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Der große Film

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 355

Der große Film.

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1916 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

1. Kapitel

Der warme, sonnige Apriltag, der all den Menschen draußen auf der Straße etwas von seinem bezwingenden Zauber ins Herz gab, die Bewegungen lebhafter, die Gesichter angeregter, die Augen froher machte, hatte keine Macht über die Mitglieder der Familie Sander, die sich soeben um den Mittagstisch setzten.

Schweigend wurde die Suppe verzehrt. Dieses Schweigen war eine Art Rücksichtnahme auf Melanie Harrig, die heute den erwartete, der sie abermals so schwer enttäuscht hatte.

Herr Max Sander, Melanies Stiefvater, zerteilte mit feierlicher Umständlichkeit jetzt den Rinderbraten. Anni Sander trommelte ungeduldig auf dem Tellerrand einen Marsch. Ihre Mutter wieder seufzte verschiedentlich verstohlen auf.

Mela starrte durch das offene Fenster ins Weite. Ihr kam die ungemütliche Stille in dem großen, mit ein wenig spießbürgerlichem Geschmack eingerichteten Eßzimmer zunächst gar nicht zum Bewußtsein. Ihre Gedanken hasteten seit vorgestern, als Erwins Brief eingetroffen war, von diesem zu jenem, kehrten an den Ausgangspunkt zurück, prüften nochmals genau jedes Für und Wider des gefaßten Entschlusses und machten so fortwährend die Runde, wobei doch keinerlei Änderung des Endergebnisses dieser peinvollen Denkarbeit eintrat.

Als Max Sander, der heute zu Ehren des prachtvollen Frühlingswetters und des der Erholung gewidmeten Sonntags über dem runden Bäuchlein eine weiße Weste trug, nun zu der Stieftochter mit seiner heiseren Stimme sagte: „Mela, bitte deinen Teller!“ Da erst merkte sie, daß der bisherige Verlauf des Mittagessens selbst für die Verhältnisse in ihrem Elternhause allzu ungemütlich gewesen. Nur um etwas zu sprechen meinte sie, nachdem der Stiefvater ihr, wie es bei Sanders üblich war, von dem Sonntagsbraten eigenhändig zunächst zwei Scheiben aufgelegt hatte:

„Ich werde Erwin nachher von der Bahn abholen. Wir finden uns dann vielleicht zum Kaffee rechtzeitig ein.“

Herr Sander räusperte sich, füllte Annis Teller und erklärte in jenem vorsichtig zurückhaltenden Ton, den er der volljährigen Stieftochter gegenüber stets anschlug:

„Hm, ja, liebes Kind, – ich will dir meinen Rat gewiß nicht aufdrängen. Aber – gedenkst du diese Verlobung wirklich noch aufrecht zu erhalten?“

Frau Emilie, heute im Schmuck all ihrer Pretiosen, die freilich in der Gesamtheit einen recht bescheidenen Wert hatten und nur durch die Menge, wenn auch nicht gerade geschmackvoll wirkten, nickte ihrem zweiten Gemahl, der sie ebenso sehr beherrschte, wie dies bei dem ersten umgekehrt der Fall gewesen, aufmunternd zu und wagte auch die mahnende Frage: „Ja, willst du das wirklich?“ Worauf Anni sofort, recht froh darüber, daß endlich dieses Thema zur Besprechung gelangte, schnell hinzufügte: „Wenn ich an deiner Stelle wäre, Mela, – ich würde endlich Ernst machen! Er nutzt dich doch nur aus.“

Mela richtete die grauen, kühlen Augen sofort auf die um vier Jahre jüngere Stiefschwester und sagte, ziemlich scharf diese Einmischung ablehnend:

„Ausnutzen?! – Ein Urteil hierüber steht dir kaum zu. Jedenfalls war diese Äußerung recht unüberlegt, da für Erwin beleidigend!“ Und zu dem Familienoberhaupt gewendet, der bereits mit Behagen dem Rinderbraten alle Ehre antat: „Mein Entschluß ist bereits gefaßt. Ich werde Erwin einen Vorschlag machen, von dessen Annahme alles weitere abhängt. Ihr werdet meine Entscheidung noch heute hören.“

Damit war für sie die Sache zunächst erledigt.

Anni, die heute eine neue, helle Seidenbluse trug und morgens nach zweistündigem Probieren endlich auch die Modefrisur – Turban – für ihr dunkelbraunes, etwas dünnes Haar fertiggebracht hatte, verzog die kurzen, vollen Lippen auf den ihr soeben erteilten schwesterlichen Verweis hin zu einem halb verlegenen, halb spöttischen Lächeln und meinte jetzt: „Entschuldige nur. Ich glaubte, du vertrügest die Wahrheit.“

Mela erwiderte nichts. Sie fühlte den aufreizenden Blick der Mutter auf sich ruhen, die wohl das Heraufziehen eines der bei Sanders nicht gerade seltenen häuslichen Gewitter heute gar nicht ungern gesehen hätte. Aber zu einem erregten Wortwechsel, bei dem vielleicht wieder wie leider so oft ihr Temperament mit ihr durchging, hatte Mela heute keine Lust, obwohl Anni eine kräftige Rüge fraglos verdient hatte.

Max Sander füllte sich frische Tunke auf, zerquetschte die Kartoffeln mit der Gabel und wiegte dabei recht bedenklich den Kopf mit dem die große Glatze nur spärlich verhüllenden durchgezogenen Scheitel hin und her. Er liebte es, in gewissen Fällen unpersönliche Bemerkungen zu machen, und diese Anläufe zu Sprüchen der Lebensweisheit entbehrten für Mela nie einer gewissen Komik, während Frau Emilie und Anni, geistig weniger auf der Höhe, den erheiternden Widersinn dieser Sentenzen kaum je herausmerkten.

„Selbstständigkeit ist eine gute Sache, wenn sie sich zu beiden Seiten auf die Lebenserfahrung wohlmeinender Freunde stützt, liebes Kind,“ sagte er zu der Stieftochter und schaute kritisch den Brei auf seinem Teller an, goß nun nochmals Tunke darüber und fuhr fort: „Mit dreiundzwanzig Jahren hat man leider noch nicht genug Erfahrung gesammelt, um ohne Krücken gehen zu können.“

„Das heißt also, Papa, ich soll euch zunächst mal den Vorschlag, den ich Erwin machen will, zur Begutachtung unterbreiten, – nicht wahr?“ Mela sagte das sehr ruhig und ohne jede Schärfe. Sie wollte keine Szene heraufbeschwören, die dann ja doch wieder nur zwischen ihr auf der einen und der Mutter und Anni auf der anderen Seite stattfinden würde, da Herr Max Sander es stets verstand, das Feuer zu schüren, ohne sich je die Fingerspitzen auch nur ein wenig zu verbrennen.

„Natürlich – natürlich!“ rief Frau Emilie lebhaft und schaute ihren Mann dabei an, um von ihm einen freundlichen Blick für diese Unterstützung seiner Absichten zu erhaschen. Sie war noch immer eine recht stattliche Frau, und das weiße, etwas kokett getragene reiche Haar wirkte zu dem rosigen Gesicht mit den lebhaften, dunklen Augen, wie eine jener kleidsamen Perücken des galanten Zeitalters. In ihrem Wesen war stets eine widerspruchsvolle Unausgeglichenheit, die wohl ihre Ursache in der ewigen Sorge hatte, ihr zweiter Gatte, den man einst den schönen Max genannt, könnte mit seinem noch immer für die holde Weiblichkeit recht empfänglichen Herzen eines Tages sich von ihr abwenden.

Mela antwortete auch jetzt beschwichtigend. „Gewiß, Papa mag recht haben. Bei so ernsten Dingen sollte man den Rat der Eltern einholen. Es handelt sich hier jedoch noch um Verhältnisse, die sehr verschieden beurteilt werden können.“

„So, so,“ meinte Herr Sander, wieder den ernstlich Besorgten in Ton und Miene hervorkehrend. „Gut, lassen wir’s also!“ Dabei war er aber innerlich nicht wenig beunruhigt durch Melas Andeutung. Wenn es sich nicht bei alledem um Geld gehandelt hätte, wäre ihm ja diese Verlobung höchst gleichgültig gewesen. Ja – ihn hätte es insgeheim sogar gefreut, wenn seine Stieftochter, die er wahrlich nicht liebte, durch Erwin Benkwitz noch weiter hingehalten und enttäuscht worden wäre. Mela war für einen Mann von seinem durch nichts begründeten Selbstbewußtsein und seiner geschmeidigen Hinterhältigkeit ein steter wandelnder Vorwurf. Er haßte der Stieftochter offenes Wesen, gediegene Bildung, verfeinerten Geschmack und abwägende Klugheit, fühlte sich längst von ihr durchschaut und sah in ihr nur die Feindin, die sein Autoritätsstreben hier im Hause leicht untergraben konnte.

Auch Frau Emilie und Anni brannten vor Neugier, was es wohl mit dieser Angelegenheit, die Mela nicht preisgab, auf sich haben könnte. Freilich aus anderen, weniger wichtigen Gründen als der Hausherr. Sie mußten sich jedoch noch gedulden, denn Mela begann jetzt über den für den Sommer geplanten Aufenthalt in dem kleinen Seebad Heubude zu sprechen und riet, recht bald eine Wohnung zu mieten, da sie gehört, daß viele bekannte Familien, die bisher das lebhaftere Zoppot gewählt gehabt hätten, der dort erhöhten Kurtaxe wegen das billigere Heubude vorziehen wollten.

Die Wahl dieses neuen Gegenstandes für die Tischunterhaltung war insofern eine recht glückliche, als Frau Emilie und Anni von Heubude nichts wissen mochten und nun mit Sander, der wieder für den stillen Badeort schwärmte, in einen bald sehr erregten Meinungsaustausch gerieten, wobei auch Frau Emilie, was höchst selten geschah, ihrem Gatten wortreich widersprach und zum Schluß ihrer Lobrede auf Zoppot anführte, man müßte doch auch auf Anni Rücksicht nehmen, da deren ernsthaftester Bewerber, der Dr. Sperling, in Oliva wohne und kaum je Zeit finden würde, die umständliche Fahrt nach Heubude zu unternehmen, während es bis Zoppot nur ein Katzensprung wäre.

Mela beteiligte sich kaum bei diesem Kampf, ob Zoppot oder Heubude, war froh, ihren Gedanken nachhängen zu können und zog sich dann nach Tisch sofort auf ihr Zimmer zurück, das neben dem ‚Salon‘ nach vorne heraus lag.

Hier stand sie eine Weile sinnend vor der großen Photographie ihres Verlobten, die auf dem mit allerlei wertvollen Nippes bestellten Bücherschränkchen zwischen den Marmornachbildungen des Dornausziehers und des Diskuswerfers ihren Platz hatte.

Erwin Benkwitz mußte dieser Photographie nach eine recht ansprechende Erscheinung sein. In dem regelmäßigen Gesicht störte nur ein Zug hochmütiger Überlegenheit, den er vor dem Apparat vielleicht absichtlich besonders stark hatte hervortreten lassen.

Mela Harrig atmete jetzt tief auf, ging zum Fenster und setzte sich in den Schaukelstuhl. Es war dies ihr Lieblingsplatz. Schaute sie hinaus, so konnte ihr Blick weit hinwegschweifen über den Innenhafen Danzigs, über die uralten, würdigen Speicher, über die am Bollwerk vertäuten Seeschiffe und betagte, seltsam gebaute Häuschen, die neben dem Krahntor mit seinem hochragenden Aufbau so winzig und zwergenhaft erschienen.

Mela sah die Sonne mit breiter, schillernder Bahn die Wasseroberfläche zeichnen, sah den kleinen Tourendampfer nach Heubude an der nahen Haltestelle anlegen, die geputzten Menschen auf das Deck strömen, beobachtete die schwarze Qualmfahne, die nun aus dem Schornstein hochquellend sich bald wieder senkte und in breiter Wolke vor dem Winde auf die Speicher zutrieb und für Sekunden alles in häßliche Nebel hüllte.

Sie liebte den Hafen mit seinem wechselnden Treiben. Er war ihr das Bild der Arbeit, geregelter Tätigkeit, erwerbstüchtiger Geschäftigkeit.

Unwillkürlicher dachte sie jetzt an diese Schwärmerei, die bei einer Natur, wie sie es war, ihr gutes Recht hatte, denn sie ähnelte ihrem verstorbenen Vater auch in dieser Beziehung, hielt Arbeit für eine Pflicht, die stille Zufriedenheit in jedem Falle gewährte, selbst wenn der Erfolg nicht den Erwartungen entsprach. –

Und ihre Gedanken glitten unversehens von dieser Liebe wieder zu der anderen hin – zu ihrem Verlobten. Sie schloß die Augen; sie zwang Erinnerungen an köstliche Tage jugendlicher Freude herbei, – an jene Zeit, als sie, noch ein halbes Kind im halblangen Kleide, mit dem schlanken, hübschen Studenten die ersten scheuen Zärtlichkeiten unter den hohen Buchen des Langfuhrer Waldparkes ausgetauscht hatte. Fast sechs Jahre lag das nun zurück, – nur noch ein Monat fehlte, dann war sie sechs – sechs endlose Jahre verlobt, endlos für ein Mädchen, dem das Blut so heiß durch die Adern kreiste und dem der Tag der Hochzeit nicht schnell genug kommen konnte. Aber – sie hatte warten gelernt; das Blut war ruhiger geworden; der Sinn ernster nach alldem, was ihr die lange Brautzeit gebracht. Der, der einst ihr Abgott gewesen, hatte von Jahr zu Jahr mehr von seinem bezwingenden Nimbus verloren; aus der Hülle von hinreißender Lebensfreude und sieghaftem Selbstbewußtsein hatte sich ein alltäglicher Kern herausgeschält.

Mela öffnete die Augen. Ihre Armbanduhr zeigte die dritte Nachmittagsstunde. Es war Zeit, zum Bahnhof zu gehen.

 

 

2. Kapitel

Das Haus, in dem Sanders das erste Stockwerk bewohnten, lag am Ende des sogenannten Fischmarkts, der an der Westseite des Hafens entlangführenden Straße. Es war ein neues Gebäude, paßte nicht recht in diese Umgebung hinein, lehnte sich links an die Schifferkneipe ‚Zum lustigen Marten‘, rechts an die Segelmacherei von Eduard Karlke, beides kleine, verwitterte Häuschen mit geschweiften, braunen Ziegeldächern und halb erblindeten Scheiben.

Im Erdgeschoß gab es zwei Läden, das Materialwarengeschäft von Franz Konopke und den ‚Frisiersalon‘ des Herrn Günter Kersten.

Diesem Hausgenossen begegnete Mela vor der Tür, wo sie einen Augenblick stehen geblieben war, um die Handschuhe überzuziehen.

Er grüßte sehr höflich und sprach sie an.

„Ich wollte Ihnen nur mitteilen, gnädiges Fräulein, daß ich gestern den neuen Roman von Meyrink erhalten und für Sie zurückgestellt habe.“

Kersten war ein recht tüchtiger Geschäftsmann. Als er gemerkt hatte, daß dem Hafenviertel eine Leihbibliothek fehlte, war er sofort ans Werk gegangen, diesem Mangel abzuhelfen, obwohl die Zusammenlegung dieser beiden Geschäftsarten, Haareschneiden und Bücher verleihen, etwas ungewöhnlich war. Er hatte hierbei jedoch soviel Umsicht und Geschick bewiesen, daß er jetzt, nach zweijährigem Betriebe der Leihbibliothek, jeder Geschmacksrichtung seiner recht verschieden gearteten Kundschaft nachkommen konnte, nachdem er anfangs, nur mit Lesern aus einfacheren Kreisen rechnend, wahllos zusammengekauft hatte, was er an Büchern billig auf Versteigerungen und aus Nachlässen erwerben konnte. Wenn er jetzt mit seinen Bücherschätzen auf der Höhe war, so hatte er dies hauptsächlich Melanie Harrig zu verdanken, die als seine erste Kundin keine Gelegenheit hatte vorübergehen lassen, ihm wertvolle Winke betreffs Ergänzung der Bibliothek zu geben. Neben Mela war wohl Günter Kersten selbst der fleißigste Abonnent des neuen Unternehmens gewesen. Beseelt von einem Bildungsdrang, dem er leider infolge des frühen Todes seines Vaters, eines Hafenlotsen, nur bis zum Besuche der Quarta des Königlichen Gymnasiums hatte nachgehen können, und fortwährend verfolgt von dem heißen Wunsche, den nur seiner schwächlichen Gesundheit und der gänzlichen Mittellosigkeit seiner Mutter wegen gewählten Beruf einmal gegen einen anderen zu vertauschten, war er noch heute mit seinen fast dreißig Jahren genau so eifrig bestrebt, sein allgemeines Wissen zu ergänzen und zu vertiefen, wie an dem Tage, als er in dem Hause am Fischmarkt das Friseurgeschäft, dank der pekuniären Unterstützung eines Gönners, aufmachen und sich nun auch manche Stunde abknapsen konnte, die er in ebenso nachdrücklicher wie leider auch systemloser Lernarbeit zubrachte. Auch hier hatte Melanie Harrig sich als wohlmeinende Beraterin betätigt, hatte dem bescheidenen Hausgenossen, dessen Mutter für Sanders die Wäsche bügelte, mit guten Winken den Weg gewiesen, wie er allmählich die Lücken seiner Bildung am vorteilhaftesten ausfüllen und wie er am leichtesten sich eine Durchschnittskenntnis der alten und der modernen Sprachen aneignen könnte.

Günter Kersten hieß jetzt nicht nur in der Nähe des Fischmarktes, sondern auch in entfernteren Stadtvierteln allgemein der ‚Bücher-Barbier‘, einmal der Leihbibliothek, dann aber auch seiner Belesenheit wegen, die ihn für zahlreiche Arme zu einer Art Auskunftei gemacht hatte, worauf er nicht wenig stolz war. In der Tat brachte man ihm ein Vertrauen entgegen, das ihn Mitwisser mancher seltsamen Vorfälle, stiller Tragödien, und auch lächerlichen Lebenskomödien werden ließ – ja, das ihn sogar zwang, sich auch juristische Kenntnisse zu erwerben, um all den Ratsuchenden, von denen er nie einen Heller verlangte, gerecht werden zu können.

Melanie Harrig hatte den Werdegang dieses intelligenten und mit einer guten Portion natürlichen Mutterwitzes ausgestatteten Menschen voller Anteilnahme verfolgt. Ihrem ganzen Wesen, dem Hochmut völlig fremd, dafür aber ein reges Interesse für besonders geartete Charaktere eigen war, entsprach es durchaus, wobei ihr nichts ferner lag als etwa originell zu erscheinen, Kerstens Eifer anzuspornen und ihn durch den Hinweis auf seine vielseitige Begabung immer wieder zu ermuntern, seinen Plan, trotz seiner Jahre noch einen anderen Beruf als Barbier zu ergreifen, nicht aufzugeben. Vier Jahre währten diese ungewöhnlichen Beziehungen zwischen ihnen bereits, und Mela hätte nicht Weib sein müssen, um nicht längst erkannt zu haben, daß Günter Kersten sie heimlich liebte, mehr noch, daß er sie als seinen guten Engel vergötterte.

Wie er jetzt so in seinem blauen Anzug, dem kurzen Sportpaletot, der tadellosen Wäsche und der geschmackvollen Krawatte vor ihr stand, sagte sie sich wieder – zum so und sovielten Male, – daß niemand in diesem unauffällig elegant gekleideten Herrn so leicht einen Friseur vermutet hätte. Gerade der ständige Aufenthalt hier am Hafen hatte aus dem schwächlichen, blassen Jüngling einen jetzt frisch und gesund aussehenden, schlanken, kräftigen Mann gemacht, dessen stets glattrasiertes, ebenso energisch geschnittenes wie geistig belebtes Gesicht mit den etwas schwermütigen dunklen Augen fraglos unter der holden Weiblichkeit der Fischbrücke manches Unheil anrichtete. Mela wußte, daß Kersten bereits verschiedene gute Partien sehr zum Ärger seiner Mutter ausgeschlagen hatte, ahnte auch, weshalb er noch immer Junggeselle war – ihretwegen, – seiner stillen Liebe wegen.

Sie streckte ihm jetzt die Hand hin und sagte:

„Ich danke Ihnen, Herr Kersten. Ich werde jetzt aber wohl mit meinem Hinweis auf wichtige Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt vorsichtiger sein müssen. Sie kaufen zu viel, stürzen sich doch nur meinetwegen in Unkosten. Das darf nicht sein. Sie müssen stets ein weiser Kaufmann bleiben. Und weise ist der, der die Einnahmen richtig verteilt für die Unkosten, Neuanschaffungen und – die Sparkasse.“

„Oh, gnädiges Fräulein, ich bin weise, keine Sorge,“ meinte er zwanglos lächelnd. „Die Sparkasse kommt nie zu kurz, schon meiner Mutter wegen, die nur für zwei Bücher Interesse hat: Gebet- und Sparkassenbuch.“ Und nach kurzer Pause fügte er lebhafter und ernst sachlich hinzu: „Ich werde von dem Kauf der Müllerschen Buchhandlung doch wieder Abstand nehmen. Ich habe jetzt einen anderen Entschluß gefaßt, über den ich vorläufig noch nicht sprechen möchte. Sie würden ihn ohne Frage etwas sehr romantisch finden, gnädiges Fräulein. – Haben Sie davon gehört, daß der Danziger Verkehrsverein einen Propagandafilm hat aufnehmen lassen?“

„Gewiß. Aber was hat dieser Film –“

„– mit meinen Plänen zu tun, nicht wahr? – Das wollten Sie doch sagen,“ meinte er etwas verlegen. „Vielleicht kommen Sie dahinter, wenn Sie ihn sich ansehen. Der Film ist bekanntlich nicht lediglich eine Reihe von Bildern unserer Stadt, sondern in Form eines Lustspiels zusammengestellt, dessen Handlung freilich größeren Ansprüchen nicht genügt. – Ich will jedoch hierauf jetzt nicht näher eingehen. Sie haben es auch sicherlich eilig, gnädiges Fräulein.“

Mela nickte zerstreut. Sie dachte darüber nach, in welchem Zusammenhang der Film ‚Das Danziger Mädel‘ mit Kerstens ehrgeizigen Zukunftswünschen stehen könnte. Dann sagte sie ein wenig ungeduldig:

„Lassen Sie mich nicht lange raten! – Um was handelt es sich?“

Er wurde jetzt rot und schaute zu Boden.

„Mitglieder des Theatervereins ‚Geselligkeit‘ haben bei dem Film hauptsächlich mitgewirkt,“ erklärte er zögernd.

„Ah so, – Sie wohl auch?“

„Ja. Und –“

„Wie – wollen Sie etwa Filmschauspieler werden?!“ unterbrach sie ihn hastig. „Nur das nicht! Ich habe schon immer gefürchtet, Sie könnten einmal durch Ihre allzu lebhafte Phantasie und Ihre Neigung für das Theater ungünstig beeinflußt werden. Bleiben Sie einem ernsten, wenn auch nüchternen Berufe, treu, – geben Sie die Idee nicht auf, Buchhändler zu werden. Es ist das einzig Richtige für Sie. –

Jetzt muß ich aber fort. – Wie geht es Ihrer Mutter? Hoffentlich besser?“

„Etwas. – Der Arzt meinte, ich sollte die Krankheit nicht so leicht nehmen. Es wird sich also doch wohl um mehr als nur eine einfache Influenza handeln.“

„Nur nicht bange werden, Herr Kersten! Bei der robusten Natur Ihrer Mutter ist kaum zu befürchten, daß die Sache ernster wird. – Auf Wiedersehen!“

Er schaute ihr nach, wie sie schnell und doch ohne die jeder Grazie feindliche Hast dahinschritt mit ihrem leicht wiegenden Gang. Und er seufzte tief auf. Die Sanderscher Köchin hatte ihm heute früh mit einer gewissen Schadenfreude erzählt, daß der Bräutigam des gnädigen Fräuleins heute aus Berlin zurückkäme, – schadenfroh, weil diese vollblütige, heiratstolle Ulrike, die Günter Kersten für sich zu gern erobert hätte, mit dem feinen Instinkt aller Verschmähten herausfühlte, wem seine Neigung gehörte.

Melas Verlobter! Und Günter Kerstens Klassenkamerad von Quarta her, die er nicht mehr hatte durchmachen können, da das Geld fehlte.

Kersten war’s, als schiene die Sonne plötzlich nicht mehr so hell. Er hatte eigentlich einen Spaziergang machen wollen – am Hafen entlang bis zu den Werften, wo sein neuer Freund wohnte, der Ingenieur Olfer, den er in der ‚Geselligkeit‘ kennengelernt hatte.

Mela ging Erwin Benkwitz von der Bahn abholen – ohne Zweifel! Denselben Erwin Benkwitz, dessen Mutter auch des öfteren schon abends in aller Heimlichkeit bei dem Bücher-Barbier, dem Ratgeber aller Unbemittelten, gewesen. Und arm war die Frau Major Benkwitz ja. Das wußte in Danzig jeder Geschäftsmann, der einmal mit ihr zu tun gehabt hatte – jeder! Jetzt freilich borgte ihr niemand mehr.

Und Günter Kerstens Gedanken wurden so auf etwas anderes gelenkt, – auf seine eigene Vermögenslage, seine Zukunftsaussichten und -pläne. Melanie hatte ihn so dringend gewarnt. Vielleicht hatte sie recht damit. Aber – es gab für ihn seines Erachtens nur einen Weg, gänzlich herauszukommen aus seiner bisherigen Umwelt und die Menschen vergessen zu machen, daß Günter Kersten einst den Kunden die Gesichter eingeseift und mit manchen dabei über Hauptmanns neuestes Drama, mit anderen wieder über Karl Mays Reisegeschichten gesprochen hatte. Nicht als Buchhändler konnte er den früheren Friseur ganz abschütteln – nur als Künstler! Einen berühmten Tenor zum Beispiel feierte man nicht deswegen geringer, weil er mal Maurergeselle gewesen, und einen Günter Kersten würde auch die erste Gesellschaft für voll nehmen, wenn er… Aber – das waren alles vorläufig nur Träume, – Träume, die heute früh erst sein Hirn geboren, als die Köchin ihm noch weiter erzählt hatte, daß der Herr Referendar im Assessorexamen durchgefallen wäre, wie Fräulein Anni ihr anvertraut hätte, und daß Fräulein Mela seit Eintreffen dieser Nachricht herumginge, als ob sie ‚zehne gefressen und den elften gerade am Wickel hätte‘. –

Und da war urplötzlich in dem übervollen Herzen Günter Kerstens eine seltsame Hoffnung aufgezuckt. Das, was ihm bisher unmöglich und unerreichbar erschien, dünkte ihm jetzt nähergerückt zu sein. Vielleicht – vielleicht ging diese Verlobung auseinander. Und dann – dann – brauchte er nur den Bücher-Barbier ganz abzustreifen, um die Augen zu der erheben zu dürfen, die seine gute Fee gewesen.

Vorhin nun wieder der Rückschlag nach diesen Stunden einer gehobenen Stimmung. Mela holte Benkwitz vom Bahnhof ab! War das nicht Beweis genug dafür, daß sie dem Verlobten diese herbe Enttäuschung bereits wieder verziehen hatte?! Waren somit nicht all diese schnell erwachenden Hoffnungsträume bereits wieder eitel und nichtig? Würde nicht auf Mela das, was die Frau Major als größte Überraschung für ihren Ältesten in Bereitschaft hatte, ähnlich wirken wie auf so unendlich viele, die ehrfurchtsvoll vor ein paar im Grunde doch so nichtssagenden Buchstaben einen tiefen Bückling machen?!

Günter Kersten war mit seinen Gedanken bei einem gefährlichen Gegenstand angelangt. Standesunterschiede, Standesbewußtsein, Kastengeist, Cliquenwirtschaft –: man kam über all diese Wege zu demselben Ziel! Und an diesem Ziele prankte für den belesenen, weltklugen Friseur eine in grellen, höhnenden Farben gehaltene Tafel, auf der in Riesenbuchstaben zu lesen war: ‚Nicht der Wert deiner Persönlichkeit hilft dir vorwärts, sondern der Name, den du trägst, denn mit diesem Namen verknüpft sind die Grundbedingungen deiner Stellung im Leben!‘

Kerstens intelligentes Gesicht hatte einen festeren, feindseligen Ausdruck angenommen. Es gab Stunden, wo in seiner Seele ein heimlicher Haß aufglomm gegen alle die, denen ihre Herkunft es leicht gemacht hatte, sich eine angesehene Stellung zu verschaffen. Gerade er, der sehr wohl fühlte, wie wenig sein Beruf seinen Fähigkeiten entsprach, mußte notwendig zu einem Kämpfer gegen die bestehende Gesellschaftsordnung werden. Ganz allmählich hatten sich in seinem regen Geist Ideen eingenistet, die er keineswegs wahl- und kritiklos in sich aufnahm. Seit kurzem hatte er dann auch auf diesem neuen Pfade seiner geistigen Entwicklung einen Führer gefunden: den Ingenieur Horst Olfer.

Ja – er wollte doch zu ihm gehen! Dort würde er sein Herzeleid – Mela – vergessen, wenn Horst Olfer im Zimmer auf und ab eilen und mit satanischer Beredsamkeit über Dinge sprechen würde, die erst die moderne Zeit in den Vordergrund des allgemeinen Interesses gerückt hatte.

 

 

3. Kapitel

Frau Major Benkwitz setzte sich vor dem Spiegel im Wohnzimmer den Hut auf. Trotz der recht fadenscheinigen Vornehmheit ihres Anzugs war sie alles in allem eine imponierende Erscheinung. Groß, schlank, mit lebhaften, dunklen Augen in dem stets leicht gepuderten Gesicht schien sie weit jünger als sie es in Wirklichkeit war. Jede ihrer Bewegungen drückte zielbewußte Willensstärke aus. Für den guten Menschenkenner freilich verriet ein Zug von Bitterkeit um den üppigen Mund und etwas Unsicheres im Blick vieles von all den Widerwärtigkeiten, mit denen diese Frau beständig im Kampf lag und die sie doch nach außen hin zu verbergen trachtete.

Wera Benkwitz saß am Fenster und paßte auf sechs Kopierrahmen auf, die sie zum Belichten in die Sonne gestellt hatte. Sie war das verjüngte Ebenbild der Mutter. Jedoch nur äußerlich.

Jetzt sagte sie, und schaute dabei auf die enge Gasse hinab, auf der eine Schar sonntäglich gekleideter Kinder Ball spielte und unter Lachen und Kreischen hin und her lief:

„Nein, geh’ nur allein zur Bahn, Mama. Du weißt, ich schäme mich geradezu vor Mela, vermeide gern jedes Zusammentreffen mit ihr. Der Gedanke, daß Erwin mit ihrem Gelde die Fortsetzung seiner unglückseligerweise ihm von dir aufgedrängten juristischen Laufbahn durchführt, hat etwas unendlich Demütigendes für mich.“

„Das alte Lied,“ lachte die Majorin ärgerlich auf. „Wenn man arm ist, muß man sich das Feingefühl abgewöhnen.“

„Muß?! – Nein, Mama, – man muß nicht, keineswegs! Viele tun es leider; alle die, die die Armut unter äußerem unwahren Schein zu verbergen suchen.“

Frau Benkwitz zuckte nur die Achseln, nahm nun ein Paar sorgsam geschonte Wildlederhandschuhe aus einem Kasten und verließ wortlos das mehr als bescheiden möblierte Zimmer.

Wera prüfte den Fortschritt der Belichtung ihrer Photographien und lauschte dabei auf die Töne, die jetzt durch die verstellte Tür nach dem Nebenzimmer undeutlich an ihr Ohr drangen. –

‚Olfer übt sich wieder im öffentlichen Reden‘ dachte sie. ‚Schade, daß man nur einzelne Worte versteht. Ich höre ihm so gern zu.‘

Die Bilder zeigten den gewünschten Bronzeton, und Wera konnte neue Kopierblätter in die Rahmen einspannen. Die fertigen legte sie in die Schale mit Tonfixierbad, beobachtete aufmerksam das Verfärben der Blätter und probierte für die einzelnen Landschafts- und Straßenaufnahmen die wirkungsvollsten Farbtöne aus.

Erst vor zwei Monaten hatte Olfer sie auf den Gedanken gebracht, ihr künstlerisches Geschick beim Photographieren zu einer Erwerbsquelle auszubilden, durch die sie müheloser als durch das bisherige Bemalen von Fächern und teuren Bonbonnieren das ihrige zu den Kosten des Haushaltes beisteuern könnte. Er hatte ihr mit Rat und Tat bei diesem Wechsel ihrer häuslichen Beschäftigung beigestanden, hatte ihr Zeitschriften und Postkartenverleger genannt, die stimmungsvolle Bilder gern ankauften. Und Wera hatte Glück gehabt. Schon der erste Monatsabschluß, denn sie führte genau Buch über Einnahmen und Ausgaben, war weit besser als vordem. Ihre Verbindungen mit den einschlägigen Firmen vergrößerten sich von Woche zu Woche, und letztens hatte sie sogar für eine Serie von Scherzbildern aus dem Kinderleben ganze zweihundert Mark erhalten. Von diesem Gelde wußte die Majorin jedoch nichts. Wera hatte den Postboten vor dem Hause abgefangen. Sie kannte eben die Mutter nur zu gut. Hätte sie dieser nicht mindestens hundert Mark überlassen, wäre es zu sehr unerquicklichen Szenen gekommen – hundert Mark, die dann sicher sofort für Putz ausgegeben worden wären.

Wera war mit ihrer Arbeit fertig. Olfers Stimme klang noch immer herüber. Da besann Wera sich darauf, daß die Mutter ihr eingeschärft hatte, dem Zimmerherrn doch ja pünktlich halb vier den Nachmittagskaffee zu bringen. Das gab eine gute Gelegenheit ab, Olfer zuzuhören oder mit ihm ein wenig zu plaudern.

Horst Olfer, groß, breitschultrig, geradezu ein Urbild männlicher Kraft, stand hinter dem verschossenen roten Plüschsessel und sprach zu einer nur für ihn vorhandenen Arbeiterversammlung. Sein Gesicht, bartlos, eckig, mit einem breiten, brutalen Kinn und einem schmallippigen Munde, leuchtete vor innerer Erregung. Die Augen unter den buschigen Brauen flammten bei manchen Sätzen unter den langen Wimpern urplötzlich auf, und seine leidenschaftlichen Gesten unterstützten wirkungsvoll Wort und Sinn.

So, wie er da hinter dem Plüschsessel als Rednerpult in leidenschaftdurchglühter Sprache, die ebenso bildreich wie formvollendet war, seine Ideen von Arbeitsleistung, Lohnzahlung und anderem entwickelte, war er der geborene Führer der großen Massen. Und er wollte es auch werden – gerade er, der begabte Ingenieur, – er, der Sohn eines armen Maurers aus der pommerschen Kleinstadt. Er wollte – und er würde sein Ziel auch erreichen! Er war zäh – er war auch rücksichtslos, wo es darauf ankam. In der Sternschen Fabrik fürchtete man ihn vom ersten Direktor an bis hinab zum letzten Bureaudiener, verehrte man ihn aber nicht minder in den Kreisen der Leute, denen er sowohl Vorgesetzter als auch gleichgestellter Kamerad zu sein verstand. Zu gern hätte man ihm als unbequem gekündigt. Man wagte es nicht. Als er vor zwei Jahren seine Stellung bei der großen Maschinenfabrik angetreten hatte, soeben erst aus Indien zurückgekehrt, ahnten die Herren Direktoren nicht, daß sie einen gefährlichen Widersacher in ihr Haus aufgenommen hatten. Zu spät erkannten sie, was alles hinter diesem Manne steckte, der jedem mit demselben ruhigen Selbstbewußtsein gegenübertrat – jedem! Olfer duckte sich vor niemandem. Als einst ein Prinz die Fabrik besichtigt hatte, war er als einziger im Alltagsanzug erschienen und hatte sich auch nicht einen Deut um die Anwesenheit Seiner Hoheit gekümmert, aber gerade dadurch des Prinzen Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und war von diesem in ein längeres Gespräch über Arbeiterfragen verwickelt worden, bei dem Hoheit dann Ansichten vorbrachte, wie man sie sonst in diesen Kreisen kaum findet. Noch heute standen diese beiden Männer in regem Briefwechsel, und Olfer schätzte den Prinzen als einen Menschen mit modernen Anschauungen überaus hoch.

Es klopfte. Wera brachte den Kaffee.

„Bitte – lassen Sie sich nicht stören,“ meinte sie. „Darf ich zuhören?“

„Bin gerade zu Ende gekommen,“ erwiderte er und reichte ihr die Hand. „Sie sollten bei dem schönen Wetter ins Freie hinaus, Fräulein Wera. Sie sehen etwas blaß aus.“

„Nächsten Sonntag vielleicht. Heute ist’s unmöglich. Mein Kostüm ist schon zu abgetragen.“ Sie sagte das mit ganz zwangloser Offenheit, wie sie ja überhaupt nichts so sehr haßte als Verstellung und Winkelzüge.

Olfer deutete auf einen der schäbigen Plüschsessel. „Bitte! – Haben Sie sich noch den Propagandafilm angesehen? – Ja? – Wie gefällt Ihnen mein Freund Kersten in seiner Rolle als Arzt Doktor Stelling, der nachher das Danziger Mädel heiratet? Pflichten Sie dem Kritiker der Danziger Morgenpost bei, der in seiner Besprechung schrieb: Der Darsteller einer der Hauptrollen hätte auch besser getan, sich nicht vor das Objektiv zu wagen. Sind Sie derselben Ansicht?“

„Ganz im Gegenteil. Ich behaupte, Kersten besitzt großes Talent zum Filmschauspieler.“

„Dasselbe behaupte ich. Der Narr von Kritiker wird wohl gewußt haben, daß Günter Kerstens Mutter anderer Leute Hemden wäscht! Hätte mein Kollege v. Lübing die Rolle gespielt, wäre der Mann von der Morgenpost wohl nachsichtiger gewesen.“

„Wahrscheinlich. – Ob Kersten nun umsatteln wird?“

„Filmonkel werden? – Vielleicht! Lust hat er dazu, aber er erkennt auch sehr gut, daß es ein Sprung ins Dunkle ist.“

Im Flur schrillte die Glocke. – Es war Günter Kersten. Er begrüßte Wera, die ihm geöffnet hatte, mit einer tiefen Verbeugung und verschwand dann in Olfers Zimmer.

„Wie geht’s Ihrer Mutter?“ fragte der Ingenieur und schüttelte ihm die Hand.

„Schlecht, fürchte ich.“ – Nachdem Kersten Platz genommen hatte, begann er nach einer Weile mit dem feinen Lächeln des Mannes, der für alle menschlichen Schwächen ein Verstehen und Verzeihen hat:

„Ich wollte gerade zu Ihnen, Olfer, als eine bescheiden gekleidete Frau mich ansprach und fragte, ob ich der Bücher-Barbier wäre. Sie käme mit einem besonderen Anliegen. – Sie hat mich dann bis hierher begleitet und mir etwas anvertraut, das ich nicht gern für mich behalten möchte, da es sich um etwas sehr Ernstes handelt.“

„Sie machen mich neugierig, lieber Kersten.“

„Mit Recht! – Die Frau wollte sich von mir Rat holen. Sie ist durch eine Verkettung besonderer Umstände Mitwisserin eines – ja, man muß es so bezeichnen – Verbrechens geworden und weiß nun nicht, ob sie nicht moralisch verpflichtet ist, die Angelegenheit den Gerichten zu melden.“

„Das klingt ja ganz gefährlich! In Ihrer Stellung als Armenberater scheinen Sie recht seltsame Geschehnisse zu hören.“

„Gewiß. – Ich habe der Frau gesagt, ich würde ihre Sache mit einem guten Freunde erörtern, von dessen Welterfahrenheit ich viel hielte. Sie war einverstanden. – Ganz besonders merkwürdig ist aber, daß meine Gönnerin Melanie Harrig in die Angelegenheit mit hineinverwickelt ist, nicht etwa als schuldiger, sondern als leidender Teil. – Darf ich Ihnen den recht eigenartig liegenden Fall unterbreiten?“

„Aber gewiß!“

Das, was Günter Kersten nun dem Freunde erzählte, entlockte diesem wiederholt Ausrufe ungläubigen Staunens. Nachher aber sagte er:

„Ganz recht –: Die Frau soll vorläufig schweigen. Wir beide werden die Beteiligten im Auge behalten. – In der Tat eine merkwürdige Geschichte! – Ist Sander bei Ihnen Kunde? Kennen Sie ihn genauer? Welchen Eindruck macht er auf Sie?“

„Jedenfalls keinen guten. Leute, die stets so geschraubt reden und dies noch in so salbungsvollem Tone wie er, sind meist falsch wie Galgenholz. Auch seine abgeklärte Ruhe wirkt auf mich unnatürlich. Dabei soll er geradezu am Autoritätskoller leiden, sucht überall Einfluß zu gewinnen, tyrannisiert seine Frau und seine Tochter Anni und erfreut sich unter seinen Kollegen einer recht verschiedenartigen Wertschätzung.“

„Er ist doch Buchhalter bei der Industriebank, nicht wahr?“

„Ja – erster Buchhalter. Die Prokura ist ihm sicher, sogar sehr bald, sagt man.“

„Hm, – eigentlich kommt mir die Geschichte, die Ihnen die Frau anvertraut hat, bei reiflicher Überlegung doch etwas unwahrscheinlich vor. Anderseits – was hätte das Weiblein davon, derartige Verdächtigungen in die Welt zu setzen?!“

„Ganz recht! Die Frau macht auch einen durchaus glaubwürdigen Eindruck.“

„Warten wir also ab, lieber Kersten,“ entschied Olfer. „Übrigens – trinken Sie eine Tasse Kaffee mit? – Ich werde Fräulein Wera bitten, daß sie noch ein Kännchen voll aufbrüht, uns auch schnell von nebenan ein paar Kuchen holt. Wir lieben ja beide das Süße – Süßigkeiten!“ Er lächelte. „Danach müßten wir gute Ehemänner werden, wie der Volksmund wissen will.“

 

 

4. Kapitel

Auf dem Bahnsteig begrüßte die Majorin ihre Schwiegertochter mit jener übertriebenen Herzlichkeit, die Mela stets abstieß, da ihr alles Überschwängliche zuwider war.

„Mein geliebtes Kind,“ sagte Frau Benkwitz, indem sie sich in Melas Arm einhängte, „wie hast du nur diese Unglücksmär aufgenommen? – Unser armer, armer Erwin! Ein solches Pech zu haben! Und gleich auf ein ganzes Jahr haben die strengen Herren ihn durchfallen lassen! – Ach – sei nur recht lieb zu ihm, Kind. Er wird ja sicher ganz geknickt sein.“

Hierin irrte sich das Mutterherz allerdings sehr, denn als Erwin Benkwitz den Wagen 2. Klasse verließ, in der Hand eine sehr elegante hellgelbe Reisetasche aus Rindleder und Schirm und Stock mit Silberrücken tat er ganz so, als kehrte er als Sieger heim, nicht als kläglich Unterlegener.

Erst küßte er die Mutter, dann Mela die Hand und sprudelte dazu in einem Atem hervor:

„Gott sei Dank, daß ich wieder mal bei euch bin. Ihr seht beide glänzend aus. Du, Schatz, wie der verkörperte Frühling. Die Fahrt war gräßlich! Hatte da in meinem Abteil eine Familie aus Berlin, richtige Emporkömmlinge – aufdringlich, taktlos, protzig bis zum Ekel –“

Nachdem er dann einem Dienstmann den Gepäckschein übergeben hatte, fragte er: „Wo soll’s denn nun zuerst hingehen? Zu dir, Mama, oder zu Sanders? Wo erwartet mich eine gute Tasse Kaffee? Nun?“ Er merkte sehr wohl, daß Mela recht kühl ihm gegenüber sich benahm, wollte aber keine gedrückte Stimmung aufkommen lassen und war doppelt liebenswürdig und aufgeräumt.

„Ich möchte dich bitten,“ erwiderte Mela nun mit recht ernster Miene, „zunächst mit mir in den Wartesaal zu gehen. Ich muß dich allein sprechen.“

Frau Benkwitz kam dies sehr ungelegen.

„Auch ich hätte euch beiden etwas sehr wichtiges mitzuteilen,“ sagte sie schnell. „Gut, setzen wir uns also in den Wartesaal. Nachher verschwinde ich gern.“

Erwin Benkwitz wurde jetzt doch unruhig. Melas frostige Art deutete auf eine ernste Aussprache hin. Nichts aber war ihm verhaßter als ein derartiger Meinungsaustausch, bei dem ja doch nie etwas Neues herauskam. Heute fürchtete er ihn sogar ein wenig. Er wußte – als durchgefallener Assessor spielte er der Braut gegenüber doch eine zu demütigende Rolle, und natürlich würde Mela das Examen mit hineinziehen in ihre ihm im übrigen längst bekannten Klagen und versteckten Vorwürfe. Er war daher froh, daß seine Mutter zunächst bei ihnen blieb und das Alleinsein hinausgeschoben wurde.

In der Weinabteilung des Wartesaales 2. war nur ein Tisch besetzt. Man nahm in der andern Ecke Platz. Erwin bestellte einen guten Rotwein ‚als Begrüßungstrunk‘ und dann begann die Majorin, indem sie ihres Sohnes Hand in der ihren streichelte.

„Mein lieber Junge, ich kann dich mit etwas überraschen, das deine Enttäuschung über deinen Mißerfolg vollständig wettmachen wird. – Denk’ dir: Vor drei Monaten hatte ich doch den Antrag gestellt, daß uns der Adel, den dein Urgroßvater nach den Befreiungskriegen wegen völliger Verarmung abgelegt hatte, wieder bestätigt werden sollte. Und dies ist vor drei Tagen geschehen. – Erwin, freue dich! Wir heißen jetzt wieder von Benkwitz-Buchau, dürfen das alte Familienwappen führen!“

Erwin vergaß seine vornehme Ruhe, stieß ein „Hurra“ aus und rief dem Kellner zu: „Eine Henkel Trocken!“

„Das muß mit Sekt begossen werden – selbstredend! – Also wirklich – wirklich: von Benkwitz-Buchau! Famos! Was sagst du dazu, Schatz?“

Mela saß da, weit zurückgelehnt, mit einem eisigen Zug um den Mund. Nie war ihr so klar geworden wie jetzt, daß es zwischen ihr und Erwin nichts Gemeinsames mehr gab. Die Liebe war langsam dahingewelkt in diesen sechs Jahren – war tot. – Eine tiefe Bitterkeit quoll in ihr auf. Mehr noch: etwas wie Verachtung! Benahm sich so ein reifer Mann, – so, wie Erwin?! War er so abgebrüht, daß diese Blamage, das Examen nicht bestanden zu haben, ganz spurlos an ihm abglitt?! Ahnte er denn gar nicht, wie einer Braut unter diesen Umständen zu Mute war?! Dachte er nicht daran, daß eine Heirat nun wieder in weite Ferne rückte, – war ihm auch dies so völlig gleichgültig?! –

Nein, sie begriff ihn nicht! Auch darin nicht, wie leichtfertig er in seinen Geldausgaben war! Sekt – Sekt, den sie doch bezahlte, genau so wie seinen tadellosen Anzug, den seidengefütterten Ulster und all das andere?“

Erwin v. Benkwitz schaute Mela in das steinerne Gesicht, zuckte die Achseln und meinte:

„Ich finde deine Gleichgültigkeit diesem besonderen Familienereignis gegenüber etwas – etwas merkwürdig!“

„Und ich finde, daß es für uns beide weit wichtiger gewesen wäre, wenn du im Examen Erfolg gehabt hättest,“ sagte sie nun ziemlich scharfen Tones. „Dadurch, daß du dich jetzt von Benkwitz nennen darfst, bleibst du doch immer –“

„Mela, Kind,“ warf die Majorin empört ein. „Du als Bürgerliche magst ja keine richtige Schätzung dafür haben, daß der Adel –“

„Oh bitte,“ fiel ihr Mela ins Wort, da ihr Temperament nun doch mit ihr durchging. „Ich habe eine ganz richtige Schätzung für den Wert des Adels! Der Kaufmann Spark, der sich das große Rittergut kaufte und dann geadelt wurde, wanderte drei Monate später für vier Jahre wegen Betruges ins Gefängnis. Die Freiheit, die Ehrlichkeit verloren, – nicht den Adel. Nun sitzt er als v. Spark hinter vergitterten Fenstern.“

„Ah – das ist – das ist –“ die Majorin schnappte nach Luft. „Das heißt ja eine Einrichtung schmähen, auf die Tausende stolz sind! Das klingt ja wie –“

„Beruhige dich, liebe Mama,“ meinte Erwin schnell. „Nur hier keine Szenen! Ich bitte dich!“ Und zu Mela gewandt, die mit noch kälterer Miene dasaß und deren Finger sich in nervösem Spiel ineinanderschlangen:

„Du zeigst wenig Interesse für den Namen, den du einst führen wirst. Dein Hinweis auf Herrn von Spark, der lediglich ein Opfer seiner Unerfahrenheit geworden ist, war geschmacklos.“

Mela schwieg. Da erhob sich Frau v. Benkwitz-Buchau, sagte:

„Du hast mir die ganze Freude verdorben, Melanie. Tatsächlich! – Ich werde gehen –“

„Nein, du bleibst, Mama!“ rief Erwin und schaute Mela wütend an. „Meine Braut bereut ihre Taktlosigkeit schon und wird –“

„Ich bereue nichts,“ schnitt ihm Mela das Wort ab und dies in einem Ton und mit einem Blick, daß Erwin verlegen und unsicher den Kopf senkte.

Die Majorin rauschte mit einem „Auf Wiedersehen!“ hinaus.

Mela aber war jetzt gerade in der richtigen Stimmung, an ihren Verlobten die entscheidende Frage zu richten.

„Gut, daß wir allein sind,“ sagte sie schnell und stützte sich leicht auf den Tisch. „Zwischen uns muß volle Klarheit herrschen. Als ich deinen Brief mit der Nachricht von deinem Mißerfolg erhalten hatte, habe ich mich zu einem bestimmten Entschluß durchgerungen. Ich habe das Vertrauen verloren, daß du je das Examen bestehst. Deine Schilderungen deines Lebens in Berlin ließen zur Genüge erkennen, daß du kaum mit vollem Ernst zum Examen dich vorbereitet hast. Ich weiß, wie andere Juristen arbeiten, die vor der großen Staatsprüfung stehen. Du aber hast nie gewußt, was ernstes Wollen heißt – nie! Was dir von selbst zuflog, genügte zur Not wohl für das Referendarexamen –“

Erwin von Benkwitz war bleich geworden. Seine Rechte, die mit dem Rotweinglas gespielt hatte, ballte sich zur Faust.

„Ich verbitte mir diesen Schulmeisterton,“ unterbrach er sie ganz heiser vor maßlosem Ingrimm. „Ich bin kein dummer Junge, den man abkanzeln kann. Ich finde dein Verhalten geradezu –“

„Schweig!“ Vor ihren flammenden Augen duckte er sich doch scheu zusammen. „Soll ich dir vielleicht hier vorhalten, daß du mir vor einem halben Jahr, als du nach Berlin gingst, versprochen hast, nicht mehr zu spielen?! Und – was tatest du?! Dreimal mußte ich dir Summen anweisen lassen, die du nur am Spieltisch verloren haben kannst. Denn das, was du mir über die Verwendung dieses Geldes schriebst, glaube ich nicht. – Erwin, für jeden Menschen kommt einmal eine entscheidende Stunde, wo er beweisen muß, was den Kern seines Wesens ausmacht. Höre mich an. Ich will nicht noch länger die ewige Braut bleiben, meine besten Jahre damit zubringen, ein leeres Dasein zu führen, zu warten, bis du endlich dein Ziel erreicht hast. Ich bin zu folgendem Entschluß gelangt –“

Sie hatte seine Hand ergriffen. Ihre Stimme war weich geworden. Noch einmal flackerte ein kleines Flämmchen der einst so hell lodernden Leidenschaft in ihrem Herzen auf. „Erwin, ich bitte dich: Gib die juristische Laufbahn auf. Tritt in ein hiesiges Bankgeschäft ein. Ich will dich hier haben, wir können dann in kurzem heiraten. Ich bitte dich, weise diesen Vorschlag –“

Er hatte seine Hand jäh aus der ihren gerissen, lachte jetzt ironisch auf.

„Bankgeschäft?! Ich – ich soll – Kaufmann werden?! Ich –?! – Laß bitte solche Scherze, denn anders fasse ich diesen sogenannten Vorschlag nicht auf.“

Mela lehnte sich langsam wieder zurück. Ihre Lippen lagen fest aufeinander. Ihre Augen blickten wieder kalt und gleichgültig.

„Du hast in der entscheidenden Stunde versagt,“ meinte sie nun leise und doch in jenem Ton, den Erwin bereits an ihr kannte. Sprach sie so, dann ließ sie sich nicht mehr umstimmen. „Von dir hing es soeben ab, ob unsere Verlobung bestehen bleiben sollte. Du wolltest nicht. – So löse ich denn hiermit unser Verlöbnis –“

Sie streifte den glatten Reif vom Finger, legte ihn vor sich auf den Tisch. „Dieser mein Entschluß ist unabänderlich. Leb’ wohl. Innerlich bist du mir ja längst fremd geworden. So mag denn jetzt auch das Äußerliche dazu kommen. Wir sind frei voneinander –“

Langsam schritt sie hinaus. Draußen auf dem Vorplatz des Bahnhofs ließ sie sich von dem Schutzmann eine Taxametermarke geben, befahl dann dem Kutscher, sie irgendwohin zu fahren, wo die Wege still und einsam.

Der Wagen rollte am Radaune Fluß entlang. Mela schaute in das knospende Grün der Gärten der langgestreckten Vorstadt, auf die buschbewachsenen Abhänge jenseits des Flüßchens, auf die fröhlichen Kinder, die Ausflügler mit den Paketen von Stullen, die Soldaten, die Arm in Arm mit ihren Schätzen den Tanzlokalen zustrebten.

Ihr war leicht um’s Herz. –

Erwin v. Benkwitz trank den Sekt allein.

Beim letzten Glase hatte er das Unbehagen nach dieser jähen Trennung überwunden, das in der Hauptsache nur auf den peinigenden Gedanken zurückzuführen war, daß er nun ohne jede pekuniäre Hilfe dastand und daß er doch natürlich an Mela die ihm vorgestreckten Summen zurückzahlen mußte.

Na – irgend ein Ausweg aus diesem doppelten Dilemma wird sich schon finden lassen, tröstete er sich bei seinem kleinen Rausch, den die Flasche Rotwein und der Sekt verschuldet hatten, mit der ihm eigenen Leichtfertigkeit. – Irgend ein Ausweg! Ich heiße ja jetzt von Benkwitz-Buchau. Darauf beißt sicher ein Millionenfischlein an – Benkwitz-Buchau, – klingt sehr feudal! So ‘ne kleine Maid mit sechs Nullen – unter dem mache ich’s nicht mehr!

 

 

5. Kapitel

Mela war erst um sechs wieder daheim, fand aber niemand zu Hause. Auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer lag ein Zettel: ‚Wir sind bei Schröder1.‘

Nachdem sie ein Hauskleid angelegt hatte, ging sie hinab zu der kranken Frau Kersten, nahm ein paar Scheiben Braten, auf einem Tellerchen eingemachte Früchte und ein Fläschchen Fruchtsaft mit.

Frau Kersten lag in ihrer kleinen Schlafstube im Bett. Am Fenster saß ihre Freundin, die Frau des Flickschusters Kluck aus dem Hinterhause, und las ihr aus einem frommen Andachtsbuche vor.

Günters Mutter war eine hagere, starkknochige Person mit einem finsteren, verbissenen Gesicht, das noch durch ein paar rote Brandnarben am Kinn, die Folgen einer Explosion einer Petroleumlampe, böse entstellt war. In den letzten Tagen hatten ihre Gesichtszüge etwas Spitzes, aber auch Friedliches angenommen. Ihre großen Hände lagen auf dem Zudeck und hielten ein Kruzifix aus Elfenbeinmasse. Ihre trockenen Lippen murmelten einzelne Worte der Nachmittagsandacht mit, die die Kluck mit leiernder Stimme ihr vorlas.

Als Mela eintrat, hob die Kranke den Kopf, schaute ihr nicht eben freundlich entgegen, fand aber dann doch einige Dankesworte für die Gaben, da diese ihr ja ein Abendbrot ersparten.

Mela setzte sich neben das Bett auf einen Rohrstuhl, den die Kluck ihr hinstellte, und begann eine Unterhaltung über das Wetter, – nur um etwas zu sprechen. Sie wußte, daß Günters Mutter in ihr eine geheime Feindin sah und daß die Kluck ihr ebenfalls nicht gewogen war. Wenn sie trotzdem sich zu diesem Besuch entschlossen hatte und jetzt auch eine Weile blieb, so geschah dies nur Günters wegen, dem sie gern eine Freude machen wollte. Er hatte es nicht leicht mit der eigenwilligen, alten Frau, die sowohl an krankhafter Sparwut litt als auch seit Jahren mit allerlei Mitteln versuchte, den Sohn an ein reiches Mädchen aus Handwerkerkreisen zu verheiraten, bald an diese, bald an eine andere, wenn sie nur noch vermögender war. Daß sie bei Günter in dieser Beziehung nicht ihren Willen durchsetzen konnte, war sowohl die Ursache heftigerer Aussprachen und ebenso die der schlecht verhehlten Abneigung gegen Mela, in der sie das Haupthindernis ihrer nie ruhenden Absichten auf eine Verehelichung ihres Sohnes längst erkannt hatte.

Diese Abneigung, heute zunächst noch durch die Dankbarkeit für die mitgebrachten Eßwaren niedergehalten, zeigte sich dann jedoch bald wieder durch allerlei verletzende Andeutungen, bei denen die Kluck ihr nach Kräften Hilfe leistete. Mit ihren scharfen Augen hatte die Alte erspäht, daß der Verlobungsring von Melas Hand verschwunden war. Auf ihre plumpe Frage, wo denn der Ring geblieben wäre, erwiderte Mela der Wahrheit gemäß, daß das Verlöbnis nicht mehr bestände.

„Aha – von wegen dem durchgefallenen Examen wohl,“ meinte Frau Kersten darauf bedächtig. In ihrem Hirn war plötzlich ein besonderer Gedanke aufgeblitzt: Vielleicht gelang es Günter, an Stelle des ersten Bräutigams zu treten. Die Melanie war ja reich. Das wußte jedes Kind in der Nachbarschaft! Und der Günter – der hatte es doch in sich! Der konnte es noch weit bringen im Leben. Noch dazu sein ganzes ‚Exterriör‘, wie die Kluck sich immer so gebildet ausdrückte, – warum sollte er also nicht mit der Stieftochter des Herrn Buchhalters anbändeln können?!

Mutter Kersten lächelte jetzt ganz selig und zog den halb offenen Mund so in die Breite, daß alle ihre Zahnlücken zum Vorschein kamen. Als die Kluck jetzt sagte – und ihr stets fettglänzendes Gesicht strahlte dabei vor Schadenfreude:

„Einmal verlobt is so gut wie zweimal verheiratet, gnäd’jes Freilein. Sie verstehn doch was ‘s heißen soll!“

Da fuhr die Kranke wütend dazwischen:

„Halt’s Maul Klucken! ‘s Fräulein Mela kriegt allemal noch einen, nur zu wählerisch darf sie nicht sein!“

Mela wunderte sich über diese plötzliche Parteinahme zu ihren Gunsten. Sie ahnte nicht, was für besondere Gedanken die alte Frau in ihrem Hirn wälzte und weshalb sie nun auch mit übertriebener Vertraulichkeit fortfuhr:

„Nee, nee, – haben Sie man keene Angst, Fräulein, – für Sie kommt schon noch eener, und det is dann der rechte, glooben Sie’s nur der ollen Kersten; die kennt sich aus in’s Leben.“

Mela erhob sich. Ihr war diese Unterhaltung eine unerträgliche Pein. Sie begriff nicht, wie Günter Kersten in dieser Umgebung es fertig gebracht hatte, sich seinen Bildungsdrang, sein Streben nach Höherem stets frisch zu erhalten. Wie groß mußte nur in diesem Manne die Sehnsucht nach einer besseren Lebensstellung sein, wenn es ihm hier in dieser Behausung und in Gesellschaft einer mürrischen alten Frau, mit der er kaum engere gemeinsame Interessen haben konnte, gelungen war, schon jetzt weit über diese Umwelt hinauszuwachsen! Sie bewunderte ihn ehrlich, mehr noch, fühlte eine Achtung vor ihm, die hauptsächlich seiner zähen Willenskraft galt, die ihm über alle Hindernisse hinweghalf und die bei ihm doch nach außen hin kaum sich bemerkbar machte. Er blieb eben immer der bescheidene, stille, taktvolle Mensch, der ihr gegenüber eine tiefe, wenn auch nicht gerade wortreiche Dankbarkeit im seinem ganzen Verhalten verriet.

Mela verabschiedete sich hastig, wenn auch freundlich. Doch Frau Kersten wollte sie nicht fortlassen.

„Warten Sie doch noch – der Günter muß ja gleich zurückkommen. Und er schwärmt so vor Aschblonde! Wirklich! Wenn die Ida vom Fleischer Thomas aschblond gewesen, hätte er sie vielleicht genommen –“

Die Alte glaubte ihre Sache sehr gut zu machen und dem Sohne so etwas die Wege zum Herzen der reichen Harrig zu ebnen.

Melas scharfer Geist aber hatte aus diesen Worten sofort das noch herausgehört, was unausgesprochen blieb. Frau Kersten schien mit dem Gedanken zu spielen, daß ihr Sohn der neue Bewerber der Entlobten werden könnte – ohne Zweifel! Und dieser Gedanke kam Mela im ersten Augenblick so ungeheuerlich vor, daß sie beinahe laut herausgelacht hätte. Gewiß – daß Günter Kersten sie heimlich verehrte, war ihr längst klar geworden. Aber daß diese Schwärmerei sich je zu ernsthaften Wünschen verdichten könnte – daran hatte sie nie gedacht! Ein Barbier – einer der am Tage im Laden im weißen Mantel herum hantierte; der, wenn viel zu tun war, eigenhändig mit dem Besen die auf den Boden gefallenen Haare soeben Verschönerter zusammenkehrte – unmöglich! Ganz unmöglich war die Vorstellung, daß er ihr je von Liebe sprechen könnte! Ein Friseur!

So waren ihre ersten Gedanken nach dieser Entdeckung, daß die alte Frau hier offenbar für den Sohn zu werben versuchte.

Die ersten Gedanken! Andere folgten, und diese neue Kette von gerechtem, dünkelfreiem Prüfen der Persönlichkeit des ‚Friseurs‘ erhielt ein ganz verschiedenes Aussehen.

Barbier – Friseur?! Sohn eines einfachen Lotsen, einer auf ihre Art schlauen, berechnenden Mutter! Was kam es auf den Beruf, die Herkunft an?! Nichts – nichts! War nicht der Generalpostmeister Exzellenz Stephan aus einfachen Kreisen hervorgegangenen, hatte er sich nicht Stufe um Stufe hinaufgearbeitet bis zu den höchsten Ämtern?! Und wie er viele Tausende! Wer fragte bei diesen, die nicht die Welle der Kunst Mächtiger hochgehoben, später nach Eltern, Familie?! Niemand – oder doch nur heimlich – und – waren diese Bezwinger des Lebens, diese Kämpfer wider veraltete Anschauungen nicht weit höher einzuschätzen als die, denen schon in der Wiege größtenteils die fernere Laufbahn vorgezeichnet war?! Hatte die moderne Zeit nicht das Wort ‚Freie Bahn den Tüchtigen!‘ geprägt?! Regten sich doch überall nicht nur in den Volksmassen, sondern auch bei den Einsichtsvollen der gebildeten Stände kampfesfrohe Geister, die mit der althergebrachten Schablone der Besetzung der Beamtenstellen und der Überschätzung der klassischen Bildung brechen wollten?! War nicht Günter Kersten einer von denen, die diese Ideen vielleicht weiter und weiter verbreiten halfen durch den mahnenden Ruf: Seht auf mich! Das war ich, und das bin ich – auch ohne vorschriftsmäßig Prüfung, ohne abgestempelten Berechtigungsschein zum einjährigen Dienst, ohne den überflüssigen Wust zeitfressender Durchdringung der Schriften alter Römer und Griechen!

Mela war’s, als ob eine freiere Luft sie umwehte, als ihr Geist diese Wege ging, als sie zum Schluß sich auch sagte: ‚Ob Friseur, ob Regierungsassessor – nicht auf den Beruf, sondern den Menschen, den Charakter, die Fähigkeiten kommt es an. Wir alle gleiten gleich ins Leben, sinken zurück in das Nichts in gleicher Weise; wir alle sind eins, und selbst die gekrönten Häupter wandeln nur auf den Höhen der Menschheit – als Menschen!‘

„Nicht wahr, Sie bleiben noch, Fräulein Mela?“

Da erwachte sie, fand sich in die Wirklichkeit zurück, sah sich vor dem Krankenbett stehen und sagte zu der alten Frau, deren Gesichtszüge die Krankheit seltsam verändert hatte, beinahe herzlich:

„Es geht leider nicht, Frau Kersten. Die Meinen würden mich vermissen, wenn sie heimkehren. Ich habe mit ihnen mancherlei zu besprechen. Aber bestellen Sie einen freundlichen Gruß an Ihren Sohn. – Gute Besserung und – auf Wiedersehen!“ –

*

Als Erwin v. Benkwitz kaum eine halbe Stunde in der bescheidenen Behausung seiner Mutter geweilt hatte, mußte er einsehen, daß er den Bruch mit Mela der Majorin doch nicht länger verschweigen konnte. Sie ließ nicht nach mit bohrenden Fragen, weshalb denn Mela nicht mitgekommen wäre, behauptete schließlich geradezu:

„Ich ahne, was geschehen. Ihr habt euch gezankt. Kein Wunder! Mela hatte heute wieder ihren kampflustigen Tag. Ihre Bemerkung über den Wert des Adelsstandes sollte mich reizen. Sie weiß ja, wie scharf ich dafür eintrete, daß die Grenzen zwischen Volk, gebildeten Ständen und Adel gewahrt bleiben. Nur keine Vermischung! Sonst kommen die Stützen ins Wanken, die Thron und Altar halten.“

Wera, die am Fenster an einer photographischen Platte mit einer feinen Nadel die Schattenstellen hie und da vertiefte, schaute auf, lächelte.

„Mama, mit diesen Ansichten bist du ein wenig rückständig. Sie treffen auch gar nicht mehr zu. Sonst dürfte kein Adliger eine reiche Bürgerliche heiraten.“

„So?!“ meinte die Majorin und klopfte erregt mit der Hand auf die Tischdecke. „So?! – Du übersiehst, daß die Bürgerliche ihren Kreis durch diese Heirat verläßt und in dem adligen aufgeht.“

„Aber – du sprichst doch von ‚nur keine Vermischung!‘ und ‚aufgehen in einem anderen Kreis‘, heißt doch zwei Stände vermischen!“

„Nicht so war’s gemeint! Die Grenzen sollen gewahrt bleiben, keine zu nahe Berührung soll stattfinden, zwischen den Ständen muß stets so etwas wie ein freier, neutraler Raum sein, meinetwegen ein Zaun, ein Hindernis.“

„Mama,“ sagte Wera da sehr ernst, „weißt du auch, wie gefährlich diese deine Ansichten sind? – Wenn diese Zäune zu hoch sind, wird ja aus all den Millionen von Deutschen nie ein einziges, einiges Volk, bleiben unzählige einander fremd, ahnen nichts von dem wahren Wesen derer, die hinter den anderen Hindernissen leben. Leider – leider ist es ja teilweise in der Tat so. Ich stand letztens auf der Plattform der Straßenbahn neben einem soeben von der Werft kommenden Arbeiter in schmieriger Bluse. Da stieg ein Herr auf – sehr tipp topp – mit Schmissen. Der Arbeiter schalt, weil die Straßenbahn an den Haltestellen unnötig trödelte, sagte zu dem ‚Vornehmen‘: ‚Sie haben’s wohl auch eilig? Ja – ja unsere Elektrische!‘ – Und der ‚Feine‘? – Ein hochmütiger Blick – sonst nichts! Da hat der Arbeiter gelächelt. Und in dem Lächeln lag die Verurteilung dessen, Mama, was du soeben hier gepredigt hast. Das Lächeln sagte: ‚Warte, wir kriegen euch doch mal unter!‘–

Und – es waren doch zwei Deutsche, zwei Männer eines gemeinsamen Vaterlandes!“

Da rief Erwin aus seiner Sofaecke ungeduldig dazwischen: „Laß doch dieses Gewäsch, Wera! Wäre ja noch schöner, wenn jeder Prolet unsereinen anquasseln dürfte!“

Wera beugte sich wieder über ihre Arbeit und – dachte an Olfer! An seine Worte, die sie heute durch die Tür verstanden hatte: ‚Achtung verlangen wir für den schmierigen Arbeitsrock, den wir tragen! Gebt Ihr sie nicht freiwillig, werden wir’s Euch lehren, falls Euch nicht höhere Macht von Euren Stelzen herabzerrt, auf denen Ihr Euch unter uns zu wandeln anmaßt, und falls Ihr dann nicht unter unsere Füße zu kommen wünscht!“

Wera wurde von diesen Gedanken abgelenkt, da Erwin jetzt mit seiner Beichte recht zögernd herausrückte.

Die Majorin war entsetzt.

„Dazu hättest du es nie kommen lassen dürfen, Erwin! Woher willst du denn jetzt das Geld nehmen, das du doch so nötig bis zum Assessorexamen brauchst?! Und woher das andere, daß du Mela doch zurückerstatten mußt –? – Oh – natürlich kann von Kaufmann werden keine Rede sein. Aber – du hättest Mela hinhalten können!“

„Mela?! Du kennst sie schlecht, Mama! Sie besitzt einen Starrsinn, der –“

„Nicht Starrsinn,“ warf Wera ein. „Willensstärke – und das ist ein Unterschied.“

„Meinetwegen auch. Willensstärke! Jedenfalls wird sie ihren Entschluß kaum ändern.“

„Aber – aber – das Geld!“ meinte die Majorin verzweifelt. „Es ist leicht, eine Quelle zuzuschütten, schwer, eine neue zu graben.“ Sie war sehr rot vor innerer Angst geworden; dachte an die vielen Gläubiger. Und die Summen, die Erwin ihr oft genug zur Verfügung gestellt hatte. All das würde nun aufhören. –

Eine Stunde später schlich sie halb vermummt den kurzen Weg nach dem Fischmarkt hin und betrat das große Haus, in dem im Hintergebäude auch der dem Alkohol stark ergebene Flickschuster Kluck wohnte. Dessen Frau übergab der Majorin etwas geheimnisvoll ein Paket, dessen Inhalt von Frau v. Benkwitz mit nur drei Mark bezahlt wurde, obwohl sich darin zwei Pfund Butter, zehn Eier und drei Pfund Mehl befanden – alles etwas dunkler Herkunft. Die Kluck hatte eben Beziehungen! Niemand ahnte, daß das schlampige Weib ohne Wissen ihres Mannes – denn der Schnaps hatte Meister Klucks moralische Grundsätze noch nicht anzugreifen vermocht – Diebesgut weiterveräußerte, wobei sie so vorsichtig war, nur ‚erste‘ Kundschaft sich zuzulegen, bei der sie sicher ging, daß über ihren Handelsbetrieb strengstes Stillschweigen bewahrt wurde.

 

 

6. Kapitel

Herr Max Sander kehrte mit den Seinen vom Sonntagsausflug heim.

„Es war wieder sehr gemütlich bei Schröder,“ meinte er, als man im Flur die Mäntel und Jacken ablegte. „Nun noch die Abendfreude, unseren Erwin begrüßen zu dürfen. Mehr kann man nicht verlangen.“

„Sprich leiser,“ warnte Frau Emilie. „Und nicht so ironisch. Überhaupt: gemütlich bei Schröder?! Ich fand, du warst recht – recht zerstreut.“

„So? Wirklich?! Doch wohl Einbildung bei dir, liebe Gattin!“

Frau Sander wurde ärgerlich. „Du bist ja heute so spöttisch? Verdirb mir doch nicht den Sonntag.“

Mela öffnete die Wohnzimmertür, begrüßte die Eltern und Anni mit jener kühlen Höflichkeit, die sie zumeist den Ihrigen gegenüber gebrauchte, und fügte sofort hinzu, daß sie allein wäre.

„Ich habe nämlich meine Verlobung mit Erwin gelöst –“

Dieser Nachsatz wirkte.

Frau Emilie schrie halblaut auf. „Gelöst?! Ja, wie kam denn das?“

Und Max Sander meinte voller Salbung:

„Mag es dir zum Segen gereichen, liebes Kind!“

Anni dagegen erklärte:

„Du, so zu Dutzenden laufen die heiratslustigen Mannsbilder nicht herum! Ich wäre vorsichtiger gewesen, – wenn es sich um jemand anders als Erwin gehandelt hätte – Erwin freilich –! Na, du kennst ja meine Ansicht über ihn! Dein Geld verschleudert er, und im übrigen –“

„Bitte – die Dinge gehen dich nichts an,“ sagte Mela kurz.

Dann klärte sie im Wohnzimmer die Eltern über den Grund ihres wohlüberlegten und so schwerwiegenden Schrittes auf.

Gerade als Frau Emilie nun sagte: „Es war das Klügste, was du tun konntest,“ schrillte im Flur der Fernsprecher.

„Selbst Sonntags hat man vor der Quasselstrippe keine Ruhe,“ knurrte Sander und ging hinaus.

Sehr eilig betrat er dann wieder das Zimmer, ließ sich in den Korbsessel am Mitteltisch fallen und stöhnte auf:

„Der Frankfurter Kreditverein ist pleite. Mein Freund Hennig aus Frankfurt hat’s mir soeben mitgeteilt.“

Frau Emilie stieß einen kreischenden Ton aus, der die Einleitung für den Schreckensruf ‚Ach – unsere Aktien!‘ bilden sollte. Aber über „Ach uns…“ kam sie nicht hinaus, da Sander sie schnell unterbrach:

„Ja – unsere arme Mela!“

„Ich?!“ fragte diese gedehnt.

„Leider, Kind, – leider. Besinnst du dich denn nicht, daß ich dir vor einem Monat riet, diese Papiere zu veräußern?“

„Aktien? Aktien des Frankfurter Kreditvereins? Habe ich denn je einen Teil meines Vermögens darin angelegt? Ich wüßte nicht, daß –“

„Siehst du, das kommt davon, wenn man sich nicht selbst um seine Vermögenswerte kümmert,“ meinte Sander mit mildem Vorwurf. „Natürlich hast du’s vergessen.“

Mela nickte. „Wohl möglich!“ In Wahrheit besann Sie sich durchaus nicht auf Aktien dieser Bank. Sie hatte ihrem Siefvater die Verwaltung ihres Vermögens vollständig überlassen, da sie von Geldgeschäften nichts verstand.

„Wie viel von diesen Aktien besitze ich denn?“ fragte sie nun recht gleichgültig.

„Das kann ich im Augenblick nicht genau sagen, liebes Kind. Jedenfalls aber eine ganze Menge.“

„Ungefähr also?“

Sander hüstelte, schüttelte den Kopf und erwiderte im Tone aufrichtigen Bedauerns:

„Etwa hunderttausend Mark.“

Mela wiederholte ungläubig: „Hunderttausend Mark –? Dann – würde ich ja, falls diese Papiere verloren gehen, nur noch eine ganz geringe Summe besitzen.“

Sander seufzte. „Kaum vierzehntausend Mark. Dieser Erwin hat dich runde dreißigtausend gekostet.“

Frau Emilie schaltete hier ein: „Mein Gott, das ist ja entsetzlich!“ mit wahrer Jammerstimme ein.

„Natürlich wirst du von Benkwitz diese Summe zurückverlangen,“ erklärte Sander mit Nachdruck. „Rücksichtnahme wäre in diesem Falle sehr verfehlt. Gewiß – die Familie deines verflossenen Bräutigams ist arm. Aber es sollen da irgendwo in Pommern ein paar alte Tanten sitzen, mit denen besonders Wera von Benkwitz – man muß ja jetzt ‚von‘ sagen! – sehr gut steht.“

Mela schüttelte den Kopf. „Nein, Erwin wird von mir dieses Geldes wegen nicht behelligt werden. Ihm wird es ohnehin schon schwer werden, jetzt sein Leben ohne meine Hilfe irgendwie zu fristen.“

Max Sander warf einen entsetzten Blick zur Decke empor und meinte: „Vornehme Gesinnung macht oft arm! So ist es auch hier, Kind. Ich würde an deiner Stelle auf keinen Fall diese dreißigtausend Mark schießen lassen. Mag Erwin dir zum mindesten einen Schuldschein geben. In Geldsachen hört die Freundschaft auf! – Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mir das alles nochmals gründlich überlegen und dann zusehen, was sich noch retten läßt.“ Er drückte sich absichtlich so unbestimmt aus und fügte nun hinzu: „Du bist doch einverstanden?“

„Gewiß, und herzlichen Dank im voraus,“ erwiderte Mela zerstreut. Ihre Gedanken kehrten jetzt sehr schnell immer wieder nach demselben Punkt zurück, der gleichsam wie eine dunkle Wolke vor ihr schwebte.

Nur noch vierzehntausend Mark! Davon konnte sie ohne Arbeit, ohne dazuzuverdienen, nicht leben. Bisher hatten die Zinsen für ihre Bedürfnisse vollauf gereicht, obwohl sie sich sehr gut kleidete und allerlei kostspielige Liebhabereien hatte, so besonders das Sammeln von antiken Nippesgegenständen. – Arbeiten! Oh – Mela scheute die Arbeit nicht. Ihr war jedes zwecklose Dahinleben ohne Tätigkeit sogar verhaßt. Sie verstand all die vielen jungen Mädchen nicht, die ‚als Tochter des Hauses‘ nichts anderes taten als nur warten – warten auf den, der da kommen soll und sie hinausführen aus dieser Enge und Stumpfheit des elterlichen Heims, der sie befreien soll von steter Bevormundung und der auch den Schleier lüften soll, von dem das große, hehre Wort ‚Liebe‘ für sie noch verhüllt ist. –

Gewiß – Mela hatte bisher dank der Zinsen ihres Vermögens lediglich ihren schöngeistigen Neigungen gelebt, die sie jedoch nicht zu nutzlosen Spielerein herabwürdigte. Nein, alles, was sie betrieb, und sie war ja sehr vielseitig, tat sie mit dem Ernst und dem Eifer des ausgereiften Geistes und in sich gefestigten Charakters. Ihr Tagesprogramm war stets genau festgelegt. Keine Stunde blieb ungenutzt. Selbst in der Wirtschaft betätigte sie sich abwechselnd mit Anni. Und Frau Emilie war froh, wenn Mela gerade ‚die Woche‘ hatte. Denn Anni war viel zu oberflächlich, um im Haushalt ordentlich der Mutter mit an die Hand zu gehen.

Das würde nun alles anders werden, falls die hunderttausend Mark verloren gingen. Und daß dies eintreten würde, daran zweifelte Mela nicht mehr. Ihr Stiefvater wollte sie eben auf die folgenschwere Tatsache aufmerksam machen, um sie langsam vorzubereiten.

Frau Emilie sagte jetzt, indem sie hinter Melas Stuhl trat und ihrer Ältesten in einer Aufwallung nicht gerade häufiger Zärtlichkeit über das Haar strich:

„Kind, laß dich nicht zu sehr niederdrücken durch diese doppelte Enttäuschung. Erst Erwin – jetzt das Geld. Ach, es ist ja unendlich traurig, aber –“ Sie wußte den Satz nicht recht zu beenden, hüstelte und gab so ihrem Manne Gelegenheit, einen seiner Weisheitssprüche anzubringen:

„– aber tröste dich damit: Geld ist etwas Vergängliches, ein von Menschen geprägter Wert, und Liebe wieder etwas, das in anderer Art neu aufleben kann. Unvergänglich ist nur das, was in uns selbst schlummert, das wahre Ich, – aber auch nur für uns selbst!“

Melas Denken wurde durch dieses belustigende Vermengen philosophischer Gedanken, die ihr Stiefvater im Schreine seiner Geisteserinnerungen schlecht aufbewahrt hatte, angenehm auf andere Dinge übergelenkt. Sie stand auf, sagte:

„Das Armsein hat für mich keine Schrecken, so lange ich gesund bin. Ich werde mir eine Erwerbstätigkeit suchen. – Entschuldigt jetzt. Ich möchte Anni in der Küche etwas helfen.“

Als sie das Zimmer verlassen hatte, sagte Max Sander zu seiner Frau:

„In dem Mädel steckt was! Tatsache! Die weiß stets, was sie will!“ –

*

Olfer und Kersten hatten noch bis gegen sieben Uhr abends lebhaft über dies und jenes ihre Meinungen ausgetauscht, und dann hatte der Ingenieur seinen Freund nach Hause begleitet. Unterwegs war der Bücher-Barbier jedoch immer schweigsamer geworden.

„Mein Lieber, irgend etwas bedrückt Sie,“ sagte Olfer plötzlich, indem er Kersten unterfaßte. „Heraus mit der Sprache! Was ficht Sie an?“

Kersten blieb stehen, schaute die Straße entlang, die gerade zwischen Stapelplätzen der Kaiserlichen Werft hindurchführte, beiderseits eingefaßt von nüchternen, sehr hohen, stacheldrahtbewehrten Holzzäunen, so daß sie bei ihrem geradlinigen Verlauf weit länger aussah als sie es in Wirklichkeit war.

„Ich trage mich mit einem besonderen Plan,“ sagte er leise und schaute verlegen an Olfer vorüber. „Er will mir nicht aus dem Kopf. Ich träume sogar davon. Zuweilen finde ich ihn lächerlich phantastisch und undurchführbar, dann wieder erscheint er mir genial, vielversprechend und bei ernstem Wollen durchaus verwirklicht werden zu können.“

Olfer wurde aufmerksam. „Ähnliche Stimmungen macht jeder durch, der ein großes Werk vorhat,“ meinte er sinnend. „Ich kenne das, – ich, der Volksbeglücker, wie mich meine Kollegen heimlich nennen, die mich unheimlich hassen. – Worum handelt es sich?“

Kersten blickte den Ingenieur an. Noch nie war es ihm so stark aufgefallen wie in diesem Moment, welch prachtvollen Charakterkopf Olfer doch besaß. In diesem Gesicht gab es auch nicht eine einzige weichliche Linie – nicht eine! Da war alles zielbewußte Kraft, ruhige Überlegung, scharfes Denken. Ja – ein Zuviel von Willens- und Geistesstärke war sogar darin. Es fehlte sozusagen der Kontrast, etwas Abschwächendes, Mildes. Wenn zum Beispiel in den Augen ein anderer Ausdruck gewesen wäre! Aber – wie selten verlor dieser Blick das erfrierende Sichfestsaugen in dem Gesicht dessen, mit dem Olfer gerade sprach, wie selten spiegelte sich darin die Seele dessen wider, der doch in Wahrheit ein so gütiges, mitfühlendes Herz für jedes menschliche Leid besaß!

Kersten erwiderte nun, und er wurde rot dabei:

„Ich – ich habe ein Filmdrama geschrieben, angeregt durch die Mitwirkung bei dem Propagandafilm des Verkehrsvereins.“

Olfer war zunächst enttäuscht. Als Kersten nun aber weitersprach und sich immer mehr in helle Begeisterung für seine eigenartige Idee hineinredete, da stieß er ehrlich erstaunt bald ein ‚Glänzend!‘ bald wieder ein ‚Großzügig – das muß man sagen!‘ aus.

Günter Kersten aber, angefeuert durch diese Anerkennung von Seiten eines Mannes, zu dem er bewundernd aufschaute, entwickelte nun seinen Plan mit allen Einzelheiten vor dem Freunde, überwand hier spielend alle Schwierigkeiten und schloß seine Ausführung mit den Sätzen:

„Habe ich damit Erfolg, so werde ich nicht nur große Einnahmen erzielen, sondern auch das Fundament gelegt haben, auf dem ich meine Zukunft mit sicherer Aussicht auf gutes Fortkommen weiter ausbauen kann. Die Hauptschwierigkeit bleiben immer die Mitwirkenden. Berufsschauspieler scheiden für mich aus. Ich kann ihnen nicht die Gagen zahlen, die sie verlangen würden. Das Ganze ist ja ein Experiment, das ebenso gut fehlschlagen kann. Nein: Der Plan muß sich eben bei möglichst geringen Kosten verwirklichen lassen. Es kommen also nur Dilettanten in Frage, die sozusagen aus persönlichem Interesse für mich die Rollen übernehmen und auch mit allem Eifer bei der Sache sind, das heißt, sich die Mühe nicht verdrießen lassen, zu proben und immer wieder zu proben, vor dem Spiegel jede Geste, jede Miene zu studieren, zu prüfen, zu verbessern. –

Gewiß – ich habe bereits an diesen oder jenen aus meinem kleinen Bekanntenkreise gedacht, könnte die Hauptrollen bis auf zwei meinem Dafürhalten nach recht gut besetzen – aber – wie darf ich es in meiner Stellung wagen, den Betreffenden ein solches Anerbieten zu unterbreiten?! Und – wer wird sich dazu hergeben, später vielleicht in allen Kinos auf der weißen Wand zu erscheinen, leicht erkennbar für jeden, stets der Kritik ausgesetzt und dem Gerede: ‚Wie konnte Der oder Die nur?! In meinem Film auftreten!‘ –

Hier türmt sich also leider vor meinen Wünschen ein Hindernis auf, das nur sehr schwer wegzuräumen ist.“

Günter Kersten war warm geworden vor Eifer. Er schob sich den Hut aus der Stirn, blickte Olfer forschend an.

Dieser zog den Freund mit sich fort.

„Gehen wir weiter, Günter,“ sagte er leise auflachend. „Dort die beiden Mädels denken, wir zanken uns. Und dabei sind wir doch nie so einig gewesen wie jetzt, – nämlich einig in dem Wunsche und der Überzeugung, daß Ihre Idee verwirklicht werden muß! Ich halte sehr viel davon, lieber Kersten. Sie schlagen da einen recht ungewöhnlichen Weg ein, Geld zu verdienen. Aber gerade das Ungewöhnliche bringt, wenn es glückt, mehr ein als die Schablonenarbeit. –

Jetzt zu dem Filmdrama selbst. Erzählen Sie mir kurz den Inhalt. Ich will mit allem, was diesen Plan angeht, ganz genau vertraut sein, denn – ich werde Sie unterstützen, Günter, so gut ich kann. Ich habe da schon so einige vielleicht ganz praktische Gedanken. Doch davon später. – Also nun das Stück selbst –“

Kersten glühte jetzt vor Eifer.

„Sie sollen es lesen, Olfer. Und wenn sie es daraufhin durchsehen wollen, ob manche Szene noch zu verbessern wäre, würde ich Ihnen sehr dankbar sein. – Das Drama heißt ‚Die Lebensleiter‘, hat fünf Akte und füllt einen Abend aus. Den Inhalt kann ich hier nur andeuten. Es wird der Kampf zweier Männer um ein Weib geschildert, der gleichzeitig ein Konkurrenzkampf ist. Beide sind Besitzer von Fabriken, stellen denselben Spezialartikel, eine neuartige Bügelmaschine her, die bei geringen Abweichungen der Konstruktion jedem von ihnen patentiert ist. Diese beiden Männer, von denen der eine die Fabrik geerbt hat und reich ist, während der andere die seine bei bescheidenem Betriebskapital käuflich erworben hat, sind gänzlich verschiedene Charaktere. Ehrgeiz und Unternehmungsgeist besitzen sie in gleichem Maße, ebenso wie sie gleichmäßig eine fast krankhafte Leidenschaft für dieselbe Frau, eine feingebildete, geistig hochstehende junge Witwe, gefaßt haben. Sonst sind sie wie Tag und Nacht. Der Reiche, der trotzdem noch seine Millionen vermehren möchte, ein eleganter Lebemann und ein heller Kopf, ist nicht allzu wählerisch in seinen Kampfmitteln, wenn auch gerade kein Schurke. Sein Gegner wieder, aus ganz bescheidenen Verhältnissen stammend, ein nicht minder genialer Geist, erscheint ernst, etwas schwerfällig und jeder Intrige abhold. –

Die junge Witwe weiß nicht, für wen sie sich entscheiden soll. Von ihren Freiern bedrängt, erklärt sie, den heiraten zu wollen, der zuerst fünfzigtausend Stück von der Bügelmaschine verkauft hat. –

Die vierte Hauptrolle ist die der Tippdame des ‚reichen‘ Fabrikanten; diese, eine Tochter aus einem verarmten Grafengeschlecht, die ihrem Beruf unter einem bürgerlichen Namen nachgeht, sucht den heimlichen Schachzügen ihres Brotherrn, den sie liebt, alles das durch allerlei Gegenmaßregeln zu nehmen, was den Eindruck des Unvornehmen, gewissenlosen macht. Sie will eben verhindern, daß der Geliebte in den Augen der Welt verliert und womöglich der allgemeinen Verachtung anheimfällt. –

Die fünfte Hauptrolle ist der Prokurist des ‚armen‘ Fabrikanten, der sich von dem ‚Reichen‘ hat bestechen lassen und nun gegen seinen Herrn arbeitet. Dies entdeckt die Witwe. Gleichzeitig kommt aber auch das Tippfräulein dahinter, und beide Frauen beschließen nun, den ‚Armen‘ gemeinsam zu schützen und Betrügereien, die der Prokurist nebenher noch verübt hat aufzuklären. –

Zum Schluß löst sich alles in Wohlgefallen auf. Die Witwe heiratet den ‚Emporkömmling‘, der etwas skrupellose Reiche das adlige Schreibmaschinenmädel, und der Prokurist kommt bei einer Kesselexplosion in der Fabrik ums Leben. Streikszenen, prunkvolle Gesellschaftsbilder und so weiter bringen noch nebenbei Abwechslung in das spannende Drama, dem ich deshalb den Titel ‚Die Lebensleiter‘ gegeben habe, weil die Hauptpersonen sämtlich von dem Bestreben erfüllt sind, es möglichst weit im Leben zu bringen, immer höher auf den Stufen der Lebensleiter zu klimmen, wobei auch die schriftstellernde, liebreizende Witwe keine Ausnahme macht. –

Das wäre in aller Kürze der Inhalt. Für Szenenwechsel, für allerlei Drum und Dran ist reichlich gesorgt.“

„Ich will erst lesen und dann ein abschließendes Urteil fällen, so weit ich dazu überhaupt imstande bin,“ meinte Olfer ehrlich. „Jedenfalls scheint mir die Haltung ganz geschickt erdacht zu sein. Am besten, Sie geben mir das Manuskript gleich mit, lieber Kersten.“

„Sehr gern.“ Sie waren vor dem Hause am Hafen angelangt. Kersten nahm den Freund mit in sein Zimmer, begrüßte die Mutter und die ihm wenig sympathische Frau Kluck und bat Olfer nachher, doch zu einem einfachen Abendbrot da zu bleiben.

„Wenn Sie mit ein paar weich gekochten Eiern, Wurst, Butter, Brot und einem Glase Tee zufrieden sind, würden Sie mich sehr erfreuen, Sie bewirten zu dürfen,“ meinte er.

Olfer lehnte nicht ab. Er hatte für den Abend nichts vor und gedachte auch mit Kersten dessen Plan nochmals durchzusprechen. Er interessierte sich schon jetzt lebhaft dafür, obwohl er sich sagte, daß der strebsame, intelligente Freund die Schwierigkeiten dieser Idee doch wohl unterschätzte.

 

 

7. Kapitel

Erst gegen elf Uhr verabschiedete Olfer sich.

Frau Kersten, bei der sich abends wieder Fieber eingestellt hatte, war recht schlechter Laune. Sie ärgerte sich, weil die Anwesenheit des Ingenieurs sie gezwungen hatte, sich noch stundenlang mit dem zu gedulden, was sie dem Sohne zu sagen hatte und was sie für so überaus wichtig hielt.

Jetzt rief sie Günter an ihr Bett und begann ihm den Besuch Melas zu schildern, wobei sie so tat, als hätte sie Anzeichen dafür entdeckt, daß das junge Mädchen in Kersten heimlich verliebt wäre.

Günter vermochte nur schwer seine innere Erregung zu verbergen, als er hörte, daß Mela die Verlobung gelöst hätte. Neue Hoffnungen keimten in seinem Herzen auf, die unter dem lauen Regen der Andeutungen seiner Mutter schnell wuchsen und jeden anderen Gedanken in ihm verdrängten.

„Nur nicht zaghaft sein, mein Junge,“ meinte die alte Frau, die mit fieberglühenden Wangen in den Kissen lag, jetzt mit fast kreischender Stimme. „Vergiß nicht, daß ‘s Fräulein Melanie reich ist, schwer reich. Sie soll beinahe einhundertundfünfzigtausend Mark besitzen, sagt das Mädchen von Sanders. Einhundertundfünfzigtausend Mark! Oh – das is ein Batzen Geld. So viel kannst du als Friseur nie zusammenkratzen – niemals. Natürlich darfst du auch nicht Barbier bleiben. Ne – die Melanie Harrig is doch nun mal was Besseres und wird nich gern mit ‘m Haarkünstler sich verlobigen wollen. Also, Junge, sieh dich nach was besserm um –“

Günter lächelte. „Vielleicht habe ich’s schon gefunden, Mutter!“

Sie überhörte diese Bemerkung, stieß nun allerlei Laute aus, die vermuten ließen, wie heftige Schmerzen sie haben mußte.

Kersten beugte sich über sie. „Wo tu’s denn weh, Mutter?“

Sie schlug die Lider auf. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war seltsam scheu und ängstlich.

„Nirgends – nirgends,“ brachte sie mühsam hervor und drehte sich nach der Wand hin. „Geh’ schlafen. Laß aber hier das Nachtlämpchen brennen und lege mir die Schachtel mit den Pulvern auf den Tisch.“

Er tat ihr den Willen, wunderte sich aber heute abermals, daß sie nie zugab, an irgend welchen Schmerzen zu leiden und daß sie auch dem Arzte gegenüber in dieser Hinsicht offenbar nicht ehrlich war, der denn ja auch bisher eine bestimmte Diagnose nicht hatte stellen können.

In seinem Zimmer las er dann noch bis gegen ein Uhr im Bett eine Abhandlung über ‚Die Kunst des Filmschauspieles und des Filmregisseuers‘, löschte die Lampe und lag noch beinahe bis Tagesanbruch wach, da die Gedanken an den großen Film, durch den er vor aller Welt seine Befähigung zu Höherem dartun zu können hoffte, ihn nicht einschlafen ließen. Die Würfel waren ja jetzt gefallen! Er hatte begonnen, seine Idee in die Tat umzusetzen. Und Horst Olfer, der Volksbeglücker, wollte ihm dabei helfen, wollte zum Beispiel für die Fabrikszenen die Räume in seiner Arbeitsfirma bereithalten und für die Streikszenen die Arbeiter anwerben, unter denen es seiner Ansicht eine ganze Menge gab, die schon aus Freude an der Sache sich beteiligen würden.

Noch an anderes dachte der Bücher-Barbier.

An Melanie Harrig, an seine Mutter, an die Frau, die in der Industriebank, wo Sander erster Buchhalter war, die Säle nach Geschäftsschluß zusammen mit zwei anderen reinigte und die ihm heute ein so merkwürdiges Erlebnis anvertraut hatte, – dann an Max Sander, den schönen ‚Max‘, von dem einige seiner Kollegen behaupteten, er wäre ein Mensch ohne jedes Gewissen, – schließlich auch an Wera von Benkwitz, die Olfer heute eine kleine Künstlerin genannt hatte, weil sie so wunderbar stimmungsvolle Aufnahmen mit der Kamera festzuhalten wisse, – ja, eine kleine Künstlerin von Geschmack und sicherem Blick für poetisch wirkende Straßenwinkel, Landschaftsausschnitte und lebende Gruppen. Und Olfer hatte noch hinzugefügt: ‚Sie könnte Ihnen viel nützen, lieber Günter. Ich werde zusehen, ob sie nicht auch mithelfen will, ‚Die Lebensleiter‘ aufzurichten.‘

Ach – Günter Kersten hatte ja so unendlich viel zu denken! Wenn er dann nahe am Einschlummern war, hörte er nebenan wieder die Mutter leise stöhnen. Sie litt ohne Zweifel sehr. Weshalb aber leugnete sie dies – weshalb?!

Endlich kam auch für ihn der Schlaf. Er träumte von einem großen Lorbeerkranz, der ihm bei der Erstaufführung ‚Der Lebensleiter‘ überreicht wurde.

Horst Olfer war mit dem Morgenanzug fertig. Da klopfte es schon. Wera, die Frühaufsteherin, brachte den Kaffee und die belegten Brötchen. In dem einfachen, dunklen Hauskleid mit der großen Schürze hatte sie so etwas reizend Hausmütterliches an sich. Olfer dachte: „Wie lieblich sie aussieht. So taufrisch, so kräftig und doch zart wie eine soeben sich öffnende Magnolienblüte!“

Mit einem Händedruck begrüßten sie sich wie immer, tauschten ein paar Sätze aus – über den gestrigen Sonntag, über Erwin und die Lösung der Verlobung, die Olfer auf diese Weise gleichfalls bekannt wurde.

Dann kam der Ingenieur auf Kerstens Plan zu sprechen. Wera war sofort Feuer und Flamme.

„Nein – dieser Kersten,“ rief sie. „Und gleich so großzügig! Ein Drama in fünf Akten! Darf ich es nicht auch mal lesen.“

„Gewiß – zumal mein Freund auf Ihre werte Hilfe rechnet, Fräulein Wera, – zum mindesten bei der Ausstattung der Gesellschaftsräume und der Auswahl geeigneter Plätzchen bei den Freilichtbildern. Hierauf hofft er zum mindesten.“

„Zum mindesten?!“ Wera schüttelte den Kopf. „Worauf hofft er denn noch?“

„Nun – wenn Sie zum Beispiel eine Rolle übernehmen wollten?!“

„Ich – ich?!“ Wera lachte. Dann wurde sie aber schnell wieder ernst. „Hm – ich habe bereits dreimal bei Wohltätigkeitsfesten in Pantomimen mitgewirkt –“

„Sehen Sie – daran habe ich auch gedacht! – Ich denke, Sie können alles, was Sie wollen, Fräulein Wera.“

„Na – na !“ Das klang so burschikos, daß er ebenso gutgelaunt erklärte:

„Nicht ‚Na – na‘! Ich meine es ganz so, wie ich’s sage. Ich habe eine sehr hohe Meinung von Ihren Fähigkeiten.“

Wera schaute ihn prüfend in das bartlose Gesicht, das mit seinen scharfen Linien wie ein klares Bild seiner Seele war.

„Eigentlich müßte ich stolz auf dieses Urteil sein,“ sagte sie ernst. „Ein Mann wie Sie macht keine Phrasen. Aber ich selbst denke weit bescheidener von mir. Doch – das ist jetzt wohl nebensächlich. Hier handelt es sich um Ihren Freund Günter Kersten, also darum, das Aufstreben eines Menschen zu unterstützen. Und dabei will ich sehr gern helfen. Es ist ein gutes Werk, das man da tut.“

Olfer nickte und fragte dann lebhaft: „Sie wollen also auch persönlich mitwirken?“

„Ja – ich will!“

„Brav von Ihnen! Die Sache kommt in Fluß! – So, hier ist das Manuskript des Dramas. – Ich muß jetzt fort. Auf Wiedersehen, Fräulein Wera.“

Er ließ sie allein in seinem Zimmer. Und sie setzte sich langsam in einen der verschossenen Sessel, blickte vor sich hin. –

Dieser Morgen hatte ihr etwas ganz Seltsames beschert. Wie oft hatte sie nicht schon, wenn sie auf dem billigsten Platz in einem Kino saß, scharfe Kritik an den Bildern geübt, die vor ihr auf der weißen Wand erschienen, hatte gedacht: ‚Dies und das hätte sich an der Dekoration wirkungsvoller gestalten lassen; diese Szene wäre lebendiger gewesen, wenn die Schauspieler anders angewiesen worden wären; diese Beleuchtung ist zu grell, zu matt –‘

Sie war nicht nur Zuschauerin, vielmehr auch Lernende; sie hatte die Filmkunst geradezu ‚studiert‘. Und jetzt nun – jetzt war es plötzlich Wirklichkeit geworden, was als geheimer Wunsch stets in ihr geschlummert hatte: sich selbst auf diesem modernsten Gebiet der darstellenden Kunst zu versuchen, sei es als Spielleiterin oder gar in einer Rolle selbst.

Das war das Seltsame dieses Morgens. – ‚Seltsam genug schlingt das Schicksal zuweilen seine Fäden um uns Menschenkinder‘, sagte sie leise zu sich mit einer gewissen Ehrfurcht vor dem, was manche ‚Zufall‘ nennen und was doch nur der offensichtliche Beweis einer weisen Vorsehung ist. –

Ihr künstlerisches Können, bisher notwendig auf Betätigung bei Kunstaufnahmen beschränkt, sollte sich nun auf einem weit vielseitigeren Gebiet ausleben können! Und das nur, weil eines Tages Horst Olfer das möblierte Zimmer gemietet hatte, weil er dann mit Kersten bekannt geworden, weil – weil – weil – ach es gab ja so viele Stationen auf dem Wege bis zu ihr hin, bis zu dem Ergebnis des heutigen Morgens!

Mit einem frohen Lächeln begann sie in dem Manuskript ‚Der Lebensleiter‘ zu blättern. Erst sah sie sich die handelnden Personen an, deren Charakteristik Kersten ein paar Seiten gewidmet hatte. Oh – Helga Aßmussen, das Tippfräulein, – das mußte eine glänzende Aufgabe sein! – Dann überflog sie die ersten Szenen. Sie hatte bisher keine Ahnung davon gehabt, wie ein Filmstück entworfen werden muß. Sie fand sich schnell zurecht in den knappen Andeutungen der Handlung, merkte bald, daß es die Aufgabe der talentvollen Filmdiva oder des begabten Filmschauspielers war, diese Andeutungen zu ergänzen aus eigener Phantasie. Hier mußte eben das Talent eingreifen, hier lag gerade die Kunst des Darstellers: seine Züge hineinzutragen in ein Werk, das dem Gerüst eines Fachwerkhauses gleicht, welches kluge Zimmerleute in der Erwartung errichtet haben, daß auch die Maurer, die die Gefache ausfüllen sollen, ihre Schuldigkeit tun werden.

Wera war so versunken in das Drama mit seiner lebhaften, packenden Handlung, daß sie ihre häuslichen Pflichten völlig vergaß. Frau v. Benkwitz hielt keinen Dienstboten, nur eine Aufwärterin für die gröberen Arbeiten. Da gab es denn für Wera noch übergenug neben ihrer eigentlichen Erwerbsbeschäftigung zu tun.

Im Wohnzimmer, das gleichzeitig als Eßstube diente, warteten Frau v. Benkwitz und Erwin umsonst auf den Morgenkaffee. Sie hatten zunächst gar nicht bemerkt, daß der Zeiger des billigen Regulators an der Wand immer weiter vorrückte, ohne daß Wera erschien. Ihre Unterhaltung, so stockend sie auch war, nahm ihre ganzen Gedanken in Anspruch. Sie drehten sich um Geldsorgen. Und das war ein Thema, über das bei Benkwitz’ jeden Tag gesprochen werden konnte, denn jeder neue Tag war ja wieder nur ein mühsames Hinhalten alter Gläubiger und ein Suchen nach Geschäftsleuten, bei denen man wenig bar zu bezahlen brauchte und desto mehr anschreiben lassen konnte. Die Putz- und Verschwendungssucht Weras Mutter war eben so groß, daß der Tochter Verdienst nicht hinreichte, die Ausgaben mit den Einnahmen in Einklang zu bringen.

Sobald es sich um Geldfragen handelte, schlug Frau v. Benkwitz stets einen weinerlichen, klagenden Ton an, als ob sie von aller Welt dieser Widerwärtigkeiten wegen bemitleidet sein wollte. Auch heute tat sie es dem Sohne gegenüber, der jedoch hieran bereits zur Genüge gewöhnt, kein Wort des Bedauerns fand, im Gegenteil schnell in eine gereizte Stimmung geraten war, in der er zu seiner Mutter Entsetzen ihr zum ersten Male darüber Vorwürfe machte, daß sie ihn, ohne die Mittel dazu zu besitzen, in eine Laufbahn aus persönlicher Eitelkeit hineingedrängt hätte, für die er sich in keiner Weise eigne und durch die er erst das geworden, was er jetzt wäre: Ein Nichtstuer, ein ernster Arbeit entwöhnter Mensch mit Ansprüchen, die zu stillen er kein Recht hätte.

„Würdest du mir freie Hand gelassen haben, Mama, mir selbst einen Beruf zu wählen, so wäre ich nie so tief vor mir selbst gesunken wie jetzt,“ sagte er leidenschaftlichen Tones. „Zum Glück gibt es aber auch bei mir noch Stunden, in denen mein Gewissen sich regt. Ich bin noch nicht so abgebrüht, um nicht das Demütigende zu erkennen, das in meinem Verhältnis zu Mela Harrig liegt, deren Geld mir ein Müßiggängerdasein ermöglichte. Ich habe mich seit Jahren geradezu selbst betäubt, habe nicht einsehen wollen, auf welchem Wege ich mich befand, – einem Wege, der abwärts zu den Tiefen der Selbstverachtung und des völligen Zerfalles mit sich selbst führt! Wenn ich gestern den Bruch mit Mela so auf die leichte Achsel nahm, war nur der Wein daran schuld! Der Alkohol zeigt uns die Dinge nur zu sehr in einer Verzerrung, lullt das Gewissen ein, und macht uns unfähig, den Rest des Guten, der noch in jedem Menschen schlummert, als Fundament für den Aufbau eines neuen Daseins zu benutzen. –

Ja, – ich will heute mal ganz offen sein, Mama, – heute schäme ich mich, weil ich gegen Melas berechtigte Vorwürfe über meinen mangelnden Arbeitseifer durch ein Benehmen mich gewehrt habe, das ganz unangebracht war. Jedenfalls bist du sehr im Irrtum, wenn du glaubst, Mela wäre mir gleichgültig. Ich habe eine schlaflose Nacht hinter mir. Und diese Nacht hat mir meine eigene Person bei dieser stillen Generalabrechnung in einem so kläglichen Lichte gezeigt, daß ich so wie jetzt nicht weiterleben kann und will. Irgend etwas muß geschehen, mich zu retten! Ich will diesen Weg nicht weitergehen, auf keinen Fall! Ich weiß auch schon, was ich zunächst tue. –

Doch nun genug hierüber für heute! Vielleicht dämmert eine neue, bessere Zeit herauf. – Wo nur Wera bleibt? Ich muß doch einmal nach ihr sehen gehn.“

Frau v. Benkwitz war allein. Die noch immer stattliche Frau weinte still in sich hinein. Alle Welt tat ihr unrecht und verfolgte sie mit Feindseligkeiten. Ihre Kinder, jetzt auch Erwin, wurden ihr fremd und schoben ihr die Schuld zu, daß es gekommen, wie es jetzt war, daß die Familie ein Scheindasein führte und überall nur die Pump-Majors hieß. Ach – sie war so zu bemitleiden!

 

 

8. Kapitel

Erwin wußte, daß Olfer nicht mehr zu Hause war. Vielleicht befand Wera sich im Zimmer des Ingenieurs.

So kam es, daß er sie überraschte, daß sie ihm ganz begeistert erzählte, welche weitfliegenden Pläne der Bücher-Barbier verfolgte.

Erwin blieb scheinbar ohne Teilnahme, nahm Wera das Manuskript mit den Worten: „Ich möchte es mal durchsehen“ ab und fügte hinzu: „Sage der Mama nichts von alldem. Erstens dürfte sie kaum Interesse dafür haben, dann aber wird sie Dich nur belächeln mit Deinem warmen Eifer für den Günter Kersten, der mir ja kein Unbekannter ist. Im Gegenteil ich besinne mich noch recht gut auf ihn. Doch das war einmal.“

Er verließ Olfers Stube wieder, und Wera blieb mit recht eigenartigen Gedanken zurück. – Erwin interessierte sich für ein Kinodrama im Manuskript? Merkwürdig! Wenn es noch eine Kinodiva gewesen wäre – natürlich in Person, dann hätte man’s begreifen können! Von Berlin aus hatte er seiner ‚schönen angebeteten Mama‘ – in guter Laune neigte er sehr zu Überschwänglichkeit! – recht oft geschrieben, wie gern er jetzt ‚hinter den Kulissen der Filmbühne‘ verkehre, wie mannigfache Anregungen höherer Art – dazu hatte Wera stets skeptisch gelächelt, als die Mama es vorlas – dies biete und welch geradezu unbegrenzte Möglichkeiten sich der Filmkunst darböten, besonders auch auf wissenschaftlich – kriminalistischem Gebiet. – –

Wera war überzeugt, daß ihr Bruder es bei dieser Schwärmerei für die modernste darstellende Kunst wohl weniger auf deren ‚geistige Anregungen‘ als vielmehr auf die Darstellerinnen abgesehen hätte, denn ein Schwerenöter war der gute Erwin selbst als Bräutigam noch geblieben. Nun – jedenfalls zeigte er ebenfalls für Günter Kerstens Pläne eine Anteilnahme, die ihr selbst insofern wohl tat, als sie dem strebsamen Menschen von ganzem Herzen die Anerkennung der weitesten Kreise gönnte und wünschte.

Nach diesem kurzen Gedankenflug zu weniger prosaischen Dingen hin, begann sie ihr gewohntes Tageswerk mit derselben Gewissenhaftigkeit wie stets.

Erwin machte sich gegen zehn Uhr vormittags, nachdem er Kerstens ‚Lebensleiter‘ gelesen hatte, zum Ausgehen fertig. Frau v. Benkwitz wollte ihn begleiten. Er lehnte jedoch ebenso höflich wie entschieden ab. „Ich habe etwas vor, daß ich allein erledigen muß,“ meinte er mit einer Miene, die ernster und in sich gekehrter war, als seine Mutter ihn sonst kannte. Sie schüttelte daher auch, ganz irregeworden an ihm, den sie so ganz als sich selber ähnlich bisher eingeschätzt hatte, den Kopf. Sie begriff ihre Umgebung nicht mehr. Und sie merkte, daß sie mit all ihrer schrankenlosen Selbstsucht, die sie selbst doch nur für eine Summe selbstverständlicher, bescheidener Ansprüche hielt, allein für sich dazustehen begann. –

Erwin schickte eine halbe Stunde später durch einen Dienstmann einen Brief an Melanie Harrig, in dem er sie um eine kurze Unterredung bat. Als Treffpunkt hatte er ihr eine Bank des Stadtparkes am Olivaer Tor angegeben, auf der sie früher so manches Mal gesessen hatten.

Er wartete dann auf sie, nachdem der Dienstmann ihm nur ein bloßes Ja als Antwort übermittelt hatte, auf derselben Bank, rauchte eine Zigarette nach der anderen und überdachte dabei die letzten Jahre nochmals mit jener Ehrlichkeit gegen sich selbst, die ihm doch etwas zu Neues war, um dabei nicht insofern über das Ziel hinauszuschießen, als er mit sich selbst allzu streng ins Gericht ging, während sein Charakter in Wahrheit doch mehr das Produkt einer falschen Erzielung war.

Mela kam. –

Ob es Absicht von ihr gewesen, fragte sich Erwin bei ihrem Anblick, daß sie sich gerade heute so frisch und duftig gekleidet hat wie eine Frühlingsblüte?

Das bastseidene Kostüm mit dem fußfreien Rock, der Frühjahrshut mit dem Kranz leuchtend roter Mohnblumen und die durchsichtigen Florstrümpfe zu tadellosen Halblackschuhen – all das gab eine feine Symphonie guten Geschmacks ab. Wie jung sie doch aussah! Und doch auch wieder wie ernst und gereift. Ja – Mela war ein ganzer Mensch! Die kleinen Unzulänglichkeiten, die bei niemandem fehlen, traten bei ihr ganz in den Hintergrund.

Sie begrüßte ihn mit kühler Freundlichkeit wie einen Bekannten, mit dem man nicht viel gemeinsames hat, nahm auf der Bank zwanglos neben ihm Platz und begann sofort:

„Wenn ich Deiner Bitte nachgekommen bin, Erwin, so geschah es nur, um nicht hartherzig zu erscheinen. Ich betone aber gleich: Fasse diese Zusammenkunft nicht etwa als ein Aufgeben meines gestrigen Entschlusses auf. – Dein Brief heute hat mir beweisen wollen, daß du anderen Sinnes geworden und –“

Da unterbrach er sie leidenschaftlich:

„Nicht der Brief sollte dies beweisen, Mela! Nein – ich selbst gedachte dies dir gegenüber Auge in Auge zu tun. – Bitte, laß mich ganz frei und offen sprechen. Ich habe schwer gesündigt an dir. Ich weiß, daß du allen Grund hast an mir zu zweifeln, daß ich in Berlin meine Geisteskräfte verzettelte durch die Hinneigung zu allerhand Dingen, die ich mir hätte fernhalten sollen.“

Eine Handbewegung Melas ließ ihn schweigen.

„Ich habe gestern absichtlich vermieden,“ sagte sie herb und streng, „von deinen häufigen Besuchen bei Ago-Filmfabrik zu sprechen, deren Name in deinen Briefen so oft wiederkehrte. Ich wollte nicht eifersüchtig erscheinen. Aber – selbst das weibliche Moment bei dieser Neigung für die Filmindustrie ausgeschaltet! – du hättest deine Zeit nützlicher verbringen können, – ohne Frage!“

„Das gebe ich ja auch zu. Aber – ich passe eben nicht für die Juristerei. In keiner Weise! Mama hat mich geradezu gezwungen, dieses Studium zu ergreifen. Ich werde es jetzt aufgeben und das tun, Mela, was du gestern verlangtest. Gern und freudig werde ich’s tun!“

Er schaute sie fragend an. Erwartete vielleicht, daß ihr ernstes Gesicht frohe Genugtuung ausdrücken würde. Er täuschte sich. Mela schüttelte langsam den Kopf.

„Es ist zu spät jetzt, Erwin,“ meinte sie. „Uns beide bringt deine Einkehr und Einsicht nicht mehr zusammen. Ich werde es dir gleich sagen: Ich bin über Nacht arm geworden. Eine Bank ist zahlungsunfähig. Heute früh kam die telephonische Auskunft, daß mein ganzes Vermögen bis auf einen winzig geringen Rest verloren ist. Mir bleiben nur noch vierzehntausend Mark. Ich muß also arbeiten, verdienen! Dir könnte ich nicht mehr helfen wie bisher. – Ja, über Nacht hat sich viel geändert –“

Er saß da wie betäubt. Seine Gedanken drehten sich in einem tollen Wirbel um einen Mittelpunkt, ein Wort: Arm – arm!

Und wie dieses tolle Jagen der Gedanken nachließ, sprang ein einzelner aus der Meute hervor und kläffte ihn an wie ein heiserer, bissiger Hund:

‚Du – du hast sie noch mehr beraubt, du hast ihr Geld verschwendet, – gewissenlos – wie ein Wahnsinniger, wie ein Unzurechnungsfähiger!‘

Er sank förmlich unter der Wucht dieser Anklage in sich zusammen. Sein Gesicht erschien um Jahre gealtert, war ganz grau und ohne Spannkraft wie das eines Greises.

Dann stöhnte er auf: „Mela – Mela, – und ich bin es gewesen, der dich ebenfalls bestohlen hat! Ich schulde dir viele Tausende! Ich schulde dir noch näher als dies: Dank dafür, daß du mich wachgerüttelt hast! – Jetzt, Mela – jetzt lasse ich dich nicht gehen, behalte ich dich, jetzt mußt du mein bleiben – mußt. Ich will für dich arbeiten. Du sollst es nicht tun! Und jetzt sollst du auch erfahren, was ich nur dir anvertrauen wollte, wie ich in jenem Briefe schrieb, der dir den Mißerfolg im Examen mitteilte. Ich bat dich, daß dies ganz unter uns bleiben sollte. Ich wollte erst mit dir diese meine noch recht unklaren Zukunftspläne besprechen. –

Wisse denn, Mela: Genau so wie in Wera ein Stück Künstlernatur steckt, vererbt von unserem Vater, der ja mehr Maler als Soldat war – genau so lebt seit langem in mir das Sehnen nach dem Berufe des darstellenden Künstlers – des Schauspielers. Ich hatte bis dahin nie Gelegenheit, nachzuprüfen, ob ich Talent besäße, bis mir der Zufall zu Hilfe kam. Ein Filmkünstler der Ago-Gesellschaft war plötzlich erkrankt. Alles war für eine Aufnahme mit großer Massenszenerie vorbereitet. Da – da erbot ich mich, der ich Hillmar Hellgers Rolle genau kannte, denn er ist mein Freund, für ihn einzuspringen. Der Spielleiter wagte den Versuch. So – so trat ich in dem Schauspiel ‚Aus dunklen Winkeln‘ zum ersten Mal auf, unkenntlich durch Vollbart und Brille, spielte den alten Wucherer Ignaz Ickson – und hatte einen durchschlagenden Erfolg! Die Ago-Gesellschaft bot mir sofort monatlich sechshundert Mark Gage für Intrigantenrollen. Ich lehnte ab. Jetzt, Mela, – jetzt werde ich annehmen, nachdem ich noch Günter Kersten, deinem Freunde, zum Siege verholfen habe. – Weißt du, daß er ein großes Filmdrama vorbereitet, daß er es selbst verfaßt hat?“

„Kersten –?“

„Ja, – er! – So höre denn, Mela, was meine Schwester mir heute morgen darüber erzählte –“

Er sprach mit Eifer und Begeisterung.

Melanie Harrig hörte still zu. – Günter Kersten! Sie dachte an das, was dessen Mutter gestern nachmittag an verletzenden Andeutungen alles vorgebracht hatte.

Sie schloß unwillkürlich die Augen. Und aus dem selbstgewollten Dunkel tauchten dann allerlei Bilder auf. Sie glaubte an Kerstens Talent ganz fest. Sie sah voraus, daß er sich durchsetzen, vielleicht eine Berühmtheit werden würde. Sah ihn in irgend einer illustrierten Zeitschrift abgebildet, darunter gedruckt: Günter Kersten, der jetzt vielgenannte Filmdichter und Darsteller.

Und Erwin v. Benkwitz an ihrer Seite hatte jetzt scheu nach ihrer Hand gegriffen und bat flehend:

„Mela – versuch es noch einmal mit mir! Gib mich nicht verloren! Ich will Dir beweisen, daß auch ein Filmschauspieler ein liebevoller, treu sorgender, aufmerksamer Ehemann sein kann! Laß unsere Zukunft eine gemeinsame bleiben, Mela! Stoße mich nicht zurück! Ich liebe dich heute genau so innig wie damals als junger Student – genau so!“

Da kam sie zu sich, entzog ihm ihre Hand. Sie wollte ablehnend antworten. Er aber ließ ihr keine Zeit dazu, beugte sich vor, nahm nun ihre beiden Hände in die seinen, sprach wie einst, wie damals als junger Student als sie sich zum ersten Male küssen ließ.

Um sie her war der Frühling mit all seiner Pracht. War die helle Sonne, das Jubilieren der Vögel, der kräftige Duft der aufs neue tausende von Pflanzen gebärenden Erde.

Mela fühlte, wie seine Stimme, sein ganzer liebenswürdiger Reiz wieder Macht über sie gewann. Sie lauschte dieser Stimme. Sie kannte deren Wohlklang, erlag dem warmen, werbenden Ton, schwieg und ließ ihn reden, ließ ihre Hände von den seinen drücken und pressen.

Dann – dann stand sie jäh auf, trat zurück.

„Gib mir Zeit, an dich glauben zu lernen, Erwin,“ sagte sie schnell mit gesenktem Blick. „Leb wohl. Ich schreibe dir noch.“

Sie eilte davon.

Und Erwin sah ihr nach, erst mit tiefer Enttäuschung, dann mit einem hoffenden Lächeln.

„Sie flieht vor dem Frühling. – Mela, ich kenne dich! Du bist Weib – und, du wolltest es verbergen, daß ich dir doch nicht gleichgültig geblieben.“

 

 

9. Kapitel

Günter Kersten fand den Zustand seiner Mutter am Morgen nach der schlaflosen Nacht so bedenklich, daß er sofort nach dem Arzt schickte.

Der Sanitätsrat Dr. Meyer erschien denn auch sehr bald.

„Dieser Fall erregt mein Interesse,“ meinte er etwas zerstreut. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Jetzt erklären Sie mir noch, Ihre Mutter müßte große Schmerzen haben. Sie selbst leugnet dies, obwohl ihr gequälter Gesichtsausdruck sehr dafür spricht. Was soll man davon halten? Ich weiß es nicht. Ob man nicht versucht, ihr gut zuzureden, daß sie endlich genauen Aufschluß über ihr Befinden gibt? Freilich, heute ist sie sehr schwach, sehr apathisch –“

„Versuchen wir’s,“ meinte Günter bedrückt.

Doch die alte Frau blieb dabei, daß ihr nichts Ernsthaftes fehlte.

„Wenn ich sterben muß – gut denn, – wir müssen’s alle einmal,“ sagte sie matt, aber klaren Geistes. Ihr Gesicht war noch spitzer geworden, geradezu entstellt. Und nach einer Weile verlangte sie dann, der Sanitätsrat sollte ihr nur ganz ehrlich die Wahrheit sagen, ob sie bald ‚hinüber‘ müßte.

Dr. Meyer zuckte die Achseln.

„Ich bin nicht allwissend, liebe Frau Kersten. Als Arzt würde ich antworten müssen: Ihr Herz ist verbraucht, kann ganz plötzlich still stehen. – Als Mensch, der schon viel beobachtet, was alle ärztliche Voraussicht verhöhnt, erkläre ich: Sie können ebenso gut noch hundert Jahre alt werden –“

„Ja – mein Herz –“ murmelte die Alte und preßte die Faust gegen die Brust. „Mein Herz! Es war nie recht gesund, – wenn auch so anders krank, als Ihr Doktors es meint. – Ich möchte den Pfarrer Geisinger her haben, gleich – gleich, – hörst du, Günter, – sofort!“

Sie war mit einem Male sehr unruhig.

Draußen im Flur sagte der Sanitätsrat zu dem Bücher-Barbier:

„Lieber Kersten, jetzt glaube ich die Ursache für die Schmerzen zu kennen: Es ist das Gewissen –“

Der Pfarrer blieb mit der Kranken eine volle Stunde allein. Dann rief er Günter ins Zimmer.

Die alte Frau lag still mit verklärtem Gesicht in den Kissen, nickte dem Sohne zu und sagte mit einer Freudigkeit, die so wenig zu den Worten paßte:

„Ich wehr’ mich jetzt nicht mehr gegen den Tod. Mag er kommen. Ich habe alles klar gemacht für die große Reise. So sagte auch mein Mann, der Lotse, als es mit ihm zu Ende ging –“

Als Günter ihr eifrig diese trüben Gedanken auszureden suchte, meinte sie mit einem glücklichen Lächeln:

„Laß nur, mein Jung’, laß nur. Ich weiß am besten, wie es um mich steht. Die – die Kluck ist doch eine Schwindlerin. Na, du wirst vom Herrn Pfarrer schon hören, was es mit dir und mir auf sich hat.“

Günter ließ dann eine Pflegerin kommen, da die Mutter die Kluck nicht mehr sehen wollte.

Die Kranke wurde schwächer und schwächer. Nachmittags gegen zwei Uhr schlief sie sanft hinüber. Nicht einmal die Pflegerin, die an ihrem Bett saß, merkte, daß es zu Ende ging. – Sie wollte nicht mehr leben, die alte Frau Kersten. Und da war der Sensenmann gnädig gewesen und hatte sie still genommen wie eine sterbende Pflanze, deren Blätter plötzlich abfallen und lautlos zur Erde schweben, aus der sie einst entsprossen. –

Günter Kersten schloß den Laden und besorgte all das, was der Todesfall mit sich brachte. Bereits um fünf Uhr nachmittags wurde die Leiche nach der Kapelle des Kirchhofes von St. Katharinen übergeführt.

Als Günter um sechs wieder in die einsame Wohnung zurückkehrte, als er in dem plötzlichen Gefühl der Verlassenheit ernsten Gedanken nachhing und langsam in seiner Studierstube auf und ab ging, läutete es draußen im Flur.

Er ging öffnen.

Erwin v. Benkwitz stand vor ihm.

„Ihr Lehrling hat mir soeben draußen erzählt, welch herben Verlust Sie zu beklagen haben, Herr Kersten,“ sagte er ein wenig verloren und reichte dem einstigen Klassenkameraden die Hand. „Mein wärmstes Beileid, lieber Kersten! – Sie gestatten doch, daß ich die förmliche Anrede unterlasse. Wir sind ja alte Bekannte.“

Dann saßen sie in Günters Zimmer an dem mit Zeitschriften bedeckten Mitteltisch und begannen bei einer Zigarre das zu besprechen, was Benkwitz hergeführt hatte.

Kersten hörte stumm zu, als Erwin von dem Filmdrama sprach, von Wera, von seiner Verlobung, von Mela Harrig, die sich Bedenkzeit ausgebeten hatte.

Alles andere trat in den Hintergrund gegenüber dem, was Benkwitz ihm dann anbot: Seine Mitwirkung in der ‚Lebensleiter‘. Ja – er wollte die Rolle des reichen Fabrikbesitzers übernehmen.

Günter dankte bewegt.

„Das Schicksal meint es gut mit mir. Gerade heute, wo ich einsam geworden bin, schenkt es mir treue Helfer.“

Erwin lehnte jeden Dank ab. „Vergessen Sie nicht, lieber Kersten, daß ich auch aus Selbstsucht die Rolle übernehme. Wenn der Film einschlägt, wenn ich als Schauspieler mich abermals bewähre, werde ich leicht ein Engagement finden, das gut bezahlt wird. Und – auf Geld muß ich jetzt ja sehen. Habe ich doch auch für Mela zu sorgen.“

Mela! – Günter senkte den Kopf und starrte vor sich hin. Es hieß, diese Herzenswünsche begraben. Er wußte: Nie würde er Mela für sich erringen; sie war doch durch die lange Verlobung zu fest an Benkwitz gekettet. – Dann wunderte er sich über sich selbst, daß ihm dieses Verzichten so leicht wurde. Aber – der große Film half ihm dabei, diese Riesenaufgabe, die seiner wartete, verlangte die Anspannung all seiner Kräfte, vereinigte jetzt schon all seine Gedanken auf sich und gab ihm nicht viel Raum, sie abschweifen zu lassen.

Der große Film! ‚Die Lebensleiter‘! Günter sah sie vor sich, – steil, schwer zu erklimmen, die Sprossen zu unterst mit Dornen umwunden. Aber er packte trotzdem zu. Achtete nicht der Hindernisse, klomm ein paar Stufen empor; und dicht hinter ihm kamen andere, die auch nach oben wollten, – seine Helfer.

Erwin war aufgesprungen, hatte jetzt das Manuskript des Films in der Hand und besprach einzelne Szenen, deren Abänderung er vorschlug.

„Ist es eine zu weitgehende Konzession gegenüber dem Publikum, stets einen Film glücklich ausgehen zu lassen – mit ein paar Verlobungen,“ sagte er unter anderem. „Ich habe in Berlin einen Bekannten, einen Schriftsteller, der plötzlich aus Ärger über den Stumpfsinn der großen Masse, die immer nur Charaktere nach Schablone so und so und mindestens zwei Verlobungen am Schluß verlangte, seinem Verleger eine Anzahl Romane schrieb, in denen er die Menschen so schilderte, wie sie in Wirklichkeit sind: Die anständigen Charaktere trotz aller Biederkeit mit einem leichten moralischen Knacks, den nun mal jeder hat, die Lumpen mit einem Schuß von Bravheit, ohne den auch der Mörder nicht ist. Dazu ersann er stets eine Handlung, die weniger auf Sensation, als auf die Darstellung der Wechselbeziehungen der Charaktere zueinander zugeschritten war. Kurz: er wollte mal aus der Schablone heraus. –

Und der Verleger? Der sagte: ‚Lieber Freund, das sind Experimente, die mir nicht gefallen; dem Publikum auch nicht. Schreiben Sie wieder wie früher, sonst –‘ –

Da dachte der Schriftsteller an seine leere Börse, ging in sich und – schrieb wie für ‘ne Volksfrauenzeitung. Das gefiel! – Und die Nutzanwendung für uns hier? Sie lautet: Wir lassen die beiden Paare in der ‚Lebensleiter‘ sich finden, – wir lassen das Ende so, wie es ist, obwohl – na – wir verstehen uns!“

Abermals läutete es. Es war Olfer.

Erwin begrüßte ihn sehr zuvorkommend. Er bewunderte den Ingenieur im Stillen, obwohl ihre Ansichten, besonders auf politischem Gebiet, bisher weit auseinander gegangen waren. Jetzt dachte Benkwitz auch hierüber anders. Er hatte seine Anschauungen von Grund auf überprüft und wieder gefunden, was gut war, wenn man es nicht vom einseitigem Standpunkt beurteilte.

Olfer, praktisch wie immer, schlug vor, gemeinsam Abendbrot zu essen und dann den großen Film zu dreien durchzusprechen.

Er ging und kaufte allerlei gute Dinge ein, kam schwer bepackt zurück und sagte:

„Die Filmgesellschaft ‚Merkur‘ soll bei Delikatessen gegründet werden. Eigentlich gehörte ein warmes Mahl von acht Gängen dazu. Aber wir tun’s auch so.“

Er war in still vergnügter Stimmung. „Ihre liebe Mutter, Günter, wird es uns kaum verargen, daß wir als tüchtige Geschäftsleute auch dem Magen das seinige gönnen. Sie war stets eine Frau von nüchterner Weltklugheit.“

Benkwitz, der eine Büchse Sardinen öffnete, meinte:

„‚Merkur‘! Ein Name, der recht passend wäre. Schade, daß die Gesellschaft nicht verwirklicht werden kann als Unternehmen von Bestand.“

„Warum nicht?!“ warf der Ingenieur ein. „Ich habe den Namen nicht lediglich hingesprochen. Nein, als ich von Ihnen vorhin hörte, Herr v. Benkwitz, daß Sie bereit seien, die ‚Lebensleiter‘ auch mitzuerklimmen, kam mir der Gedanke: Weshalb nicht gleich den Stier bei den Hörnern packen? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“

Günter rief ungläubig: „Wie – es ist also Ihr Ernst?!“

„Mein voller Ernst. Ich habe so großes Vertrauen zu Ihren Fähigkeiten, daß ich sogar bereit bin, das Unternehmen finanziell zu stützen. Ich denke an eine G.m.b.H., deren Geschäftsführer Sie, lieber Kersten, werden sollen.“

Olfer entwickelte nun in großen Zügen seinen Plan, wie man ‚Merkur, G.m.b.H.‘ selbst bei bescheidenem Anfangskapital zweckentsprechend ins Leben rufen könne. Hin und wieder streute auch Benkwitz dabei eine Bemerkung ein, die stets verriet, wie gut er die Augen während seiner Besuche bei der Ago-Gesellschaft offen gehalten hatte. Jedenfalls war er derjenige von den drei an der Neugründung fast gleichmäßig interessierten Männern, der von dem Betriebe einer Filmfabrik am meisten verstand.

Olfer merkte sehr bald, daß Benkwitz recht viel Sachkunde und außerdem auch einen weitschauenden kaufmännischen Blick besaß, regte den Referendar daher immer wieder zu kritischen Einwürfen an und meinte schließlich:

„Ich sehe jetzt: Wir können ohne Ihre Mithilfe dem ‚Merkur‘ nicht den nötigen Lebensodem einhauchen. Machen Sie gleichfalls mit, bester Herr v. Benkwitz – meinetwegen so nebenbei und nur für den Anfang, da Sie doch –“

„Oh – wenn Sie mich haben wollen,“ fiel der bisherige Referendar ihm ins Wort. „Und dann nicht nur vorläufig! Nein, meine ganze Arbeitskraft will ich, so lange ich Ihnen und Kersten genüge, in den Dienst des ‚Merkur‘ stellen.“

Olfer schlug dem neben ihm sitzenden neuen G.m.b.H. – Direktor fröhlich auf die Schulter.

„Na – was sagen Sie nun, mein Lieber?! Geht die Sache nicht wie – geschmiert?! – Hören Sie, eigentlich müßten Sie doch vor Freude deckenhoch springen. In Wahrheit aber machen Sie ein Gesicht, als ob diese Gründung Ihnen total gleichgültig ist –“

Kersten hatte leise aufgeseufzt. Da schwieg der Ingenieur, fuhr dann fort, indem er Kersten herzlich zunickte:

„Verzeihen Sie. Ich habe da wohl soeben einen stark burschikosen Ton angeschlagen, der in ein Trauerhaus nicht hineinpaßt.“

„Oh, das ist es wahrhaftig nicht,“ meinte Kersten zögernd. „Das Leben den Lebenden! Wir treiben hier ja keinen Scherz. Und – weshalb soll ich die Freude an einem Unternehmen auch nicht angesichts des Loses, das uns allen bevorsteht, äußern dürfen?! – Nein, wenn ich vielleicht zerstreut erscheine, obwohl gerade mich dieser Gegenstand unseres Gespräches mit am meisten angeht, so hat das seinen besonderen Grund, den Sie schon kennen. Erinnern Sie sich nur an die Scheuerfrau, von der ich Ihnen letztens erzählte.“

Dann wandte er sich an Benkwitz:

„Ihnen dürfte bekannt sein, daß ich hier in unserem Viertel für viele so etwas wie Vertrauensmann, Ratgeber und – Beichtvater bin. Auf diese Weise habe ich nun auch Kenntnis von einem Verbrechen erhalten, das für Ihre Braut von größter Bedeutung ist, – kurz, dessen Opfer Fräulein Melanie insofern werden sollte, als man mit ihrem Vermögen eine raffinierte Schiebung vorgenommen hat. Ich habe es mir lange überlegt, wie ich das, was eine arme Frau mir mitteilte, verwerten sollte, um einem gewissenlosen Fälscher womöglich ohne Hilfe der Behörden einen dicken Strich durch seine Rechnung zu machen. –

Der Name der Frau tut nichts zur Sache. Unlängst ist dieses Weiblein, das einst bessere Tage gesehen und nun als Reinmachefrau bei der Industriebank etwas zu dem kargen Lohn ihres Mannes dazu verdient, beim Säubern des Arbeitszimmers des ersten Buchhalters der Bank spät abends infolge Übermüdung auf einem Stuhl hinter einem großen Bücherständer eingeschlafen. Die Kolleginnen der Frau sind damals heimgegangen, ohne zu ahnen, daß noch eine von ihnen im Hause anwesend war und haben sie in das große Gebäude eingeschlossen. Sie erwachte dann durch ein Geräusch im Zimmer, sah, wie der erste Buchhalter sich an seinem Schreibpult zu schaffen machte, wie er verschiedene Papiere aus einem Fach hervorholte, hörte auch sein leises Selbstgespräch, sein höhnisches Auflachen, das feine Kratzen eines Radiermessers. Die Frau besaß nun genug kaufmännische Kenntnisse – ihr Mann war einst Inhaber eines gut gehenden Kurzwarengeschäftes, das erst durch betrügerische Manipulationen eines falschen Freundes verkrachte – um aus den halblauten Bemerkungen des Stiefvaters Ihrer Braut, lieber Benkwitz, sich das Nötige zusammenreimen zu können. Es handelt sich um Aktien, die infolge Konkurses der betreffenden Gesellschaft wertlos geworden und die Sander als Vermögensverwalter seiner Stieftochter dieser nachträglich als ihr gehörig hinstellen wollte, obwohl sie in Wahrheit Eigentum seiner Frau waren. Jedenfalls hat er das Vermögensverzeichnis Fräulein Melanies gefälscht. Und die Scheuerfrau ist dann belastet mit diesem Geheimnis, zu mir gekommen und hat mich um Rat gefragt, was sie in dieser Angelegenheit wohl tun könne; sie wollte doch ihre Stelle bei der Bank nicht verlieren; der Herr Sander sei dort allmächtig. Man würde ihr kaum glauben, was sie damals erlebt, zumal sie die ganze Nacht im Hause geblieben und morgens erst nach Geschäftsbeginn sich heimlich entfernt habe. Anderseits könne sie doch nicht dulden, daß das Fräulein so gemein betrogen würde. –

Nun, ich habe dem Weiblein versprochen, die Sache ins Reine zu bringen. Als Sie, lieber Benkwitz, dann heute abend mich besuchten, mußte ich immer wieder an diese Angelegenheit denken, die ja auch für Sie von Interesse ist.“

Der Referendar war aufgesprungen, rief jetzt:

„Der Schurke! – Ja – es handelt sich hier um einen vollendeten Betrug. Sander hat ja Mela bereits mitgeteilt, daß der größte Teil ihres Vermögens verloren gegangen ist –“

Olfer war es dann, der Benkwitz einen bestimmten Vorschlag machte, wie man Sander ohne öffentliches Aufsehen zwingen könne, sein Verbrechen einzugestehen und die Vermögenswerte herauszugeben.

Erst nachdem man diesen unerquicklichen Gegenstand erledigt hatte, kam man wieder auf die neue G.m.b.H. zu sprechen, und nun bezeigte auch Kersten für die Sache jene Anteilnahme, die Olfer vorhin bei ihm vermißt hatte.

Nachher begleiteten Benkwitz und Kersten den Ingenieur noch ein Stück Wegs nach Hause, gingen dann am Ufer der Mottlau wieder langsam zurück durch die stille, warme Nacht. Und jetzt war es Benkwitz, den der Wunsch, sich irgendwo jemandem in seinen Herzensnöten anzuvertrauen, erst zögernd, dann immer offener sein Zerwürfnis mit Melanie erwähnen ließ. Er ahnte ja nicht, daß er gerade dem Manne gegenüber von seiner Liebe und seinem ernsten Willen, von Grund auf ein anderer zu werden, sprach, der nur zu gut begriff, wie leicht ein Mädchen wie Mela einen Menschen völlig zu verwandeln vermochte, wußte auch nicht, wie schwer es Kersten wurde, ihm Mut zuzusprechen.

„Alles wird noch gut werden, lieber Benkwitz,“ sagte Kersten herzlich. „Jeder reuige Sünder findet Verzeihung. Und Ihre Schuld ist doch nicht einmal so riesengroß.“

„Hoffen wir es,“ seufzte Erwin etwas kläglich, worauf Günter ihn tröstete:

„Sie liebt Sie ja fraglos noch! Und Liebe ist geduldig, langmütig!“

Wie schwer wurden ihm diese Worte, obwohl er Mela doch bereits aus seinem Lebensprogramm gestrichen hatte! So schnell ließ sich eine tiefe Leidenschaft doch nicht beseitigen.

 

 

10. Kapitel

Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr erschien Max Sander bei der Majorin und bat, den Herrn Sohn sprechen zu dürfen.

Erwin, der von Olfer die Erlaubnis erhalten, dessen Zimmer in seiner Abwesenheit benutzen zu dürfen, führte den Besucher dort hinein.

Sander setzte sich und begann:

„Ich komme im Auftrag Melas, lieber Erwin – du gestattest doch, daß ich dich weiter so nenne, obwohl –“

„Nein – ich gestatte nicht, Herr Sander! Ich habe meine Gründe dafür.“

Der Buchhalter wurde verlegen, faßte sich aber sehr schnell und meinte ironisch:

„Ganz wie Sie befehlen, Herr v. Benkwitz-Buchau. – Hm – also im Auftrage Ihrer früheren Braut. Um den Auftrag schnell zu erledigen: Wie denken Sie sich die Rückzahlung des Darlehns, das Mela Ihnen nach und nach gegeben?“

Erwin ahnte sofort, daß Sander log. Mela hätte ihm nie nahegelegt, von ihrem Verlobten das Geld auf diese Weise zurückzufordern, selbst wenn diese halbe Aussöhnung zwischen ihnen nicht zustande gekommen wäre, die sie, wie jetzt offenbar wurde, ebensowenig den Ihrigen mitgeteilt hatte wie Erwin es seiner Mutter gegenüber getan. Nur Wera wußte darum.

Er erwiderte daher auch kalt und verächtlich:

„Wie ich mir die Rückzahlung denke? – Hm – genau so, wie die Rückgabe der einhunderttausend Mark an Mela, die Sie so schlau ihr abgeschwindelt haben.“

Sander schnellte hoch.

„Herr – Herr – ich verbitte mir derartige Scherze!“ preßte er mühsam hervor. Aber der Ton und sein bleiches Gesicht verrieten, wie es in seinem Innern so ganz anders aussah.

„Sie haben sich gar nichts zu verbitten,“ sagte Benkwitz schneidend. „Setzen Sie sich! Ich frage Sie, – wollen Sie gutwillig die Aktien wieder austauschen, – ja oder nein? Wenn nicht, lasse ich Sie sofort verhaften.“

Sander merkte, daß er durch diese Taktik das Unheil nicht abwenden konnte. Immerhin machte er noch einen letzten Versuch.

„Sie werfen mir da Dinge vor, die ich nicht verstehe. Bitte – wollen Sie sich nicht klarer ausdrücken?“

Benkwitz verlor die Geduld.

„Ja – gern!“ rief er empört. „Ich werde nämlich Wera nach der Polizeiwache schicken und Sie inzwischen hier festhalten.“

Sander zeigte sich jetzt als überaus geriebener Bursche. Achselzuckend sagte er würdevoll:

„Nun gut. Ich habe Melas Vermögen durch das Vertauschen der Wertpapiere nur vor Ihnen vorläufig retten wollen, damit Sie nicht auch dieses Geld verschwenden!“

Diese Frechheit empörte Erwin derart, daß er den Schurken jetzt anbrüllte: „Sofort werden Sie mich nach Ihrer Wohnung begleiten. Dort wird dann auch Ihre Frau erfahren, was Sie verbrochen haben, denn ich nehme an, sie weiß nichts davon.“

Sander wollte Ausflüchte machen, aber Erwin blieb fest.

*

Frau Sander und Mela ahnten nicht im geringsten, was diese Besprechung zu vieren eigentlich bezweckte.

Erwin brachte seine Anklage vor, nannte jetzt auch die Zeugin, die den Fälscher bei der Radierarbeit beobachtet hatte.

Sander lächelte überlegen und wiederholte seine faule Ausrede von vorhin mit einem Schwall so heuchlerischer Phrasen, daß Mela angewidert ihm das Wort abschnitt.

„Gib dir keine Mühe, mich zu täuschen,“ sagte sie laut und voller Abscheu. „Ich weiß längst, was ich von dir zu halten habe. Erwin hat ganz recht: Du wolltest mich betrügen!“

Frau Emilie schrie auf. „Mela – Mela, du wagst eine solche Sprache? Du glaubst diesem Menschen?! Das ist abscheulich von dir! Der Papa hat natürlich nur dein Bestes im Auge gehabt! Davon bin ich überzeugt!“

„Natürlich, nur Melas Bestes,“ sagte Sander voller Würde. „In Wahrheit hat meine liebe Frau einhunderttausend Mark eingebüßt. Dein Vermögen aber wollte ich dem Herrn da entziehen. Später hätte ich dich aufgeklärt.“

Mela zuckte die Achseln. „Alles Lüge! – Später? Wann denn?! – Wenn du wirklich mein Geld nur schützen wolltest, hättest du mir am Sonntag abend, als ich euch die Auflösung unseres Verlöbnisses mitteilte, gleich reinen Wein einschenken können, denn da bestand die angebliche Gefahr ja nicht mehr, daß Erwin mir die einhunderttausend Mark abschmeicheln könnte!“

Sander schlug den Blick zum Himmel hinauf.

„So wird man verkannt,“ seufzte er. „Ich wußte eben, daß du dich doch wieder mit dem Herrn da aussöhnen würdest. Deshalb wollte ich erst abwarten, ob die Trennung auch wirklich von Bestand sein würde.“

Mela lachte ironisch auf. „Sehr vorsorglich.“

Frau Emilie aber rief jetzt fast kreischend:

„Schweig’, Undankbare! Wie darfst du es wagen, deinen guten, braven Stiefvater so zu verunglimpfen! Du bist mein Kind nicht mehr! Ich verbiete dir dieses Haus!“

„Aber teure Emilie,“ sagte Sander heuchlerisch. „Sie wird ja schon zur Vernunft kommen!“

Da wandte sich Mela an Erwin.

„Gehen wir! In dieser Luft von Lüge und Scheinheiligkeit ersticke ich. Ich werde dieses Haus sofort verlassen!“

Sie schritt zur Tür, drehte sich nochmals um:

„Leb wohl, Mama. Ich wünsche nur, daß du nie den Beweis erhältst, wessen dieser – Herr fähig ist,“ sagte sie langsam.

Ein: „Hinaus, herzloses Geschöpf!“ war die Antwort.

Mela fand bei der Majorin Unterkommen, die froh war, daß die Schwiegertochter nun wieder zum Haushalt reichlich beisteuerte. Erwin bezog in der Nähe ein möbliertes Zimmer.

Am folgenden Tage betrat Frau v. Benkwitz überraschend gegen elf Uhr vormittags Olfers Stube.

Ganz entgeistert blieb sie in der Tür stehen. Die im Zimmer Anwesenden hatten sie nicht bemerkt.

Sie sah, wie Erwin Wera eine stumme, sehr leidenschaftliche Liebeserklärung machte, hörte dann Mela sagen:

„Halt, Kinder, halt, – so geht das nicht! Wera, du mußt sowohl verschämter, aber auch glücklicher dreinschauen! Und du, Erwin, – du mußt dir vorstellen, du wolltest mich in die Arme ziehen! Also mehr Temperament, Liebster!“

„Was – was treibt ihr denn hier?“ tönte da der Majorin Stimme von der Tür her.

Die drei Künstler fuhren herum.

Erwin lachte vergnügt.

„Na – nun hilft’s schon nichts mehr, Mama, – du mußt eingeweicht – pardon – eingeweiht werden! Du wirst staunen! Mehr als das! – Setz’ dich vorher! – Also –“

Und nun erst erfuhr Frau v. Benkwitz, daß die Film-G.m.b.H. ‚Merkur‘ gestern abend wirklich gegründet worden war, daß Mela fünfundzwanzigtausend Mark zur Verfügung gestellt und Olfer den gleichen Betrag als Einlage gegeben hatte.

Erst war sie sprachlos. Dann aber fragte sie sofort:

„Ihr hofft also viel zu verdienen, nicht wahr?“

„Sehr viel!“ erklärte Erwin.

„So so. – Hm – könntet Ihr nicht noch jemand für ältere Damenrollen brauchen, Kinder?“ meinte die Majorin zögernd. „Ich bin ja nicht ganz ohne Talent.“

Da flog Wera ihr um den Hals.

„Hurra – das wird der reine Familienfilm! Die Mama macht auch mit! Großartig! – Siehst du, auch Mela will’s versuchen, die junge Witwe in der Lebensleiter zu mimen! Karlsen vom hiesigen Stadttheater gibt uns allen noch dramatischen Unterricht! – Nein – wie ich mich freue! Mama – nun hört der ewige Dalles auf! Nun werden wir Filmsterne! Das Zeug haben wir dazu!“

 

 

11. Kapitel

Günter Kersten fuhr mit Pfarrer Geisinger von der Beerdigung seiner Mutter heim.

Geisinger war schweigsam. Seiner harrte noch eine besondere Aufgabe.

In Günters Studierzimmer berichtete er dem Sohne dann, was die Mutter damals ihm anvertraut hatte.

„Lieber Herr Kersten,“ begann er, „machen Sie sich darauf gefaßt, manches zu hören, was Sie recht schmerzlich berühren wird – die Verstorbene war ein etwas schwieriger Charakter. Geiz, die Wurzel so vielen Übels, hat auch ihr Herz mit einem Gerank stachligen Unkrauts umgeben gehabt. –

Der Lotse war nicht Ihr leiblicher Vater. In Ihren Adern fließt Künstlerblut. Vor etlichen dreißig Jahren gab es hier am Stadttheater einen Heldentenor namens Günter – Wolfgang Günter, – der vielen Mädchen die Köpfe verdrehte, zumal er noch recht wohlhabend war. Er hat Ihnen dann bei seinem Tode, der kurz nach dem Ihres Adoptivvaters erfolgte, ein Kapital von dreißigtausend Mark hinterlassen, das Ihre Mutter bis zu Ihrer Großjährigkeit frei verwalten sollte, ohne Rechnung legen zu brauchen. Die Verstorbene hätte Ihnen also eine gute Schulbildung geben lassen können. Aus Geiz tat sie es nicht, verheimlichte Ihnen auch später das Vorhandensein dieses Vermögens, das heute einige zweiundsechzigtausend Mark beträgt. Nachher ist dann aber doch bei Ihrer Mutter das Gewissen erwacht, als sie sah, daß Sie mit Ihren Fähigkeiten viel hätten erreichen können. Und diese Gewissensqualen wuchsen immer mehr. Sie kennen ja das Ende dieser Erdenpilgerin, die das Geld über alles geliebt hat, die Zinsen auf Zinsen häufte, und die dann doch an diesem schweren Fehler zu Grunde ging. Rechten Sie nicht zu streng mit ihr. Gott pflanzt den Menschen gar seltsame Triebe ins Herz. Seine Wege sind unerforschlich, führen doch schließlich hinauf zum Licht. So auch hier. Als wohlhabender Mann können Sie jetzt Ihren Neigungen leben, können einen anderen Beruf ergreifen. – So, das ist’s, was ich Ihnen nach dem Willen der Verblichenen heute erst mitteilen sollte.“

Günter saß wie betäubt da. Es war zu viel, was so plötzlich auf ihn eingestürmt kam.

Dann befand er sich zehn Minuten später allein im Freien, wanderte am Hafen entlang, suchte sich eine stille Bank und überdachte das, was er nun über seine Herkunft wußte.

Sohn eines Sängers, eines Tenors! Das erklärte alles! Von seinem Vater hatte er also die künstlerischen Neigungen ererbt! Und er hatte schon so häufig darüber nachgegrübelt, woher nur dieser Hang zum Theater in ihn eingepflanzt worden sein mochte.

Er saß und überdachte sein Leben.

Nein – er grollte der Toten nicht! Das Geld, das jetzt sein, schuf ihm freie Bahn! Nun konnte er sich an der neuen Filmgesellschaft mit doppelter Einlage beteiligen, nun konnte er den ‚Merkur‘ gleich in einer Weise ins Leben rufen, wie ihm dies nötig schien, um einen vollen Erfolg zu sichern.

Die Abendschatten senkten sich über den Hafen. Der Lärm der Arbeit verstummte.

Günter Kersten hatte vergessen, was ihn an diesen Platz geführt.

Seine Phantasie ließ vor ihm andere Bilder aufleben.

Ein neues Drama entstand so im ersten Entwurf. Es sollte die Verherrlichung deutschen Schiffbaus werden, dargestellt an dem Lebenswege eines einfachen Werftarbeiters, der mit eisernem Fleiß emporstrebt aus der Menge der Kameraden.

‚Das Lebensschiff‘ wollte er das Drama nennen. Und Horst Olfer würde raten und helfen, daß er Bilder aus dem Betriebe einer Werft brachte, die dem Film auch wissenschaftlichen Wert gaben.

Dann ging er langsam heim.

Am nächsten Tage gab er die alte Wohnung auf, verkaufte das Geschäft. Damit hatte der Bücher-Barbier zu existieren aufgehört.

In das Handelsregister aber wurde eingetragen:

‚Merkur, G.m.b.H., Geschäftsführer mit dem Titel Direktor Günter Kersten.‘

Eine verkrachte Schuhfabrik mit hellen, großen Arbeitsräumen unter Glasdächern kaufte die G.m.b.H. an, und von Tag zu Tag wuchs das Unternehmen sich in seine Besonderheiten dank der Umsicht seines Direktors und des Eifers des Prokuristen Erwin v. Benkwitz mehr und mehr hinein.

Die Proben zu der ‚Lebensleiter‘ waren ebenfalls bald so weit gediehen, daß mit den Aufnahmen begonnen werden konnte.

Nach einem Darsteller für den armen Fabrikherrn hatte man lange vergeblich gesucht, bis – Olfer sich eines Tages bereit erklärte, diesmal helfend einzuspringen.

Inzwischen begannen dann auch schon die Proben für ‚Das Lebensschiff‘. Und so konnte denn die neue Filmfabrik eines Tages gleich mit zwei abendfüllenden Werken auf dem Filmmarkt erscheinen.

Die Erstaufführung der ‚Lebensleiter‘ in Danzig gestaltete sich zu einem wahren Triumph für Direktor Kersten. Die Kritik war glänzend. Nicht eine Zeitung gab es, die etwas zu bemängeln gehabt hätte. Allgemein wurde anerkannt, daß das Drama, jegliche Sensationshascherei vermeidend, der Filmkunst neue Wege wies.

Nach der Erstaufführung vereinigte ein Festmahl die sämtlichen Angestellten des ‚Merkur‘ und die Mitwirkenden im Saale des Artushofes, den der Magistrat der Stadt bereitwilligst hergegeben hatte.

Der Abend brachte noch eine große Überraschung. Die Verlobung Weras und Olfers.

Als Kersten den Freund mit warmen Worten beglückwünschte, meinte Olfer strahlend:

„Sollte ich denn gar keinen Vorteil von dem großen Film haben, lieber Günter?! Ihr alle seid doch auf der Lebensleiter eine ganze Menge Stufen höher geklettert, da durfte ich doch nicht müßig bleiben! Für euch lockte oben der Erfolg – mir winkte ein stilles Glück. Nun sind wir alle zufrieden!“

Dann ließ man den großen Film mit Sekt leben. –

Es ist einer von den Romanen, geneigter Leser, wie sie Erwin v. Benkwitz Kersten gegenüber erwähnte, – einer von denen, die den Helden unbeweibt seinen ferneren Lebensweg gehen lassen. Ich weiß nicht, ob er gefallen wird.

Ich hoffe es. Aber – die Geschmäcker sind verschieden.

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*

 

 

Fußnote:

1 Schröder = großes Kaffeelokal nahe am Walde in Langfuhr