Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 363
Roman von
Walther Kabel.
Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1918 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Berlin.
1. Kapitel
Wenn Maria Mörner in ihrer schwarzen Tracht über die Straße ging, schauten ihr die Männer und die Frauen nach.
‚Der verkörperte Schmerz, und doch – welch schönes Weib,‘ dachten erstere.
‚Kokett herausgeputzt, – wieder eine, die weiß, daß die Witwenkleidung ihr farbloses Allerweltsgesicht hebt!‘ sagten sich die neidischen Mitschwestern.
Maria wußte nicht, daß sie überall auffiel. Sie sah stets an den Leuten vorbei. Ihre Gedanken waren immer in eine endlose Ferne gerichtet, dorthin, woher es keine Rückkehr gibt.
Heinz – ihr fröhlicher Heinz war ja tot. Auch er gehörte zu den vielen Millionen, die der Weltkrieg ausgelöscht hatte, deren Gebeine jetzt irgendwo – irgendwo in fremder Erde ruhten.
Heute schritt Maria hastiger als sonst dahin. Heute bedeckte eine feine Röte ihre zarten, schmalen Wangen. In der Straßenbahn machte man ihr dann höflich Platz. Ein Herr stand sofort auf. In Berlin geschah das nur noch selten. Die einstige Rücksichtnahme auf das schwächere Geschlecht hatte aufgehört. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun. Jeder dachte nur an sich in dieser schweren Zeit, wo das Deutsche Reich, wo Geschäfts- und Verkehrsleben, wo alles zusammenzubrechen drohte unter den erbarmungslosen Schlägen finsteren Schicksals.
Maria stieg aus. Bis zu dem alten Hause, in dem die Tanten Minna und Gertrud wohnten, hatte sie noch eine weite Strecke zu Fuß. Das Haus lag im ältesten Teil Charlottenburgs, in einer schlechtgepflasterten, verräucherten Gasse. Aber es hatte einen Vorgarten, war rings von Linden umgeben, die die häßlichen, schwarzen Riesenmauern der Nachbarhäuser verdeckten und – es gehörte den Geschwistern Klein bis auf den letzten Ziegelstein. Sie waren sehr stolz darauf, daß es ihr schuldenfreies Eigentum war. Gern bezahlten sie die höheren Abgaben. Sie waren ja überhaupt so unpraktisch und weltfremd, die beiden weißhaarigen Matronen, die die ganze Nachbarschaft nur ‚die Tantchens‘ nannte, nicht aus Spottsucht, nein, weil sie halfen, wo sie helfen konnten. Leider gehört zum Helfen Geld. Und damit war’s knapp bestellt bei den Tantchen, besonders jetzt, wo das Leben so viel kostete, wo fast alles ums Zehnfache teurer war als in jener märchenhaften Zeit der wohlgefüllten Fleischer- und Delikatessenläden.
Marias Schritte wurden immer zögernder.
Sie sah bereits im Geiste die ratlosen, welken Gesichter Minchens und Trudchens vor sich, hörte feine, dünne Stimmchen sagen: ‚Kind, Kind, – da mußt du selbst am besten wissen, was du tust!‘
Nun – sie suchte die Schwestern ihres längst dahingegangenen Vaters, auf den sie sich ebenso wenig wie auf ihre Mutter besinnen konnte, auch nicht auf, um mit ihnen das Für und Wider dieser ernsten Lebensfrage zu erörtern und ihre Meinung darüber einzuholen. Nein, sie hielt es mehr für eine Pflicht, ihren einzigen näheren Verwandten noch vor der Entscheidung Mitteilung von Doktor Helmbolds Antrag zu machen, – für eine Anstandspflicht.
Diese Entscheidung sollte nun fallen. Maria war noch nicht einig mit sich, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnte, die Gattin eines Anderen zu werden, wo doch Heinz’ Bild in ihrem Herzen noch so lebendig war und ihre Liebe sich noch immer in trostlosem Sehnen nach ihm verzehrte. Wenn nur nicht diese furchtbare Not der Zeit auch sie in so vielfacher Gestalt umdrängt hätte. –
Niemals hätte sie dann Doktor Heimbold auch nur die geringste Aussicht gemacht, daß er mit seinem stillen Werben je Erfolg haben könnte, diesem ebenso ausdauernden, zähen Werben, das sie schon als Mädchen kennen gelernt hatte und das nie zum Schweigen gekommen war.
Jetzt stand Maria vor der Pforte des Vorgartens und blickte unschlüssig auf die blanken Fenster mit den schneeweißen, steif gestärkten Gardinen, auf die Linden, deren Knospen sich eben geöffnet und die Zweige mit hellgrünem Schimmer überzogen hatten.
Und jetzt wußte sie, weshalb ihr dieser Gang plötzlich so schwer wurde, nachdem sie daheim in ihrer bescheidenen Wohnung sich diese Aussprache doch so einfach und so ohne beiderseitige Erregung vorgestellt hatte.
Sie fürchtete, die Tanten könnten annehmen, daß diese große, himmelstürmende Liebe zu dem flotten, liebenswürdigen Heinz Mörner, die aus dem scheuen, einsamen Kinde so schnell ein hingebungsvolles, heißblütiges Weib gemacht hatte, doch nur ein flüchtiger Rausch gewesen, wie sie es stets warnend vorausgesagt hatten.
Ein Rausch? – Ja, das waren jene kurzen vierzehn Tage gleich nach Kriegsausbruch allerdings gewesen, ein beseligender Rausch, auf den jedoch nur deshalb ein tränenvolles Erwachen gefolgt war, weil Heinz ganz unvorhergesehen an die Front, ins Feld mußte. Von diesem Rausch mit seinen unzähligen beglückenden und heiße Sehnsucht weckenden Erinnerungen hatte sie ja nun vier volle Jahre gezehrt, an ihm hatte sie jeden Tag die Quallen wilden Schmerzes und leerer Hoffnungen erneuert, bis ihre traurige Lage, dieses Darben und heimliche Hungern sie dann gezwungen hatten, in eine Todeserklärung des bis dahin nur als vermißt Geltenden zu willigen, wobei die Tanten zu diesem schweren Entschluß auch ihr gut Teil durch stetes Zureden beigetragen hatten.
Maria öffnete die Pforte. Sie würde ihre Liebe schon zu verteidigen wissen! –
Sie öffnete die Pforte, und ihr war’s, als ob damit schon die Entscheidung gefallen wäre. Gesenkten Hauptes schritt sie auf das alte, niedrige Haus zu, in dem sie geboren, in dem sie dann von den Schwestern ihres Vaters erzogen worden war zu jenem unselbständigen, lebensfremden Wesen, das sorgsamer in diesen Mauern gehütet wurde als in einem Kloster und das dann doch gerade Heinz Mörner begegnen mußte – gerade ihm an jenem Tage, als der Mord in Sarajewo die längst unter dem Horizont lauernden Gewitterwolken hervorlockte. –
Auf der Untergrundbahn war’s. Da hatte er Tante Minchen und ihr gegenübergesessen und sie förmlich mit den Blicken verschlungen. Heiß und kalt war ihr damals geworden. Sie wollte die Gleichgültige spielen, den Zudringlichen mit Verachtung strafen. Wollte – sie ertappte sich jedoch immer wieder dabei, daß sie nach ihm hin schaute. Bis in die enge Gasse, bis vor das Haus war er ihnen dann gefolgt. Tante Minchen ahnte nichts. Ahnte auch dann noch nichts, als die Nachbarschaft bereits allerlei von einem stillen Verehrer flüsterte, der Maria täglich vor- und nachmittags Fensterpromenaden machte. Eine Woche war’s so geblieben. Da ging sie einmal, was so selten geschah, allein bis zum nächsten Postamt, und da hatte er sie angesprochen. Heimliche Stelldicheins folgten bald, die viele kleine Notlügen erforderten. Maria kannte sich nicht wieder. Sie war eine völlig andere geworden. Wenn sie morgens mit dem Staubwedel, leise ein Liedchen trällernd, über die verschossenen, altersschwachen Möbel hinfuhr, warnte Tante Trudchen: ‚Vögel, die morgens singen, holt am Abend die Katz’!‘ –
Nun – die Katz’ holte Maria nicht, aber Heinz Mörner holte sie, nachdem er den Tantchen keck einen Besuch gemacht und vierzehn Tage den würdevollen Bewerber gespielt hatte, als kriegsgetrautes Frauchen am zweiten Mobilmachungstage in sein festlich geschmücktes Junggesellenheim, für dessen Schlafzimmer die Tantchen als Aussteuer zunächst lediglich zwei neue Betten nebst Wäsche gespendet hatten. Und ein halbes Jahr später wurde Heinz Mörner, der kurz vorher Offizier geworden, als vermißt gemeldet, – vermißt nach einem Rückzugsgefecht bei Liszowo in Rußland.
Das war Marias Liebesgeschichte. –
Und als sie nun in dem von Lavendelgeruch erfüllten Wohnzimmer saß, als der Kanarienvogel ihr zu Ehren lauter als sonst seine Triller rollen ließ, als Minchen und Trudchen nebeneinander auf dem steiflehnigen roten Plüschsofa thronten und wie immer eine endlos Häkelei im Schoße hatten, da sagte Minchen als die ältere und ein ganz klein wenig zielbewußtere zu Marias Erstaunen mit schlecht verhehlter Freude:
„Uns überrascht es nicht weiter, daß Doktor Helmbold dir seine Hand angetragen hat, mein liebes Kind. Wir haben das vorausgesehen. Wir können dir auch nur raten, diesem ernsten, vortrefflichen Manne Gehör zu schenken. Du reibst dich bei der anstrengenden Bureauarbeit langsam auf. Du mußt gepflegt werden. Dein Aussehen wird von Tag zu Tag schlechter. Helmbold ist vermögend. Er würde dich auf Händen tragen. Und – ewig Witwe zu bleiben, dazu bist du mit deinen vierundzwanzig Jahren noch zu jung.“
Maria blieb stumm. Alles andere hätte sie erwartet, nur nicht diesen unumwundenen Rat, sich ein behagliches Leben an Helmbolds Seite zu schaffen. Die Tantchen als ältere Jüngferlein hatten ja so merkwürdige Ansichten über die Ehe. Eine Heirat dünkte ihnen in jedem Falle etwas Unreines, etwas, wodurch ein Weib sich halb erniedrigte und beinahe – beinahe zur Dirne wurde. Deshalb war ihnen Heinz Mörner auch stets wie ein brutaler Raubritter, wie ein Wüstling vorgekommen, der in den stillen Frieden des alten Hauses eingebrochen war und so viel Fremdes hineingetragen und schließlich gar die zarte Maria wie eine seinem Willen durch unheimliche Künste Unterjochte entführt hatte. Nein – geliebt hatten die Tantchen den kecken Heinz nie. Er war ja auch für sie ein Wesen aus einer ganz anderen Welt, dieser junge Schriftsteller, der sorglos zugegeben hatte, daß er nur von der Hand in den Mund lebte, daß er sehr anspruchsvoll wäre und daß er ohne den Krieg und die Kriegstrauung es nie gewagt hätte, Marias Schicksal an das seine zu ketten.
Die Tanten hatten sich gegen diese Heirat gewehrt wie Verzweifelte; Tränen waren in ganzen Bächen geflossen. Bis Maria dann eines Tages erklärt hatte, sie würde, wenn’s nicht anders ginge, auch ohne standesamtliche Trauung Heinz Mörners Weib werden. Da war Tante Trudchen fast in Ohnmacht gefallen. Tante Minchen aber hatte schnell die nötigen Papiere, Geburtsurkunde und so weiter für… ‚das arme, betörte Kind‘ herausgesucht und zu allem nunmehr Ja und Amen gesagt.
Und jetzt hatte Minchen unbegreiflicherweise soeben diese neue Ehe befürwortet. Die Reihe war nun an Tante Trudchen, wie stets als zweite sich hören zu lassen.
„Auch ich, mein liebes Kind,“ begann sie und schob die Stahlbrille dichter vor die Augen, „– auch ich kann meiner Freude nur Ausdruck geben, daß Doktor Helmbold, der doch ein alter, bewährter Freund unserer Familie ist, dich aus all diesen Nöten befreien will, die wir ja leider nicht lindern können. Das Pfund Butter kostete letztens wieder dreißig Mark, und wir müssen damit sechzehn Tage auskommen, sonst reicht das Wirtschaftsgeld nicht. Jetzt können wir es dir ja auch sagen, liebes Kind, daß der Doktor es war, der uns beiden dringend geraten hat, dir zuzureden, endlich dich mit einer Todeserklärung Mörners einverstanden zu erklären. Helmbold hat gute Beziehungen zum Kriegsministerium. Er hatte dort erfahren, daß man dir das Gehalt deines Mannes nicht weiter auszahlen würde. Es war dies gegenüber den unzweifelhaften Beweisen, daß Mörner damals bei Liszowo gefallen ist, gesetzlich unzulässig. Gewiß – man hat seine Leiche nie gefunden, und auch sonst nichts über seinen Verbleib ermitteln können. Genug – deine stete Weigerung die Todeserklärung zu beantragen und dadurch Anspruch auf die Witwenbezüge zu erhalten, hatte die Herren dort oben längst verschnupft. Nur Helmbold ist es gelungen, durchzusetzen, daß bis zum Frühjahr 1917 dir das Gehalt deines Gatten weiter ausgezahlt wurde. Dann aber vermochte auch er nichts mehr auszurichten. Da kam er zu uns und besprach die Angelegenheit. Wir konnten nunmehr nicht anders, als auf dich in aller Güte einzuwirken, dich mit dem Gedanken abzufinden, daß du tatsächlich Witwe bist. –
Helmbold hat dann noch mehr getan, mein liebes Kind. Er war’s auch, der dir die Stelle als Hilfsarbeiterin im Kriegsministerium verschaffte, der dort für dich ein gutes Wort einlegte und es möglich machte, daß man dich nur den halben Tag beschäftigte, um deine Gesundheit zu schonen.“
Maria hatte alldem mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens gelauscht.
„Aber – davon weiß ich ja bisher nichts – nichts,“ meinte sie nun leise. Und in Gedanken bat sie Helmbold um Verzeihung, weil sie ihm zuweilen geradezu etwas wie Abneigung gegen seine Person gezeigt hatte.
Da erklärte Minchen, und sie tat’s mit einer theatralischen Bewegung ihrer welken Hand:
„Eine Seele von Mensch ist er, ein selbstloser, grundgütiger Charakter! Auch jetzt – weshalb hat er um dich nun allen Ernstes geworben? Doch nur, damit deine Jugend nicht dahinsiecht unter dem Druck all der Sorgen, die die teuren Lebensverhältnisse allen weniger Vermittelten aufbürden – nur deshalb! Er hat uns dies vorgestern selbst angedeutet.“
Mit einem freudigen, triumphierenden Blick auf Marias Gesicht, das eine leichte Verwirrung ausdrückte, schwieg sie nun und wandte sich dann an ihre Schwester.
„Komm’ in die gute Stube hinüber, Trudchen,“ sagte sie in etwas geheimnisvollem Ton. „Wir wollen etwas beraten, das mir soeben eingefallen ist.“
Die beiden zittrigen Gestalten verschwanden im Nebenzimmer.
Maria war allein. Sie war durchaus nicht neugierig auf das, was die Tantchen dort hinter der Tür nun zu tuscheln hatten. Sie kannte deren Art. Sie machten aus jeder Kleinigkeit eine große Sache.
Sie dachte an Doktor Karl Helmbold. Er erschien ihr plötzlich in einem ganz neuen Lichte. Bisher hatte sie stets angenommen, daß er ein kluger Egoist wäre, einer von jenen Männern, die makellos durchs Leben wandeln und doch ständig gegen allerhand Schwächen in ihrer Seele anzukämpfen haben, die sie zwingen, nur das zu wünschen, was sie ohne Schädigung ihres guten Rufes erreichen können. Gerade dieses kühle, abgeklärte Wesen hatte sie an ihm stets so unangenehm berührt. Hinter all seiner liebenswürdigen Bescheidenheit und Unaufdringlichkeit war selbst für ihre geringe Menschenkenntnis immer ein gewisses Bestreben, seine geistige Überlegenheit geschickt hervorzukehren, wie sein zweites fremdes und doch wieder ureigenstes Gesicht, aufgetaucht. –
Ja – ein kluger Egoist und ein ebenso kluger Bewerber. Dafür hatte sie ihn gehalten, hatte angenommen, daß auch jetzt lediglich eine langjährige, tiefe Leidenschaft für sie den reifen, über zwanzig Jahre älteren Mann veranlaßt hätte, ihr seine Hand anzubieten. –
Sollte sie sich getäuscht haben? War es wirklich nur reine Herzensgüte, nur selbstloses Mitgefühl mit dem einzigen Kinde seines langjährigen Freundes, die ihn gestern das entscheidende Wort mit so viel zarter Rücksichtnahme auf ihren kurzen Glücksrausch von nur zwei Wochen hatten sprechen lassen? –
Sie konnte sich darüber nicht klar werden. Und selbst jetzt, nachdem die Tantchen ihr bewiesen, daß er stets in treuer Fürsorge sich für sie bemüht hatte, vermochte sie dieses Gefühl leisen Unbehagens nicht völlig zu verdrängen, das sie stets in seiner Nähe oder bei Gedanken an ihn beschlich.
Sie erhob sich, trat vor die Bilder ihrer Eltern hin, die über einer altertümlichen, geschweiften Kommode hingen. Es waren große, gute Photographien aus jener Zeit noch, wo die Güte eines Photographen nicht nach der Fähigkeit, Häßliches zu vertuschen, beurteilt wurde.
Sie betrachtete heute wieder wie schon so oft die Bilder dieses Paares, diese so ungleichen Gesichter mit jenem kritischen Blick, der gern zwischen ihr und ihren Eltern wenigstens einige Züge von Familienähnlichkeit herausfinden wollte.
2. Kapitel
In der guten Stube der Geschwister Kleist roch’s nach Kampfer. Sie wurde seit Kriegsausbruch überhaupt nicht mehr benutzt. Und auch der Waffenstillstand und dann der nahe, trostlose Frieden hatten darin keine Änderung gebracht. Die bunten, geblümten Kretonüberzüge1 der beiden Sessel und des Sofas erinnerten sich kaum mehr daran, daß sie früher zu den Geburtstagen Minchens, Trudchens und Marias regelmäßig entfernt worden waren.
Minchen hatte die Schwester in die tiefe Fensternische gezogen.
„Maria wird nächste Woche dreiundzwanzig. Du weißt, woran ich jetzt denke,“ flüsterte sie. „Ob wir’s ihr nicht jetzt schon sagen? – Sie steht nun wieder vor einer doch recht wichtigen Lebensfrage. Damals als der Mörner hier bei uns – alles – alles auf den Kopf stellte, fehlten noch über vier Jahre. Da mußten wir uns an unser Versprechen halten. Aber jetzt trennen nur noch fünf Tage unseren geliebten Schützling von jener Stunde, die vielleicht – wer kann das voraussehen? – sehr wichtige Dinge bringt. – Wie denkst du hierüber, Trudchen?“
Trudchen neigte den Kopf zweifelnd hin und her. Die Brille rutschte tiefer. Und über den Rand der Gläser schaute das alte Fräulein die Schwester nun mit einem ängstlichen Blick an.
„Vielleicht wird dann nichts aus dieser Heirat,“ meinte sie zögernd, denn sie fühlte selbst sehr wohl, daß sie diesen Satz nur aussprach, weil sie eine gewisse Schwäche für Doktor Helmbold hatte und diese Ehe gern zustande bringen wollte.
Minchen hatte an diese Folge einer verfrühten Preisgabe dessen, was die Geschwister stets unter sich das Familiengeheimnis nannten, noch gar nicht gedacht.
Sie überlegte ein paar Sekunden. Dann nickte sie eifrig.
„Ganz recht, Trudchen, ganz recht!“ flüsterte sie noch leiser als vorher. „Wir werden also den Termin genau einhalten. Niemand kann wissen, was dann an den Tag kommt. Der Doktor könnte zum Beispiel sehr leicht daran Anstoß nehmen, daß – daß –!“ Sie errötete etwas, fuhr dann fort: „Du bist ja eingeweiht in diese traurige Geschichte, Trudchen. Ich brauche all das Häßliche nicht breitzutreten. – Gut denn, schweigen wir. Inzwischen wird dann die Verlobung veröffentlicht sein. Dafür werden wir schon sorgen.“
Sie hatten beide die Empfindung, zum ersten Mal in ihrem Leben eine kleine Intrige zu spinnen. Und sie zauderten jetzt ohne äußeren Grund, zu Maria zurückzukehren und irgend eine Notlüge zu gebrauchen, um den Inhalt dieser Beratung verheimlichen zu können.
Dann faßte sich Minchen ein Herz. Sie schritt der Tür zu.
Maria stand noch vor der Kommode, empfing die Tantchen nun mit der Frage:
„Haben meine Eltern eigentlich glücklich miteinander gelebt? – Ich finde, meine Mutter sieht auf diesem Bilde recht vergrämt aus.“
Minchen kam dieses Thema sehr gelegen. Konnte sie sich doch nun des längeren über diese ‚harmonische Ehe‘ auslassen, so daß sie es nachher nicht mehr nötig hatte, die Besprechung in der guten Stube irgendwie zu erwähnen.
Als Maria gegen sechs Uhr nachmittags sich verabschiedete, sagte sie etwas unsicher:
„Ich bin mit mir noch nicht einig geworden, welche Antwort ich Doktor Helmbold erteilen soll. Es – es fällt mir doch zu schwer, Heinz die – die Treue zu brechen, denn – eine neue Ehe wäre wie ein Treubruch, da ich doch – noch immer nicht glauben kann, daß Heinz wirklich tot ist –“
Ihre Augen schimmerten feucht. Und hastig eilte sie von dannen.
„Schrecklich, schrecklich, daß sie an diesem Mörner so hängt,“ seufzte Trudchen. „Morgen ist Sonntag. Wir besuchen sie vormittags,“ sagte Minchen mit seltener Energie. „Dann nehmen wir sie mit zu uns. Und – den Doktor laden wir für den Nachmittag ein. Ich werde sofort an ihn schreiben.“
*
Drei Tage vorher hatte Doktor Helmbold sich wieder einmal im Kriegsministerium, das nun sehr bald in Reichswehrstelle umgetauft werden sollte, bei dem Geheimrat Töpfer, unter dem Maria arbeitete, nach ihren Aussichten erkundigt, trotz der Verringerung des Büropersonals in ihrer Stellung belassen zu werden.
Helmbold hatte ein sehr betrübtes Gesicht gemacht, als der Geheimrat ihm erklärt hatte, es wäre unmöglich, Frau Mörner noch länger zu halten.
„Wir können jetzt keine Ausnahme mehr machen, lieber Doktor, ganz ausgeschlossen,“ hatte er hinzugefügt. „Die Dame bezieht ihre Witwenpension, und damit müssen sich jetzt Tausende durchschlagen. Außerdem – Frau Mörner hat sich heute abermals krank gemeldet. Sie hält eben den Dienst nicht aus, obwohl sie doch nur von neun bis zwölf täglich beschäftigt wird. Auch ihre Leistungen, ganz offen gesagt, sind nicht derart, daß man mit gutem Gewissen behaupten könnte, sie wäre unentbehrlich. Wir sollen sparen, Doktor, – wir müssen es, wo wir nur können. Überflüssige Kräfte zu bezahlen, ist jetzt ein Verbrechen an unserem mit dem Bankerott ringenden Staate.“
Doktor Helmbold neigte zustimmend den mit viel Geschick leidlich jugendlich zurechtgestutzten Kopf.
„Ganz recht, Herr Geheimrat, ganz recht,“ meinte er. „So leid es mir auch im Interesse Frau Mörners tut, ich sehe ein, daß es hier nichts mehr zu ändern gibt. Unter diesen Umständen nur noch eine Bitte: Lassen Sie ihr jetzt schon schriftlich mitteilen, daß ihr zum Ersten gekündigt werden müßte, daß sie aber jeden Tag austreten könnte, falls sich ihr eine andere Stellung bieten sollte. – Ich habe mich nämlich für sie um einen Posten bemüht, der ihr nicht ganz genehm zu sein scheint. Das kleine Frauchen ist ja so unpraktisch, so unklug in vielem. Wenn sie nun von hier die Kündigung erhält, wird sie leichter einsehen, daß jeder heutzutage froh sein kann, irgendwo unterzuschlüpfen.“
Der Geheimrat war sehr einverstanden damit. „Lieber Doktor, ehrlich –: Mir fällt ein Stein vom Herzen! Ich habe gefürchtet, die schwächliche junge Witwe sozusagen durch eine Kündigung auf die Straße zu setzen. – Gut – der Brief an sie geht morgen ab.“
Als Helmbold ihn verlassen hatte, murmelte der Geheimrat mit einem feinen Lächeln vor sich hin: „Sollte mich nicht wundern, wenn der Doktor das nette Frauchen doch noch für sich erobert! Ich gönne sie ihm. Alles in allem ist’s ein netter Mensch, obwohl ja die Meinungen über ihn sehr geteilt sind. Aus reiner Nächstenliebe wird er sich für die blonde, zarte Schönheit wohl nicht so ins Zeug gelegt haben, wie er’s nun schon seit Jahren tut –“ –
Das war vor drei Tagen gewesen.
Heute hatte der Doktor am Nachmittag einen jener Agenten zu sich bestellt, die gegen gute Bezahlung jedes Geschäft erledigen, jedes –
„Nehmen Sie Platz, Herr Feichtelbaum. – Nun also zur Sache. – Zunächst – auf Ihre Verschwiegenheit kann ich mich wohl verlassen, schon aus dem Grunde, weil eine Indiskretion Ihnen in diesem Falle nichts einbringen würde. Die beteiligte Dame ist nämlich nicht nur arm, sondern steckt auch in Schulden. Von ihr ist also nichts zu holen. Sie sehen, ich bin etwas geradezu. Aber das klärt die Lage am besten. –
Ich soll für einen Freund, der demnächst nach Berlin kommt, eine kleine Wohnung besorgen. Wohnungen sind jedoch so knapp, daß man sich schon über gewisse feinfühlige Bedenken hinwegsetzen muß, wenn man eine kennt, die ohne Schädigung des jetzigen Inhabers freizumachen wäre.“
Eine kleine Pause. Ein paar langsame Züge an der Zigarre, und Helmbold fuhr fort:
„In der Uferstraße Nr. 10 am Lietzensee hier in Charlottenburg bewohnt die alleinstehende Witwe des gefallenen Schriftstellers Mörner in der zweiten Etage im Gartenhause eine Dreizimmergelegenheit. Sie ist seit zwei Monaten mit der Miete im Rückstand. Der Hauswirt hat sie auch bisher lediglich deshalb nicht gekündigt, weil es sich um eine Kriegerwitwe und zwar um eine sehr anziehende Erscheinung und um ein – liebes Wesen handelt, wie man zu sagen pflegt. Frau Mörner behält diese Wohnung offenbar nur, weil es das frühere Junggesellenheim ihres Mannes ist, in dem sie dann für kurze Zeit nach Kriegsausbruch mit ihm zusammengelebt hat. Sie behält sie, obwohl sie nicht in der Lage ist, sich eine Aufwartung für die gröberen Arbeiten zu nehmen, da sie – für die auf Abzahlung gekauften Möbel ihres Mannes die Monatsraten begleicht und auch sonst seinen Gläubigern – er hatte eine Menge kleiner Rückstände bei allen möglichen Geschäftsleuten – gerecht zu werden bemüht ist. Sie darbt nur, um sich nicht von diesem Heim und diesen Möbeln trennen zu müssen, dabei besitzt sie hier Verwandte, die sie jeden Tag mit Freuden wieder bei sich aufnehmen würden, zumal sie dort großgeworden und von da aus auch geheiratet hat. –
Diese Wohnung habe ich für meinen Freund im Auge.“
Wieder ein paar Züge an der Zigarre.
Da meinte Herr Feichtelbaum verständnissinnig grinsend:
„Ich bin im Bilde, Herr Doktor. Sie brauchen nischt mehr zu sagen. Unsereiner is hellhörig. Das jehört zum Beruf. Ich werde also zu dem Wirt hinjehen und ihm –“ Er stockte, fragte dann: „Was kostet die Wohnung jetzt?“
„Eintausendundzweihundert Mark.“
„Gut – ich werde ihm also eintausendundsechshundert bieten und der Dame zweihundert, wenn sie gleich auszieht. – Ist’s zu viel?“
„Nein.“
„Ich beanspruche einhundert für die Vermittlung, Herr Doktor. Im Frieden hätte ich’s für zwanzig gemacht. Aber –“
„Lassen Sie nur – schon gut,“ unterbrach Helmbold ihn. „Bedingung ist, daß mein Name ganz aus dem Spiele bleibt. Können Sie sofort zu dem Hauswirt gehen? Er wohnt ebenfalls Nr. 10 – parterre.“
„Wird gemacht. In zwei Stunden haben Sie Bescheid, Herr Doktor.“ –
*
Maria hatte kaum im Flur die Sicherheitskette vorgelegt, als es klingelte.
Sie schaute durch das Guckloch. Sehr vertrauenerweckend sah der Mann draußen nicht aus. Bei den unsicheren Zuständen jetzt mußte man doppelt vorsichtig sein.
Sie ging schnell ins Schlafzimmer und holte von ihrem Nachttisch den kleinen Revolver, den sie sich schon vor zwei Jahren angeschafft hatte. Der Hauswart hatte es ihr damals geraten. – ‚Sie werden sich sicherer fühlen,‘ hatte er gemeint und sie dann auch mit auf einen Scheibenschießstand genommen und ihr die Handhabung der Waffe gezeigt.
Nun öffnete sie die Flurtür, ließ aber die Kette vorgelegt.
„Mein Name ist Feichtelbaum,“ erklärte der Besucher. „Ich komme im Auftrage des Hauswirts zu Ihnen, Frau Mörner. Er muß jetzt von seinem Recht auf eine Mieterhöhung Gebrauch machen –“
Maria ließ den Mann ein. Den Revolver hatte sie in ihre Handtasche geschoben, die ihr nun halb offen am linken Arm hing.
Als Feichtelbaum eine halbe Stunde später mit vielen Bücklingen sich verabschiedete, trug er eine schriftliche Erklärung in der Tasche, daß Frau Maria Mörner ihre Wohnung vom 1. Juni ab Herrn Joseph Feichtelbaum gegen eine Abfindung von zweihundert Mark überlassen hätte.
Sehr bald schellte es abermals, und die Klappe des Briefeinwurfs fiel knallend zu.
Maria, noch ganz verstört infolge dieses für sie so niederschmetternden Schlages, dieses Heim mit seinen trauten Erinnerungen nun aufgeben zu müssen, hob die eingeworfenen drei Briefe überrascht und mit einem neuen leisen Erschrecken auf. Drei Briefe! Und sonst traf wochenlang nichts für sie ein – höchstens Mahnbriefe.
Grauer Umschlag – Dienstsiegel, – beides ihr so wohlbekannt: Kriegsministerium!
Sie ahnte den Inhalt dieses Briefes voraus. Und doch sank sie wie vernichtet in den Schreibsessel vor Heinz Mörners Arbeitstisch, der nun seit so vielen Jahren nicht mehr wie einst benutzt worden war und auch nie mehr von Heinz benutzt werden würde.
Gekündigt!
Maria starrte ins Leere. Nach einer Weile erbrach sie auch die beiden anderen Schreiben.
Adolf Müller, Englische Herrenmoden, teilte höflichst mit, daß er Begleichung der Restschuld von dreihundertundfünfundachtzig Mark und fünfzig Pfennig nebst vier Prozent Zinsen vom 3. 2. 1914 ab binnen acht Tagen erwarte, andernfalls er leider –
Magnus Kahen, Weingroßhandlung und Delikatessen, schrieb ähnlich –
Maria lächelte bitter. Jahrelang hatte sie nun um diese drei Zimmer, um diese Möbel ihres Heinz gekämpft, gerungen, – gehungert! Die Tantchen wußten von den Schulden nichts. Dazu war sie viel zu stolz, hatte sie auch ihren Heinz viel zu lieb gehabt, um einzugestehen, daß er weit über seine Verhältnisse gelebt hatte. –
Und nun – nun war doch alles umsonst gewesen.
Ein paar Tränen schlichen sich über ihre Wangen. Schnell tupfte sie die warmen Tropfen ab. Nur jetzt nicht schwach werden! –
Wie hatte doch Heinz zu ihr damals gesagt in jener letzten Nacht, bevor ihn der endlose Militärzug ihr entführt hatte:
‚Kleiner Liebling – nicht weinen! Es gibt Stunden, in denen Tränen uns nur schaden. Entweder trüben sie uns die Wonne eines schmerzlich süßen Abschieds, oder sie verdunkeln uns den klaren Blick für eine verzweifelte Notwendigkeit, in die man sich leichter mit zusammengebissenen Zähnen findet –“
Maria saß noch lange regungslos. Es dunkelte. Sie schaltete die Schreibtischlampe ein, legte die vier Bilder, die ihren Heinz darstellten, mit der Bildseite nach unten, als scheue sie sich, vor ihm das zu tun, was sie tun mußte, nahm einen Briefbogen und schrieb an Doktor Helmbold.
3. Kapitel
Die beiden Herren schritten langsam durch die einsam im Morgengrauen daliegenden Straßen des Berliner Westens. Sie kamen aus dem Berolina-Klub, der erst vor einem Monat von zwei Leuten mit stark fragwürdiger Vergangenheit gegründet worden war und zu jener Sorte von ‚wissenschaftlichen Vereinigungen‘ gehörte, bei denen die ganze Wissenschaft auf der Vertrautheit mit Roulette, Baccarat und Monte beruht.
Der junge Kniffke, der noch vor vier Jahren Vatern im ‚Jeschäft‘ geholfen und der nun entsprechend der Höhe der Kriegsgewinne seines Erzeugers trotz der enormen Preise nur Lackstiefel, seidene Wäsche und Oberhemden mit festen Manschetten, selbstverständlich auch das nunmehr standesgemäße Monokel trug, fragte jetzt zögernd:
„Sie haben schlecht abgeschnitten, Herr Doktor, nicht wahr?“
Karl Helmbold hatte gerade über wenig angenehme Dinge nachgedacht. Das Geld, das ihn dieser Trick mit Maria Mörners Wohnung gekostet hatte, war so ziemlich der Restbestand seiner Kasse gewesen. Und die vierhundert Mark, die ihm dann noch verblieben waren, hatte das Baccarat verschluckt. Dabei brauchte er gerade für die nächste Zeit unbedingt größere Summen. Er zweifelte nicht, daß er sehr bald glücklicher – hm – besser – zufriedener Bräutigam sein würde. Was er erreichen wollte, erreichte er stets, nachdem er es sich abgewöhnt hatte, allzu feinfühlig zu sein. Das Gewissen hielt er für ein außerordentlich überflüssiges Ding. Mit solchem Ballast konnten sich nur Leute herumzuschleppen, die scheffelweise Geld besaßen.
So weit war er in seinen Gedanken gekommen, als der harmlose Hans Kniffke mit einem gewissen Mitgefühl jene Frage an ihn richtete.
Helmbold kam plötzlich die Erleuchtung. Nein – daß er nicht längst an Kniffke gedacht hatte! Eigentlich merkwürdig. Gerade dies lag doch so nahe. Der junge Fant drängte sich ja seit vierzehn Tagen in der Berolina derart an ihn als den einzigen dort verkehrenden ‚Studierten‘ heran, daß er getrost mal versuchen konnte, ob sich hier nicht eine neue Quelle erbohren ließ.
„Schlecht abgeschnitten?“ meinte er nun. „Es geht an, lieber Herr Kniffke. Ein paar Lappen machen gegenüber dem geistigen Gewinn, den mir der Spieltisch bringt, nicht viel aus. Sie wissen, ich bin Privatgelehrter und Schriftsteller. Ich beabsichtige einen großen Roman über moderne Spielertypen zu schreiben. Die Berolina ist mir nur Studienfeld. In Wahrheit verabscheue ich das Jeu.“
Kniffke imponierten diese Sätze kolossal. –
Da fuhr Helmbold schon fort: „Leider hat mein Münchner Verleger August Müller – Sie kennen wohl die Firma, sie genießt Weltruf – infolge der unsicheren politischen Verhältnisse vorläufig in Luzern sein Heim aufgeschlagen und kann mir von dort, obwohl ich bei ihm noch ein nettes Sümmchen zugute habe, kein Geld anweisen lassen. Ich werde daher leider meine Charakterstudien in der Berolina etwas einschränken müssen.“
Hans Kniffke biß auch wirklich an. „Herr Doktor, es würde mir eine Ehre sein, Ihnen –“
„Halt, junger Freund – halt!“ unterbrach Helmbold ihn mit scherzhafter Strenge. „Sie wären der erste Mensch, der sich rühmen könnte, Doktor Karl Helmbold ein Darlehn aufgedrängt zu haben. Sprechen wir nicht weiter davon. – Halt, da fällt mir soeben etwas ein. Mein Freund, der Prinz Oskar von Hilgenstein – Sie wissen, der, der letztens den Aufruf zur Bildung einer revolutionären Adelsliga erlassen hat, brachte mir vorgestern ein Bild des holländischen Meisters van Dyck und bat mich, es für ihn zu verkaufen, aber nur an jemanden, auf dessen Diskretion er sich verlassen könnte. Er will nicht gern, daß bekannt wird, wie schlecht es ihm geht, seit er sich seiner modernen Anschauungen wegen mit seiner Familie überworfen hat. Er möchte deshalb den Verkauf mehr als freundschaftliches Freundschaftsakt hingestellt wissen und gegebenen Falles dem Käufer auf die Rückseite des Bildes eine eigenhändige Widmung schreiben. Sie verstehen, lieber Kniffke, – nur ein Ehrenmann kommt hier als Bewerber in Betracht. Wissen Sie nun vielleicht jemand, der für ein ziemlich wertvolles Gemälde Interesse hat? Der Preis ist recht gering – fünftausend Mark, – fast geschenkt, meines Erachtens.“
„Hm – fünftausend Mark,“ murmelte Hans Kniffke. Und dann fragte er laut: „Mit Widmung fünftausend Mark, Herr Doktor?“
„Natürlich! Oder meinen Sie, Seine Durchlaucht läßt sich die Widmung extra bezahlen?!“
„Pardon, – ich glaubte nur, daß –“ stotterte der Sohn der ehemaligen Firma Albrecht Kniffke, Roßwurstfabrik en gros. Und dann sagte er mit schnellen Entschluß: „Wenn mir das Bild überlassen würde – mit Widmung –, so könnte der Prinz überzeugt sein, daß ich reinen Mund halte –“
Doktor Helmbold schien zu überlegen. „Gut,“ erklärte er dann, „kommen Sie morgen, nein heute mittag zu mir, so gegen zwölf. Dann kann ich Ihnen Bescheid geben. Ich werde vorher Oskar besuchen und werde ihm auch zureden, daß er das Gemälde Ihnen anvertraut. Sie können es dann gleich mitnehmen. Ich habe auf den Prinzen großen Einfluß. Nur – Ihr Wort, daß wir uns auf Ihre Diskretion verlassen können –“
„Aber selbstredend! – Mein Ehrenwort also!“ Hans Kniffke gab es zum ersten Mal. Und er nahm sich vor, es zu halten, denn er war ein anständiger Kerl, war’s noch mehr, seit er das elegante Junggesellenheim in der Augsburger Straße sich eingerichtet hatte.
Gleich darauf trennten die beiden sich.
Helmbold wohnte in der Pestalozzistraße in der Nähe des Amtsgerichts Charlottenburg. Die Vierzimmergelegenheit in der ersten Etage hatte er erst bezogen, als Heinz Mörner als vermißt gemeldet wurde und als die angestellten Nachfragen mit ziemlicher Gewißheit ergeben hatten, daß der Leutnant Mörner durch einen Granatvolltreffer in Stücke gerissen worden war.
Die Wohnung war recht geschmackvoll eingerichtet. Es hatte ja mal eine Zeit gegeben, wo die Redaktionen Karl Helmbolds fein ausgeschliffene Novellen ungelesen annahmen, wo einige Kritiker in ihm einen neuen Paul Heyse2 verkündeten. Doch – er hatte nicht gehalten, was seine ersten Arbeiten versprochen hatten.
Und – daran war Maria schuld, die blonde, sechzehnjährige Maria, die in dem Herzen des bis dahin gegen jedes tiefere Gefühl Gefeiten eine unheilvolle Leidenschaft entfacht hatte. Diese tolle, unsinnige Liebe hatte sich wie ein Nebel um das Hirn des weniger mit dem Herzen als mit einem kühl jede Pointe abwägenden Verstand Schaffenden gelegt. Dem kurzen Aufstieg auf dem Wege zum Ruhm und zu klingenden Erfolgen war schnell ein jähes Hinabgleiten in jene Tiefen gefolgt, wo die Durchschnittsbegabten, die handwerksmäßigen Literaten, ihr tägliches Brot nur in mühseliger Arbeit finden.
Ja – Maria allein traf die Verantwortung für all die Fehlschläge, all die Enttäuschungen der letzten Jahre – nur sie! Hätte sie seinem vorsichtigen Werben nachgegeben, hätte sie ihn gewählt statt jenes talentlosen Mörners, dann – dann – aber dieses ‚dann‘ war ja nie eingetreten. Marias köstliche Scheu vor dem anderen Geschlecht war in den Flammen einer großen Liebe damals im Nu verschwunden gewesen. Ach – wenn er das Glück gehabt hätte, diese holde Mädchenknospe wachküssen zu dürfen, wie befruchtend hätte dies auf seine Phantasie gewirkt, wie schnell wäre er in Wahrheit ein zweiter Paul Heyse geworden! –
So und so oft hatte Karl Helmbold in dieser Weise vor sich selbst seine Unfähigkeit, Großes zu leisten, zu bemänteln gesucht. Er betrog sich gern selbst wie alle schwachen Charaktere. Auch was diese Liebe betraf. Gewiß – er hatte Maria einmal mit leidenschaftlichen Wünschen umsponnen. Aber – selbst in dieses unreine Begehren des längst mit allen Freuden der Welt fertigen Mannes hatte sich nur zu bald jene kaltblütige Berechnung hineingeschlichen, die weniger nach Besitz des Weibes selbst als vielmehr nach dem trachtete, was als wertvolles Geheimnis mit ihrer Person so eng verknüpft war.
Und heute, da Karl Helmbold abermals als Bewerber um Marias Hand auftrat, hatte die Berechnung längst die Oberhand gewonnen. Maria war nur noch eine angenehme Zugabe für ihn – ein Weib, das vielleicht imstande sein würde, ihn für Monate nochmals jung werden zu lassen.
Der Doktor öffnete die Flurtür sehr leise. Es war nicht nötig, daß seine Wirtschafterin hörte, wann er heimkehrte. Seit einem halben Jahr war ihm die Steffie doch recht unbequem, sagte er sich jetzt, als er in sein Arbeitszimmer schlich. Morgen wenn der nach der prinzlichen Widmung so gierige Hans Kniffke die braunen Lappen abgeladen haben würde, mußte die Steffie ihre Sachen packen und heim zu ihren Eltern nach Westpreußen, die dort an der polnischen Grenze in Lautenburg eine kleine Gastwirtschaft besaßen und schon immer ihre Älteste als Hilfe zu sich gewünscht hatten. Er würde der Steffie schon klar machen, daß es ihre Pflicht wäre, in diesen bewegten Zeiten die alten Eltern nicht im Stiche zu lassen.
Er zog die Handschuhe aus und schaute mit Ärger auf die Löcher in den Füßlingen der feinen Florstrümpfe. – Ja – faul war die Steffie nebenbei auch noch geworden! Nichts hielt sie mehr in Ordnung – nichts!
Dann nahm er ein kleines Ölbild mit Goldrahmen von der Wand und betrachtete es kritisch. Er hatte es mal von einem bekannten Maler geschenkt bekommen. Es war eine Kopie. In der linken Ecke hatte der Maler seiner Zeit mehr zum Scherz den Namen des berühmten Holländers genau nachgeahmt. Hans Kniffke würde nie ahnen, daß – und Helmbold lachte lautlos in sich hinein. Es freute ihn stets, wenn er einen neuen Trick gefunden hatte, die Sorte von Leuten hineinzulegen, die nie alle wird.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm die Feder zur Hand und schrieb mit fingerlangen Buchstaben in tadellos verstellter Schrift auf die Rückseite eine – prinzliche Widmung.
Herrn Hans Kniffke in dankbarem Gedenken an einen Freundschaftsdienst
Oskar Prinz zu Hilgenstein-Streckenbach
Dieser Name war ganz ungefährlich. Das Geschlecht war nämlich ausgestorben. Sollte Hans Kniffke daher wider Erwarten durch einen Zufall dahinterkommen, daß er angeschmiert worden war, so konnte man mit höchster moralischer Entrüstung behaupten, man wäre selbst einem Betrüger ins Garn gegangen.
Helmbold betrachtete schmunzelnd sein Werk. – Famos gelungen! Er war sehr zufrieden mit sich.
In der offenen Tür zum Eßzimmer stand Stephanie Bikowski. Sie hatte den hellen Morgenrock an, den Helmbold ihr vor drei Jahren geschenkt hatte, als sie kaum erst vier Wochen ihm als Nachfolgerin eines schwerhörigen Weibleins die Wirtschaft führte. Es war ein Beschwichtigungsgeschenk gegen moralische Anwandlungen gewesen.
Die schwarzhaarige Steffie hatte mit einigem Staunen zugesehen, wie der Doktor etwas auf das Bild schrieb. Sie war in seinem Dienst das geworden, was der Berliner ‚helle‘ nennt. Vordem war sie ein gutmütiges Schäfchen gewesen und hatte sich glücklich gepriesen, daß sie als vor den Russe nach Berlin Geflüchtete so bald eine zusagende Stellung gefunden hatte.
Jetzt schlich sie wieder hinaus, warf dann laut ihre Mädchenkammertür ins Schloß und betrat geräuschvoll abermals das Zimmer.
Helmbold hatte das Bild bereits neben den Schreibtisch auf den Fußboden gestellt. Er blickte sich um.
„Du bist noch auf, Steffie?“ meinte er leicht gereizt.
„Wie du siehst –“ Sie kam näher und setzte sich in einen der Klubsessel am Mitteltisch.
Er betrachtete sie mit einem stetig wachsenden Gefühl des Unbehagens. Er witterte förmlich etwas Unangenehmes.
„Der Feldgraue war wieder hier – kurz vor neun,“ sagte sie nun langsam.
„Welcher Feldgraue?“ Er nahm mit gemachter Gleichgültigkeit eine Zigarette aus der silbernen Dose. Er hatte sein glattrasiertes Gesicht stets gut in der Gewalt. Und doch merkte er nun, wie er etwas rot wurde.
„Hab’ dich doch nicht!“ meinte das Mädchen mit einem Achselzucken. „Du weißt ganz genau, daß nur ein Feldgrauer hier in Frage kommt, – der mit dem Armzittern.“
Helmbold schüttelte den Kopf. „Wie soll ich wohl ahnen, daß ausgerechnet dieser Mensch hier war?! Er hat sich zum Glück über ein Jahr nicht mehr blicken lassen. Er nutzt ja doch nur meine Gutmütigkeit aus.“
Steffie ließ ein leises, klingendes Lachen hören. Obwohl es ironisch sein sollte, war doch etwas Graziöses, Angenehmes darin. Aber – außer diesem melodischen Lachen kam nichts mehr über ihre Lippen.
„Was soll dies – dies alberne Kichern,“ brauste der Doktor auf. Für einen Moment verlor er doch die kühle Überlegung. Doch schnell lenkte er wieder ein.
„Du weißt, Steffie, diese Art Lachen vertrage ich nicht,“ meinte er und hielt ihr die Zigarettendose hin.
Sie bediente sich. Er reichte ihr ein Streichholz.
Dann begann er über Kindespflichten im allgemeinen und über Steffies Pflicht gegen die alten Eltern im besonderen mit vielen schönen Worten zu sprechen.
„Ich kann es mit meinem Gewissen nicht länger vereinbaren, Kind, dich hier zurückzuhalten,“ erklärte er jetzt. „Ich bin mit dir stets zufrieden gewesen. Deshalb sollst du auch von mir morgen ein Geschenk von – tausend Mark erhalten. Und Montag fährst du dann heim. Ich beabsichtige nämlich, eine Reise nach Schweden zu machen.“
„Tausend – tausend Mark?“ wiederholte Steffie ungläubig.
Er hatte wieder einmal richtig spekuliert – hier auf ihre Geldgier, denn Steffies Sparsamkeit grenzte schon mehr an Geiz. Ihre Sehnsucht war, mit recht viel Geld einmal ins Elternhaus zurückzukehren.
„Ja – morgen, nein heute, denn der Sonntag ist ja längst da – gebe ich sie dir. Ich habe einen Roman sehr günstig verkauft.“
Steffie erhob sich schnell, warf die Zigarette in den Aschbecher, umschlang Helmbold und schmiegte sich ganz eng an ihn.
Der Doktor hatte gesiegt.
4. Kapitel
Er schlief bis gegen zehn Uhr. Um halb elf hatte dieser gräßliche Kerl, der Franz Kaminke, sich wieder einfinden wollen.
Helmbold entdeckte dann auf seinem Schreibtisch zwei Briefe.
Ah – von Maria war der verriegelte! Er kannte ihre Handschrift ebenso gut wie die der zweiten Anschrift, die Tante Minchens zittrige Finger hingemalt hatten.
Ein Brief von Maria! – Das Blut war ihm in die Wangen geschossen. Er brachte die Entscheidung. Helmbold las – las – zweimal lachte er höhnisch auf.
Wirklich kostbar waren diese Bedingungen, die sie stellte. Na – der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach. Auch Maria würde nicht ungestraft Tür an Tür mit ihm wohnen. Er dachte an Steffie. Bei der hatten es schon vier Gläser Sekt getan.
Nochmals überflog er die – ‚Bedingungen‘.
‚– ich kann noch immer nicht die Hoffnung aufgeben, daß Heinz lebt. Deshalb könnte ich auch nur dann Ihren Antrag annehmen, wenn Sie mir versprechen, mir wenigstens ein Jahr Zeit zu lassen, mich in den Gedanken einzugewöhnen, das Weib eines anderen zu sein. Unsere Ehe müßte also zunächst eine Scheinehe bleiben. Ich weiß, daß ich einem Ehrenmann diese Bedingung stelle, dessen menschenkundiges Herz meine Gefühle begreifen und schonen wird –‘
Und das zweite:
‚– ebenso lange müßte meine jetzige Wohnung in unverändertem Zustand mir belassen werden, also leer stehen. Leider habe ich sie nun soeben in einer Minute stärkster seelischer Niedergeschlagenheit an einen Herrn Feichtelbaum mit Zustimmung des Hauseigentümers abgetreten. Dies wird sich jedoch fraglos rückgängig machen lassen –‘
Abermals lachte Helmbold auf. ‚Sollte man’s für möglich halten, daß es eine so zählebige Liebe gibt,‘ dachte er, und wütender Neid beschlich ihn. Dieser Mörner mußte Maria rein behext haben – wodurch nur?! An dem Menschen war doch weiß Gott nichts Besonderes dran! Ein frisches, vergnügtes Durchschnittsgesicht, ein Charakter, der Schulden durchaus nicht für Hasen ansah, die davonlaufen, der mit seinen geistvoll sein sollenden Kriminalromanen viel Geld verdient und stets das Doppelte verbraucht hatte. –
Er öffnete nun Tante Minchens Brief. Eine Einladung für den Nachmittag mit dem Zusatz: ‚Maria wird auch bei uns sein, lieber Doktor –‘ – Das traf sich ja sehr gut! Da konnte er die Sache gleich im Verwandtenkreis in Ordnung bringen.
Er steckte die Briefe in seine Juchtentasche und diese in seinen Rock.
Gleich darauf meldete Steffie: „Der Feldgraue ist da –“
Helmbold ging dem blassen, verlebten Menschen, der in einem fleckenübersäten Feldrock steckte und als Folgen einer Verschüttung an nervösem Zittern beider Arme litt, bis an die Tür des Arbeitszimmers entgegen, zog sie selbst hinter dem Gast ins Schloß und raunte diesem zu: „Sprechen Sie ganz leise. Meine Wirtschafterin horcht gern –“
Franz Kaminke lümmelte sich im Klubsessel, rauchte eine Drei-Mark-Zigarre und – zitterte mit den Armen nur noch in langen Zwischenräumen ganz wenig.
„Ick war zur Frühjahrsbestellung in Pommern auf ‘n Jut, Herr Doktor,“ sagte er nun mit einem vertraulichen Grinsen. „Aberst des Balina Leben hat die paar Kröten schnell vaschluckt. Und mit’s Betteln is ‘s ooch nischt mehr. Det Publikus is zu schlau jeworden. ‘s jab zu ville Schwindler, die mit jesunde Knochen nur de Kriegsbeschädigten spielten. Bei mir is Ebbe in de Kasette, Herr Doktor. Und – Se wissen ja, eine Pfote wäscht de andre – nicht wahr?!“
Das letzte Klang wie eine versteckte Drohung.
Helmbold überlegte kurz. – Nein, er durfte sich mit diesem Burschen nicht auf schlechten Fuß stellen. Es ging nicht, obwohl er hier eine Schraube ohne Ende voraussah. Doch es würden sich später schon Mittel und Wege finden, diesen Kerl mundtot zu machen. –
Fünf Minuten später zog Franz Kaminke mit zufriedener Miene ab. Er sollte um ein Uhr wiederkommen und sich zweihundert Märker abholen. Mehr hatte er diesmal nicht loseisen können – diesmal!
Um zwölf fand sich Hans Kniffke ein, wieder tipp topp vom Velourshut bis zu den Lackstiefeln mit hellem Einsatz. Er brachte die fünftausend Mark wirklich mit. Der Doktor vertraute ihm an, daß der Prinz noch einen eigenhändigen Brief Bismarcks an seine Mutter besitze und ihn ebenfalls nur in die Hände eines ‚Gentleman‘ weitergegeben würde – mit Widmung – für den lächerlichen Preis von zweitausend Mark. So ein echter Bismarckbrief unter Glas vornehm gerahmt mache sich großartig.
Kniffke biß auch jetzt wieder an. Helmbold bat, er solle sich das Originalschreiben des berühmten Kanzlers nach drei Tagen etwa abholen.
Dann zog Hans Kniffke mit dem sauber eingepackten ‚alten Meister‘ ab. Er schwamm in Wonne. Die Widmung war wirklich die fünf Braunen wert.
Als er an der nächsten Ecke auf ein Auto wartete, fiel ihm ein, daß er den Doktor doch eigentlich hätte fragen sollen, ob der Prinz nicht noch ein zweites Bild oder gar eine Photographie von sich verkaufen würde – natürlich mit Widmung.
Er machte kehrt und läutete wieder an Helmbolds Flurtür.
Steffie öffnete ihm. –
„Der Herr Doktor ist leider ausgegangen. Er kommt aber sofort zurück.“
‚Wirklich – ein netter Käfer!‘ dachte Hänschen Kniffke und blieb in der offenen Küchentür stehen, um mit Steffie zu plaudern.
Steffie war helle! Sie hatte in Berlin vieles gelernt, was man in Lautenburg nur vom Hörensagen kennt, – jene Art von Kokettierens, die schnell zum Ziele führt. Sie hatte nachmittags und abends nichts vor und wollte sich vor ihrer Abreise nochmals gründlich amüsieren: Ausflug, gutes Essen, Theater, gutes Essen, Musikcafee –
Als Helmbold, der einen Strauß rote Rosen im nächsten Blumenladen zu den Tantchen beordert hatte, heimkehrte und den Flur betrat, flitzte Hans Kniffke schnell ins Arbeitszimmer.
Der Doktor meinte dann, der Prinz würde ohne Zweifel einem ‚Gentleman‘ auch eine Photographie von sich überlassen. –
*
Bei den Tanten Minchen und Trudchen herrschte eine freudige Aufregung, von der sogar die bejahrte Köchin Emilie mit ergriffen wurde, die doch sonst die Ruhe selbst war, was ihr auch sehr gut bekam. Sie war die einzige der Bewohnerinnen des alten Hauses, die über einhundertundfünfzig Pfund wog.
Freilich – Emiliens Erregung war halb und halb Empörung. Sie konnte es nicht begreifen, daß die Tantchen diese Heirat, der heute nun zunächst mal die Verlobung vorausgehen sollte, als ein seltenes Glück für Maria betrachteten. Sie schätzte den Doktor nicht sehr. Er kam ja oft genug zu Minchen und Trudchen, und dann war’s Emilie immer, wenn sie ihn sprechen hörte, als rede einer von der Kanzel herab, der selbst nicht an seine Worte glaubte.
In jungen Jahren war ihr die Liebe nicht fremd geblieben. Ihr Sohn, der ihren Namen führen mußte, weil der Vater den Weg aufs Standesamt nicht gefunden hatte, war nun auch bereits glücklicher Vater – aber mit Standesamt.
Und aus dieser Weltkenntnis heraus hatte sie zu Tante Minchen gesagt: „Der Mörner – ja, das war der rechte für unsere Maria. Da steckte Leben drin. Aber der Doktor – zwanzig Jahre älter, und gefärbte Haare und stets so mit ‘n Predigerton –, ne, das wird nie was Gutes!“
Doch – Emilie war hier leider nicht ausschlaggebend. Und brummend zog sie die Kretonüberzüge von dem Sofa und den Sesseln in der guten Stube, brummend holte sie teuren Kriegskuchen ein, brummend bereitete sie das Abendbrot vor. –
Maria trug heute auf Drängen der Tanten seit Jahren wieder ein helles Kleid. Es war inzwischen wieder modern geworden, und Minchen und Trudchen waren selig, daß Maria so bildhübsch und so jung – so jung aussah.
Punkt halb fünf fand der Doktor sich ein – im weggeschnittenen Rock, dunklen, gestreiften Beinkleidern und eine Tuberose3 im Knopfloch. Seine massige etwas vornübergebeugte Gestalt wirkte neben Marias feingliedriger Figur selbst für die Augen der Tantchen etwas plump.
Er küßte Maria die Hand, bewies wieder einmal, daß ein gewandter Weltmann jeder Situation gewachsen ist, spielte mit großem Geschick den ganz leicht Verliebten und den gleichzeitig väterlich Fürsorglichen, benahm dem kleinen Kreise bald jede Befangenheit und brachte es fertig, daß diese Stunden für Maria durchaus nicht eine Qual wurden, wie sie gefürchtet hatte. Sie dankte es ihm im stillen, und sie sah in seinem Zartgefühl, mit dem er zunächst auf das vertrauliche Du verzichtete, eine gute Vorbedeutung für später – für die Zeit, wo sie nur für die Außenwelt sein Weib sein wollte.
Abends begleitete er sie dann heim, küßte ihr wieder die Hand und sagte jetzt erst leise und mit zärtlichem Händedruck:
„Schlafe wohl, Maria. – Du gestattest mir doch diese Anrede. – Man würde sich doch wundern, behielten wir das fremde ‚Sie‘ bei.
Dann ging er. Zehn Schritt weiter lachte er auf.
„Alberne Komödie! – Es wird mir doch sehr schwer fallen, nicht schon am Hochzeitstag es mit Sekt zu versuchen. Sie kann einen Mann nicht kalt lassen – oder er müßte gerade achtzig sein! Und ich bin erst Ende Vierzig.“ –
Am nächsten Tage bestellte er die Verlobungsanzeigen, nachdem er vormittags Steffie noch auf die Bahn gebracht und sich von ihr am Fahrkartenschalter kühl verabschiedet hatte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, daß er sie so leichten Kaufes los geworden. Sie hätte ihm doch arge Ungelegenheiten bereiten können.
Maria gegenüber blieb er auch weiter der still und geduldig um ihre Liebe werdende gute Freund. An ihrem Geburtstag – sie wohnte jetzt wieder bei den Tantchen – zog er sie zum ersten Mal kann sich und küßte sie flüchtig auf die Stirn.
Minchen und Trudchen waren heute noch aufgeregter als am Verlobungstag, denn noch vor dem Mittagessen sollte Maria nun in Gegenwart Helmbolds, den Minchen schon tags zuvor halb und halb in alles eingeweiht hatte, endlich das Familiengeheimnis erfahren.
Maria war völlig ahnungslos. Als Minchen ihr morgens bei der Gratulation sehr zögernd mitgeteilt hatte, der heutige Tag würde ihr große Überraschungen und vielleicht auch recht bitteren Schmerz bringen, wollte sie durchaus sofort über diese seltsamen Andeutungen aufgeklärt werden.
Minchen und Trudchen versuchten fest zu bleiben.
„Helmbold soll dabei sein – so haben wir’s vereinbart,“ hieß es immer wieder.
Da wurde Maria zum zweiten Mal in ihrem Leben den Tantchen gegenüber energisch. Das erstenmal war’s geschehen, als sie gedroht hatte, ihrem Heinz auch ohne Kriegstrauung angehören zu wollen.
„Helmbold ist noch nicht mit mir verheiratet,“ sagte sie sehr bestimmt. „Der hat noch kein Recht darauf, daß in seiner Gegenwart Dinge erörtert werden, die doch offenbar meine Herkunft betreffen. So viel habe ich schon gemerkt.“
Minchen und Trudchen mußten nachgeben. Noch nie – selbst damals Heinz Mörners wegen nicht – hatte Maria die Tantchen mit so ernsten zielbewußten Augen angeschaut. Ja – ja, – das war nicht mehr die Maria, die einst keinen Schritt allein über die Straße tun durfte!
So holte denn Minchen das versiegelte Päckchen hervor, das bis gestern in einem Banksafe geruht hatte.
Maria mußte es selbst öffnen. Dann ließen die Tantchen sie allein. –
Es enthielt einen Brief, eine Photographie und einen dicken versiegelten Umschlag, auf dem in fester Männerhandschrift stand:
‚Mein Vermächtnis an meine Tochter. – Sofort zu öffnen, falls Du bereits verheiratet bist, sonst an Deinem Hochzeitstag oder aber nach Vollendung des 25. Lebensjahres. –
Gustav Baron von Maletzki‘
Maria las den Brief, nachdem sie die Photographie, die einen schlanken, vornehm aussehenden älteren Herrn darstellte, mit seltsamen Gefühlen betrachtet hatte.
Der Brief enthielt in liebevollen Worten eine Schilderung der Ereignisse, die jetzt fast vierundzwanzig Jahre zurücklagen –
Auf dem Gute des Barons hatte ein neuer Rendant mit Weib und Kind seinen Einzug gehalten. Die blonde Beate Bürgel war nur zu schnell aus tiefer, reiner Liebe zu dem Baron dessen Geliebte geworden. Als die Folgen dieser beiderseits gleich starken Leidenschaft sich nicht länger verheimlichen ließen, hatte der Rendant seine Tochter aus dem Hause gejagt und nach einer erregten Aussprache mit dem Verführer seines Kindes das Gut verlassen. Der Baron, der das Stammgut nur durch eine reiche Heirat halten konnte, hatte dann eine schleunige Ehe zwischen Beate und seinem Inspektor Kleist vermittelt, dem er eine Anstellung bei der Landwirtschaftskammer in Berlin besorgte. So wurde Maria nach der Eheschließung geboren und genoß damit alle Rechte eines legitimen Kindes. –
Das war’s, was der Baron seiner unehelichen Tochter in dem acht Seiten langen Schreiben mit aller Zartheit und unter warmer Verteidigung ihrer Mutter mit der Bitte mitgeteilt hatte, seiner nicht in Groll zu gedenken und das beifolgende Vermächtnis als ein Zeichen seiner Liebe für ein Kind, das er öffentlich als solches nie hätte anerkennen dürfen, anzunehmen.
Marias Empfindungen glitten schnell über das Gefühl des Gedemütigtseins hinweg und verharrten mit verzeihenden Gedanken bei dem, der in diesem ausführlichen Brief einen Charakter offenbart hatte, der nur unter dem Druck pekuniärer Nöte die Geliebte seines Herzens einem anderen überantwortet hatte.
Die Tantchen waren freudig erstaunt, daß Maria das trübe Familiengeheimnis mit so gerechter Bewertung ihrer wahren Eltern hinnahm.
Als Helmbold dann erschien, reichte sie ihm sehr bald den Brief ihres Vaters und erklärte dann, sie würde dessen Wunsche gemäß den Umschlag erst am Hochzeitstage öffnen.
Der Doktor suchte ihr nun vorsichtig – und hierbei unterstützten ihn die Tantchen nach Kräften, da seine Ansichten für sie ein Evangelium waren – die Überzeugung beizubringen, daß sie die Worte auf dem Umschlag unrichtig auslege. Sie sei ja bereits verheiratet gewesen, mithin habe sie das gute Recht, das dreimal wappenversiegelte Kuvert sofort zu öffnen.
Maria ließ sich nicht umstimmen. Als er dringender wurde, meinte sie mit jäh erwachtem Argwohn:
„Liegt dir denn so viel daran, zu wissen, worin dieses Vermächtnis besteht?“
Da hatte er wie beschwörend die Hände erhoben. „Aber, liebste Maria, – du solltest mich doch kennen. Neugierde ist mir genau so fremd wie kleinliches Denken überhaupt.“
Damit war die Sache vorerst erledigt. Aber in Marias Geist wollten seltsame Vermutungen nicht mehr zur Ruhe kommen. Und eines Tages – es war eine Woche vor der Hochzeit, die auf Helmbolds Bitten auf den nächsten zulässigen Termin festgesetzt worden war – fragte sie Tante Minchen geradezu:
„Hältst du es für möglich, daß Helmbold gewußt haben kann, ich wäre vielleicht eine – leidlich gute Partie infolge des Vermächtnisses?“
Minchen verneinte wortreich. „Ausgeschlossen – ganz ausgeschlossen,“ betonte sie dabei immer aufs neue. „Helmbold war zwar meines Bruders, also deines – Adoptivvaters Freund, aber – er kann von diesem Vermächtnis nichts geahnt haben.“
5. Kapitel
Weder die Tantchen noch Helmbold wußten, daß Maria, so oft sie es irgend ermöglichen konnte, heimlich das kleine, traute Nest im Gartenhause am Lietzensee besuchte, wo sie kurze zwei Wochen ein überirdisch schönes Glück genossen hatte, niemand ahnte, daß sie hier ihre schwersten Seelenkämpfe unter Strömen heißer Tränen ausfocht und daß sie so und so häufig jenes Haus mit dem Entschluß verließ, dieses Verlöbnis wieder zu lösen.
Dann aber umfing sie außen wieder der Alltag mit all seinen durch den harten Frieden immer mehr sich steigernden Sorgen, dann fühlte sie jene tiefe Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit wieder, aus denen sie selbst durch Helmbolds allmählich sich änderndes Benehmen ihr gegenüber kaum sich aufrütteln konnte.
Das, was der Doktor nicht mehr für möglich gehalten, war nun doch infolge des häufigen Beisammenseins mit Maria eingetreten. In seinem Herzen war wieder jene tolle Leidenschaft erwacht, die ihn schon einmal gänzlich aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. Mehr denn je begehrte er sie jetzt, und es kostete ihn geradezu übermenschliche Anstrengungen, weiterhin seine Rolle als zurückhaltender, seiner Zusage stets bewußter Verlobter durchzuführen. Wenn er sie jetzt zart in die Arme nahm und ihre Stirn küßte, biß er sich gleichzeitig fast die Lippen blutig, nur um sich beherrschen zu können.
Eine krankhafte Gereiztheit war die Folge dieser steten Anspannung seiner ganzen Willenskraft. Er sah hohläugig und bleich aus. Als Franz Kaminke sich zwei Tage vor der Hochzeit bei ihm einstellte und abermals durch Redensarten die gar nicht mißzuverstehen waren, Geld zu erpressen suchte, drang er in einem förmlichen Anfall von Raserei auf ihn ein. Und nur Kaminskes höhnisches Auflachen und ein paar drohende Worte brachten ihn noch zur rechten Zeit zur Besinnung. Er gab dem Menschen wieder zweihundert Mark. Und als Kaminske gegangen, stand er noch lange da und stierte ihm ganz geistesabwesend nach. In seinem Hirn war urplötzlich ein Gedanke aufgeblitzt: ‚Wenn dieser Lump doch tot wäre – dieser dir so gefährliche Lump!‘
Und dieser Wunsch fraß sich immer tiefer in seine Ideenwelt ein. –
Das junge Paar sollte in Helmbolds bisheriger Wohnung sein Heim aufschlagen. Des Doktors Bibliothek wurde als Damenzimmer eingerichtet, erhielt auch einen bequemen Patentdiwan, der gleichzeitig als Bett benutzt werden konnte.
Die Hochzeit fand im allerengsten Familienkreise statt mit Haustrauung und anschließender sehr bescheidener Tafel, zu der freilich der Bräutigam sehr viel und sehr teuren Wein und besonders Sekt gespendet hatte.
Es trafen nur wenige Glückwunschdepeschen ein. Sie wurden dem jungen Ehemann vorgelegt, der sie dann nach altem Brauch verlesen ließ.
Unter den Depeschen war auch eine, die aus London kam und die an die Geschwister Kleist gerichtet war. Als Helmbold sie überflog, wurde er kalkweiß, faßte sich aber wieder schnell und – ließ sie in der Brusttasche seines Frackes unauffällig verschwinden.
Er gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, daß er nur noch an das zu denken vermochte, was dieses Telegramm enthielt. Bisher hatte er fast nichts getrunken. Jetzt suchte er sich zu betäuben. Trotzdem blieb er nüchtern – äußerlich wenigstens.
Maria war blaß und still. Ihre Gedanken weilten wieder dort, woher es kein Wiederkommen gibt – weilten bei dem anderen, der ihre keusche Mädchenseele geweckt und der sie die Liebe gelehrt hatte.
Gegen acht Uhr abends brachte ein Auto das jungvermählte Paar heim. Helmbold trug den versiegelten Umschlag bei sich – das Vermächtnis. Erst in des Doktors Wohnung sollten die Siegel gelöst werden, wollte Maria das Vermächtnis des Barons, ihres Vaters, kennen lernen. So hatte sie es gewünscht.
Und nun, nachdem Helmbold Maria mit etwas heiserer Stimme und mit einem ersten Kuß auf den Mund in der gemeinsamen Behausung feierlich begrüßt, nachdem Maria sich tief erschrocken aus seinen Armen halb gewaltsam frei gemacht hatte, holte er eine bereitgehaltene Flasche Sekt herbei.
„Wir müssen doch das Vermächtnis feiern, Maria,“ scherzte er.
Da nahm sie ihm den Umschlag ab, sagte fest:
„Nicht heute! Wenn du mich wirklich liebst, so überlasse es mir, die Stunde zu bestimmen, wann ich ihn öffne.“
Er war zunächst enttäuscht. Nur Sekunden. Dann drängte sich das Andere wieder in den Vordergrund seiner Empfindungen; die Sehnsucht nach ihrem Besitz, die er kaum mehr verheimlichen konnte.
Er füllte die Sektkelche.
Aber Maria lehnte ab. „Ich bin müde, fühle mich so abgespannt – Entschuldige mich –“
Sie reichte ihm die Hand. „Gute Nacht, Karl –“
Da packte er diese Hand, den Arm, riß Maria an seine Brust. Sie wehrte sich keuchend, schrie ihm dann in sein verzerrtes Gesicht:
„Willst du ehrlos werden?! Gabst du mir nicht dein Wort, daß –“
Er ließ sie frei, stammelte Worte der Entschuldigung.
Sie eilte in ihr Zimmer, riegelte sich ein, nahm den kleinen Revolver aus der Tasche ihres Hochzeitskleides und legte ihn auf das Tischchen neben dem Diwan. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl am Fenster, schlug die Vorhänge zurück und starrte regungslos zum ausgestirnten Nachthimmel empor.
Helmbold hatte ihr mit geballten Fäusten nachgeschaut.
Ein Lächeln des Hasses flog über sein Gesicht hin.
‚Du – du – ich werde dich lehren, den – den Anderen zu vergessen!‘ dachte er.
Da erblickte er den versiegelten Umschlag. Das lenkte seine Gedanken ab. Er wog ihn in der Hand, besichtigte die Siegel.
Ein kurzes Aufleuchten auf seinem Antlitz. Er schloß sich ein, entfernte die Siegel, ohne sie zu beschädigen, öffnete ebenso geschickt die Klappe des Umschlags und nahm die darinliegenden Papiere heraus.
Es waren zehn Aktien zu je tausend Rubel der Ural-Petroleumaktiengesellschaft.
Russische Werte – russische! Sie hatten einst fraglos hohe Dividenden abgeworfen. Jetzt – jetzt waren sie Wische – wertlose Wische!
Er stierte mit weiten Augen auf das buntbedruckte Papier.
Dann ein halb irres Lachen. „Also deshalb all das – deshalb – dieser Wische wegen! – Und – sie – sie – entzieht sich dir auch noch!“
Er sprang auf. Drei Schritte nach der Tür hin. Dann stockte sein Fuß.
„Nein – nicht so!“ murmelte er. „Ruhe, Karl Helmbold, – Ruhe!“
Dabei eilten seine Gedanken sprungweise von diesem zu jenem, von der Londoner Depesche zu Franz Kaminke, von den wertlosen Aktien zu Maria.
Und er sann und sann.
Und abermals lohte da der Haß gegen die in ihm auf, die jetzt sein Weib und die an allem schuld war, an allem, – und es war viel, daß er ihretwegen gewagt hatte.
6. Kapitel
Im Speisesalon der ‚Sydney‘ saßen abends in einer Ecke vier Herren und pokerten.
„Morgen sind wir in Dover, – morgen früh,“ meinte der dicke Holländer Vandertrifft und gab Karten. „Ein Segen, daß man jetzt in Ruhe hier sein Spielchen machen kann und nicht mehr jede Sekunde zu fürchten braucht, daß der Steamer auf so eine unheimliche Mine aufrennt. – Sie spielen aus, Farting.“
Vandertrifft hatte wieder Pech wie immer.
„Farting, haben Sie eigentlich in allem so ein fabelhaftes Glück wie im Spiel? Sie müssen ein kleines Vermögen von Kolombo bis hier zusammengewonnen haben,“ rief er und starrte den dürren Engländer an, als vermute er in ihm einen Falschspieler.
Thomas Farting schüttelte den Kopf. „Leider nicht in allem, Vandertrifft, – leider nicht!“
„Jedenfalls muß er in der Liebe ungefähr soviel Pech haben wie Sie beim Pokern, falls der Satz ‚Glück in der Liebe – Unglück im Spiel‘ nicht allzu großer Blödsinn ist,“ lachte Major Macdonald.
„Farting hat recht,“ meinte der vierte am Tisch, der Plantagenbesitzer Warklay. „Wer wie er drei volle Jahre von den verdammten Afghanen als angeblicher Spion gefangen gehalten worden ist, hat wirklich nicht in allem Glück.“
Das Spiel ging weiter. Vandertrifft wollte heute noch durchaus seine Verluste wettmachen und schlug eine bedeutende Erhöhung des Einsatzes vor.
Nun verlor er dementsprechend. Er konnte es vertragen. Trotzdem glühte sein Gesicht vor Ärger.
Eine Stunde später kam ein Steward in den Spielsalon, rief:
„Die neuesten Nachrichten! Soeben von einem französischen Lotsendampfer an Bord gehißt! – Auch deutsche Blätter, aber nur ältere –“
Da war’s mit dem Pokern vorbei.
Farting kaufte eine Londoner, eine Pariser und eine Berliner Zeitung und vertiefte sich zunächst in das deutsche Blatt.
„Wie – sind Sie denn im Deutschen so bewandert?“ fragte der Major erstaunt. „Ich beneide Sie. Ich könnte es gut brauchen.“
Thomas Farting nahm seine graue Brille ab, putzte sie umständlich und erwiderte: „Ich habe mal fünf Jahre in Berlin gelebt – früher. Es ist lange her. Ich spreche deutsch aber noch perfekt.“
Dann las er – von der ersten Zeile an – alles, selbst die Anzeigen.
Die Zeitung war vom 10. Juni 1919, also eine bereits drei Wochen alte Morgennummer. Es stand viel drin von Deutschlands nationalem Unglück, vom Streikfieber, dem Bolschewismus und den neuesten ‚Aufklärungsfilms‘.
Major Macdonald hatte seine Times bald durchstudiert. Er legte sie beiseite, zündete sich eine Zigarette an, schaute zufällig zu Farting hinüber. Der Mann interessierte ihn. Er hatte so etwas an sich, das sich mit Worten schwer ausdrücken ließ. Vielleicht war’s ein Abenteurer, ein Hochstapler, ein Falschspieler, – vielleicht. Jedenfalls aber ein Mensch, der Eindruck machte mit seiner Wortkargheit und seinem kühlen Urteil über Menschen und Dinge.
Da – Farting war plötzlich bis in die Lippen bleich geworden. Und seine Hände zitterten so stark, daß die Zeitung oben einriß.
Macdonald beobachtete ihn unauffällig.
Ein Steward tauchte in der Nähe auf.
„He – eine Flasche Veuve Cliquot,“ rief Farting und steckte die sauber zusammengefaltete deutsche Zeitung in die Außentasche seines Smokings.
„Nanu?!“ meinte der dicke Holländer. „Sie bestellen Champagner? Ich schätzte Sie auf einen Temperenzlerapostel ein!“
„Vorbeigeschätzt! – Jedes zu seiner Zeit. Eislimonade im heißen Orient, hier oben bei uns im Norden was Anfeuerndes –“
Nachdem er noch eine zweite Flasche allein geleert und dabei keine fünf Worte gesprochen hatte, stand er auf. „Ich gehe zu Bett. Jetzt werde ich schlafen können. Gute Nacht, meine Herren.“
Als er verschwunden, hob Macdonald die Berliner Zeitung auf, die Farting aus der Tasche gefallen war. Er hatte sich genau gemerkt, auf welche Stelle Farting vorhin so entgeistert und so bleich hingestiert hatte. Er fand dort nur Familienanzeigen.
„Was interessiert es Sie nur, Major, ob Frau Rosalie Goldstern die Verlobung ihrer Tochter Hildegard mit dem Kaufmann Sally Pinkus bekannt gibt?!“ meinte Vandertrifft verwundert, der ihm über die Schulter schaute.
Macdonald lächelte. „Ich will meine deutschen Sprachkenntnisse auffrischen.“
„Das ist Schwindel,“ meinte Vandertrifft. Aber er ließ die Sache auf sich beruhen.
Am Morgen kurz vor dem Einlaufen in Dover, nahm Thomas Farting den Major beiseite.
„Macdonald, Sie gehen bald nach Deutschland, nach Berlin, als Mitglied irgend einer Kommission, wie Sie uns erzählt haben. Ich möchte auch dorthin. Aber – meine sämtlichen Papiere haben die Halunken, die Afghanen, behalten. Und ohne Papiere komme ich nicht über die Grenze. Ich könnte jetzt in Deutschland viel Geld verdienen. – Wollen Sie mir einen Einreisepaß besorgen?“
Macdonald schaute ihn durchdringen an.
Farting hielt den Blick ruhig aus, meinte kühl: „Ich bin kein Schwindler oder Verbrecher, Major. Ihre Polizeiaugen sparen Sie sich für passendere Gelegenheiten auf.“
„Gut,“ erklärte der Major da. „Sie sollen einen Paß haben. Aber – wir reisen zusammen nach Berlin, wenn’s Ihnen recht ist.“
Percy Macdonald war Irländer, seine Mutter aber eine Schwedin von altem Adel. Er vertrat die allgemeinen englischen Anschauungen bis zum äußersten, ließ aber auch den jetzt niedergeworfenen Gegnern der Entente volle Gerechtigkeit widerfahren. Deutschland insbesondere schätzte er als das Land geistiger Hochkultur.
„Schade, daß es sich anmaßte, uns den Vorrang in der Welt streitig zu machen,“ sagte er zwei Tage später zu Thomas Farting, mit dem er in London in demselben Hotel abgestiegen war. Sie hatten sich jetzt stark angefreundet, diese beiden Männer, obwohl Farting im ganzen eine wenig zugängliche Natur war.
„Ich beschäftige mich nie mit Politik,“ erwiderte Farting kurz.
Macdonald blieb vor dem in einem Sessel Sitzenden stehen und betrachtete ihn mit besonderen Blicken.
„Sie sollten endlich die Maske lüften, Farting,“ meinte er dann leise. „Ich weiß jetzt Bescheid. Sie sind kein Engländer. Sie sind Deutscher. Kleinigkeiten haben es mir verraten. Aber bei mir sind Sie sicher. Ich bin kein Spitzel. Ich schätze Sie.“
Thomas Farting sog den Rauch der Zigarette in die Lunge ein und blies ihn dann in dünnem Strahl zur Seite. Sein mageres, gebräuntes Gesicht mit dem leicht ergrauten blonden Vollbart hatte sich im Ausdruck auch nicht eine Spur geändert, als der Major ihm diese seine Vermutung so ohne viel Umschweife mitteilte.
Jetzt nickte er nur gelassen und meinte: „Ich wußte, daß Sie im täglichen Verkehr sehr bald dahinter kommen würden. Ich hielt Sie aber stets für einen Gentleman.“
Macdonald, lang, dürr, glattrasiert und mit einem so jugendlichen Gesicht wie ein frischgebackener Leutnant, setzte sich neben Farting in die Sofaecke und meinte: „Sie müssen Schweres durchgemacht haben. Ihr Haar ist grau geworden. Dabei können Sie kaum dreißig sein.“
„Stimmt – neunundzwanzig, Macdonald. Und – Schweres? Nun – das Schwerste traf mich an jenem Abend vor der Ankunft in Dover.“
Der Major hatte die deutsche Morgenzeitung vom 10. Juni noch immer in der Brusttasche, hielt sie jetzt Farting hin und sagte warmen Tones:
„Sie wurden damals leichenblaß, als Sie den Anzeigenteil lasen. Ich habe Sie scharf beobachtet. An jenem Abend stieg der erste Verdacht in mir auf, daß Sie kein Engländer wären.“
Farting rauchte eine Weile schweigend.
„Vielleicht tut es mir wohl, wenn ich mich jemandem gegenüber ausspreche,“ meinte er nun. „Wollen Sie meine Geschichte hören, Major?“
„Ich bin gespannt. Sie wird nicht alltäglich sein.“
„Sie ist ein Drama, das der Weltkrieg gedichtet hat.“
Und er begann zu erzählen. Ganz kurz, ohne jenes überflüssige Wort.
„– ich kam in die Gefangenschaft nach Sibirien. Drei Monate später entfloh ich mit zwei Kameraden. Wir wollten uns bis zur chinesischen Grenze durchschlagen, mußten uns aber, durch die scharfe Verfolgung gezwungen, südwärts wenden. Einer von uns wurde erschossen. Wir gelangten nach drei Wochen in einer Verkleidung nach Merw4, fuhren von hier den Murgab5 aufwärts bis Chodwisan, wurden als deutsche Flüchtlinge erkannt, eingesperrt, brachen dann nachts aus dem Gefängnis wieder aus, wandten uns der afghanischen Grenze zu und fielen hier einer Streifenpatrouille von Afghanen in die Hände. Obwohl wir es nun für ratsam hielten, unsere Nationalität nicht zu verleugnen, wobei wir auf die alte Feindschaft zwischen Engländern und Afghanen rechneten, und obwohl ich mir alle Mühe gab, die braunen Bergbewohner von unserer Harmlosigkeit zu überzeugen, vermutete man in uns doch sehr geriebene englische Spione, die ins Land geschickt worden waren, um herauszubringen, ob Afghanistan den Weltkrieg etwa dazu benutzen würde, in Indien einzufallen. Wir wurden in Kabul eingekerkert und haben dort bis vor fünf Monaten in einem alten Turme elender als Verbrecher unter steter strengster Bewachung gelebt. Dann starb mein Kamerad an Entkräftung. Mir aber glückte gleich drauf ein sorgfältig vorbereiteter Fluchtversuch. Als Eingeborener verkleidet schlug ich mich bis zur indischen Grenze durch, fand dann einen mildtätigen Landsmann, der seit Jahren in Indien ansässig war und der die britische Staatsangehörigkeit erworben hatte, erhielt von ihm reichlich Barmittel und schiffte mich in Bombay nach England als Thomas Farting ein. Ein Ingenieur dieses Namens war nämlich vor zwei Jahren im Afghanistan spurlos verschwunden, und seine persönlichen Verhältnisse, die meinem Landsmann bekannt waren, gestatteten mir, seinen Namen zu benutzen.
Ich hatte es mir sehr genau überlegt, ob ich vor meiner Abreise eine Depesche nach Deutschland senden sollte. Damals war der Waffenstillstand längst abgeschlossen, aber Telegramme nach Deutschland waren nur schwer zu befördern. Ich gab diesen Gedanken ohnedies auf, da ich nicht wußte, wie es in der Heimat aussah. Über vier Jahre hatte dort niemand mehr etwas von mir gehört. Ich mußte damit rechnen, daß man mich für tot hielt, daß vielleicht mein junges Weib, nach der ich mich in Sehnsucht verzehrte, mich längst zu den Toten rechnete –“
Er schwieg, zündete eine neue Zigarette an, nahm dann die deutsche Zeitung von Tisch und entfaltete sie.
„Hier, Macdonald, steht die Anzeige,“ fuhr er nun mit gepreßter Stimme fort, „die mir bestätigt hat, daß ich all meine unendliche Sehnsucht einer Unwürdigen geschenkt habe, daß ich zwecklos mein Hirn mir in der Gefangenschaft in Kabul zergrübelt habe, mir einen Weg in die Freiheit zu bahnen, und daß ich glücklicher daran wäre, wenn meine Knochen jetzt in Sibiriens Einöden oder sonstwo bleichten.“
Er deutete auf eine große, dickumrandete Anzeige unter Familiennachrichten, las dann vor:
„Als Verlobte empfehlen sich
Doktor Karl Helmbold
Frau Maria Mörner, geb. Kleist
Berlin, Mai 1919“
Er las und seine Stimme zitterte.
Dann flatterte die Zeitung raschelnd auf den Teppich. Heinz Mörner hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sein Körper bebte unter dem Ansturm eines Schmerzes, der seinem verlorenen Glücke galt.
Macdonald legte ihm die Rechte schwer auf die Schulter.
„Sie armer Kerl!“ sagte er leise.
Dann war’s wieder still im Zimmer – lange, trostlose Minuten. –
Der Major verstand solche Liebe nicht. – ‚Komische Menschen, diese Deutschen. Sie haben viel zu viel Gefühl. Das taugt nichts, wie man hier sieht,‘ dachte er. – Aber sein aufrichtiges Mitleid gehörte trotzdem diesem Manne da, der einem Weibe nachtrauerte und doch so viel Energie und kühle Klugheit besaß.
Mörner ließ jetzt die Hände sinken, lachte dabei bitter auf.
„Entschuldigen Sie, Macdonald, daß ich hier soeben zum Waschlappen wurde. – Sie ist ja nicht wert, daß ein Mensch wie ich, der Treue bis zum Tode halten kann, dem diese Liebe wie ein heiliger Alter war, vor dem er täglich betend kniete, ihretwegen seine Seele im Jammer um das tückische Walten einer finsteren Vorsehung zerfleischt. Ich habe nie geglaubt, daß Maria, selbst wenn ich fallen sollte, nochmals eine Ehe eingehen würde – niemals! Ich hatte ein so felsenfestes Vertrauen in ihre Treue, habe nie damit gerechnet, daß – dies – dies sich ereignen könnte. Nein – wenn ich von einer Depesche an sie Abstand nahm, geschah’s nur, weil ich fürchtete, die Freude könnte ihr schaden – denn auch Freude tötet oder verwirrt den Geist –“
Macdonald hielt dies von seinem Standpunkt für ausgeschlossen. Nach einer Weile meinte er zögernd, da er selbst nicht recht an seine Worte glaubte:
„Vielleicht liegen besondere Verhältnisse vor, die Ihre Gattin gezwungen haben, an eine zweite Heirat zu denken.“
Wieder lachte Mörder bitter auf.
„Besondere Verhältnisse?! – Für eine große, wahre Liebe gibt’s so etwas nicht!“
Dem Major war soeben ein Gedanke gekommen.
„Eine Verlobung ist noch keine Ehe,“ meinte er schnell. „Depeschieren Sie an die beiden Tanten, bei denen Ihre Gattin erzogen worden ist. Ich werde dafür sorgen, daß das Telegramm durchgelassen und beschleunigt wird. Wir selbst können in zwei bis vier Tagen nach Berlin abreisen. Dann haben Sie Gelegenheit, erst mal bei den alten Damen Erkundigungen einzuziehen, wie – wie all das gekommen ist.“
„Ich danke Ihnen, Macdonald.“ Mörner drückte dem Major fest die Hand. „Ich freue mich, in Ihnen eine mitfühlende Seele gefunden zu haben. Ich stehe ja ganz allein da. Meine Eltern sind lange tot. Und wahre Freunde besaß ich nie. Dazu bin ich stets zu vorsichtig gewesen. Ich kenne die Menschen, und wer sie kennt, schafft sich lieber einen Hund an und nimmt ihn zum Vertrauten, falls er eben nicht ein Weib findet, das die Ergänzung seines Ichs wird. Doch – auch eine solche Frau ist eine Seltenheit. Ich glaubte diesen seltenen Fund gemacht zu haben. Es war doch nur – Durchschnittsware –“
7. Kapitel
Major Percy Macdonald und Ingenieur Thomas Farting waren in Berlin zunächst im ‚Kaiserhof‘ abgestiegen. Sie waren morgens eingetroffen, und jetzt mittags saß der Major auf der Hotelterrasse und wartete auf Fartings Rückkehr von einem Besuch bei den alten Damen.
Sie hatten vereinbart, daß Mörner vorläufig weiter den Engländer spielen sollte, der geschäftehalber nach Deutschland gekommen war.
Mörner erschien früher, als Macdonald gedacht hatte.
Er sah etwas blaß aus. Sein Gesicht war starr, wie versteinert.
Er setzte sich Macdonald gegenüber, nachdem er ihm stumm die Hand gedrückt hatte, rief den Kellner nun herbei und bestellte Sekt – zwei Flaschen gleich.
Der Major ahnte, was Mörner in Erfahrung gebracht hatte. Er hatte es im stillen befürchtet. Jetzt nach dem Kriege wurde ja überall im Galopptempo geheiratet – selbst in England, und die Regierungen unterstützten dies nach Kräften. Das durch die grause Schlächterei so vieler Jahre verloren gegangene Menschenmaterial mußte ergänzt werden.
Mörner bat den Major um Feuer für seine Zigarette, die er jetzt dutzendweise rauchte. Sie berühigten seine Nerven ein wenig. Dann sagte er mit eisigem Ton:
„Seit gestern verheiratet –“
Er starrte dabei auf die belebte Straße hinab und sah doch nichts anderes als Marias Bild, das wie ein Gespenst vor ihm schwebte.
„Ich hatte mir’s anders überlegt,“ fuhr er fort, und Macdonald hörte abermals eine ganz fremd klingende Stimme. „Ich ging zunächst zu dem Portier des Hauses am Lietzensee, wo ich seit Jahren gewohnt habe. Der alte Mann war mir stets gewogen. Er ist ein Berliner von der alten, gemütlichen und herzlichen Art, derb nach außen hin, auch so etwas schnodderig in seinen Reden, aber – eine Seele von Mensch. Und seine Frau desgleichen. Sie hatte mir stets die Aufwartung besorgt. – Ich traf sie beim Mittagessen. Sie – erkannten mich nicht. Ich habe mich ja auch sehr verändert, – der Vollbart – und die graue Brille tun auch das ihrige.“
„Nicht möglich – nicht erkannt!“ meinte Macdonald kopfschüttelnd.
„Ich fragte nach einer leeren Wohnung. Da lachte der alte Fröse mich aus.
„Jetzt eine Wohnung – in Berlin – und hier in einem modernen Viertel! – Herr, man merkt, daß Sie aus dem Ausland kommen!“
„Ich hatte mich ihm nämlich als Holländer vorgestellt. Einem Engländer gegenüber sind die Leute jetzt hier nur deshalb höflich, weil sie – es müssen. –
Ich erklärte nun, ein Wohnungsagent hätte mir gesagt, hier wären die Zimmer eines im Kriege gefallenen Schriftstellers frei. –
Da wurde Fröse lebendig. Ich merkte, wie richtig ich ihn stets bewertet hatte. Es tat mir wohl, so viel Anhänglichkeit hier herauszufühlen – aus jedem Wort! – und von dem alten Hauswart erfuhr ich, daß gestern die Hochzeit stattgefunden hat, erfuhr ich auch, daß meine – unsere – Wohnung vorläufig nicht weitervermietet werden darf. Der – der Andere bezahlt sie –“
Eine kleine Pause. Mörner atmete schwer.
„Ich durfte nicht zuviel Interesse für meine – meine frühere Frau zeigen,“ erklärte er immer in derselben leblosen Art. „Trotzdem brachte ich aber heraus, wo der – der Andere, den ich persönlich ganz gut kenne – zu gut kenne! –, wohnt, noch wohnt – – mit ihr, mit Maria. In der Pestalozzistraße ist’s. Und ich – ich konnte nicht anders, – ich schlich vor das Haus, ging einige Male auf der gegenüberliegenden Seite vorüber, schaute zu den Fenstern empor, stellte mich dann vor ein Schaufenster. Ich wollte Maria wiedersehen, bevor ich – für immer Deutschland verlasse, – denn das hatte ich mir vorgenommen, als der alte Fröse mit so traurigem Gesicht sagte: ‚Ja – ja, – sie hat wieder geheiratet, die Witwe – gestern. Gut, daß der Tote es nicht weiß. Er hat sie wohl sehr – sehr lieb gehabt.‘ – Und – ich habe Maria gesehen –“
Er nahm das Taschentuch und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.
„Sie kam allein aus dem Hause. Ich folgte ihr. Sie ging nach dem Lietzensee die Kantstraße entlang – ganz langsam. Und dann verschwand sie in dem Hause, wo meine Wohnung noch auf mich, den Toten, wartet, – denn ich bin ja tot, – tot durch richterlichen Spruch – für tot erklärt –“
Der Kellner brachte den Sekt, füllte die flachen Schalen, fragte, ob die Herren zu speisen wünschten, zählte die Speisenfolge auf.
Macdonald bestellte für beide. Währenddessen goß Mörner drei Gläser hinunter.
Jetzt nahm der Major ihm die Sektschale weg.
„Stopp – Sie gewöhnen sich sonst das Trinken an.“
„Keine Sorge. Dazu habe ich zu viel hier noch zu erledigen, Macdonald.“
Der schaute ihn überrascht an.
„Ja – zu erledigen. – Hören Sie weiter. – Ich ging hinter Maria drein bis auf den Hof des Hauses, sah sie so im Eingang des Gartengebäudes verschwinden. Sie – konnte also nur in meine – unsere – Wohnung hinaufgestiegen sein. Und – so war’s auch. Ich hörte genau, welche Tür zufiel. –
Merkwürdig – in unsere Wohnung. – Und ich, ich – der Tote – stand unten im Hof und – durfte nicht hinein –“
Der Kellner brachte die Teller, Mundtücher und Bestecke.
„Wie ich noch so kaum meiner Sinne mächtig, zu den Fenstern emporstierte, spricht mich der alte Fröse an.
‚Herr,‘ sagte er leise, ‚Herr, ich kann’s – will’s nicht glauben. Und doch. Jetzt – jetzt, wo Sie doch offenbar der – der Dame gefolgt sind und wo ich Sie im Hellen ganz genau betrachtet habe, – sind Sie wirklich Heinz Mörner?‘
Ihm gab ich mich zu erkennen. Er versprach mir, nicht einmal seiner Frau das große, traurige Geheimnis mitzuteilen. So drückte er sich aus – trauriges Geheimnis. Es trifft ja zu. –
Er hat mir dann eine merkwürdige Geschichte erzählt – von einem Agenten, der bei dem Hauseigentümer gewesen war und meine Wohnung gemietet hatte, sie nachher aber wieder abgab. Und weiter wußte er mir zu berichten, daß Maria seit ihrer – ihrer Verlobung so und so oft heimlich in meine Wohnung geschlüpft ist und daß sie stets recht lange dort blieb. –
Sehen Sie, Macdonald, – ich kann mich ja täuschen, aber – als der Alte mir von diesen heimlichen Besuchen sprach, da ist in mir die leise Hoffnung aufgestiegen, Maria könnte mich vielleicht doch nicht ganz vergessen haben und es müßte mit dieser Heirat irgend etwas nicht stimmen –“
„Ganz recht,“ meinte der Major eifrig. „Ich hätte sofort dasselbe vermutet.“
„Ja – die leise Hoffnung. Nun – der Ausdruck Hoffnung paßt wohl nicht ganz. Worauf habe ich zu hoffen?! Auf nichts! Ich bin ja tot. Meine Ehe mit Maria existiert vor dem Gesetz nicht mehr. Gültig ist nur die zweite. Und – selbst wenn dem nicht so wäre – Maria habe ich für immer aus meinem Leben gestrichen! Sie gehört jetzt einem anderen. Und ein Hemd, das inzwischen ein anderer benutzt hat, ziehe ich nicht mehr an, dazu – bin ich zu reinlich, mag das Hemd auch äußerlich mir noch so wertvoll erscheinen. –
Ja – Maria existiert für mich nicht mehr, selbst gesetzt den Fall, sie hätte diese Ehe aus Gründen geschlossen, die sie ein wenig entschuldigen. Ein wenig! Verzeihen könnte ich ihr diesen Treubruch nie – niemals! –
Aber – eins will ich doch noch, ich will herauszubringen suchen, wie gerade dieser Helmbold, ein alter Verehrer Marias, es möglich gemacht hat, sein Ziel nun doch noch zu erreichen. –
Ich sagte schon, hier stimmt irgend etwas nicht! Und wer Helmbold kennt, hält es durchaus für wahrscheinlich, dass dieser fragwürdige Herr mit allerlei Mittelchen gearbeitet hat, um seine Wünsche erfüllt zu sehen.“
Der Kellner brachte die Suppe. – Mörner schob halb den Teller beiseite und fuhr etwas lebhafter fort:
„Ich werde auch das rausbekommen, ob ich mich in diesem Punkte täuschte oder nicht. –
Als ich in der Pestalozzistraße vor jenem Hause stand, fiel mir ein Pappschild an der Haustür auf: Möblierte Zimmer. – Ein seltsamer Zufall, Macdonald, gerade über Helmbolds Wohnung suchte die Witwe eines gefallenen Obersten drei Zimmer – sicher aus Not – nur an ‚bessere‘ Herrn zu vermieten. Und – ich habe sofort für uns beide zugegriffen. Sie wollten ja ohnedies in ein Privatlogis übersiedeln. –
Die Frau Oberst von Weber hat mich zuerst sehr kühl – als Engländer – abgewiesen. Dann bot ich hundert Mark mehr, als sie verlangt hatte. Und – das Geld besänftigte ihre Abneigung. Wir können noch heute dorthin übersiedeln.“
Macdonald sagte ernst:
„Wozu wollen Sie sich so quälen, Freund?! Bedenken Sie, im selben Hause – über der – gerade der Wohnung! Das hätten Sie nicht tun sollen! Sie hätten Ihre Nachforschungen auch weit bequemer von anders wo betreiben können.“
Mörner entgegnete nichts, schaute vor sich hin.
Und der Major dachte: ‚Er liebt sie noch – er will nur in ihrer Nähe sein! Welch zweckloses Martyrium!‘
8. Kapitel
Am nächsten Mittag verließ Heinz Mörner gegen zwölf Uhr das neue Heim bei der Frau Oberst, um sich nachher mit Macdonald zu treffen, der nach der englischen Botschaft gefahren war.
Langsam stieg er die Treppe hinab. Ihm klopfte das Herz bis in den Hals hinein. Wie leicht konnte er Maria begegnen! Ob sie ihn dann nicht wohl erkennen würde? – Nein – er wünschte solche Begegnung nicht, obwohl er ehrlich genug war, sich einzugestehen, daß seine Liebe sich nicht so schnell würde abtöten lassen.
Langsam schlich er die Stufen abwärts.
Da – unter ihm eine Stimme.
Wie ein elektrischer Schlag ging’s ihm durch den Körper.
Maria – Marias Stimme.
Er hörte jedes Wort.
„Ich sage Ihnen doch – Herr Doktor Helmbold ist nicht zu sprechen. Er arbeitet. Kommen Sie nach einer Stunde wieder.“
„Ne – det jibt’s nich! – Sie sind wohl die neje Wirtschafterin, wat? – Na, die vorichte – det war’n feinet Flänzken. Die jeht jetzt mit so’n Monokelfritzken rum. Nehmen Se sich vor d’n Doktor in acht, Freilein. Sie sehn so anständig aus. Die andre spielte hir so in allen’s die Hausfrau, wohl ooch nachts, he – he! – Also nu jehn Se man wieder rinn, und er soll mir sofort forlassen, oder – und det richt’n Se man wortjeetreu aus! – oder der Franz wird zur Kanaille. – Se wissen ja – aus Schillers Reiber: Franz heeßt die Kanaille.“
Mörner wartete. Über ihn war plötzlich eine eisige Ruhe gekommen. Er ahnte, daß da unter ihm jemand Zutritt bei Helmbold verlangte, der für seine Absichten vielleicht zu verwerten war.
Ein paar Minuten nichts – Stille. Nur der ‚Franz‘ hüstelte zuweilen.
Dann – dann wieder Maria:
„Mein – mein Mann – läßt bitten –“
Eine Tür fiel ins Schloß.
Ah – also doch! Helmbold fürchtete diesen Franz aus irgend einem Grunde.
Mörner lauerte dem Menschen vor dem Hause auf.
Nun stand er Franz Kaminke gegenüber, stutzte.
Das – das war ja ein Mann seiner Kompagnie, das war ja der Grapsch, wie ihn jeder bei der 8ten nannte, weil er grapschte – das heißt stahl – wie ein Rabe! Sonst war der Grapsch aber einer der besten Leute im Gefecht gewesen, ein Kerl von unverwüstlich guter Laune, tollkühn schlau, nie verlegen, wenn es galt, die Russen irgendwie zu überlisten.
Und Grapsch hatte an seinem Kompanieführer mit Pudeltreue gehangen, weil Mörner ihn stets vor dem ‚Loch‘ bewahrt und jede neue Eigentumsverwechslung – es hatte sich immer nur um Eß- und Trinkbares und Zigaretten gehandelt – ohne großen Krach ins Reine brachte.
Und dieser Grapsch war der Besucher des Doktor Helmbold gewesen. Ihm stand Heinz Mörner nun gegenüber.
Kaminke wollte vorbei.
„Master, einen Augenblick, wenn’s recht ist,“ engländerte Mörner. „Haben Sie Lust, zu verdienen hundert Mark, Master?“
Grapsch grinste.
„Na ob! Nu – faule Zicken mach’ ick nich – sonst allens – for Jeld! Ick hab’ an det eene Mal noch jenug zu knabbern – ick oller Schweinhund!“
„Kommen Sie, Master. Wir wollen gehen in die Restaurant dort.“
„Jut – innverstandn.“
Mörner war beruhigt. Grapsch erkannte ihn nicht.
Sie fanden einen leeren Tisch in einer Ecke. Mörner bestellte Bier und hielt Kaminke seine Zigarettendose hin.
Dann begann er:
„Sie sollen haben hundert Mark, wenn Sie mir sagen, wo Sie haben Bekanntschaft gemacht mit Doktor Helmbold.“
Grapsch verfärbte sich, blickte scheu zur Seite. Dann gebrauchte er allerlei Ausreden, meinte schließlich:
„Behalten Se man Ihre hundert Märker, Sie – Sie Engländer oder Amerikaner – Sie, vastehn Se mir! Hier jibt’s nischt von wejen aushorchn!“
Er griff nach seiner Mütze, erhob sich.
„Halt, Grapsch, – Sie bleiben!“ sagte Mörner leise.
Kaminke sank ganz verstört auf seinen Stuhl zurück.
„Wer – wer sind Sie, vaflucht noch eens, daß Sie mir mit den – den Namen anred’n?“ stotterte er dann.
„Ein Bekannter Ihres ehemaligen Kompanieführers, Master, – sehr einfach!“
„Det – det is Schwindel!“
Kaminkes kleine Schweinsaugen bohrten sich förmlich in Mörners Gesicht ein.
Mörner wurde unbehaglich zumute. Er bereute schon Grapsch gegenüber so direkt auf sein Ziel losgegangen zu sein.
Da sah er, wie Kaminke bleich wurde. Da kam über zitternde Lippen ein halblauter Ausruf:
„Herr – Herr Leutnant!“
Und nun – Mörner traute seinen Augen nicht – nun rollten über Grapschs verlebtes Gesicht zwei dicke Tränen, nun flüsterte er:
„Herr Leutnant – ick – ick bin ‘n Schweinhund, jerade wat Sie betrifft. – Ne – Sie sind nie nich eener von die Schneesellleitnants jewesen, die von de Behandlung oller Kerls keene Ahnung hattn – Sie nich!“
Dann griff er nach Mörners Hand.
„Ick bin ‘n Schweinhund, ick bin ‘n Simulante, denn von wejen den Armtatterich – det is man so for ‘t Jeschäft, damit det Publikus mehr in de Mütze schmeißt, wenn ick am Untergrundbahnhof Wittenbergplatz hocke. ‘n Schweinhund war ick, als ick mir von det Aas bereden ließ, von dem scheinheil’jen Doktor, zu Protokoll zu jeben, ick hätt’ jesehn, wie Sie von ‘ner Jranate zerissenwurd’n –“ –
Noch eine Stunde saßen die beiden Kriegskameraden in der kleinen Kneipe und hatten vielerlei zu besprechen, tauschten auch allerlei Erinnerungen aus.
Als sie sich trennten und sich kräftig dabei die Hände schüttelten, sagte Franz Kaminke:
„For mir is’s jetzt Ehrensache, daß ick Ihnen helfe. Keene Sorge nich! Der olle Grapsch wird die Geschichte schon befingern.“
„Auf Wiedersehen, Kamerad! Also morgen um dieselbe Zeit hier an diesem Tisch.“ –
Macdonald saß schon in der ‚Traube‘ bei der Suppe, als Mörner endlich erschien.
Er setzte sich, begann sofort:
„Sie ahnen nicht, was ich soeben erlebt, erfahren habe. Ein schändliches Intrigenspiels ist hier getrieben worden. Doktor Helmbold, der ‚aus Gefälligkeit‘ für Maria die Nachforschungen nach mir übernommen hatte, war dabei schließlich gerade auf den einzigen Mann meiner Kompagnie gestoßen, der beobachtet hatte, daß mich zwei Russen überwältigten und wegführten. Dieser Kaminke ließ sich dann von Helmbold bestechen, zu Protokoll zu geben, er hätte gesehen, wie ein Volltreffer mich vollständig zerfetzte. Auf diese Weise hat er erst meine Todeserklärung in Fluß gebracht –“
„Ah – der – der Schuft!“
Mörner erzählte nun im einzelnen. Er war fieberhaft erregt.
„Denken Sie, Macdonald, – und dieser Mensch hat mir mein Weib geraubt!“ stieß er jetzt hervor. „Aber – ich werde es ihm heimzahlen! Ich werde diesen Halunken so bloßstellen, daß alle Welt ihn anspeit! – Ich bin auf dem besten Wege dazu. Er hat bis vor kurzem eine Wirtschafterin gehabt, mit der er, wie mir Kaminke zu berichten wußte, sehr vertraut gestanden haben muß. Dieses Mädchen hat Kaminke nun wiederholt in Gesellschaft eines sehr eleganten jungen Mannes auf dem Kurfürstendamm und in der Tauentzinstraße gesehen. Er hofft, mir ihre Adresse besorgen zu können, und ich hoffe dann, aus ihr noch so manches über Helmbold herauslocken zu können. Sie wird ihm kaum gut gesonnen sein. Man kennt das, Wirtschafterin, die gern geheiratet werden möchte!“
Percy Macdonald nickte. „Sehr gut, Mörner, sehr gut das – Weiber sind leicht zum Plaudern zu bringen. – Wirklich – Ihre Vermutung ist jetzt schon teilweise bestätigt –“
Mörners Erregung legte sich schnell. Und nach einer Weile sagte er dann mit verzweifelter Gleichgültigkeit:
„Eigentlich – ein Unsinn das alles! Wozu – wozu suche ich diesen Elenden zu entlarven?! Nützt es mir etwas – wird mir Maria dadurch wiedergegeben?! – Ich Narr – ich vergesse zuweilen ganz, daß sie niemand hat zwingen können, Helmbold zu – zu heiraten, niemand! Wenn sie treu geblieben wäre, hätten alle Intrigen ihr nichts anhaben können. Ich vergesse, daß – ich sie verachten muß, daß sie nie mehr – Doch – wozu das abermals erörtern?! – Am liebsten reiste ich morgen wieder ab – irgendwohin!“
„Tun Sie das nicht, Mörner,“ meinte Macdonald ernst. „Ich würde es selbst bei dieser Sachlage für meine Pflicht halten, dem Schurken die Maske vom Gesicht zu reißen. Sie können ja dabei völlig aus dem Spiele bleiben. Kaminke kann als allein Handelnder auftreten.“
„Ich – ich werde es mir bis morgen überlegen, Macdonald.“ Es war nur eine Redensart, denn Mörner war bereits fest entschlossen, Berlin wieder zu verlassen.
Sie sprachen nun über gleichgültige Dinge. Dann sagte der Major plötzlich:
„Warum gehen Sie nicht zu den alten Damen, Mörner? – Mir fällt das eben ein. – Sie würden doch fraglos Ihren Besuch verschweigen, wenn Sie sie darum bitten. Vielleicht könnten Sie dort auch Material sammeln –“
„Bei den Tantchen – ausgeschlossen! Daß sind so welt- und menschenunkundige Wesen, daß sie sicher in Helmbold noch immer einen Engel sehen! So war’s nämlich schon, als ich sehr energisch um Maria warb. Helmbold liebten sie – mich wünschten sie weiß Gott wohin!“ –
*
Kaminke hatte diesmal bei dem Doktor nur hundert Mark ‚locker gemacht‘.
Aber er wechselte den Blauen nicht, obwohl er völlig auf dem Trockenen war. Er mochte von dem Sündengeld nichts mehr wissen. Er hatte es ja auch Helmbold zurückschicken wollen. Doch das hatte Mörner ihm entschieden ausgeredet.
Grapsch, der auch jedes Geschenk von Mörner abgelehnt hatte, borgte sich nun erst bei der ‚Gilde‘, das heißt seinen Kollegen vom Bettelfach, das nötige Betriebskapital zusammen, denn er wollte ja jetzt nach dem schwarzäugigen Weibsbild und dem Monokelfritzen Ausschau halten, und dazu mußte er sich auf den Straßen umhertreiben und ‚feiern‘.
Nachmittags gegen fünf bummelte er über die Tauentzinstraße, wo regelmäßig um diese Zeit großer Korso aller Nichtstuer und aller Dämchen von Berlin W stattfindet.
Um nicht ganz untätig zu sein, stellte er sich dann am Rande des Bürgersteiges auf und zitterte und hielt die fettige Mütze für mildtätige Seelen hin.
Das ‚Jeschäft‘ ging faul. Es war zu viel Konkurrenz da.
Gegen halb sieben erspähte er endlich das Pärchen.
Hans Kniffke und die jetzt ganz modern und hochschick gekleidete Steffie ahnten nicht, daß ihnen Grapsch auf Schritt und Tritt folgte.
Er hatte Ausdauer. Und gerissen war er auch. Als sie das Cafee des Westens betraten, stand er bald neben ihrem Tisch und bettelte Kniffke an.
Dann spielte er den Überraschten.
„Jotte doch, Freilein, war’n Sie nich mal bei ‘n Doktor Helmbold Ehrendame?“ meinte er grinsend. „Lejen Se doch bei Ihren Freind ‘n jutes Wort for mir ein, det er mir ‘n alten Anzug schenkt! Ick bin so abjerissen. – Herr Jraf,“ wandte er sich an Hans Kniffke, „ick hole mir de Kluft jern zu jedes Tages- und Nachtzeit ab – janz wie’s passen dut, Herr Jraf –“
Kniffke hätte nicht Kniffke sein müssen, wenn er nicht sehr gnädig dem Kriegsbeschädigten seine Adresse und außerdem noch zehn Mark gegeben hätte.
Grapsch war vorläufig zufrieden. Steffie sollte morgen ‚ausbaldowert‘ werden, falls sie nicht bei dem ‚Jrafen‘ wohnte.
9. Kapitel
Steffie hatte infolge der Freundschaft mit Hans Kniffke, bei dem sie jetzt als Wirtschafterin polizeilich gemeldet war, den Gedanken aufgegeben, zu ihren Eltern nach Lautenburg zurückzukehren.
Vorläufig hatte sie ihn aufgegeben. Erst wollte sie noch ordentlich sparen. Dann war noch immer Zeit, solide und ehrbar zu werden.
Sparen – Geld machen! Das war der Punkt, um den sich bei Steffie alles drehte. Und deshalb war es ihr aus ganz bestimmten Gründen sehr lieb, daß Kaminke morgen vormittag elf Uhr sich den Anzug abholen würde.
Sie wußte, daß der Feldgraue für den Doktor ein wahres Schrecknis darstellte, und sie ahnte, daß Kaminke irgend ein Mittel besaß, bei Helmbold Geld zu erpressen. Er war also gerade der geeignete Mann, dem sie sich anvertrauen konnte.
Als Kaminke um elf Uhr vor der Flurtür des Kniffkeschen Junggesellenheims stand, brauchte er erst gar nicht zu läuten.
Steffie hatte ihn schon erwartet, zog sich mit einem ‚Pst – ganz leise – er schläft noch!‘ in die Küche und kam dann ohne Scheu auf ihren Plan zu sprechen, wie man den Doktor leicht zu – kleinen Geschenken bewegen könnte.
Kaminke horchte hoch auf, als Steffie von dem Ölgemälde erzählte, das Kniffke ihr – ganz unter strengster Diskretion – als besonders wertvoll und aus dem Besitz eines Prinzen stammend, unter besonderem Hinweis auf die eigenhändige Widmung gezeigt hatte.
„Er hat nun auch eine Photographie von dem Prinzen und einen sogenannten Bismarckbrief,“ fuhr sie fort. „Auch die beiden sind purer Schwindel. Ich hab’ sie heimlich mal zu ‘n Antiquar gebracht, der was davon versteht, und der hat mich ausgelacht. Einen Prinzen von Hilgenstein gibt’s gar nicht mehr –“
Kaminke versprach dann, gegen hundert Mark Vergütung zu Helmbold zu gehen und diesem den Fall vorzutragen – mit der gleichzeitigen Bitte um ein Darlehn von tausend Mark.
Nachdem die neuen Verbündeten die Sache noch mit ein paar sehr guten Likören aus Heinz Kniffkes Vorräten begossen hatten, hielt es Kaminke für angebracht, nun auch seinerseits Steffie nahezulegen, ihm über Helmbold alles zu berichten, was mit dessen Heirat irgendwie zusammenhing.
Steffie war sofort Gift und Galle.
„Der Lump – wie hat er mich belogen!“ fuhr sie los. „Verreisen wollte er! Und zwei Tage später stand seine Verlobung in der Zeitung! Na – ich hätt’ ihm ja einen schönen Knüppel zwischen die Beine werfen können, aber – da hatte ich ja schon den Kniffke gefunden. Der ist lohnender.“
„Knüppel, Freilein? – Sie meinen wohl, weil er doch ooch mit Ihnen so’n bißken – na, Sie vastehn schon –“
„Ach – deswegen – nein! Aber er hat mal so in der ersten Zeit, als er mir grad’ den Morgenrock geschenkt hatte, mir gegenüber sich mit allerlei Redensarten über die Familie von seiner jetzige Frau ausgelassen. Er tat’s, weil er mich beruhigen wollte. Ich war doch ‘n anständiges Mädchen, als ich zu ihm kam – es war November 1914. Da ahnte er noch nicht, daß der Mörner fallen würde, auf den er ordentlich ‘n Pik hatte. Und da sagte er zu mir, ich sollte man nicht denken, daß ‘n Mädel mit ‘n kleinen Klecks nicht mehr heiraten könnte. Mörners Frau wär’ zum Beispiel auch ein Kind von ‚zur linken Hand‘ und so, und ihr rechter Vater wär ‘n Baron gewesen, der ihr auch viel Geld vermacht hätte, das kriegte sie aber erst später –“
Kaminke verlor kein Wort von alldem. Und als er mit dem noch recht guten Anzug Kniffkes dann schnell zum nächsten Trödler wanderte und ihn dort für vierzig Mark losschlug, freute er sich weit weniger über dieses Geld als über den Sack von Neuigkeiten, den er Mörner zu dem Stelldichein in der Kneipe mitbrachte. –
Mörner hörte stumm zu. In seinem Hirn wirbelte ein Sturm von Gedanken, als ihm Grapsch triumphierend alles haarklein wiedererzählte.
Arme Maria! Einen Betrüger als Mann! Und wahrscheinlich nur umworben jenes Vermächtnisses wegen!
Arme Maria! – Und diese Bedauernswerte war einst sein gewesen! – Wie hatte sie nur diesen Menschen erhören – wie hatte das nur geschehen können?!
Als er sich von Kaminke verabschiedet hatte, war er in seinem Entschluß, morgen abzureisen, doch wieder wankend geworden.
In seiner abwechselnd von wildester Eifersucht und dann wieder von trostlosem Schmerz zermürbten Seele lebte doch noch immer eine trügerische Hoffnung! Sie mußte ja trügerisch sein. Wie konnte er wohl auch erwarten, daß Maria vielleicht – vielleicht aus irgend welchen Gründen und durch irgend welche Mittel es verstanden hätte, Helmbold sich zu entziehen, sich noch rein zu erhalten, sich – ihren Leib.
Nein – diese Gedanken waren unsinnig – mußten es sein. –
Trotzdem teilte er sie ganz zaghaft Macdonald mit, als sie sich zum Mittagessen wieder in der ‚Traube‘ trafen.
Macdonald log, als er dann behauptete, er hielte es für durchaus möglich, daß Mörners Hoffnung doch nicht eitel wäre. Er log, da er dem Freunde nicht offen ins Gesicht sagen wollte, wie widersinnig derartige Mutmaßungen seien. Nein – dies brachte er nicht fertig! Er sah ja, wie unsäglich dieser Ärmste unter dem Zusammenbruch dieser Liebe litt.
Seit gestern abend herrschte zwischen ihnen das vertraute Du. Macdonald hatte es Mörner angeboten.
Jetzt sagte er zu ihm, indem er bemüht war, all diese Qualen für den Freund durch einen Gewaltstreich abzukürzen:
„Wenn es nur einen Weg gäbe, wie du dir Gewißheit verschaffen könntest – Du reibst dich bei alldem auf. Deine Augen haben geradezu den Glanz eines Fieberkranken. Deine Nerven werden bald völlig ruiniert sein. Ich bin jetzt selbst dafür, daß du Berlin verläßt. Aber – vorher mußt du klar sehen –“
„Was soll ich wohl tun?!“ meinte Mörner mit jener trostlosen seelischen Müdigkeit, die jetzt bei ihm stets der Rückschlag nach dem kurzen Aufflackern eines ungewissen Glaubens an eine lichte Zukunft war.
Macdonald blies den Rauch seiner Zigarette langsam in tadellosen Ringen von sich.
„Du – du sollst überhaupt nichts tun, Heinz,“ meinte er mit einem warmen Klang in seiner sonst so selten eine besondere Empfindung verratenden Stimme. „Ich werde selbst zu – zu ihr hingehen und –“
„Du, Percy, – du?!“ fiel ihm Mörner da kopfschüttelnd ins Wort. „Wie – wie denkst du dir das denn?“
„Du scheinst mir sehr wenig Erfindungsgabe zuzutrauen.“
„Oh – das wohl. Aber – man kann ein sehr geistvoller Mensch sein und trotzdem gerade hier versagen.“
„Ich war ein Jahr in geheimer diplomatischer Mission in China, lieber Heinz. Und die Chinesen sind bekanntlich bessere Diplomaten selbst als – wir, die Engländer. – Wenn ich zum Beispiel zu Helmbold ginge und fragte, ob er mir nicht deutschen Sprachunterricht erteilen wolle? – Natürlich würde ich es so einzurichten wissen, daß ich nur – nur sie anträfe. Und – das weitere findet sich dann schon –“
*
Maria hatte in dieser ihrer zweiten Hochzeitsnacht, die ja niemals dieser neuen Ehe die Weihe einer wahren Vermählung hätte geben sollen, bis Tagesanbruch fast bewegungslos in dem Schaukelstuhl am Fenster gesessen und lange mit angstvoller Spannung, die ihre traurigen Gedanken immer wieder von der Vergangenheit in die Gegenwart ablenkte, auf jedes Geräusch in der Wohnung achtgegeben.
Sie hatte auch das Fenster halb geöffnet – für alle Fälle! Sollte Helmbold versuchen, gewaltsam hier einzudringen – Maria glaubte ja jetzt nie und nimmer mehr daran, daß es ihm mit seinem Eingehen auf ihre Bedingungen ernst gewesen, – dann – dann wollte sie, wenn sie keine andere Rettung mehr sah, um Hilfe rufen oder – zum Fenster hinausspringen.
Sie trug noch das bescheidene weiße Brautkleid, das so einfach gearbeitet und doch so teuer gewesen war. Damals, als Heinz sie den Tantchen entführt hatte, als sie mit Hunderten anderen Paaren am selben Tage Kriegstrauung gefeiert hatte, da war ein weißer Rock und eine weißseidene Bluse mehr als genügend gewesen.
Die weißseidene Bluse mit den vielen Druckknöpfen hinten.
Es überlief sie noch jetzt heiß und kalt, wenn sie daran dachte, wie Heinz sie ihr zum ersten Mal geöffnet hatte. So ungeschickt hatte er sich dabei angestellt. Es hatte so lange gedauert.
Und als er dann fortzog ins Feld, da hatte er – die Bluse mitgenommen. –
Nachdem Maria eine Stunde etwa lauschend und trotz all ihrer Bangnis vor Helmbold doch in die Erinnerungen an eine andere, ihre erste Hochzeitsnacht sich versenkend bewegungslos verharrt hatte, hörte sie im Flur schwerere Schritte.
Helmbold.
Nun klappte die Flurtür dröhnend zu.
Stille. – Dann unten das Knacken eines Schlosses. – Die Haustür, – dann dieselben schweren Schritte auf der Straße.
Maria beugte sich zum Fenster hinaustrat. Ein Blick – ein schnelles Zurückziehen des Kopfes.
Es war Helmbold. – Mit seinem schwerfälligen Gang, der ganz den Eindruck machte, als trüge er stets eine Last auf dem Rücken, schritt er der nächsten Straßenbahnhaltestelle zu.
Den ‚Berolina Klub‘ mied er, seit er Hans Kniffke die ‚prinzlichen Andenken‘ besorgt hatte. Heute wollte er seit einer Woche wieder einmal die launische Glücksgöttin auf die Probe stellen. Er verkehrte jetzt im ‚Atlantik Klub‘, wo das Publikum für Charakterstudien allerdings noch geeigneter war, denn Helmbold hatte einen guten Blick dafür, in kurzem festzustellen, wieviel Prozent der Mitglieder wohl schon im Gefängnis oder Zuchthaus gesessen hatten.
Er besaß jetzt nach all den mit der Hochzeit verbundenen gewesenen Ausgaben noch etwa dreitausend Mark. Tausend hatte er zu sich gesteckt. Und ingrimmig lächelnd hatte er gedacht, als er den Brauen in die Tasche schob:
‚Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich heute nicht als junger Ehemann gerade in dieser Nacht Glück hätte – Glück im Spiel – Unglück in der Liebe!‘
Auf Baccarat und Monte sah er heute verächtlich herab. Es lohnte nicht. Nur das Roulette mit den hohen Einsätzen konnte ihm für die versagten Freuden dieser Nacht Ersatz bieten.
Vier Uhr war’s, als er den Klub verließ.
Dem Türhüter schenkte er zwanzig Mark. Was machte das aus bei einem Gewinn, der über das halbe Hunderttausend hinausging.
Die Morgendämmerung füllte die Straßen mit jenem fahlen Licht, das für empfängliche Gemüter etwas Unheimliches an sich hat. –
Helmbold pfiff einen Gassenhauer. Er hatte zuletzt sich noch eine Flasche Sekt geleistet, hatte dem Spiel nur noch zugeschaut und sich über die bleichen, schweißglänzenden Gesichter der Verlierenden gefreut, hatte dabei gedacht: ‚Heiratet nur eine blonde Maria, und Ihr werdet auch gewinnen!‘
Die rund sechsundfünfzigtausend Mark, die die hüpfende Kugel ihm heute eingebracht, hatten seine stille Wut gegen seine Gattin besänftigt.
‚Noch ein solcher Abend – und ich kaufe ihr irgend was recht Schönes,‘ dachte er jetzt und schloß die Haustür auf. ‚Wenn sie dergestalt als Glücksgöttin in mein Heim eingezogen ist, verzichte ich gern auf die Liebesgöttin.‘
In bester Laune schlief er dann ein. Den Wecker hatte er auf neun gestellt. Aber er erwachte von selbst schon früher, war bereits kurz nach acht im Speisezimmer, wo die Aufwartefrau gerade den Kaffeetisch deckte.
Sie schaute ihn mit einem eigentümlich prüfenden Blick an, sagte dann:
„Die Frau Doktor ist auch schon auf!“
Helmbold nickte ihr lächelnd zu. „Das freut mich. Meine Frau ist etwas nervenleidend und bedarf der Schonung. Helfen Sie nur tüchtig mit, Frau Müller. Hier – für diese fünfzig Mark machen Sie sich einen vergnügten Tag.“
Dann klopfte er leise bei Maria an. Auf ihr Herein betrat er mit einem liebenswürdig vertraulichen: „Guten Morgen, verehrteste Frau Helmbold –“ das Zimmer, achtete nicht auf Marias kühl ablehnende Haltung, küßte ihr die Hand und meinte:
„Hoffentlich hast du gut geschlafen. Ich war noch bei einem Bekannten zu einer geschäftlichen Besprechung. Ich will mich an einem neuen Verlagsunternehmen beteiligen.“
Maria war froh, daß er den zwanglosen, kameradschaflichen Ton ihr gegenüber wiedergefunden hatte.
Am Kaffeetisch schlug er ihr einen gemeinsamen Spaziergang vor. Sie lehnte ab. Sie sei zu müde nach der Unruhe der letzten Tage. So mußte er denn allein in den Grunewald hinaus. Dies gehörte zu seinem Tagesprogramm, mindestens zwei Stunden täglich sich Bewegung machen. Sonst wurde er zu stark – trotz der Kriegskost, die jetzt eigentlich als Waffenstillstandskost noch mäßiger war.
Maria aber besuchte nachher wieder in aller Heimlichkeit die – andere Wohnung am Lietzensee.
Als sie das Haus nach einer halben Stunde verließ, begegnete sie dem alten Fröse, dem Portier, der gerade nach der Brotkommission wollte.
Es fiel ihr auf, daß Fröse heute so merkwürdig zerstreut und verlegen war. Sie ahnte nicht, daß der daran schuld war, den sie noch immer nicht zu den Toten rechnen wollte.
An der nächsten Ecke verabschiedete der alte Mann sich hastig.
Da fragte Maria noch schnell:
„Herr Fröse, Ihr Schwiegersohn war doch Kriegsgefangener in England. Haben Sie Nachricht, wie es ihm geht? – Die Gefangenen dürften nun wohl bald sämtlich heimkehren –“
Fröse wußte längst, wie gern Maria gerade über Kriegsgefangene sprach. Sie tat’s – auch das ahnte er, – weil in ihrem Herzen die Hoffnung noch immer keimte, auch Heinz Mörner könne vielleicht – vielleicht zu denen gehören, die plötzlich wiederauftauchten. Und dabei war doch durch einen Augenzeugen festgestellt, daß Mörner gefallen war. Hieran hatte der Alte bisher fest geglaubt – bis heute, bis – der Tote als Lebender ihm die Hand gedrückt hatte.
Und das junge, liebe, freundliche Frauchen, – das hatte nun einen anderen geheiratet. – Dem Alten war’s so weh ums Herz. ‚Was doch das Schicksal so alles anrichtet,‘ dachte er. Und da – da soll man an einen gütigen Gott glauben?! Es war nicht leicht – wirklich nicht –
„Der Otto – oh, dem geht’s gut,“ erwiderte er nun. „Nur die Sehnsucht nach Frau und Kind, – die ist wohl furchtbar schwer zu ertragen –“
Maria nickte gedankenverloren. „Ja, ja – die Sehnsucht.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Da ging mit dem alten Fröse das weiche Herz durch. Er vergaß in diesem Augenblick ganz, daß Maria nun ja Frau Doktor Helmbold hieß, genau so, wie er vergessen hatte, ihr zur Hochzeit vorhin Glück zu wünschen, als sie ihn ansprach.
„Es soll ja wohl eine Sehnsucht geben, die Tote lebendig macht,“ sagte er leise. „Ich hab’ davon mal in einem Buch gelesen – über Spiritismus und so. – Manchmal geschehen Wunder –“
Maria schaute in das faltige, gutmütige Gesicht mit einem angstvoll hoffenden Forschen.
„Glauben Sie an solche Wunder, lieber Herr Fröse?“ fragte sie leise und überstürzt.
Er merkte, wie gefährlich dieses Thema für ihn war.
„Vielleicht – vielleicht. – Ich muß gehen. – Auf Wiedersehen, Frau Mörner. – Alles Gute –“
Frau Mörner! – Maria behielt den Klang dieser Anrede noch lange im Ohr. Und das ‚Vielleicht – vielleicht‘. –
So wanderte sie heim nach der Pestalozzistraße. Ihre Gedanken umspielten die eine Frage: ‚Gibt es solche Wunder? Kann Sehnsucht Tote erwecken?‘
Helmbold war noch nicht zu hause. Aber – die Tantchen saßen in seinem Arbeitszimmer.
Maria ließ sich umarmen, küssen, ließ auch die erstaunten Fragen über sich ergehen, weshalb sie ihren Mann nicht begleitet habe. –
*
Doktor Helmbold hatte keinen rechten Genuß an seinem Spaziergang, trotz des Spielgewinns. Er ärgerte sich geradezu, daß ihm die verdammte Depesche jetzt wieder eingefallen war. Gestern abend und in der Nacht hatte er kaum mehr daran gedacht, hatte sich gesagt, daß sein erster Schreck über dieses merkwürdige Telegramm aus London doch vielleicht übertrieben gewesen wäre.
Nun aber, wo er so allein durch den Kiefernwald dahinschritt, wollten sich diese Gedanken nicht mehr verscheuchen lassen. Die Depesche wirbelte förmlich wie ein teuflischer Spuk in seinem Hirn hin und her, ihre Worte brannten sich ihm in den kritisch prüfenden Geist immer tiefer ein, diese Worte:
‚Werde baldigst Nachricht über Schicksale Heinz Mörners geben. – Thomas Farting‘
Wer war Farting? – Ein Engländer fraglos! – Nachricht über Schicksale. – Das klang ganz so, als wäre dieser Farting dem – dem Toten begegnet. – Ja – er mußte ihn kennen – ganz sicher. Der Vornahme Heinz stand ja in der Depesche. Heinz – das war einem Engländer so wenig geläufig, war so echt deutsch –
Helmbold begriff jetzt plötzlich nicht, daß er bis zu dieser Stunde das Telegramm so sehr als Nebensache behandelt hatte. –
Die Angst beschlich ihn wieder, dieselbe Angst, die ihn gestern an der Hochzeitstafel gepackt hatte. Wenn Mörner wirklich noch lebte, wenn er hier plötzlich wieder erschien, dann – dann würde er mit jener ruhig abwägenden Entschlossenheit, die ihm zu eigen, alles daransetzen, aufzuklären, wie Maria zu dieser zweiten Heirat sich hatte entschließen können.
Helmbold nahm den Hut ab, trocknete den Schweiß von der Stirn. Er fürchtete sich vor Mörner. Und da half auch nicht, daß er sich jetzt vornahm, Franz Kaminke irgendwie – irgendwie mundtot zu machen. Schon einmal hatte er mit diesem Gedanken gespielt. Kaminke war ja der, er ihn in den Händen hatte. Plauderte dieser gemeine Erpresser, so – so winkte dem Doktor Helmbold das Gefängnis: Verleitung zu einer falschen Aussage – zur Urkundenfälschung. –
Dann – neues Entsetzen. Er hatte ja die verdammte Depesche in seiner Fracktasche stecken lassen.
Er machte kehrt – begann zu laufen. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Seine Kleider klebten bald am Körper. Die Menschen schauten ihm verwundert nach. Er kümmerte sich nicht darum.
Auf der Halenseer Brücke fand er ein leeres Auto. Hinein – nach Hause!
Es war ein offener Wagen. Die Zugluft strich trotz des warmen Tages eisig um den Erhitzten herum. Er schlug den Jackenkragen hoch, duckte sich zusammen. Ein Frösteln ging ihm über den Leib. Er fror; atmete ganz tief, um das Blut schneller durch die Adern zu treiben.
Dann die Treppe empor. Sofort ins Schlafzimmer an den Kleiderschrank. – Die Depesche war noch da.
Er verbrannte sie sofort.
Nachher war er Maria und den Tantchen gegenüber wieder ganz der vollendete Kavalier.
Die Tantchen verabschiedeten sich. Dann verlangte der unverschämte Kaminke Zutritt. Helmbold war mit sich schon ins reine gekommen über die Taktik, die für diesem Menschen die einzig richtige war. –
Heute nur hundert Mark – nur nicht zeigen, daß er mehr hätte geben können. Und dann den Burschen nach drei Tagen irgendwohin bestellen, wo es keine Zeugen gab. Er mußte verschwinden – unbedingt – für immer!
Als Kaminke sehr enttäuscht mit den hundert Mark abgezogen war, setzte Helmbold sich mit Maria zu Tisch. Es schmeckte ihm nicht. Er fror noch immer, trank Rotwein, auch hinterher Sekt, ohne Maria zum Mittrinken zu drängen.
Nachmittags waren sie zu den Tantchen eingeladen: Nachfeier! – Und abends um halb zehn fuhr Helmbold in den Klub, nachdem er Maria sehr respektvoll die Hand geküßt hatte.
Das Frostgefühl wollte nicht weichen. Er war so müde; der Kopf schmerzte ihn. Seine Hände waren heiß und trocken. Aber – Maria bewährte sich abermals als Glücksgöttin – besser noch als gestern nacht.
10. Kapitel
Am nächsten Morgen sagte Helmbold zu Maria am Kaffeetisch:
„Ich muß mich erkältet haben. Frau Müller kann mir Aspirin aus der Apotheke holen.“
Maria sah, daß er fieberte. Sein Gesicht glühte. Seine Augen glänzten krankhaft. – Sie riet ihm, zu Bett zu gehen
„Es kann auch Grippe sein,“ meinte sie. – Es war bei ihr die dankbare Teilnahme für den, der von ihr nicht mehr das verlangte, was sie ihm nicht geben konnte.
Helmbold war noch nie krank gewesen. Er mißachtete Marias Warnung, schleppte sich tagsüber matt umher, hielt sich zumeist durch Wein aufrecht. Abends mußte er ja wieder in den Klub. Er mußte! Denn wer konnte wissen, wie lange das Glück anhalten würde. Solche Tage mußte man ausnutzen.
Über dem feinen Klappern der Roulettekugel vergaß er das schwere körperliche Unbehagen. Und – Dame Fortuna blieb ihm treu. Sein unerhörtes Glück fiel auf.
In einer Ecke des großen Spielzimmers tuschelten zwei Herren mit einander. Der Umfang ihrer Hände und manches andere verrieten, daß sie nicht immer Lackstiefel, Monokel und Brillantringe getragen hatten.
„Er wohnt Pestalozzistraße. Ich bin ihm gestern nachgeschlichen, aber – allein ist’s zu riskant. Machst du mit?“
„Natürlich. Aber – wie willst de det Ding drehen? Ich bin für ganze Arbeit! Sicher ist sicher.“ –
Die Nacht war regnerisch, der Himmel dicht bewölkt.
Heinz Mörner hatte heute abend von seinem Fenster aus beobachtet, daß Helmbold mit Maria gegen halb zehn heimgekehrt und dann gleich darauf allein wieder ausgegangen war.
Da hatte er den Platz am Fenster nicht mehr aufgegeben. Er wollte feststellen, wie lange Helmbold ausblieb. – Ein junger Ehemann, der am zweiten Abend nach der Hochzeit seine Frau ohne zwingende Gründe allein läßt, gibt zu denken.
Mörner wartete all die Stunden mit einer Geduld, die beinahe freudig war. Um Mitternacht kam Macdonald nach Hause und betrat des Freundes Zimmer, als dieser ihm zurief: „Ich bin noch auf –“
„Im Dunkeln?“ meinte Macdonald. „Heinz, Heinz – du mußt weg von Berlin –“
Da erklärte ihm Mörner, weshalb er die Straße unten im Auge behalten wollte.
Macdonald verstand sofort. „Du hast ganz recht. Vielleicht kann man dies als günstiges Zeichen deuten,“ sagte er und drückte Mörner die Hand. „Doch – wir können uns diese Sache bequemer machen. Setzen wir uns auf den Balkon vor meinem Zimmer. Ich leiste dir gern Gesellschaft. Wir sitzen da ganz im Trocknen, wenn wir die Markise hinunterlassen.“
Es wurde zwei Uhr. Macdonald war in seinem Korbsessel eingeschlafen. Mörner beugte sich bei jedem Schritt, den er unten auf der Straße hörte, über das Balkongitter. Vor dem Hause stand eine Laterne. Ihr Licht genügte, trotz des Regens die Gestalten zu unterscheiden.
Abermals Schritte. Mörner erkannte den – den Feind, der jetzt langsam die Schlüssel aus der Tasche holte.
Zwei Männer tauchten auf, blieben stehen. Der eine trat auf Helmbold zu, fragte, ob er ein Streichholz bekommen könnte. Der andere hatte die rechte Hand auf dem Rücken. Mörners scharfe Augen bemerkten in dieser Hand das metallische Blinken eines langen Messers oder Dolches.
Sofort ahnte er, was die beiden beabsichtigten. In Berlin erlebte man ja jetzt täglich die frechsten Räuberstückchen. Menschenleben waren billig geworden, galten nichts. Vorläufig war die Polizei machtlos gegen diese Hochflut von Verbrechen, gegen diese notwendige Folgeerscheinung des jahrelangen Völkermordens.
Helmbold hatte mit einem höflichen ‚bitte sehr!‘ geantwortet, griff in die Westentasche. Da trat auch der andere näher – neben den Doktor, – sein rechter Arm beschrieb nach vorwärts einen Kreis; wieder blinkte es in der Luft metallisch.
Da – schleuderte Mörner einen gefüllten Blumentopf dem Banditen auf den tadellos blanken Zylinder, – ein Schrei – der Fall eines Körpers. – Mörner rüttelte den Major.
„Macdonald – Macdonald – schnell – eile hinab, sage, du hättest geworfen. Ich muß aus dem Spiel bleiben –“
Der Major hetzte die Treppe hinunter, schloß die Haustür auf. An der Wand daneben lehnte Helmbold, stierte auf den bewußtlosen Verbrecher herab. Der andere war längst entflohen.
Nun blickte der Doktor Macdonald an.
„Sind Sie verletzt?“ fragte dieser hastig, denn Helmbold sah bleich und leidend aus.
„Nein – nein – ich fühle mich nur sehr schlecht. – Ich nehme an, daß Sie mich auf diese Weise durch den –“ Er schwieg plötzlich. Ein Schwindel packte ihn. Macdonald fing den Schwankenden auf, setzte ihn auf die Haustürstufe, sah drüben einen einzelnen Mann, rief ihn herbei. Es war der Schließer, der nun sofort die Polizei herbeiholen wollte.
Helmbold suchte sich zu erheben. Er taumelte wieder. Das Fieber raste in seinen Adern. Das Blut sang ihm in den Ohren.
„Bitte – helfen Sie – mir – in meine Wohnung hinauf. Ich – ich bin nicht imstande –“ Abermals ein Ohnmachtsanfall.
Macdonald stützte den Doktor.
Da erschien Mörner in der Haustür, fragte leise, ob Helmbold doch verwundet worden sei.
„Nein, Heinz,“ flüsterte der Major. „Aber schwerkrank ist er. Der Puls jagt, ist trotzdem kaum zu fühlen. Läute bei Helmbold an, damit jemand mir hilft – Du brauchst dich ja nicht zu zeigen, sagst nur, was geschehen, und gehst wieder nach oben.“
Mörner zauderte.
„So geh’ doch!“ Macdonald wurde ungeduldig. „Wenn du anklingelst, wird ja doch nur das Mädchen an die Flurtür kommen –“
Mörner eilte hinauf, schaltete erst oben das Nachtlicht ein. Nun stand er vor der Tür – mit dem Messingschild: Dr. Helmbold – vor ihrer Tür.
Er läutete, läutete nochmals – wartete. –
Maria hatte einen leisen Schlaf. Sie erwachte sofort, lauschte.
Das Schrillen der Flurglocke klang so dringend.
Aber – vielleicht – vielleicht war’s nur ein Versuch Helmbolds, sie hinauszulocken aus ihrem Zimmer – hinauszulocken in so leichten Gewändern.
Da – nochmals das mahnende Schrillen.
Sie schlüpfte in den Morgenrock, nahm den kleinen Revolver, entsicherte ihn, schloß die Tür auf, betrat den Flur, schaltete die Lampe ein.
Ein Blick durch das Guckloch. Niemand zu sehen.
„Ist dort jemand?“ fragte sie laut.
„Doktor Helmbold ist geworden krank auf der Straße. Major Macdonald will ihn bringen nach oben.“
Mörner zitterte am ganzen Körper.
Maria – er sprach mit Maria – seiner Maria.
Und hinter der Tür lehnte dieselbe Maria jetzt halb bewußtlos an der Flurgarderobe.
Fröse, der alte Fröse – die Sehnsucht, die Wunder schafft, – denn – so fremd die Stimme des Mannes da draußen auch klingen sollte, für Maria war’s doch die Heinz Mörners.
Sie raffte alle ihre Kraft zusammen.
„Wer – wer sind Sie?“ fragte sie fast schreiend.
Keine Antwort.
Nochmals fragte sie, und – wieder nichts. –
Stille, Totenstille.
Fröse, der alte Fröse – das Wunder! Eine Stimme aus dem Jenseits! Nur so konnte es sein!
Dann auf der Treppe schwere Schritte, Stimmen.
Macdonald und ein Polizeiwachtmeister brachten den Doktor.
Maria öffnete. Macdonald stellte sich vor.
Man legte den Ohnmächtigen auf sein Bett. Macdonald sah, daß dies kein eheliches Schlafgemach war. –
Der Wachtmeister telephonierte nach einem Arzt. Und Maria und der Major waren allein.
Macdonald verstand jetzt, daß man dieses holden Weibes wegen vor Liebesgram sterben könnte – wenn man ein Deutscher war.
Maria dankte Macdonald für die menschenfreundliche Hilfe. Er gab genau auf die Worte acht. Sie hatte gesagt: ‚– daß Sie sich Doktor Helmbolds angenommen haben‘ – nicht – ‚meines Mannes‘!
Dann schaute sie ihn so seltsam forschend an, fragte:
„Wer – wer war der Herr, der vorhin hier anläutete?“
„Ein Landsmann von mir.“ Aber Macdonald wich diesen in stillem Hoffen leuchtenden Augen aus.
„Ein Landsmann – so?! – Weshalb – weshalb verschwand er so schnell?“ Maria war unwillkürlich ganz dicht an den Major herangetreten.
„Er – er war wohl in etwas mangelhafter Toilette. Er wohnt oben bei der Frau Oberst von Weber.“ Macdonald fiel nichts Besseres ein.
Maria merkte, daß ihr Gegenüber nicht die Wahrheit sagte. Sie wollte noch mehr fragen. Da kam jedoch der Wachtmeister ins Zimmer. Macdonald atmete auf und konnte sich dann sehr bald verabschieden, da der Arzt gleich darauf eintraf.
Er stieg langsam, nachdenklich die Treppe empor. Nein – er wollte Mörner vorläufig verschweigen, was er beobachtet hatte – vorläufig, denn es war schwer, hier das Richtige zu erkennen. Er mußte jedenfalls erst ganz klar sehen, wie es um diese Ehe bestellt war.
Mörner saß auf dem Balkon.
„Percy – laß mich bitte allein,“ sagte er leise. „Ich brauche frische Luft, Ruhe. Es war zu viel für mich, diese – diese – ihre Stimme!“
Macdonald ging zu Bett. Aber der Schlaf floh auch sein Lager. Er hörte unten in Helmbolds Wohnung ein Hin und Her von Schritten, eine dauernde Unruhe.
Endlich siegte doch die Müdigkeit.
Um acht Uhr weckte Mörner ihn.
„Percy,“ sagte er ganz verstört, „Percy – soeben hörte ich, wie der Hauswart unten vorm Hause der Köchin der Frau Oberst erzählte, daß – daß Doktor Helmbold um sieben verstorben sei –“
Macdonald fuhr hoch. „Gestorben?“
„Ja, – und die Tanten Marias sind kurz vorher in einem Auto gekommen.“
Macdonald nahm eine Zigarette vom Nachttisch. Das gab ihm Zeit, sich darüber schlüssig zu werden, wie er sich nun verhalten solle.
Mörner ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor dem Bett stehen, sagte:
„Ich reise ab. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Noch ein Tag in ihrer Nähe, und du kannst mich ins Irrenhaus bringen –“
Der Major streckte ihm die Hand hin.
„Gut – miete dich aber in der Nähe ein. Ich mag dich nicht missen, Heinz. Alles weitere überlasse mir.“ –
Doktor Helmbolds Begräbnis war vorüber. Unter denen, die sich auf dem Friedhof eingefunden hatten, war auch Macdonald. Der Geistliche hatte, offenbar doch auf Marias Wunsch, die junge Ehe des Verstorbenen mit keiner Silbe erwähnt. Es war eine so farblose Rede gewesen, wie sie nur gehalten wird, wenn es vieles zu verschleiern gibt.
Maria hatte mit ruhiger Würde die Worte des Beileids der Bekannten und der Verwandten ihres Mannes hingenommen. Wie qualvoll ihr all dies war, ahnte niemand. Wie sehnsüchtig sie den Augenblick herbeiwünschte, wo sie Macdonald nochmals ausfragen würde, ahnte auch dieser nicht.
Er hatte sie seit jener ersten Begegnung nicht mehr gesehen. Gerade als er nun den Friedhof verlassen wollte, trat Maria auf ihn zu. Sie bat ihn, sie bei ihren Tanten, wo sie jetzt wieder wohnte, zu besuchen.
„Lassen Sie mich nicht zu lange warten, Herr Major,“ sagte sie zum Schluß und blickte ihn flehend an. „Nur die Rücksicht auf den, dessen Namen ich nun einmal trug – denn ich werde jetzt wieder den meines ersten Mannes führen, – ließ mich bis zu dieser Stunde voller Ungeduld warten. Sonst hätte ich Sie schon früher gebeten, mir eine kurze Unterredung zu gewähren.“
„Ich werde heute nachmittag mich einfinden – gegen fünf, wenn es Ihnen recht ist,“ erklärte er mit einer tiefen Verbeugung und küßte ihr die Hand. –
*
Die gute Stube Minchens und Trudchens wurde für den ‚englischen‘ Besuch bereitgemacht. Umsonst fragten die Tantchen, was denn der Major mit Maria zu besprechen hätte. Maria blieb stumm. –
Dann saßen die beiden sich in den altmodischen Sesseln gegenüber.
„Herr Major,“ begann Maria, „ich will Sie heute nochmals fragen. Wer war jener Herr, der damals mir durch die Tür hindurch sagte, daß Helmbold unten auf der Straße erkrankt zusammengebrochen wäre? –
Ich habe inzwischen festgestellt, daß dieser Herr nur jener Thomas Farting gewesen sein kann, der plötzlich morgens am Todestage Helmbolds abgereist ist. Wohin, konnte ich nicht herausbringen. Aber – es gibt hier einen alten Mann, der meinen Gatten – und dies war nur Mörner – sehr verehrt. Es ist der Hauswart des Gebäudes, in dem wir wohnten, in dem ich vierzehn kurze Tage glücklich sein durfte. Dieser Mann hatte mir gegenüber seltsame Reden geführt, hatte mir dabei einen ähnlichen Eindruck gemacht wie Sie, als ich dieselben Fragen in jener Nacht an Sie richtete, einen verlegenen, unsicheren Eindruck! –
Ich ging zu ihm und erzählte ihm – hören Sie, Herr Major! – ich erzählte ihm, daß ich die Stimme meines Gatten damals erkannt zu haben glaubte. Und da – da wurde der alte Mann ganz kopflos, wurde so rot, daß ich ihm ins Gesicht sagte: ‚Fröse – lieber Fröse, und wenn Sie Heinz auch noch so feierlich gelobt haben, zu verschweigen, daß er lebt, daß er in Berlin weilt, – Sie müssen mir gegenüber jetzt ehrlich sein!‘ Und was antwortete er? –
‚Ich darf nicht – ich darf nicht!‘ –
Mir genügte das, Herr Major! – Ich sehe auch ganz klar in dieser Sache. Heinz hält mich für treulos. Deshalb will er – tot bleiben –. Hier lesen Sie diesen Brief. Er enthält die Bedingungen, unter denen ich die zweite Ehe schloß. Diese Bedingungen sind – nicht verletzt worden!“
Macdonald las.
„Darf ich den Brief behalten?“ fragte er dann.
Da ging ein Leuchten über Marias Gesicht.
„Ich verstehe. Behalten für den, der sich jetzt Farting nennt. Nicht wahr?“
„Ja – für meinen Freund – Heinz Mörner, den – Zweifler,“ sagte Macdonald leise.
Marias Augen schimmerten feucht. „Erzählen Sie mir – alles – ohne Rücksicht – alles,“ bat sie, und ihre Tränen flossen reichlicher – Tränen des Glücks, Tränen der Sehnsucht. –
Es war sieben Uhr geworden. Da erst verabschiedete Macdonald sich.
„Sie werden mit mir zufrieden sein, Frau Maria,“ sagte er nochmals.
Er ging in Gedanken versunken die verräucherte Straße entlang. Seltsame Menschenschicksale hatte er kennengelernt; eine seltene Liebe.
Da – neben ihm eine Stimme:
„Gut, daß ich dich hier treffe –“
Er stutzte.
„Heinz – bist du’s wirklich?“
„Freilich, Percy, – ich bin’s, und bin’s auch nicht, weder äußerlich noch innerlich. Bart und Brille sind verschwunden – verschwunden auch die letzten Zweifel. – Seit einer Stunde umschleiche ich das alte Haus. Ich fürchte, das Glück kann Maria töten – könnte ihr schaden –“
„Aber – wie ist –“
„Wie – wie?! – Nun, ich hielt die Ungewißheit nicht länger aus, kam heute morgen von Wannsee nach der Stadt, ging zu der Frau, die bei Helmbold die Aufwartung besorgt hatte – ihre Adresse gab mir der Hauswart in der Pestalozzistraße, – forschte sie aus, erfuhr, daß Maria ein eigenes Zimmer auch nachts benutzt hatte, redete der Frau weiter gut zu, hörte dann von ihr, daß das Paar nie auch im geringsten zärtlich zueinander gewesen und daß der Doktor selbst die Hochzeitsnacht außer Haus verbracht hätte. –
Und da – da ließ ich mir den Bart abnehmen, warf die Brille weg und –“
Macdonald hatte den Brief aus der Tasche gezogen.
„Lies,“ fiel er Mörner ins Wort.
Mörner blieb stehen, las – las. Dann sagte er, und alle Leidenschaften waren mit einem Male wie weggewischt aus seinem Antlitz:
„Dieser Brief wäre nicht mehr nötig gewesen, um mich zu überzeugen. – Ich habe dir etwas verschwiegen, Percy. Ich hatte Schulden, als ich ins Feld ging, – eine ganze Menge. Maria hat sie nach und nach bezahlt – sämtlich, obwohl sie’s nicht nötig gehabt hätte. Aber – so ist sie nun einmal. Ihr wird der Gedanke unerträglich gewesen sein, mein Tod könnte die Leute um ihr Geld gebracht haben. Ich war bei den Lieferanten. Und – denk’ dir – bei zweien erfuhr ich, daß Helmbold ihnen nahegelegt hatte, sie sollten nur ihre Restrechnungen Maria einreichen, dann würde sie eher bereit sein, eine neue Ehe einzugehen, und die Lieferanten kämen so ganz sicher zu ihrem Gelde.“
„Pfui Teufel,“ meinte Macdonald.
„Ja – es war ein Scheusal in der glatten Hülle eines sogenannten vornehmen Weltmannes. Der alte Fröse hat mir erzählt, wie schlecht es Maria gegangen ist, wie sie gedarbt hat – meinetwegen – um unser Heim behalten zu können! Und all das hat dieser Elende sich zu nutze gemacht, der es im Grunde doch nur auf das Vermächtnis abgesehen hatte, von dem Kaminke mir so getreulich berichtet hat. –
Nein, Percy dieses Briefes hätte es nicht mehr bedurft. Trotzdem – es ist gut, daß ich ihn gelesen habe! Liebe zu mir spricht doch aus diesen Bedingungen! Es ist eine Liebe, wie sie sonst nur Dichter erfinden. – Percy – Maria wieder mein! Ich kann dieses Glück kaum begreifen –“
Macdonald drückte Mörners Hand. „Ich gönne dir dieses Glück. Du verdienst es. – Mir ist da etwas eingefallen. Ob wohl der Hauswart Fröse den Schlüssel zu deiner Wohnung hat?“
„Ja – genau so wie Maria.“
„Gut. – Wir wollen uns dort nach einer halben Stunde treffen. – Geh’ nur voraus. Dort können wir beraten, was nun weiter zu geschehen hat. Ich habe meine Brieftasche bei den Tanten liegen lassen. Ich hatte Maria einen Beileidsbesuch gemacht. –
Also in einer halben Stunde – auf Wiedersehen!“
Mörner zögerte noch. Irgend etwas kam ihm bei dieser Verabredung nicht ganz geheuer vor.
Aber Macdonald eilte schon davon. Und so nahm er denn ein Auto und fuhr nach dem Lietzensee.
Der alte Fröse hatte ihn kaum erblickt, als er auch schon rief:
„Gott sei Dank – das ist ja wieder der frühere Herr Mörner, nur etwas magerer.“ –
*
Macdonald erklärte Maria, er halte es für angebracht, das alte Heim noch heute etwas instand zu setzen. Es wäre ja möglich – und er lächelte ein wenig dabei, – daß Heinz es schon morgen früh wieder beziehen wolle. Deshalb sei er auch sofort umgekehrt, als er an diese Möglichkeit gedacht habe.
„Ich helfe Ihnen gern,“ fügte er hinzu. „Ich denke, wir brechen sofort auf.“
Maria war im Nu zum Ausgehen fertig.
Eine Taxameterdroschke brachte sie vor das Haus.
„Bitte gehen Sie nur voraus,“ meinte Macdonald. „Ich muß erst Geld wechseln, um den Kutscher zu bezahlen.“
Maria eilte über den Hof, hinein ins Gartenhaus – die Treppe hinauf.
Sie öffnete die Flurtür mit ihrem Schlüssel, drückte sie hinter sich ins Schloß.
Da – aus dem offenstehenden Schlafzimmer eine Stimme:
„Fröse, sind Sie’s? – Oder du, Percy?“
Maria überkam ein Schwindel. Doch das ging schnell vorüber. Nur ihr Herz jagte, als wolle es ihr die Brust sprengen.
Nun hatte sie die Kraft, vorwärts zu huschen – auf Fußspitzen.
Heinz Mörner stand vor dem Kleiderschrank und – hatte den Hut in der Hand, den Maria damals getragen, als sie sich in der Untergrundbahn zum ersten Male sahen.
Jetzt drehte er sich langsam um. Eine Diele hatte geknarrt. Jetzt – kein Schrei – nichts, – nur ein Vorstürmen, und dann zwei Menschen, die sich fest umschlungen hielten und deren Tränen sich vereinten, – Tränen, die alles Herzeleid der letzten Jahre wegspülten. –
Macdonald fuhr mit derselben Droschke gleich zu den Tantchen zurück. Die riefen in einem Atem: „Wo ist Maria?“
„Ich wollte nur melden, meine Damen, daß sie noch daheim in ihrer Wohnung ist und daß sie wahrscheinlich auch die Nacht dort bleiben wird.“
Minchen und Trudchen, denen Maria inzwischen ja bereits in der Seligkeit ihres Herzens ziemlich verworren alles mitgeteilt hatte, schauten einander vielsagend an. So harmlos waren sie doch nicht, um nicht zu ahnen, daß Heinz Mörner, der von den Toten Auferstandene, hier irgendwie mitbeteiligt war.
Minchen fragte daher auch sofort:
„Allein in der Wohnung? – Allein?!“
Macdonald lächelte spitzbübisch. „Ja – allein – zu zweien!“
Da falteten Minchen und Trudchen wie auf Kommando die Hände im Schoß, und Trudchen erklärte leise:
„Gut, daß sie sich so schnell wieder gefunden haben. Wir werden Heinz nun ganz in unsere alten Herzen schließen. Er ist eine Seele von Mensch. Der Andere – doch schweigen wir darüber! Nie mehr wird sein Name über unsere Lippen kommen!“ –
*
Zwei Monate später. –
Franz Kaminke, der Nachfolger des alten Fröse in der Hauswartsstelle, die dieser als ihm nun doch zu beschwerlich aufgegeben hatte, säuberte den Hof mit Spritze und Besen. Das nervöse Zittern war durch ehrliche Arbeit abgelöst worden.
Mörners kamen von einem Spaziergang heim, blieben bei Kaminke stehen und sprachen über den schönen Tag heute.
Da fragte Kaminke, nachdem er zuerst nicht recht gewußt hatte, wie er die große Neuigkeit seinen Gönnern beibringen sollte:
„Nu werdn wir auch bald ne Portierfrau kriegen, Herr Mörner. – Hm, ja, – wie denken Sie darüber, wenn ‘n Mädchen, das schon so allerhand Dummheiten hinter sich hat, so langsam von einem, der auch mal nischt besser war wie sie, von det Luderleben losjeeist is, und wenn sie nu diesen Jemand lieb hat, würden Sie sie dann heiraten?“
„Ich? – Lieber Grapsch, ich bin so gut versorgt, daß ich eine zweite Frau nicht brauchen kann. Aber der Jemand, der soll sie nur ruhig nehmen. – Wer ist’s denn, alter Russen-Kamerad?“
„Na – die Steffie – Sie wissen doch –“
„Ah! – Das ist mal ‘ne Überraschung! Wir gratulieren herzlich –“
Als Mörners im Gartenhause verschwanden, schaute Franz Kaminke ihnen nach und dachte:
‚Erst hat er mir’s Luderleben abjewöhnt, und ik bin durch ihn ‘n anständiger Kerl jeworden, und nu wird die Steffie durch mich ‘ne brave Frau werden, – und allens – weil er – wiederkam –‘
Fußnoten:
1Kreton: franz. Cretonne, Baumwollgewebe in Leinwandbindung
2 Paul von Heyse; 1830 - 1914, bekannter Autor speziell von Novellen, seit 1910 von Heyse
3 Tuberose = Agavengewächs mit stark duftenden weißen Blüten
4 Merw (ab 1937 Mary); russische Gebietshauptstadt in Turkmenistan in der Wüste Kara-kum
5 Fluß zwischen Afghanistan und dem russischen Reich