450 den Bernsteinhandel im großen getrieben und viel an der Ausfuhr nach dem Morgenlande verdient hatte, fand weiter bestätigt, daß die sogenannte blaue Erde, die hauptsächlich den Bernstein enthält, hier in Palmnicken nicht nur dort vorkommen dürfte, wo das staatliche Bernsteinwerk jetzt den Abbau betreibt, sondern noch an anderen Stellen, traf auch auf eine Hindeutung auf die alte Sage und las weiter von den Millionen, die durch das Elektron, wie die alten Griechen den Bernstein nannten, verdient wurde.

So lernte ich den von mir bis dahin verachteten Bernstein mit anderen Augen ansehen, so vermittelte mir mein Interesse für ihn die Bekanntschaft mit Knaust, der gerade damals die Bildhauerei aufgegeben hatte und durch Bernsteinhandel und -schnitzei reich zu werden hoffte. Er verliebte sich in mich, und als er dann in einer alten Urkunde in Pillau eine Zeichnung der Lage des einstigen Bergwerks der Ordensritter entdeckt hatte, taten wir uns zusammen, um nach dieser Zeichnung den offenbar nicht nur sagenhaften Zugang zu suchen, fanden ihn auch – und gerade hier in Lindental. –

Ich will alle Einzelheiten übergehen. Jedenfalls gab Knaust dann das Geld her, mit dem ich Lindental so billig erwarb, nachdem wir in der Person Robert Melchers den Mann gefunden hatten, den wir für unseren Plan brauchten. Hätte Knaust das Gut gekauft, wäre vielleicht, da er Bernsteinhändler war, irgend ein Verdacht gegen ihn aufgetaucht, gerade hier in Palmnicken, an der Hauptgewinnungsstätte, unredliche Absichten zu verfolgen. Bei Melcher war ein solcher Argwohn ausgeschlossen. Er, der kurz vorher sein Vermögen verloren und den ich schnell in meine Netze zu locken wußte, erlag der Versuchung, sich diese neue Einnahmequelle zu schaffen.

Wir zogen hierher, und der Brunnen auf dem Hofe nahm so manche Nacht die drei Männer – Miletzki als Freund Knausts war auch noch ins Vertrauen gezogen worden – auf und ließ sie eindringen in die alten Stollen, auf die der eine Gang mündete, während der andere, wie wir wußten, ein Stück unter der See endete. Und hier am Endpunkte dieser Abzweigung sickerte nun schon stets Wasser durch die Erdschichten hindurch. Aber hier gab es auch die reichsten Lagerstätten der blauen Erde. Hier arbeitete Knaust jedoch meist allein, da Melcher stets davor warnte, die Erdmassen noch mehr zu lockern und damit zu schwächen, die das Wasser des Meeres von dem Gange trennten.

Knaust hörte nicht darauf. Die Habgier war größer als die ständige Furcht vor einem Einbruch der See an dieser Stelle. –

Melcher hat auch allein dort in den alten Stollen die blaue Erde durchwühlt, hat von Knaust jedoch für die Ausbeute dieser einsamen Nächte nur schlechte Bezahlung erhalten. Immerhin hatten wir für unseren Teil in diesem einen Jahre doch gut sechstausend Mark auf diese Weise verdient. –

Nun ist das geschehen, was stets zu befürchten war. Die See hat die Erdschicht durchbrochen, die Gänge überflutet und gefüllt, ebenso den Brunnen bis zur Höhe der Meeresoberfläche – die drei Männer sind tot. Nur ich lebe noch als einzige von denen, die hier den Staat, der in Palmnicken allein Bernstein zu graben berechtigt ist, zu betrügen suchten. –

So – und jetzt, wo ich nichts mehr hinzuzufügen habe, tun Sie mit mir, was Sie wollen! Übergeben Sie mich den Behörden! Ich will büßen, was ich verschuldet; ich habe dieses Leben satt. – Vielleicht – vielleicht bessert mich – das Gefängnis. Verschweigen läßt sich das ja kaum, was diese Nacht vernichtete. Das Verschwinden der drei, die der grüne Brunnen nicht mehr wiederhergeben wird, muß ja erklärt werden!“

Bratzki nickte. „Ja – es muß sein! – Hoffen wir, Senta Turnissoff, daß diese Tragödie in den Tiefen der Erde Sie wirklich zur Einkehr mahnt! Lassen Sie den grünen Brunnen und die, die er nicht mehr hergibt, für sich eine stete Mahnung sein, daß alles Tun der Menschen ausgeglichen wird – Gutes und Schlechtes. – Wir werden morgen, nein heute noch – denn draußen dämmert bereits der neue Tag herauf – Lindental verlassen. Leben Sie wohl, Senta. – Auch die Amazone ist jetzt durch das Schicksal gerächt worden –“ –

Die Gerichtsbehörden hatten keine Gelegenheit, sich mit Senta zu befassen; sie hatte sich noch an demselben Morgen in dem grünen Brunnen ertränkt. Packan war es, der durch sein Verhalten die Polizei auf die Selbstmörderin aufmerksam machte. Ihre Leiche fand man nicht. Sie war wohl durch einen seltsamen Zufall gerade in das Mauerloch geraten, das zu dem alten Bergwerk führte. Nur eine dicke Strähne ihres Haares fand man, die sich beim Sturz in die Tiefe in die Eimerkette verwickelt hatte. –

Holck und Bratzki saßen im Zuge nach Pillau. Der Maler wollte Frau Marga besuchen, und Bratzki sich mit dem Freunde nachher wieder treffen.

Beide waren schweigsam und insichgekehrt. Dann sagte Holck plötzlich:

„Jetzt, wo Knaust tot ist, kann ich dir auch mitteilen, weshalb ich den Inhalt des Geheimfaches des Ebenholzschränkchens zu fürchten hatte. –

Knaust und ich waren einst gute Bekannte. Er unterschlug als Kassierer des Berliner Künstlervereins große Summen. Lediglich aus Gutmütigkeit suchte ich als Vorstandsmitglied die Sache zu vertuschen und machte in einer Minute halber Unzurechnungsfähigkeit – ich kam betrunken zu der Strafkammersitzung – als Zeuge dann auch eine falsche Aussage, was Knaust später zu den schamlosesten Erpressungsversuchen benutzt hat. Er war der jämmerlichste Schurke, den ich kenne. Seine Erpresserbriefe hob ich mir auf, um nötigenfalls gegen ihn eine Waffe zu haben. – Das ist mein trauriges Geheimnis.“ –

*

Geheimrat v. Würgheim las folgende Stelle aus dem Briefe seines einzigen Kindes nochmals durch und hatte dabei so seine eigenen Gedanken:

„– Wir haben uns also vollständig ausgesöhnt. Ich werde Holck jetzt keine Szenen mehr machen, bin froh, daß er wieder mein ist. Ich liebe ihn –“

Der elegante Herr v. Würgheim lächelte nachsichtig, murmelte: „Ich habe Holck stets ganz richtig eingeschätzt. – Ein Leben ohne goldenen Hintergrund hätte er nicht mehr ertragen –“–

Siegi Holck ist eine bescheidene Berühmtheit, aber mit seiner Marga sehr glücklich geworden. Diese beiden Menschen brauchten eben mehr Zeit als andere Sterbliche, in der Ehe das zu lernen, was stets ein Haupterfordernis eines beide Teile restlos befriedigenden Miteinanders ist: Gegenseitige Rücksichtnahme. – Der grüne Brunnen hat auch ihnen eine weise Lehre gegeben.

Nicht minder hat er vorteilhaft in das Dasein Tassilo Bratzkis eingegriffen. Frau Astrid ließ nicht nach, den Schaffensdrang des talentvollen Freundes durch lange Briefe immer wieder zu beleben, erreichte es auch wirklich, daß Bratzki ein neues großes Werk in Angriff nahm – wieder eine Amazone, mit der er einen glänzenden Erfolg errang.

Der Käufer von Lindental, ein biederer Landmann, hat den grünen Brunnen zuschütten lassen. Jetzt wölbt sich an jener Stelle ein Hügel, mit Efeu bepflanzt und von einem eisernen Gitter umgeben. Ein Granitstein in Form einer jonischen Säule steht darauf, an deren Fuß eine Tafel aus demselben Material angebracht ist, die in Goldbuchstaben die Inschrift trägt:

Menschenseele, dem Brunnen wohl gleich!

Der Inhalt trübe, klar, kühl oder weich. –

Schöpf’ nie zu tief! – Beachte: Der Brunnen, der beste,

enthält in der Tiefe stets schlammige Reste!

 

 

Fußnoten:

1 Branken besitzt noch keine Stadtrechte, nur einen ‚Bürgermeister‘ seiner 3 000 Einwohner wegen

2 Sie haben eine Eule!

3 Elfisches Wesen; Figur bei Gerhart Hauptmann