Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 369
Roman von
W. Kabel.
Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Berlin.
„Kommerzienrat Franz Wümpler und Frau geben sich die Ehre, – Herrn Geheimrat Hergelsberg nebst Gemahlin und Fräulein Tochter zu dem am 4. Februar d. J. in den Räumen ihrer Villa stattfindenden Maskenball ergebenst einzuladen.
Beginn: 8 ½ Uhr. – Idee: ein Fest im Orient. Berlin-Grunewald, Delbrückstr. 14; den 20. 1. 1899.“
Der Geheime Kommerzienrat Hergelsberg legte die Einladung achselzuckend beiseite. „Das hat natürlich wieder die Thussi, dieses genußhungrige Ding, ausgeheckt,“ meinte er in seinem strengsten Ton und trank dann ärgerlich sein Weinglas leer. „Ich möchte am liebsten abschreiben. Für derartigen Unfug bin ich nicht zu haben,“ fügte er hinzu. „Maskenball! Ich kenne das! Ödester Stumpfsinn ist’s für vernünftige Menschen!“ Über den Rand des goldenen Kneifers wanderte sein Blick dann zu seinem einzigen Kinde hinüber, wurde weicher, fast zärtlich. Er liebte seine Hilde auf seine Art. Er sah ihr verzogenes Schmollmäulchen und erklärte nun milder: „Anderseits möchte ich Hilde diesen ihren ersten Maskenball gern gönnen. – Du brennst natürlich darauf, Kleines, – wie? Na gut – ich werde also zusagen –“
Hilde sprang auf, lief um den großen Eßtisch herum und gab dem Pa einen Kuß auf die Sirn, den er sich gern gefallen ließ. Er fühlte ja nur zu gut und nur zu oft, daß Hilde vor ihm eine gewisse Scheu hatte, genau so wie alle anderen Menschen, selbst seine Frau. Und gerade Hilde sollte ganz sein Kind sein, sollte ihm vollstes Vertrauen und restlose Offenheit entgegenbrigen. Er war ja im Grunde nicht wenig stolz auf sein hübsches, gertenschlankes Mädel, die mit ihrem blonden Madonnenscheitel und den ruhigen, abgerundeten Bewegungen, den dunklen Glutaugen und dem verträumten, sinnenden Zug um den kleinen Mund einen ganz besonderen Typ von Weib darstellte.
Hilde hatte sich wieder gesetzt. Dann meinte die Geheimrätin, eine etwas rundliche, mittelgroße Frau mit leicht schwammigen Gesichtslinien nach einem Seufzer, der im voraus der Unruhe galt, die die Vorbereitungen zu dem Maskenball notwendig zur Folge haben mußten:
„Wenn wir wirklich ein Vergnügen von dem Fest haben wollen, dürfen auch wir drei uns unsere Maskenkostüme nicht vorher verraten.“ Es war dies ein Versuch, die Garderobenfrage ganz auf Hilde abzuwälzen.
Der Geheimrat nickte. „Sehr richtig! Jeder für sich. Bei der Demaskierung ist die Überraschung dann desto größer. Jeder fährt auch allein zu Wümplers.“ Und er dachte dabei: ‚Ich werde mir die Sache schon leicht machen. Eine Mönchskutte, darunter Frack, genügt.‘
Hilde lachte heiter. „Vielleicht schneidest du dann gar deiner eigenen Tochter die Cour, Papa. – Oh – ich werde schon dafür sorgen, daß ihr mich nicht erkennt.“
Damit war die Maskenballfrage zunächst erledigt. Der Geldpunkt für Hildes Kostüm spielte bei Hergelsbergs ja keine Rolle. –
Thusnelda Wümpler war Hildes Intimste. Nicht, weil die beiden Mädchen in ihren Neigungen und Anschauungen viel Berührungspunkte hatten. Ihre Freundschaft beruhte lediglich auf Gewohnheit. Sie hatten dieselbe Schule, dann dasselbe Pensionat in Thüringen besucht und bildeten sich nun ein, ohne einander nicht mehr auszukommen. Dabei waren sie grundverschiedene Naturen. Hilde hatte sich in der etwas frostigen Luft ihres Elternhauses eine gewisse berechnende Vorsicht in Wort und Miene angewöhnt, verstand ihr Temperament in allem zu zügeln und gab sich ganz als Dame von Welt. Die dunkelhaarige Thussi redete stets frisch darauf los, wußte nichts von kluger Selbstbeherrschung und suchte ihre Jugend nach Kräften auszukosten.
Auch Hilde und Thussi hatten ihre Maskenkostüme einander verschwiegen. Als daher der besagte Abend gekommen war und den Festsaal der Wümplerschen Grunewaldvilla eine schlanke indische Bajadere betrat, war diese ganz sicher, daß niemand in ihr die blondhaarige Hilde vermuten konnte, zumal sie ihr echtes Haar unter einer gutsitzenden schwarzen Perücke verborgen hatte.
Es gehörten schon die Wümplerschen Millionen dazu, ein Fest in so großartigem Stil auszurichten. Die acht Erdgeschoßräume der Villa waren auf geschmackvollste Art in ein kleines Feenreich von grünen Lauben, phantastischen Zelten und prunkvollen Orientgemächern umgewandelt worden. Im Speisesaal wurde getanzt. Hier spielte eine Zigeunerkapelle. In einem Sektzelt wieder konzertierten drei junge Künstler, die bereits eingesehen hatten, daß ihr Talent nicht ausreichte, es einmal zur Berühmtheit zu bringen, und die verständig genug waren, den schmelzenden Ton ihrer Geigen gegen gute Bezahlung reichen Leuten zur Verfügung zu stellen.
Hilde fand vieles an dem Maskentreiben albern und von erzwungener Lustigkeit. Sie fühlte sich wie unter Fremden inmitten dieser hundert durch Seidenlarven verhüllten Gesichter.
Bereits gegen zehn Uhr flüchtete sie in das große Sektzelt, in dem durch Efeukästen trauliche Nischen hergestellt waren. Sie betrat es zum ersten Mal. Und ein leichter Schreck durchzuckte sie, als sie nun in einem der drei Musiker jenen Tasso Algler erkannte, der noch im vorigen Winter im Scharwenka Saal ein Konzert gegeben hatte, das jedoch sehr mäßig in den Zeitungen kritisiert worden war.
Und nun stand Tasso Algler dort auf dem Podium und war nichts als Kapellmeister einer kleinen Salonkapelle. Aber – auch als solcher sah er gut aus und verstand es, mehr den ernsthaften Künstler hervorzuheben.
Hilde nahm in der kleinen Nische dicht neben dem Podium Platz. Ein Diener brachte ihr ein Glas Sekt. Zigaretten und Kaviarbrötchen standen auf jedem der Tischchen. – Hilde lehnte sich bequem in ihrem Korbstuhl zurück und lauschte den Klängen der kleinen Kapelle, die gerade einen neuesten Walzer spielte. Hilde tat noch mehr. Sie beobachtete Tasso Algler. Und sie dachte: ‚Schade um ihn! Wie schwer muß es ihm werden, hier als Lohnsklave seine Kunst preiszugeben –‘
Der Walzer war zu Ende. Algler legte die Geige weg und stieg vom Podium herab in Hildes Nische.
„Du gestattest, schöne Bajadere,“ meinte er mit zwangloser Sicherheit. „Du brauchst nicht zu fliehen. Ich bin kein Bierfiedler. Ich nenne mich Künstler. Und ich würde geduldig warten, bis die Berliner Presse mich gleichfalls als solchen anerkennt, wenn ich nebenbei auch Hungerkünstler wäre –“
Er setzte sich in den anderen Korbsessel neben sie.
„Schöne Maske,“ fuhr er fort und langte nach einer Zigarette, „ich muß fast annehmen, daß dein Sinn sich für Vergnügungen dieser Art nicht eignet. Sonst hättest du dich nicht in diesen verborgenen Winkel geflüchtet. – Du erlaubst, daß ich rauche.“ Er blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft. Dann plauderte er weiter, von diesem und jenem, stets mit eleganter Leichtigkeit und feiner Ironie.
Hilde fühlte sich hier bald freier. Sie ließ von dem Diener, der einen türkischen Anzug trug, eine Flasche Schaumwein und noch ein Glas bringen. Sie merkte, daß Tasso Algler wenn nicht als Musiker, so doch als Mensch eine gewisse Eigenart und dazu bestechende Umgangsformen besaß. Er hatte nichts vom Bohemien an sich. Er erzählte ihr, daß sein Vater Amtsgerichtsrat sei, daß er erst Medizin studiert habe und dann gegen den Willen der Seinen das Präpariermesser mit dem Geigenbogen vertauscht habe.
Nach den ersten Gläsern Sekt wurden beide noch offenherziger zueinander. Die Efeuwand war dicht. Als dann Alglers Freunde und Kollegen vom Podium für einige Zeit verschwanden, wurde Tasso kühn, nahm Hildes Hand in die seine und bat, sie solle wenigstens für einen Moment die Maske lüften. Sie weigerte sich. Der Wein hatte jedoch schon so weit bei ihr gewirkt, daß sie ihm ihre Hand überließ.
Eine Stunde drauf war sie wie verwandelt; kannte sich selbst nicht mehr; wollte von diesem Fest wenigstens die Erinnerung an ein besonderes Abenteuer mit nach Hause nehmen. Und gewährte dem stürmisch flehenden Algler keck ein Stelldichein oben im ersten Stock im Korridor, beschrieb ihm mit girrendem Lachen den Weg dorthin, verließ das Zelt, eilte auf Umwegen nach oben und öffnete die Tür zu Thussis kleinem Salon, der nach dem Park hinauslag, schaltete hier nur die Stehlampe auf dem Damenschreibtisch ein und legte sich in malerischer Stellung auf den Diwan, über dem sich ein Baldachin befand und der mit einem überaus kostbaren, golddurchwirkten, echt indischen Stoff bedeckt war. Im Lichte der Stehlampe mit dem gelben Seidenschirm schimmerte der ganze Diwan wie pures Gold. –
Die Tür hatte sie nur angelehnt. Sie war müde. Dabei brannte ihr Gesicht; ihre Pulse flogen; Alglers werbende Worte hatten in ihrem Herzen ein Feuer angefacht, das nur zu leicht in dieser abenteuerlichen Sektstimmung Unheil anrichten konnte. –
Der junge Künstler sah den Lichtschein durch die handbreit offene Tür in den Flur fallen; lugte ins Zimmer, erkannte die schlanke Bajadere, trat schnell ein und verriegelte sofort die Tür hinter sich.
Tasso Algler kannte Frauen und Mädchen zur Genüge. Er hatte fast zu viel Glück bei Weibern. Selten daß ihm eine widerstand.
Er kniete vor Hilde nieder. Seine Lippen stammelten Worte ungezügelter Leidenschaft; seine Arme umschlangen die halb Liegende, rissen sie hoch – an seine Brust. –
Hilde Hergelsberg ward sein Opfer. Als er sie nach einer halben Stunde wieder verließ, als ihr klar wurde, was geschehen, vergrub sie aufschluchzend ihr Gesicht in die weichen Kissen des Diwans.
So fand Thussi sie. Deren Fragen brachten die Ärmste zur Besinnung. Sie nahm sich zusammen. Sie heuchelte Migräne, ließ sich ein Pulver reichen, kehrte in die Festräume zurück, suchte sich zu betäuben, tanzte bis zur Erschöpfung.
*
Drei Monate später saß Frau Klara Hergelsberg mit vor Entsetzen starrem Gesicht ihrem einzigen Kinde gegenüber. –
In Hildes Mädchenzimmer war’s dunkel. Nur im Dunkeln hatte sie endlich zu beichten gewagt.
Frau Klara begann wimmernd zu weinen.
„Der – der Elende! Also verheiratet ist er noch zu alldem! Der Vater verstößt dich, wenn er’s erfährt. Ich – ich gehe ins Wasser. Die Schande überlebe ich nicht –“ Sie wußte kaum, was sie sprach.
Hilde blieb ohne Tränen. Sie konnte nicht mehr weinen nach all den Nächten, in denen ihr Kopfkissen große, feuchte Flecken gehabt von dem salzigen Naß ihrer Augen.
Und Hilde hatte jetzt den Mut, den Plan ihrer Mutter stockend zu unterbreiten, der langsam in ihr ausgereift war.
„Ich sehe elend genug aus. Der Sanitätsrat muß mich nach Ägypten schicken. Du begleitest mich. Dort werden wir irgendwo ganz im Verborgenen leben. Der Papa ist ja von seinen Geschäften so in Anspruch genommen, daß er uns kaum vermissen wird. Mit Geld läßt sich Schweigen erkaufen. Mama – niemand wird etwas erfahren, niemand –“
Frau Klara atmete auf, beruhigte sich. Sie war eine so bequeme, unselbständige Natur. –
Der Sanitätsrat fand auf Frau Klaras Wunsch eine leichte Lungenaffektion heraus. Die Wahrheit ahnte er nicht im entferntesten. Hilde Hergelsberg galt ja überall für so kühl und so berechnend. –
Der Geheimrat drängte dann selbst zu schleunigster Abreise. Er fürchtete bereits das Schlimmste für seinen blassen Liebling. –
Hilde machte bei Wümplers an einem prachtvollen Maitage zusammen mit ihrer Mutter den pflichtschuldigen Abschiedsbesuch. Die beiden jungen Mädchen und Freundinnen zogen sich bald zurück, gingen nach oben in den Salon mit dem goldenen Diwan. Die Sonne erfüllte das elegante Gemach mit blendender Lichtflut. Der goldene Diwan leuchtete förmlich. – Thussi war so stolz auf die echt indische Decke.
Hilde hatte zögernd auf dem Diwan Platz genommen. Sie haßte ihn. Sie maß ihm alle Schuld an diesem Unheil bei. Und doch mußte sie jetzt wieder mit so seltsamen Empfindungen an jene unselige halbe Stunde zurückdenken. Sie mußte Tasso Algler hassen – eigentlich hassen, wie sie den goldenen Diwan haßte. Und doch – sie konnte es nicht. Konnte es nicht, obwohl dieser leichtsinnige Verführer ein verheirateter Mann gewesen, was er ihr verschwiegen und erst nachher eingestanden hatte, als sie ihm in ihrer Herzensangst auf der Straße auflauerte. –
Thussi Wümpler kam jetzt auf den Maskenball zu sprechen.
„Hilla – du hast damals zu viel getanzt. Nur davon kannst du den leichten Lungenknacks haben,“ meinte sie. „Nun – Ägypten wird alles schon wieder einrenken. Vielleicht besuche ich dich dort. Wenn ich Papa sehr bitte, dann –“ Sie unterbrach sich. „Ja – was hast du denn?! Du starrst mich ja so entgeistert an?! Ist es dir nicht recht, daß ich –“
„Gewiß – gewiß! Nur – nur, – sieh mal, vielleicht habe ich – Tuberkeln. Dann kannst du dich anstecken,“ stammelte Hilde verwirrt.
Thussi wurde ein wenig argwöhnisch, nahm nun der Freundin Hände in die ihrigen und schaute ihr fest in die Augen.
„Du, Hilla, – damals – damals begegnete ich am Fuße der Treppe dem Algler. Hast du etwa mit ihm – so einen kleinen Flirt gehabt?“
Hilde sprang auf – blutrot.
„Flirt?! – Ich?! Ich?! Mit – mit Algler!“ Der hochmütige Ton gelang ihr noch nicht ganz. „Rede nicht solchen Unsinn –“ Sie trat schnell an das Fenster. –
*
Frau Klara und Hilde hatten in Genua den Lloyddampfer ‚Dresden‘ bestiegen. Bis Genua waren sie mit der Eisenbahn gereist. Gleich bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit an Bord fand Hilde, deren eigenartiger Liebreiz durch ihre Blässe noch gehoben wurde, in dem deutschen Konsulatssekretär Doktor Riebling aus Kairo einen glühenden Verehrer.
Riebling war das Gegenstück zu Tasso Algler. Eine Draufgängernatur, ein Kraftmensch, der mit leuchtenden Augen von seinen einsamen Wüstenritten, von Schießereien mit räuberischen Beduinen und aufregenden Jagden erzählte, ohne daß er je den Eindruck machte, irgendwie sich herausstreichen zu wollen. Er war groß, schlank, sehnig, hatte ein brutales Kinn und harte graue Augen.
Am selben Tage abends wurde im großen Salon des Dampfers getanzt. Riebling ließ Hilde kaum aus den Armen, kaum zu Atem kommen. Man trank reichlich Sekt.
Und gegen elf Uhr führte er sie an Deck in einen verborgenen Winkel.
Hilde fühlte die Stärke des Mannes neben sich, fühlte wie einen Strom betäubender Gewalten das Begehren von ihm zu ihr hinüberfluten.
Sie erschrak. Sie hatte bisher seit jenem unseligen Maskenball sich selbst und ihre feinsten Empfindungen nicht genau genug beobachtet, um bereits zu wissen, daß ihr Unvermögen, Algler mit Gedanken des Hasses zu verfolgen, lediglich ihrem nunmehr geweckten Weibestum zuzuschreiben war.
Sie erschrak. Und in demselben Moment wurde ihr klar, daß der goldene Diwan ihr noch in einer anderen Beziehung verhängnisvoll geworden.
Arthur Riebling sprach jetzt von den weiblichen Bewohnern des Niltales, den Fellachinnen, den üppigen Mädchen mit den melancholischen Gazellenaugen. Er sprach sehr frei. Und plötzlich drängte er sich ganz nahe an Hilde heran, flüsterte:
„Aber die deutschen Frauen sind doch die begehrenswertesten, – die blonden, die so kühl tun und – nachher so heiß sind.“
Dann umfaßte er sie, küßte sie, – gab ihre Lippen nicht frei, preßte sie an sich, daß ihr bald die Sinne schwanden.
Und zehn Minuten später hatte er Hildes Kabinenschlüssel in der Tasche.
In Kairo mieteten Mutter und Tochter eine kleine Villa weit draußen an den Abhängen des Dschebel Mokattam unweit der Zitadelle. Als Bedienung hielten sie sich eine junge Eingeborene, die leidlich englisch sprach.
Eine Woche nach dem Einzug in die Villa Chatschal – so hieß der Eigentümer – lernten die beiden Damen auf einem Ausfluge nach den Pyramiden von Sakkara einen Landsmann, den Regierungsassessor von Maubrach kennen, der zwei Monate Urlaub genommen hatte und auch noch Ceylon und Indien besuchen wollte.
Maubrach blieb in Kairo. Nur Hildes wegen. Er hatte sich ganz ernsthaft in sie verliebt. Er war einer jener Aristokraten, die sich durch den Adel verpflichtet fühlen, selbst bei den kleinsten Kleinigkeiten Ehrenmann – bis zur Pedanterie – zu bleiben.
Nach drei Wochen hielt der Regierungsassessor bei der Geheimrätin, ohne vorher mit Hilde gesprochen zu haben, in aller Form um die Hand der Geliebten an.
Die Geheimrätin hatte dies wohl vorausgesehen, sich bisher jedoch nicht weiter Gedanken darüber gemacht, wie sie Maubrachs Werbung ablehnen sollte. Jetzt geriet sie, obwohl sie sonst gesellschaftlich durchaus sicher war, in eine so auffällige Verwirrung, daß der Assessor glaubte, Hilde sei bereits heimlich verlobt.
Zum Glück ahnte Hilde, weshalb Maubrach die Mutter allein sprechen zu dürfen gebeten hatte. Sie ahnte auch, daß Frau Klara dieser Situation nicht gewachsen sei, betrat harmlos das Zimmer und begann eine gleichgültige Unterhaltung.
Die Geheimrätin wieder benutzte jetzt die erste Gelegenheit und ließ die beiden unter einem Vorwand allein, worauf der Assessor sehr feierlich Hildes Rechte in die seine nahm und mit knappen, klaren Sätzen von seiner Liebe sprach und seiner Hoffnung, sie würde recht bald als seine angebetete Braut mit ihm nach Deutschland zurückkehren.
Hilde erwiderte ebenso feierlich, sie bedauere, ihm jetzt noch keine endgültige Antwort geben zu können.
„Ich bin krank, wie Sie wissen, Herr von Maubrach. Erst wenn die Ärzte mich für völlig genesen erklären, könnte ich daran denken, einen so schwerwiegenden Schritt wie diesen zu tun. Gedulden Sie sich bitte. Ich betone: ich lehne Ihre Werbung nicht ab. Ich achte Sie als untadeligen Ehrenmann. Meine sonstigen Gefühle für Sie werde ich zu prüfen Zeit haben.“
Hilde log nicht. Sie hatte Maubrach wirklich achten gelernt. Seine strenge Ehrauffassung imponierte ihr. Und – er war eine Partie, wie sie kaum besser sein konnte: adlig, reich, aristokratische Erscheinung, vornehme Denkungsart, bis zu einem gewissen Grade auch noch unberührt. –
Maubrach küßte ihr die Hand, dankte ihr, bat ihr recht häufig schreiben zu dürfen und reiste drei Tage später nach Suez und weiter nach Kolombo, schickte täglich genau eine Ansichtskarte und einen Brief, dessen Anrede abwechselnd lautete: ‚Hochverehrtes Fräulein Hildegard‘ und ‚Mein verehrtes Fräulein Hilde!‘
Der Geheimrat Hergelsberg erhielt andauernd günstige Berichte über Hildes Befinden. Seine Gattin schrieb ihm dann nach Ablauf von drei Monaten, der Professor in Kairo rate dringend, den Aufenthalt noch zu verlängern, damit jeder Rückfall ausgeschlossen sei.
So vergingen dann schließlich über sieben Monate, bevor Hilde ihrem Pa auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin frisch und blühend um den Hals fiel.
„Donnerwetter, Mädel, hast du dich herausgemacht!“ meinte der Geheimrat überglücklich. „Daß du gesund bist, sieht man – Gott sei Dank sieht man’s!“
Und er küßte sie auf die weichen Lippen, behielt dann im Auto ihre Hand in der seinen, bis man daheim in der Rankestraße in dem alten, schönen Heim angelangt war, das einst einem Prinzen gehört hatte.
*
Zwei Tage später war Christabend. Um sechs Uhr sollte bei Hergelsberg Bescherung sein. Um vier Uhr ging Hilde noch allein aus. Es hatte geschneit. Aber die vier Grad Wärme hatten den Schnee auf den Straßen schnell in Nässe und Schmutz verwandelt.
Sie wanderte nach dem Potsdamer Platz, nach den Weihnachtsbuden. Sie suchte Kinder mit löchrigen Kitteln und hungrigen Augen, an Entsagung gewöhnt.
Sie fand übergenug. Und sie kaufte – kaufte, beglückte viele kleine Herzen, schuf leuchtende Augen. Sie tat’s, weil ihre Gedanken heute in der Ferne weilten – am Nilstrande – in Kairo.
Christabend – Christi Geburt.
Oh – sie wußte jetzt, was es bedeutete, ein kleines zappelndes Etwas sanft an die Brust zu drücken.
Und weil sie auf dieses Glück so schnell wieder hatte verzichten müssen, weil sie aber den Wunsch so innig verspürte, wenigstens andere zu beglücken, kaufte sie alles, was die Kinder der Ärmsten nur begehrten.
Als sie dann heimging, fühlte sie sich freier. Denn mit Hilde Hergelsberg war in dem Augenblick, als sie sich für immer von ihrem Püppchen trennte, eine große Wandlung vor sich gegangen. –
Am Tage vor Neujahr erschien Gisbert von Maubrach bei Geheimrats. Frau Klara empfing ihn, schickte ihm dann Hilde in den Salon.
Er stutzte, als er sie sah.
„Sind Sie schön geworden,“ entfuhr es ihm. Er bekam drob einen roten Kopf.
Hilde war freundlich, war ganz Dame. Als er seine Werbung wiederholte, antwortete sie ihm folgendes in einer so ruhig abgeklärten Art, daß er ganz verwirrt wurde:
„Wenn Sie sich mit der Versicherung begnügen, daß ich Ihnen stets eine treue Lebensgefährtin sein werde, und wenn Sie mir versprechen, mir nie Vorwürfe über Dinge zu machen, die vor unserer Bekanntschaft an mein Herz gerührt haben, will ich gern die Ihrige werden.“
Sie schaute ihn dabei offen an. Und er war es, der ihrem Blick auswich und stammelte: „Hilde, Sie machen mich unendlich glücklich durch Ihre Worte –“
Er zog ihre Hand an seine Lippen. Den ersten Kuß tauschten sie erst in Gegenwart der Eltern. –
Thussi Wümplers Vater war ein Duzfreund des Geheimrats. Daher teilte ihm Hergelsberg die Verlobung noch an demselben Nachmittag telephonisch mit.
Der Kommerzienrat Wümpler machte dazu ein sehr langes Gesicht, obwohl er wortreich gratulierte.
„Thussi wird aus allen Himmeln stürzen,“ dachte er und streichelte nachdenklich seinen Spitzbart. „Der Maubrach hat ihr ja nie den Hof gemacht, eher sie ihm in diesen letzten drei Monaten, seit er im Ministerium arbeitet. Aber – sie bildet sich eben ein, er sei nur so schüchtern. – Eine fatale Geschichte!“
Er sprach mit seiner Frau darüber. Die meinte, Thussi würde sich schnell trösten.
So schien es auch. Schon am nächsten Vormittag kam Thussi zu Hilde. Alles war eitel Freundlichkeit und Herzlichkeit. –
Ende März fand die Hochzeit statt. Bei der Trauung in der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche trug Maubrach die Uniform der 1. Gardedragoner, bei denen er Reserveoffizier war. Um neun Uhr abends reiste das junge Paar nach Dresden. Zwei Zimmer waren in einem Hotel vorausbestellt.
Gisbert von Maubrach war viel zu sehr Kavalier, war auch viel zu unerfahren in solchen Dingen, um sich seiner blendend schönen Gattin aufzudrängen. Er schlief im Wohnsalon auf dem Diwan.
Und Hilde von Maubrach lag in dieser Nacht sehr lange wach, dachte über vieles nach.
Thussi hatte ihr als Hochzeitsgeschenk eine indische, golddurchwirkte Diwandecke zugeschickt mit folgenden Begleitzeilen:
‚Du weißt, wie sehr ich diese Decke liebe. Trotzdem soll sie jetzt Dein sein und Dich stets daran erinnern, daß Du an jenem Maskenball bei uns etwas zu leichtsinnig warst. Die Sonne Ägyptens hat alles zum Guten gewendet. – Werde glücklich!‘
Hilde grübelte und grübelte.
Ahnte Thussi etwa die Wahrheit? Hatten diese Begleitzeilen eine versteckte Bedeutung?
Eine beklemmende Angst beschlich sie. – Ihre Mutter hatte ihr ja erzählt, ihr sei von Bekannten zugetragen worden, Thussi Wümpler habe sich Hoffnungen auf Maubrach gemacht.
Doch nein! So – so heucheln konnte Thussi niemals, gerade Thussi nicht.
Hilde schlief endlich ein. Und ihr letzter Gedanke vor dem Hinabgleiten in das Reich der Träume war:
‚Es wird eine Ehe werden, die eine Strafe für mich ist, – eine Ehe wie meine Verlobung, – feierlich, vornehm, kalt –‘
Sie träumte dann – von ihrem Püppchen, das nur drei Tage ihr gehört hatte. Dann war es zusammen mit zehntausend Mark Schweigegeld fortgegeben worden. – Sie träumte, daß Püppchen wieder an ihrer Brust ruhte und daß winzige Händchen über ihre Haut hinfuhren.
Sie weinte vor Sehnsucht im Schlaf; erwachte, als gerade der Morgen zu grauen begann.
Ein Kind – ein Kind! – Die Sehnsucht der Träume war im Wachen noch stärker.
War so stark, daß sie sich erhob, daß sie hinüberging ins andere Zimmer, vor der Lagerstatt ihres Mannes in die Knie sank und ihr tränenfeuchtes Gesicht in seine Kissen drückte. –
Gisbert von Maubrachs Herz jubelte.
Bedurfte es eines besseren Beweises, daß Hilde ihn liebte?! Sie war ja zu ihm gekommen! –
Der neue Tag zog herauf.
Und so begann Hildes Ehe. –
Vier Jahre vergingen. Hilde von Maubrach war eine sehr vornehme, sehr weltkluge, sehr gewandte Frau Regierungsrat. Mutter war sie nicht, und sie hatte die Hoffnung, es in dieser Ehe zu werden, auch bereits aufgegeben.
Aber das Sehnen nach einem Püppchen mit winzigen Händchen blieb. Und eines Tages, als der junge Regierungsrat, dem offenbar eine glänzende Karriere bevorstand, noch spät nachts in seinem Arbeitszimmer über den Akten saß, kam Hilde zu ihm in langem, seidenem Kimono, lehnte sich leicht an ihn und sprach in ihrer abgeklärten Weise ohne Scheu den Wunsch aus, sie möchte ein Kind adoptieren. Sie könne nicht weiter so leben ohne ein Wesen, das sie verhätscheln könne, dem sie mehr sein würde als eine leibliche Mutter mit der Überfülle ihrer Liebe für die Kleinen. –
Maubrach war entsetzt. Er – er, ein Aristokrat, sollte einen fremden Vogel in sein Nest aufnehmen?! Unmöglich!
Er suchte Hilde den Gedanken auszureden, erklärte, auch das Gesetz ließe etwas derartiges nicht zu.
Hilde lachte kurz auf. „Das Gesetz?! – Du willst eben nicht. Aber ich tue es trotzdem. Kann ich ein Kind nicht adoptieren, so kann ich’s doch großziehen in meinem Hause. Wer will mir das verwehren?!“
Maubrach wußte, daß er Hilde gegenüber nichts ausrichtete. Ihr Zusammenleben war ganz auf den Ton vornehmer Kameradschaftlichkeit gestimmt, und dieser Ton ließ es nicht zu, daß er den Herrn und Gebieter herauskehrte.
So gab er denn nach. Und er war es, der nun auch vorschlug, seinen Onkel Egon von Maubrach, einen weltfremden Sonderling, zu bitten, ein Kind zu adoptieren, damit es von vornherein den Namen Maubrach führe.
Egon von Maubrach wohnte in Pommern auf einer Haffinsel als eine Art Menschenbeglücker. Seine Frau war eine Bürgerliche, eine Pfarrerstochter. Die Ehe war kinderlos. Und der würdige alte Herr hatte gerade für Hilde eine große Vorliebe, so daß man bei ihm sich keine Ablehnung holen würde, meinte der kluge Regierungsrat. –
Hilde beauftragte am folgenden Tage ein Detektivinstitut, ohne ihren Namen zu nennen, mit Nachforschungen über den jetzigen Aufenthalt eines Kindes, das Ende Oktober 1899 in Kairo ehelich von der Frau des Hotelportiers August Müller geboren war.
Eine Woche drauf erhielt sie den Bescheid, daß das Kind bereits vor drei Jahren an Cholera in Kairo gestorben und die Eltern von dort verzogen seien, angeblich nach Südamerika.
Hilde von Maubrach hatte diese Auskunft bis zur Unkenntlichkeit verschleiert entgegengenommen. Ein trockenes Aufschluchzen kam jetzt über ihre Lippen.
Tot – tot! Ihr Püppchen lebte nicht mehr.
So war denn alles umsonst so fein von ihr ausgeklügelt worden, – so fein, daß Gisbert nie geahnt hätte, wen er in sein Haus aufgenommen.
Umsonst also alles! Die schöne Hoffnung zerschellt! Die Vorfreude eitel! –
Hilde kehrte wie eine Kranke in ihr elegantes Heim zurück. Es war zwei Uhr nachmittags. Im Flur schon meldete ihr der Diener, daß Herr Egon von Maubrach im Salon warte.
Gisberts Onkel schloß Hilde in seine Arme, küßte sie herzhaft, meinte schmunzelnd:
„Du, dein Mann hat an mich geschrieben – der Adoption wegen. Es sollte eine Überraschung für dich werden. Also Hildeken, – wird gemacht! Auch meine Lotte ist einverstanden.“ –
Eine halbe Stunde später erschien der Regierungsrat. Hilde war ihm in den Flur entgegengeeilt. Bisher war dies noch nie geschehen. Aber heute wollte sie ihm danken, weil er an den Onkel Egon bereits den bewußten Brief abgesandt hatte.
Sie waren allein im Flur, wo die große Ampel eingeschaltet war. Und Hildes Schritte wurden plötzlich zögernd, als sie ihres Mannes verstörtes, bleiches Gesicht sah, als sie in seinem Blick den Argwohn spürte.
„Gisbert, was ist denn geschehen?“ stotterte sie nun anstatt der herzlichen Worte, die ihr schon auf den Lippen geschwebt hatten.
Er winkte ihr nur, ging voraus in sein Arbeitszimmer, blieb mitten darin stehen, sagte leise mit zuckenden Lippen:
„Vor einer Viertelstunde hat mich jemand in meinem Dienstzimmer antelephoniert. Wer, weiß ich nicht. Der Betreffende verstellte offenbar seine Stimme. Und dieser Mensch teilte mir mit, daß du das Detektivinstitut Halbacher mit Nachforschungen nach einem Kinde betraut hättest, daß dein – dein eigenes wäre – geboren in Kairo im Oktober des Jahres, als du dort angeblich zur Kur weiltest.“
Er holte tief Atem, zwang sich, seine Ruhe zu bewahren.
„Ich hätte nun auf diese Mitteilung nichts gegeben,“ fuhr er noch leiser und noch heiserer fort, „wenn ich mich nicht in demselben Augenblick an die Worte erinnert haben würde, die du sprachst, bevor wir uns verlobten –“
Hilde schaute ihm auch jetzt so fest und so offen in die Augen, daß er plötzlich zu hoffen begann, all das sei doch wohl nur böswillige Verleumdung.
Er schwieg, tastete nach ihrer Hand.
„Hilde, nicht wahr, du – du bist doch – rein in die Ehe gegangen?“ fragte er scheu und blickte an ihr vorüber.
Sie ließ seine Hand los, trat zurück.
Dann kam ein hartes „Nein!“ über diese Frauenlippen, die in dieser Ehe nie in Stunden der Leidenschaft denen ihres Mannes entgegengeglüht hatten.
Gisbert von Maubrach duckte sich vor diesem klaren, kühnen Nein wie unter einem Fausthieb zusammen, der ihn bei gefesselten Händen traf.
„Nein!“ wiederholte Hilde nochmals. „Und dieses Nein muß dir genügen. Als wir uns verlobten, versprachst du mir, mich so hinzunehmen, wie ich damals war, – ohne spätere Vorwürfe –“
Ihr Kopf mit dem Madonnenscheitel, den sie noch immer trug, sank langsam tiefer; ihre Augen hatten sich umflort; Tränen rannen über ihre Wangen; und ihre Stimme war wie ein stiller Schrei höchsten Schmerzes, als sie fortfuhr:
„Mein – Kind – ist tot – längst tot. Ich wollte es hier in dein Haus – einschmuggeln –“ Sie sprach lauter. „Ja – einschmuggeln, weil ich mich nach Liebe sehne, – nach einem kleinen Wesen –“
Sie unterbrach sich.
Gisbert von Maubrach hatte mit verzerrtem Gesicht gebieterisch die rechte Hand erhoben.
„Kein Wort mehr davon!“ stieß er keuchend hervor. „Ich könnte mich scheiden lassen. Aber ich werde den Lästerzungen den Genuß nicht gönnen, meinen Namen in den Schmutz zu zerren, diesen Namen, der bisher fleckenlos Jahrhunderte überdauert hat. Und weil es auffallen könnte, wenn wir jetzt von Onkel Egons Entgegenkommen keinen Gebrauch machen, wird auch – ein Kind deinem Leben mehr Inhalt geben, als ich ihn dir fernerhin geben – will! Äußerlich mag zwischen uns alles bleiben wie es war. Innerlich trennt uns ein Abgrund für immer. – Noch eins: ich werde mich versetzen lassen – in irgend eine Kleinstadt, werde auf Karriere verzichten, weil ein Mann mit einer solchen Frau nicht in eine höhere Dienststellung hineingehört. – So – ich will jetzt Onkel Egon begrüßen. Du gestattest, daß ich gehe.“
Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Hilde stand noch eine Weile ganz still da. Dann hob sie den Kopf, flüsterte selbstvergessen:
„Ein Kind! Oh – wie will ich es lieben – wie sehr!“ –
Man speiste heute zu dreien. Onkel Egon war sehr aufgeräumt. Seine Scherze streiften oft hart die Grenze des Schicklichen.
Nach Tisch nahm man den Kaffee im Damensalon ein.
Dort stand ein Diwan mit einer wundervollen, kostbaren Decke.
Der alte Herr bewunderte den goldenen Diwan, meinte: „Jetzt in der Sonne leuchtet er wirklich wie reines Gold, Kinder. Wer darauf schläft, muß eigentlich köstlich träumen – von Liebe – nur von Liebe.“ Und er zwinkerte mit den vergnügten Augen.
Hilde war das Blut ins Gesicht geschossen. Sie bückte sich schnell, ordnete etwas an der Tischdecke.
Träumen – von Liebe! – Jäh war ein Bild vor ihr aufgetaucht.
Eine Bajadere, ihr zu Füßen ein schlanker Künstler. Eine Lampe mit gelbem Schirm. Und der goldene Diwan – ein goldenes Brautbett …
Nun fügte der alte Herr kichernd noch hinzu:
„Kinder, eigentlich ein Wunder, daß ihr trotz dieses schönen Ruhelagers –“
Der Regierungsrat hüstelte sehr deutlich.
Da schwieg der etwas verbauerte Onkel Egon und dachte: ‚Ne – is das eine zimperliche Bande, – ekelhaft überfein!‘
*
Frau Thussi Stürmer, geb. Wümpler, hatte das Mittagessen fertig, stellte es in eine große Decke gehüllt in die Sofaecke, legte noch Kissen darüber, damit der große Emailletopf besser die Wärme hielte, und machte sich schnell zum Ausgehen zurecht, schloß die Dreizimmerwohnung ab und fuhr mit der Straßenbahn von der Invalidenstraße nach dem Osten Berlins.
Scheu zusammengeduckt saß sie mit ihrem verhärmten Bubengesicht ganz vorn im Wagen. – Ach – was war aus der vergnügten, genußhungrigen Thussi Wümpler in diesen wenigen Jahren geworden. Und – wer hätte ihr wohl eine solche Zukunft vorausgesagt, – eine Ehe mit einem bescheidenen Buchhalter, den sie nur geheiratet hatte, um versorgt zu sein.
Die Wümplersche Millionenherrlichkeit hatte bald nach Hilde Hergelsbergs Hochzeit ein jähes Ende gefunden. Die Nähmaschinen- und Fahrradfabrik war so gründlich verkracht, daß es der Kommerzienrat vorzog, allen Auseinandersetzungen mit dem Staatsanwalt wegen betrügerischen Bankerotts durch einen Revolverschuß aus dem Wege zu gehen.
Gewiß, – Geheimrat Hergelsberg hatte der Witwe dann die Gründung einer neuen Existenz, die Einrichtung eines Fremdenheims, ermöglichen wollen. Doch Frau Wümpler, verwöhnter als eine Prinzessin, war zu gebrochen, um sich aufraffen zu können. Auch sie starb bald darauf, aber eines natürlichen Todes.
Inzwischen war es zwischen Thussi und Hilde zum Bruch gekommen. Thussi hatte zunächst bei der langjährigen, jetzt jung verheirateten Freundin das Fremdenzimmer beziehen sollen. Hilde hatte in rührend schonender Weise diese Einladung vorgebracht, und Thussi war auch scheinbar darauf eingegangen. Am nächsten Tage aber erhielt Hilde von ihr einen Brief, der in knappen Worten das ‚dringende‘ Ersuchen enthielt, sich nicht weiter um Thussi zu kümmern. ‚Ich bringe es nicht fertig, von Almosen zu leben. Ich sage Dir hiermit Lebewohl für immer.‘ – So hieß es zum Schluß.
Wieder sechs Monate später hörte Frau Hilde von Maubrach dann, daß Thussi einen älteren Kaufmann geheiratet habe, der früher in der Fabrik ihres Vaters angestellt gewesen. Seitdem hatte sie nie wieder etwas von Thussi vernommen.
Und jetzt saß Frau Thussi Stürmer in der Straßenbahn und sann mit zusammengekniffenen Lippen über den nächsten Schritt nach, den sie unternehmen wollte, um die Verhaßte zu demütigen.
Thussis Ehe war auf einen ganz anderen Ton gestimmt als die Hildes. Ernst Stürmer liebte seine Frau über alles. Er, der fast Fünfzigjährige, war in dieser Ehe wieder jung geworden. Aber daß sein Weib an seiner Seite fror, daß seine Zärtlichkeiten sie abstießen, daß sie vor geheim gehaltener Herzensleere und maßloser Verbitterung gegen des Schicksals Tücke, die der Anderen den vornehmen Gatten beschert hatte, schnell verblühte, – das merkte sie nicht.
Thussi belog und betrog ihn beständig. Nicht daß sie ihm untreu war. Nein – ihre Unaufrichtigkeiten waren anderer Art. Sie hatte vom ersten Tage ihrer Ehe an heimlich gespart. Sie brachte die billigsten Gerichte auf den Tisch, nur um groschenweise ihren Schatz vermehren zu können. Sie wollte eine Summe zur Verfügung haben, damit sie in der Lage wäre, bei guter Gelegenheit den Kampf zu eröffnen, – nein, den Rachefeldzug! – Wenn sie Töpfe scheuerte und Geschirr wusch, wenn sie ihre Gedanken ungestört schweifen lassen konnte, dann vergaß sie all das Elend um sie her, das Elend ihrer Seele, und berauschte sich an den haßerfüllten Plänen, wie sie die Feindin am grausamsten treffen könne.
Frau Thussi stieg aus. Noch hundert Meter zu Fuß, dann begann das Laubengelände hier am Ende der Gabrielstraße. Und allein für sich stand da noch eine einzelne Mietskaserne, aus deren Fenstern stets Windeln, Betten und Wäsche zum Trocknen heraushingen und deren Treppen bis zum Abend von dem Lärm zahlloser Kinder aller Altersstufen dröhnten.
Sie ging langsam, die schlanke Frau mit dem verbitterten Gesicht; sie spähte hierhin und dorthin.
Neben dem Hause war ein kleiner Schuttabladeplatz. Dort tollte die noch nicht schulpflichtige Jugend umher, suchte nach Schätzen, baute aus Scherben Mauern für kleine Gärtchen und aus verbeulten Kannen und Eimern phantastische Türme.
Thussi blieb stehen. Ein Dutzend Kinder etwa vergnügten sich dort.
„Strohjöhre, ick hau’ dir eene runter, du Dusseltier,“ brüllte ein Knirps ein blondes Mädelchen an, weil sie ihm nicht schnell genug Platz machte.
Strohjöhre! – Ja – sie hatte reiches blondes Haar. Es war nur Kindergehässigkeit, die das Wort Strohjöhre erfunden hatte, aber die Kleine rief überlaut entrüstet zurück:
„Lina Müller heeß ich – heiße ich!“
Thussi Störmer beobachtete das Mädelchen noch eine Weile, wie es nun in ein Gärtchen allerlei Unkraut eifrig und mit gutem Geschmack einpflanzte, so daß die wild wuchernden Stauden nun plötzlich wie Blumen wirkten.
Dann trat die verhärmte Frau noch näher, beugte sich herab, fragte:
„Wie heißt du, Blondchen?“
Die andere kleine Bande ringsum war aufmerksam geworden, brüllte nun vorlaut durcheinander:
„Det is Frau Müllerns Strohjöhre – Strohjöhre –“
Das Mädelchen schnellte hoch. Und wie ein Blitz war es zwischen den höhnenden Schreiern, teilte Püffe aus, jagte die ganze Gesellschaft in die Flucht. – Dann kam sie zu Thussi zurück, reckte den Kopf hoch, zeigte ein unregelmäßiges, aber anziehendes Gesichtchen mit zu vollen Lippen und dunklen, großen, sehr ausdrucksvollen Augen.
„Lina Müller heeß ich – heiße ich,“ sagte sie mit einer Andeutung von einem Knicks. „Mutter wohnt dort in ‘n Windelturm. Mein Bruder Otto“ – sie deutete auf einen Jungen auf der Mauer, „hat’s Haus so jetauft. Otto tauft allens. Er is so klug. Vorchte Woche hat er sich ‘n Arm jebrochen. Mutter hat ‘n verhauen wollen. Aber Otto ist stärker –“
Thussi Stürmers Blicke zerlegten das Kindergesicht und suchten nach einer Ähnlichkeit.
Dann schenkte sie der Kleinen ein paar Nickel und suchte Frau Müller auf. Die stand in ihrer kleinen Küche inmitten von Dampfwolken und scharfem Seifenlaugengeruch vor einer Bütte und wusch. Sie sah wie eine Greisin aus und war doch erst fünfunddreißig. –
Otto Müller war von der Mauer in den Hof hinabgesprungen, als Frau Thussi im Hause verschwand. Sein mageres Gesicht mit den dicken Augenbrauen und dem vorspringenden Kinn hatte nichts Kindliches an sich. Es machte fast den Eindruck des brutal Frechen. Nur die Augen milderten dieses Ungünstige. Es waren Schwärmeraugen, braun, etwas mandelförmig. Schaute man in sie hinein, las man anderes als das übrige Gesicht andeutete.
Otto schlenderte dem Haustor zu. Auf der Treppe begann er zu schleichen. Und oben im dritten Stock klinkte er die Küchentür lautlos wie ein gewiegter Einbrecher auf, – nur handbreit.
Alles verstand er nicht, was Frau Thussi und die Mutter flüsterten. Aber er hörte von Geld reden.
„Zehntausend Mark können Sie fordern –“
„Jotte doch – wär’ det ‘n Jlück for mir –“
„Auch fünfzehntausend. – Überlassen Sie mir die Lina also für ein paar Vormittage, bis –“
Otto genügte dies. Er wollte schon herausspionieren, was die beiden mit Lina vorhatten.
*
Am folgenden Vormittag.
Hilde von Maubrach hatte soeben in ihrem Damensalon am Schreibtisch die Anzeige für die Provinzblätter entworfen und dann eigenhändig zunächst zwölf Abschriften gefertigt und diese an zwölf Zeitungen nebst den nötigen Begleitzeilen in Umschläge getan.
Die Anzeige lautete:
‚Mädchen, bis fünf Jahre alt, diskreter Herkunft, wird von älterem Ehepaar für eigen angenommen. Blond bevorzugt. Offerten mit Bild an die Expedition.‘
Frau Hilde wollte nun die Briefe selbst in den Kasten werfen. Die Dienstboten waren so neugierig. Letztens hatte das Stubenmädchen wieder an der Tür gehorcht.
Maubrachs wohnten in der Goltzstraße, Berlin W. In den kleinen Vorgärten blühten die Teppichbeete, und die Kugelbäume hatte der Gärtner erst gestern gestutzt. –
Der Himmel war bedeckt; die Luft schwül und schwer. Hilde blieb ein paar Sekunden in der Haustür stehen. Ob sie doch nicht lieber einen Schirm mitnahm?
Da schlich ein Kind am Gitter des Vorgartens entlang, bog auf das Haus zu: ein blondes Mädelchen, ärmlich, aber sauber gekleidet; und Rosen hatte es in der Linken, einen ganzen Buschen, weiße und zartrosa Rosen.
„Kauften Sie mir doch was ab,“ zwitscherte ein feines Stimmchen dicht vor Hilde.
Sie hörte nichts; sie sah nur: alle anderen Sinnesorgane waren ausgeschaltet; nur die Augen lebten, arbeiteten.
Die Kleine war nicht schön. Aber ein eigener Liebreiz lag auf dem zarten Gesichtchen.
Hilde schätzte auf vier Jahre.
Und schon wieder sah sie das Bild von damals:
Den goldenen Diwan – Tasso Algler kniend, – und er riß sie an sich, die halb Berauschte.
Das Mädchen bat abermals: „Kaufen Sie mir doch –“
Hilde hatte sich schon gebückt, strich zart über das Blondhaar, über die Kinderwangen.
„Wie heißt du?“
„Lina Müller –“
Frau von Maubrach zuckte zusammen. – Müller – Müller! Und Lina!
Sie mußte sich an die Tür lehnen; sie fühlte sich plötzlich so schwach. Dann hastete sie hervor:
„Lina? – Also wohl Eveline, nicht wahr?“
Die Kleine schüttelte den Kopf.
„Eve … line – das kenn’ ich nich. Ich heiß Lina –“
„Wo ist dein Vater, Kind?“
„Tot. Mutter is Waschfrau. Und Otto is jetzt krank wejen den gebrochenen Arm. Mutta hat ‘n verhauen wollen. Aber Otto ist so – so stark, so wie ‘n Preisboxer –“
„Bist du in Berlin geboren, Lina?“
„Ne doch. In Hamburg. Vater is Kunstschlosser jewesen. Nu is er schon tot –“
Hilde atmete freier. – Müller! Es gab ja Tausende dieses Namens. Ein Zufall also – auch der Vorname. – Und die Augen prüften wieder das Gesichtchen, und die Hand streichelte wieder das Haar.
Dann ein kurzer Entschluß: Frau von Maubrach nahm das Blondchen mit nach oben in den Damensalon.
Lina saß nun auf dem goldenen Diwan, ganz steif vor Verlegenheit. Aber trotzdem hatte sie nicht vergessen, was die andere Dame ihr eingeschärft hatte, die sie hier in die Goltzstraße gebracht und die drüben im Hausflur wartete.
Sie saß auf der kostbaren indischen Decke und ließ sich ausfragen; sie war schlau wie alle Kinder, die in Windeltürmen groß werden; sie plapperte, aber sie verplapperte sich nicht.
Und dann erlebte sie etwas lang Erträumtes; sie fuhr in einem richtigen Auto; und im Auto roch’s ebenso wundervoll wie in der feinen Stube mit all den feinen Möbeln; und die feine Dame saß neben ihr und fütterte sie mit Bonbons und Keks.
Aber bis vor den Windelturm fuhr das Auto leider nicht. Als Lina jetzt die Gabrielstraße erkannte, als sie rief:
„Hier wohnen wir!“ da drückte die feine Dame auf einen Knopf. Und da war der Traum aus. –
Eine Stunde später kam Otto heim, rief in den Waschdampf der Küche hinein:
„Du, Mutta, wo is Linchen? Der Maxe sagt, ne janz Feine von de Nischttuers hat sie in ‘n Auto mit nach de Stadt jenommen –“
Frau Müller überhörte die Frage, keifte absichtlich los: „Du hast dir wieder von früh an rumjetrieben. Da – traj’ den Korb zu Kohns nach der Resedajasse. Acht Mark kriegst de for die Wäsche. Nu man fix. Du –“
Otto nahm den Korb mit der gesunden Rechten und stampfte die Treppe hinab. Er war wütend. Es war ihm doch nicht geglückt, der Lina und der ‚Frau von gestern‘ auf den Fersen zu bleiben.
Und als er die Wäsche bei Kohns abgeliefert hatte, als er dann die Mutter schon in der Stube am Glanzleinwandtisch beim Essen antraf, als er abermals fragte: „Wo is Linchen, Mutta?“ legte Frau Müller ihm ein Ende Blutwurst zu den Stampfkartoffeln auf den Teller, wie er’s noch nie in seinem Leben zur Verfügung gehabt.
„Da – det is Linchen!“ lachte die Mutter etwas verlegen. „Iß man. Und – da hast de ‘ne Mark janz for dir. – Nu iß doch! Linchen wird ‘n paar Tage bei ‘ne Dame bleiben, die – die ihr abmalen will –“
Aus den paar Tagen wurden Wochen. Wenn Otto wissen wollte, wann denn nun endlich Linchen zurückkehre, zuckte die Mutter die Achseln. „Weeß nich jenau. Bald valeicht –“ Und gab ihm eine Mark.
Und diese Mark wurde oft gegeben. Und das Geld benutzte Otto dazu, nach dem Berliner Westen mit der Straßenbahn zu fahren und die Strohjöhre, sein Schwesterlein zu suchen. Planlos, zwecklos suchte er. Einmal – nach drei Monaten – glaubte er sie in einem Auto zu erkennen. Aber nein, das konnte die Lina nicht gewesen sein. Wo sollte die einen so großen Spitzenhut und ein so feines Kleid herhaben und solche Riesenseidenschleifen im abgebundenen Blondhaar. –
Otto suchte nicht mehr. Er hatte jetzt eingesehen: die Mutter belog ihn. Und die ganze Gabrielstraße zischelte ja auch davon, daß die Mutter die Strohjöhre für ‘ne hohe Summe an kinderlose Blutsauger nach auswärts verschachert habe.
Er suchte nicht mehr. Aber er vergaß nichts – nichts. Er hatte die Schwester geliebt. Auf seine Art, – so, wie die lieben, die sich scheuen, weiches Herz zu verraten. –
Frau Thussi war jetzt frischer, fröhlicher. Ihr Plan war geglückt. Nun konnten wieder Jahre vergehen. Und dann – würde sie zum letzten Streiche ausholen. Der würde nichts kosten. Nur das Porto für einen anonymen Brief.
*
Das Landratsamt in Grünmünde lag außerhalb der Stadt inmitten eines großen Parkes auf einer Anhöhe, von der man sowohl die weite Grünmünder Bucht als auch nach Westen zu die Felder und Wälder überschauen konnte.
Gisbert von Maubrach, seit nunmehr zehn Jahren hier ansässig, nahm mit Frau und Kind in der warmen Jahreszeit das erste Frühstück stets auf der Terrasse ein. Auch heute an einem klaren Junimorgen des Jahres 1914 erfreute er sich wieder an dem wundervollen Fernblick, freute sich nicht minder über seine Evi, die mit gesundem Appetit die frischen Brötchen, dick mit Butter und Honig bestrichen, hinter den Perlenzähnchen verschwinden ließ.
Frau Hilde saß an der anderen Seite des Tisches und blätterte in den Berliner Zeitungen. Sie war noch immer eine blendend schöne Frau. Nur um den Mund lag ein Zug von Entsagung und stillem Weh, wenn sie allein war. Vor anderen hatte sie stets dasselbe heiter liebenswürdige Lächeln auf den Lippen. –
Frau Hilde schaute auf, schaute mit halbem Blick auf die beiden, drängte den Seufzer zurück, wandte den Kopf und starrte auf das Meer hinaus, das heute so friedlich und glatt dalag und in dem die Sonne sich widerspiegelte mit silbernem Schein.
‚Zehn Jahre!‘ dachte sie. – Zehn Jahre war Lina Müller nun Evi von Maubrach. Es waren Jahre eines stillen, erbitterten Kampfes gewesen.
Frau Hilde hatte das Blondchen ganz für sich haben, ganz an sich ketten wollen durch ein Übermaß von Zärtlichkeit, durch ein Erfüllen aller Wünsche, durch ein Eingehen auf jede Seelenregung der Kleinen, die in kurzem den Windelturm nur noch als Märchen betrachtete und lediglich den Bruder Otto als eine Gestalt, die einmal irgendwie in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatte.
Von Tag zu Tag söhnte sich auch Landrat von Maubrach mit diesem Zuwachs seines Haushalts mehr und mehr aus. Hatte er zunächst dem Blondchen gegenüber eine gewisse unsichere Zurückhaltung gezeigt, so konnte er dies auf die Dauer doch nicht durchführen bei der lieben Zutraulichkeit und schelmischen Zärtlichkeit Evis, die ihm ohne sein Zutun entgegengebracht wurde.
Seltsamen genug; des Kindes Seele neigte mehr dem ernsten Vater als der nach Liebe lechzenden Mutter zu. Sehr früh zeigte sich dies. Und – da hatte der stille Kampf begonnen, da hatte Frau Hilde mit allen Mitteln versucht, Evis junges Herz ausschließlich mit ihrem eigenen Bilde auszufüllen. Nichts sollte darin Raum haben, nur sie allein, die das Mädelchen sich erobert hatte – durch einen raschen Entschluß, durch einen Scheck über zwanzigtausend Mark.
Sie kämpfte umsonst. Evi bevorzugte den Vater. Daran ließ sich nichts deuteln. Vielleicht waren es gerade die übermäßigen Zärtlichkeiten Hildes, die die Kleine verwirrten und ängstigten.
Der Kampf war aus. Und die Leere in Frau Hildes Seelenleben gähnte nun tiefer und dunkler denn je. – Was hatte ihr das Dasein gebracht? – So und so oft stellte sie sich diese Frage. – Was? Was? War es überhaupt lebenswert gewesen? – ‚Nein, nein!‘ schrie eine wilde Verzweiflung in ihr. ‚Wert gelebt zu werden waren nur jene Tage in Kairo, jene Wochen, wo ein zügelloser Trieb sie zu heißblütigen Männern hingedrängt hatte, wo sie gedankenlos genoß, wo sie spürte, daß der goldene Diwan ihr Weibestum jäh hatte erblühen lassen.“ –
Der goldene Diwan! – Auch hier im Landratsamte stand er wieder im Damensalon mit dem großen Erker nach Süden zu, wo Laub- und Nadelwälder ohne Unterbrechung die Hügel und Täler bis zum Horizont hin bedeckten.
Frau Hilde haßte ihn nicht mehr. Schon lange nicht – seit die große Leere in ihrem Innern sich immer weiter ausbreitete, seit der Kampf um Evi von ihr eingestellt worden war. Sie hatte ihn jetzt mit anderen Augen betrachten gelernt; sie träumte gern auf dem goldenen Brautbett vor sich hin; und diese planlosen Gedanken waren wie ein Frühlingsregen, der aus der Tiefe neue Wünsche hervorlockte wie frische Pflänzchen, – Wünsche, die in der reifen Frau bisher still gewesen und die nun ihr Blut von Tag zu Tag unruhiger machten, zumal ihre Ehe nur ein kühl höfliches Nebeneinandergehen ohne den geringsten Zärtlichkeitsaustausch war – geblieben war! –
Evi küßte den Vater zum Abschied. Küste auch Frau Hilde; aber flüchtiger. Und ging ins Haus mit ihren kurzen, selbstbewußten Schritten, die für den ganzen Menschen so kennzeichnend waren.
Der Diener betrat die Terrasse und meldete:.
„Herr Ingenieur Müller von der Überlandzentrale bittet den Herrn Landrat sprechen zu dürfen,“
Maubrach überlegte.
„Stört es dich, wenn ich den Herrn hier empfange, Hildegard? Bei diesem Wetter fliehe ich mein Arbeitszimmer gern,“ wandte er sich dann an seine Frau.
„Bitte – mich stört es nicht.“ – Sie erhob sich und rückte den Korbsessel ganz nahe an die Brüstung, setzte sich wieder.
Der Ingenieur erschien. Maubrach stellte ihn kurz seiner Frau vor, – so, wie man jemand vorstellt, den man gesellschaftlich nicht ganz für vollwertig hält.
Hilde hatte auch nur flüchtig aufgeschaut und kaum merklich den Kopf geneigt. Des Ingenieurs Verbeugung war genau so knapp. Er war ein schlanker Mann von über Mittelgröße, sehnig, kraftvoll, mit einem Gesicht, das man schon deshalb nicht leicht übersah, weil es einen finsteren, verschlossenen Ausdruck hatte, zu dem die Augen mit ihrem weichen, träumerischen Blick so gar nicht paßten. Der dunkelblonde Spitzbart machte eine Schätzung des Alters schwer. Das gescheitelte Haupthaar war voll und locker gehalten. Der graue Anzug von tadellosem Schnitt war fraglos nicht in Grünmünde entstanden.
Frau Hilde hatte heimlich hinter ihrer Zeitung hervor den Ingenieur weiter beobachtet. Seine Bewegungen erinnerten sie an irgend jemand. An wen nur? – Dann wußte sie plötzlich Bescheid: an Doktor Arthur Riebling – an den Lloyddampfer ‚Dresden‘.
Sie las nicht, sie horchte. Des Ingenieurs Stimme hatte einen harten, beinahe unliebenswürdigen Ton. Aber sie mochte für diesen Mann charakteristisch sein. Das war einer, der sich nicht duckte, der seinen Wert kannte.
Abermals erschien der Diener.
„Herr Landrat werden am Telephon gewünscht.“
Maubrach verließ die Terrasse, nachdem er sich bei dem Ingenieur mit einem ‚Ich bin sofort wieder da‘ entschuldigt hatte.
Hilde ließ die Zeitung sinken. Sie saß so, daß sie Müller gerade ins Gesicht sehen konnte.
„Sie sind noch nicht lange Ingenieur bei der Zentrale?“ begann sie die Unterhaltung.
Er stand sofort auf, überquerte die Terrasse und stellte sich vor Hilde an die Brüstung.
„Erst vier Wochen etwa, Frau Landrat,“ erwiderte er dann zwanglos. „Es ist meine erste Anstellung.“
„Ah – so jung sind Sie noch?“
„Nicht jung, nur einer von denen, die schwer eine Stellung finden, weil ihre politischen Ansichten den Arbeitgebern nicht genehm sind. Ein Ingenieur, der Sozialist ist, könnte zu leicht allzu viel Einfluß auf die Arbeiter gewinnen.“ Ein halb ironisches, halb verächtliches Lächeln umspielte seinen Mund, dessen schmale Lippen die Gewohnheit hatten, sich fest aufeinander zu pressen.
Hilde fand diesen Mann interessant. Sie merkte, daß er absichtlich die Anrede ‚gnädige Frau‘ vermied. Sie fühlte, daß er eine Persönlichkeit war, kein Schablonenmensch.
„Ich verstehe nichts von Politik,“ meinte sie leichthin. „Wie gefällt Ihnen Grünmünde? Sie sind doch offenbar Großstädter.“
„Berliner, Frau Landrat. – Ich liebe die Natur. Und da Grünmünde landschaftlich so viel Abwechslung bietet, fühle ich mich hier recht wohl.“
Die Unterhaltung ging weiter. Frau Hilde hatte den linken Arm auf die Lehne des Korbsessels aufgestützt, so daß der weite Ärmel ihres Morgenkleides bis zum Ellenbogen herabfiel und einen wundervoll geformten Arm enthüllte.
Und Frau Hilde stellte fest: ‚Dieser Arm macht den Herrn dort vor dir etwas verwirrt. – Er ist also auch Mann, dieser Ingenieur –‘
Sie erhob sich langsam, stand nun gleichfalls an der Brüstung, gab dem Gespräch eine neue Wendung, redete über das Badeleben in Grünmünde, über die zahlreichen eleganten Berlinerinnen, die nun bald die Kurpromenade bevölkern würden.
Ganz allmählich wußte sie seine Phantasie anzuregen, fächelte sich mit dem Spitzentüchlein Luft zu, sandte dabei ihrem Gegenüber die Duftwelle eines aufreizenden Parfüms zu, mit dem das Tüchlein getränkt war.
Sie war jetzt ganz Eva, die Versucherin.
Und sie sah mit Befriedigung sein Gesicht sich röter färben, sah in den Tiefen der Schwärmeraugen ein Flimmern, das sie sehr wohl kannte. Auch hier hatte sie es kennen gelernt, auch hier hatte man sie umworben, hatten kecke Selbstbewußte gehofft, die schöne Landrätin erobern zu können, die mit ihrem Gatten so förmlich verkehrte und im anderen Flügel ihr Schlafzimmer besaß. Sie hatten kein Glück gehabt bisher; weder der lange Hauptmann von Schalscha noch der Kurdirektor Baron Röneberg. Nein – bisher war Frau Hilde noch gefeit gewesen durch einen letzten Rest von Hoffnung, Evi würde diese quälende Leere durch eine übergroße Liebe ausfüllen.
Nun war die Hoffnung dahin. Und nun legte Frau Hilde von Maubrach es darauf an, diesen Mann, der kein Schablonenmensch war, ein wenig aus seiner Ruhe zu bringen.
Es gelang. Ihr Lächeln, ein Lächeln der Sehnsucht und des Gewährens, ließ sein Blut immer schneller kreisen.
Dann kam der Landrat zurück. Er stutzte, als er die beiden an der Brüstung so nahe beieinander stehen sah.
„Gehen wir auf mein Dienstzimmer, Herr Müller,“ sagte er kurz. „Entschuldige, Hildegard, wenn wir dich nun allein lassen –“
*
Evi packte Geige und Bogen in den Kasten. Ihr Lehrer, in der Stadt allgemein der alte Professor genannt, weil er große Ähnlichkeit mit dem berühmten Jenaer Naturforscher und Philosophen Haeckel hatte, setzte indessen seinen Vortrag noch fort.
Dann verabschiedete Evi sich. – In Grünmünde kannte jeder des Landrats einziges Kind – jeder, ob groß, ob klein, ob arm, ob reich. Man schaute ihr nach. Die Gymnasiasten reckten die Hälse und flüsterten: ‚Patentes Mädel!‘ Die Marktfrauen tuschelten auf Platt: ‚Se wippt mit ‘n Steiß wie ‘n Bachstelze – aber ne söte Deern –‘
Evi hatte in einem fort zu grüßen. Sie grüßte mit Unterschieden. Dem rotnasigen Polizeiwachtmeisters nickte sie zu: ‚‘n Tag, Strecker!‘ Und lächelte dabei. Die Leutnants von dem Bataillon Grenadiere, das hier in Garnison lag, erhielten nur ein Kopfneigen. Oh – sie war bereits ganz Dame, das schlanke Mädel mit den halblangen Röcken, wenn sie es sein wollte.
Ihr Weg führte sie auch durch die endlos lange Vorstadt. Hier blieb sie häufiger stehen und schaute den spielenden Kindern mit grüblerischem Gesichtsausdruck zu. Ganz hinten im Schrein ihres Gedächtnisses befand sich irgend etwas, das sie nie recht erkennen konnte. Und dieses Etwas nahm stets bestimmtere Formen an, wenn froher Kinder Gekreisch ihr Ohr umgellte oder wenn sie sah, wie die kleinen Rangen sich gegenseitig die Köpfe zausten. Dann war’s ihr immer, als müßte auch sie einmal Ähnliches erlebt haben. – Aber – das war ja unmöglich! Evi von Maubrach hatte nie so umhergetollt, hatte nur mit der Erzieherin einmal Haschen oder mit Papa Verstecken gespielt.
Sie ging dann stets verträumt weiter. – So auch jetzt in der Nähe des Bahnhofs; und erst das jämmerliche Geschrei eines kleinen, von einer Übermacht angegriffenen Bengels machte ihr die Gegenwart wieder klar.
Sie stand still, sah, wie der Knirps mit dem hochgereckten Arm die Hiebe abzufangen suchte und dabei mit den Füßen nach den Gegnern stieß. Das Blut schoß ihr ins Gesicht vor Empörung. Sie lief hinzu, packte den Geigenkasten mit beiden Händen, benutzte ihn als Rammbock.
„Feiglinge!“ rief sie, „Feiglinge seid ihr!“
Ein paar größere Jungen schlichen beiseite. Nur zwei trotzten ihr. Der eine entriß ihr den polierten Kasten hohnlachend, der andere gab ihr einen heimtückischen Stoß in den Rücken.
Evi wurde ganz blaß; ihre Augen drehten sich. Und dann schlug sie besinnungslos mit der geballten Faust zu, verprügelte den größeren ihrer Widersacher mit einer lodernden Wut, wie sie sie noch nie gespürt hatte, bis dann eine mahnende Stimme neben ihr sagte: „Aber kleines Fräulein! Aber Fräulein von Maubrach!“
Ingenieur Müller war’s. Sie hatte ihn erst einmal flüchtig gesehen im Amtszimmer des Vaters. Aber sie wußte, wer er war.
Eine flammende Röte färbte jäh das verzerrte Mädchengesicht. Und verlegen stotterte sie: „Der Kleine tat mir so leid – so sehr leid –“
„Kommen Sie. Ich begleite Sie. Die Jungen könnten Ihnen folgen,“ meinte der Ingenieur kurz.
Aber Evi rührte sich nicht. Sie starrte ihm ins Gesicht, gerade in die Augen mit den dicken Brauen. Sie starrte wie entgeistert. Und wieder lichtete sich die Nebelwand vor der Kette ihrer Erinnerungen ein wenig und zeigte ihr in kurzem, blitzartigem Aufzucken ein freches – höhnisches Knabengesicht.
Der Ingenieur dachte: „Was hat das Mädel nur?!“ Aber unwillkürlich betrachtete er nun auch ihr Antlitz genauer. Auch in ihm wurde eine Erinnerung rege. Aber achselzuckend wandte er wieder den Blick ab. – Unsinn! Wozu wohl seiner lieben, kleinen Strohjöhre Bild abermals heraufbeschworen.
„Kommen Sie, Fräulein von Maubrach,“ sagte er hart.
Zögernd schritt sie neben ihm her. Er trug ihr den Geigenkasten, wollte irgend etwas sprechen, fragte:
„Spielen Sie gern Geige?“
„Leidenschaftlich!“
Er schaute sie überrascht an. Dieses ‚Leidenschaftlich!‘ war so aus tiefster Seele gekommen, daß es wie ein jubelnder Schwur klang.
„Ihre Eltern sind musikalisch?“
„Nein – nicht die Spur!“ Sie lachte. „Der Papa pfeift alles falsch. Und Mama spielt höchstens Walzer –“
„Sind Walzer nicht Musik?“
„Oh – gewiß. Nur – keine Kunst.“ Das klang etwas altklug für ein Mädel mit dickem, blondem Hängezopf.
Der Ingenieur merkte, daß Evi kein Kind mehr war. Er stellte die Unterhaltung auf einen anderen Ton ein. Und wieder war er überrascht über die Reife dieses jungen Menschenkindes, das so sicher mit ihm plauderte wie eine Erwachsene.
Der Wald begann. Vor ihnen reckte sich aus dem Grün der burgähnliche Bau des Landratsamtes heraus. Der Wald rauschte so fein mit tausend wispernden Blättern.
„Wohnen wir nicht schön?“ meinte Evi versonnen. „Ach – ich liebe ja –“
Sie schwieg plötzlich. An einer Biegung des Weges dicht vor ihnen war Frau Hilde aufgetaucht. Sie hatte Sommer gemacht, die schöne Frau Landrat, war ohne Hut und ganz in Weiß gekleidet. Als sie Evi und den Ingenieur bemerkte, fuhr ihr Kopf ein wenig zurück.
Die Begrüßung war etwas frostig. Müller erklärte, weshalb er Evi begleitet habe. Frau Hilde tätschelte dem Mädel die Wangen.
„Brav von dir, diese Hilfsbereitschaft; nur unvorsichtig darfst du nicht sein –“
Evi blieb verlegen und stumm. Sie war auch leicht enttäuscht, weil sie gehofft hatte, der Ingenieur würde sie noch durch den Park bis an das Haus bringen. Die Mama jedoch hatte dem sanften Vorwurf hinzugefügt: „Hier bist du nun wohl sicher, Kind. – Herr Ingenieur, kommen Sie mit nach der Stadt zurück?“
Evi reichte Müller die Hand und knickste ganz wenig.
„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre liebenswürdige Begleitung,“ sagte sie dazu, wieder ganz kleine Dame. „Auf Wiedersehen –“
Frau Hilde gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Dann ging sie mit dem Ingenieur davon.
Müller wartete auf eine Anrede von ihrer Seite. Er wäre jetzt lieber allein gewesen. Er sah noch immer die fragenden, forschenden Augen Evis vor sich. Auch jetzt beim Abschied hatte sie ihn so angeschaut – so, als suche sie in seinem Gesicht irgend etwas.
„Woran denken Sie?“ fragte da die schöne Frau neben ihm.
„An Ihre Tochter, Frau Landrat,“ erwiderte er, ohne den Kopf zu wenden. „Sie können sich glücklich schätzen, ein so reizendes, kluges Kind zu besitzen.“
Hilde errötet flüchtig. „Sie ist etwas – aus der Art geschlagen. Sie erregt sich leicht. In allem, was sie treibt, ist ein Zuviel von Temperament. – Haben Sie noch eine halbe Stunde Zeit, Herr Ingenieur? Wollen wir noch auf die Annenhöhe?“
Er zögerte. Dann erklärte er, er sei heute dienstfrei. – Eine leise Stimme seines Innern hatte ihn gewarnt. Er fühlte, daß diese Frau ihm gefährlich werden könne. Und doch unterlag er. Aber sofort ärgerte er sich über seine Schwäche, war eine Weile wortkarg, bis Frau Hilde stehen blieb, ihm fest ins Gesicht schaute und sagte:
„Nicht wahr, – der Ingenieur Müller, der Volksfreund, der Feind der besitzenden Klassen, auf einem Spaziergang mit einer Frau von Maubrach! – Einfach unerhört!“
Schelmerei leuchtete aus Augen und Mundwinkeln.
Ihm schoß das Blut zu Kopf. Aber er war ehrlich.
„Sie haben recht, Frau Landrat. Sie sind die erste – Dame, der gegenüber ich meine wahre Sinnesart verleugnet habe –“
Die Schelmerei wurde zu einem Sirenenlächeln.
„Das freut mich, Herr Ingenieur. Sie werden es erleben; wir werden noch sehr gute Freunde!“
„Das – das ist ausgeschlossen,“ stieß er finster hervor und hieb mit seinem Spazierstock in das Moos. „Ich will ganz offen sein, Frau Landrat. – Ich – hasse die bürgerliche Gesellschaft, mehr noch das adlige Beamtentum, und ich –“
Hilde hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. Er schwieg. Und sie sagte kopfschüttelnd:
„Trennen Sie doch die Sache von der Person. Ein schlechter Politiker und ein – unfertiger Charakter, der das nicht vermag –“ Ihre Finger schlossen sich um seinen Ärmel. Er fühlte den Druck auf seiner Haut. Ein heißes Rieseln ging von dieser Stelle aus. Er atmete schneller. Aber seine Lippen wurden immer schmaler, dünner. Er wehrte sich. Seine Augen waren bald zugekniffen und hafteten am Boden, wo eine Ameisenarmee quer über den Weg marschierte in eiliger Geschäftigkeit.
„Sehen Sie das da!“ sagte er gepreßt und zeigte mit dem Stock auf die fleißigen Tierchen. „Arbeiter, die stets am Boden bleiben, die nur die Arbeit kennen, die nie von einer lichten Höhe aus helleren Sonnentagen entgegenhoffen, die stets zum Vegetieren in den Niederungen des Lebens verdammt sind –“ Er hob den Blick, suchte die funkelnden Brillantringe der Hand, die noch immer seinen Arm umschlossen hielt. „Und sehen Sie diesen Schmuck! Wie viel Leid könnten Sie damit lindern, wie viel frohe Kinderaugen schaffen, die gierig vor hellen Schaufenstern allerlei Wünsche einsaugen –“
Frau Hilde gab seinen Arm frei, führte ihm die weiße schmale Hand mit den lackierten Nägeln noch näher unter die Augen.
„Vielleicht habe ich keine andere Freude als die an diesen Steinen,“ meinte sie leise. – Da schaute er auf; sah die Fältchen der Bitternis und Enttäuschung um ihren Mund, sah in den Augen das trübe Starren derer, die auf leere Jahre zurückblicken.
„Vielleicht habe ich überhaupt nichts, woran mein Herz restlos hängen darf,“ hatte sie schon hinzugefügt. „Vielleicht hoffe auch ich auf hellere Sonnentage. – Und vielleicht machte ich bereits Kinderherzen glücklich –“
Die Hand mit dem gleißenden Schmuck sank herab.
„Gehen wieder weiter, Herr Ingenieur. Oder besser – leben Sie wohl! Ich werde allein die Annenhöhe besuchen.“
Sie nickte ihm zu, wandte sich um und schritt schnell davon.
Und Otto Müller wanderte allein zur Stadt zurück. Doch seine Gedanken waren auf der Annenhöhe.
*
Wochen vergingen; fast zwei Monate. – Der Ingenieur hatte Frau Hilde nicht wiedergesehen. Gewiß, oft genug war er nahe daran gewesen, sie aufzusuchen. Aber er überwand diese Stunden leisen Sehnens nach dem schönen Weibe immer wieder. Der Zauber jener Minuten unter den frischgrünen Buchen wirkte wohl noch nach, war aber nicht mehr stark genug, die in Otto Müllers Seele gärende Feindseligkeit gegen alles, was zum Adel rechnete, zu bezwingen. Kamen solche Stunden, wo die Sehnsucht ihn in die Wälder oder an den Strand des Meeres trieb, dann lauschte er dem Rauschen der Bäume, der Wogen stets mit dem Wunsche, etwas ganz besonderes herauszuhören: eine Melodie des Hasses, der allen gelten sollte, die er als Volksbedrücker ansah – allen, ohne Unterschied.
Nein – Frau Hilde konnte ihm nicht mehr Gefahr bringen. – So glaubte er. – Er war doch der Stärkere geblieben.
Nur Evi hatte er wiederholt in der Stadt getroffen. Und dann war sie stets sofort auf ihn zugekommen, hatte ihn herzlich wie einen Freund begrüßt.
Seltsam: irgend etwas zog ihn zu diesem halben Kinde hin, worüber er sich nicht klar werden konnte. – Einmal waren sie gemeinsam am Hafen entlanggegangen; hatten die Haffkähne, die Dampfer und einen arbeitenden Bagger sich angeschaut und wieder so zwanglos geplau–dert – wie Bruder und Schwester.
Evi wars gewesen, die damals mitten im heiterem Gespräch gesagt hatte mit ganz ernstem Gesicht:
„Nein – wie gut wir doch miteinander auskommen, Herr Ingenieur, – wie Geschwister –“
Und dann waren sie weiter gegangen. – Kinder hatten da in einem Kahn dicht am Bollwerk geschaukelt; und ein kleiner Bengel rief Evi zu:
„Kiek’ – die mit ‘n Strohzopp!“
Evi hatte nicht recht verstanden, fragte den Ingenieur:
„Strohzopp? Was heißt das –“
„Strohzopf!“ lächelte er. „Purer Neid ist’s, Fräulein Evi. Ihr Haar ist so schön –“
Da wurde sie blutrot. Es war die erste harmlose Schmeichelei, die er ihr sagte. – Er sah nicht, wie hold verlegen sie war. Vor ihm war eine einzeln liegende Mietskaserne aufgetaucht: der Windelturm. Und dazu ein blondes Mädelchen: die Strohjöhre.
Strohzopf – Strohjöhre! – Wo mochte wohl die Lina geblieben sein, – wo nur?! Ein Jahr nach ihrem Verschwinden war die Mutter schwer krank geworden. Und mit letzter Kraft hatte sie sich dann, als Otto sie mal allein lassen mußte, nach dem Ofen geschleppt, hatte ihn geöffnet und Papiere darin verbrannt. Sterbend hatte der Junge sie auf den Dielen gefunden, ins Bett zurückgetragen und schnell die Nachbarn geholt. Und der Kranken letztes Geständnis bezog sich auf irgend einen Schwur, den sie geleistet und – gehalten hatte. – Nichts von Schriftstücken fand man in der Wohnung, nichts. Nur in einem Winkel der Kommode zwischen gefalteten Hemden ein Sparbuch über zwanzigtausend Mark. Und dieses Geld hatte dann Otto Müller das Studium ermöglicht. –
Frau Hilde erfuhr regelmäßig, wenn Evi den Ingenieur getroffen hatte. Evi hatte keinen Grund, dies zu verschweigen. Sie kannte keine Geheimnisse vor den Eltern. – Der Landrat hatte freilich, als Evi zum zweiten Male den Ingenieur erwähnte und sagte: „Wir haben uns am Strande gesonnt und sind nachher im Kurpark gewesen –“ auffallend streng erklärt, es sei doch eine ziemliche Aufdringlichkeit von dem Herrn, sich Evi so ohne weiteres anzuschließen; aber da hatte Evi ihn sofort verteidigt und gemeint: „Bitte – ich habe ihn ja angesprochen, Papachen!“ Und dazu war auf ihrem Gesicht ein so schalkhaft überlegenes Lächeln erschienen, daß Herr von Maubrach nur noch sagte: „Eine etwas merkwürdige Freundschaft! Die Ansichten des Ingenieurs dürften sich für eine Evi von Maubrach kaum recht eignen.“
Bisher hatte Frau Hilde nur die Zuhörerin gespielt. Jetzt mischte sie sich ein.
„Gisbert – Ansichten?! Ansichten?! Sprechen die denn hier irgendwie mit?! Evi ist ein Kind. Und der Ingenieur wird sich mit ihr wohl kaum über Sozialpolitik unterhalten.“
Evi lachte frisch heraus. „Sozialpolitik! Oh Papa, was denkst du nur von Herrn Müller! Noch nie ist eine Bemerkung zwischen uns gefallen, die –“
Der Landrat erhob sich verstimmt. „Genug davon,“ fiel er Evi ins Wort. „Jedenfalls dürftest du gut tun, mein Kind, den Ingenieur nicht mehr anzusprechen. Du wirst demnächst fünfzehn Jahre und beginnst die Kinderschuhe abzustreifen. Ein Backfisch muß vorsichtig sein, und die Tochter des Landrats muß es doppelt sein –“
Er verließ das Zimmer. – Das war die erste kleine Mißhelligkeit, die es zwischen ihm und Evi gab.
Und eine Woche später war dann der Weltkrieg da. Der Verzweiflungskampf Deutschlands begann.
Gisbert von Maubrach mußte am 3. August zu seinem Regiment nach Berlin. Die Amtsgeschäfte übergab er vorläufig dem Kreissekretär, Rechnungsrat Hoffmann. Am 3. morgens, als er gerade in Uniform aus seinem Schlafzimmer trat, reichte ihm der bejahte Diener einen Eilbrief.
Der Landrat schnitt den Umschlag zerstreut auf. Er war heute weich gestimmt. Noch drei Stunden – dann hieß es Abschied nehmen von Hildegard und Evi – vielleicht für immer. Dieser Gedanke hatte ihn schon die ganze verflossene Nacht gequält. Wie sollte er sich Hilde gegenüber bei diesem Abschied benehmen? Wie würde sie sich verhalten? Mußte er nicht jetzt, wo’s vielleicht kein Wiedersehen gab, vergessen und verzeihen? – Er hatte mit sich gekämpft – schlaflos hatte er dagelegen; oft fehlte nicht viel, und er wäre hinübergeeilt in den anderen Flügel, wo sein Weib schlief, – sein Weib, die nicht – sein Weib war. – Aber – er hatte seine wahre Natur auch jetzt nicht verleugnen können. Hilde war für ihn stets nur – eine Dirne gewesen. Und nun sollte er sich plötzlich über all das hinwegsetzen, was sie ihm angetan durch ihr Jawort – durch das Jawort einer Frau, die ein – uneheliches Kind besaß?! – Unmöglich – unmöglich! Das – das vergaß er nie – nie!
Und doch! Jetzt, wo die Sonne ins Zimmer schien, wo draußen im Parke die Vögel noch jubilierten im Morgenrausch, da – bereute er, daß er so standhaft gewesen gegen sich selbst.
Er zog langsam den Briefbogen aus dem Umschlag, faltete ihn auseinander.
Maschinenschrift. Keine Anrede.
Er las – las – wurde bleich, stierte auf die Zeilen, vergaß ganz die Anwesenheit des Dieners.
„Herr Rittmeister, die gnädige Frau wartet bereits am Kaffeetisch auf der Terrasse,“ wagte der treue Alte zu mahnen.
Maubrach hörte wohl Worte, begriff aber ihren Sinn nicht, winkte nur mit der Hand.
Dann war er allein, tastete sich zum nächsten Sessel, schloß die Augen. Seine Gedanken irrten ab. Er sah sich in Kairo an der Seite Hildes durch die Straßen wandern. Sah andere Bilder, als er noch nicht geahnt, wen – wen er zu seiner Gattin gemacht.
Er öffnete die Augen, blinzelte ins Helle hinein.
Mein Gott – vielleicht war all das nur ein wüster Traum gewesen, – all das – dies verpfuschte Leben – dieses Dasein ohne jede Innigkeit.
Kein Traum! Der Briefbogen knisterte in seiner Hand. Nochmals überflog er den Inhalt; er war jetzt gefaßter.
‚Ein zerstörtes Leben liegt hinter mir. Vor mir derselbe Leidensweg eines Weibes, das an einen alternden, überzärtlichen Mann gefesselt ist, der ihr täglich widerwärtiger wird. Aus Haß tat ich vor vielen Jahren etwas, das ich heute bereue. Ich war’s, die Ihnen damals telephonisch mitteilte, was in Kairo sich ereignet hat. Ich bin’s, die jetzt, wo auch Sie hinausmüssen dem Tode entgegen, versucht, wieder gutzumachen, was sie heute als schwere Schuld empfindet. – Wissen Sie denn: das Kind, das ich Ihrer Frau in die Hände spielte, ist – Hildes leibliche Tochter! Hilde ahnt nichts davon. Sie glaubt, ihre kleine Eveline sei tot. –
Gisbert von Maubrach, ich flehe Sie an: Verzeihen Sie Ihrem Weibe! Tun Sie es des Kindes wegen, das Sie lieben gelernt, das Sie stets für Ihr eigen Fleisch und Blut ausgegeben haben und das Sie für seinen Vater hält! Seien Sie großmütig! Vielleicht gehören auch Sie zu denen, die nicht heimkehren! Sie werden leichter dem Tod ins Auge schauen, wenn Sie das Bewußtsein haben, daß daheim Ihr Weib für Sie betet.‘
Maubrach horchte plötzlich auf. Das waren Evis flüchtige Schritte.
Und Evi trat ein, eilte auf ihn zu.
„Papachen, guten Morgen!“
Wollte ihn umarmen; sah sein verstörtes Gesicht; sah die Blicke, die ihr Gesicht finster musterten.
Der Landrat suchte in des Kindes Zügen nach denen des wahren Vaters.
„Papa – was – was fehlt dir? Bist du krank?“ stammelte Evi ganz scheu.
Seine Augen behielten denselben Ausdruck; in seinem Innern schrie eine gellende, höhnende Stimme ohne Unterlaß:
‚Das Kind des Anderen! Das Kind dessen, dem dein Weib sich zuerst hingab!‘
Und diese Stimme übertönte alles andere; erfüllte sein Herz vollständig; machte es härter denn je. Nein – er konnte nicht verzeihen. Er – ahnte nicht!
„Geh!“ sagte er rauh. „Ich habe noch etwas zu erledigen!“
Sie wich rückwärts schreitend vor ihm zurück; ihr Gesichtchen war ganz weiß geworden; und ihre Arme hingen schlaff herab.
An der Tür blieb sie stehen. Sah den Vater mit tief gesenktem Kopf dasitzen. Flog auf ihn zu, umhalste ihn, preßte ihren Kopf gegen den seinen, schluchzte:
„Papachen – liebes, liebes Papachen, – hast du denn deine Evimaus plötzlich so gar nicht mehr lieb? Zürnst du mir, weil ich mit Herrn Müller –“
Da war es auch mit seiner Fassung vorbei. Wie ein heiseres Röcheln war sein Aufschrei:
„Quäle mich nicht – du – du kannst in nichts dafür. Du – armes –“
In demselben Augenblick trat Frau Hilde ein. Er bemerkte sie sofort. Und ebenso plötzlich war alles Weiche in ihm wieder ausgelöscht.
Er machte sich von Evi los, erhob sich, sagte seltsam tonlos:
„Entschuldigt mich noch einen Moment. Ich komme sofort –“
Hilde winkte Evi. Sie verließen das Zimmer. Und Maubrach verbrannte dann den Brief der Unbekannten. Als er die Veranda betrat, war sein Entschluß gefaßt; er würde zu denen gehören, die nicht wiederkehrten! Er – wollte es! Und was er wollte, führte er auch aus.
Nur weil er nun wußte, daß er nie mehr in diesem Korbsessel sitzen, daß Evi ihm nie mehr die Kaffeetasse füllen würde, brachte er es über sich, zu heucheln.
Denn Heuchelei waren seine Zärtlichkeiten für das Kind, Heuchelei sein ganzes Tun bis zur Minute, wo der Zug den Bahnhof von Grünmünde verließ.
Am Fenster stand er, winkte wie alle übrigen mit dem Taschentuch. Nun entzog ihm der Wald den Blick auf den Bahnhof; nun schaute er hinüber nach dem alten Gebäude des Landratsamtes; er nahm Abschied auch von diesem Hause, in dem er fast elf Jahre seine Pflicht getan. –
*
Am folgenden Mittag ließ sich Ingenieur Müller bei der Frau Landrat melden. Sie empfing ihn in ihrem kleinen Salon, begrüßte ihn freundlich, vermied aber jeden wärmeren Ton. Er machte ihr es leicht, jenen Vormittag auf dem Wege zur Annenhöhe zu vergessen, sprach sofort davon, daß er es für seine Pflicht halte, ihr jetzt seine Dienste anzubieten, wo sie den Gatten nicht mehr als Berater zur Verfügung habe.
„Ich bin militärfrei, Frau Landrat. Ich habe mir als Kind einmal den linken Arm gebrochen. Davon ist eine Schwäche der Handmuskulatur zurückgeblieben. – Ich bitte Sie, meine Hilfe in allem freundlich annehmen zu wollen –“
Sie hatte sich auf dem goldenen Diwan niedergelassen. Der Ingenieur saß dicht vor ihr in einem der kleinen Seidensessel.
„Ich danke Ihnen,“ erwiderte sie etwas wärmer. „Ich will Sie aber nicht belügen, mein Freund. Mein Mann war mir nie Berater, – nie! Er stand mir ferner als – als Sie zum Beispiel –“ Eine ungeheure Bitterkeit quoll plötzlich in ihr auf; ihre Augen wurden größer. „Begreifen Sie, was das heißt, eine Ehe zu führen, die keine Ehe ist?!“ flüsterte sie heiser, den Oberkörper weit vorgebeugt. „Begreifen Sie die traurige Komödie dieses Zusammenlebens! Wohl kaum! Sie sind jung. Sie wissen noch nichts von alledem, was das Schicksal uns aufbürden kann. Mein Schicksal ist dieser Diwan – der goldene Diwan! An allem Golde hängt ein Fluch! Auch ich habe diesen Fluch gespürt –“
Sie schwieg erschöpft. Und er saß da, starrte sie ratlos, unsicher an; fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen, fühlte aber doch ein unendliches Mitleid mit ihr.
Zusammengekauert hockte sie nun auf dem goldenen Diwan, diese schöne, vielbeneidete Frau; war so gar nicht mehr die elegante Dame von Welt, war nur noch ein armes, zermürbtes Weib. – Sie hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; saß regungslos; weinte nicht, schluchzte nicht; und wirkte doch in ihrer ganzen Haltung wie das verkörperte Leid.
Sein Mitleid wuchs.
„Frau von Maubrach!“ sagte er leise, sagte es nochmals.
Sie rührte sich nicht. Da zog er ihr sacht die Hände vom Gesicht fort, behielt sie in seinen kühlen, derben Fingern, diese weißen Hände mit den funkelnden Ringen und dem Brillantschmuck.
„Sie Ärmste,“ sagte er wieder.
Sie schaute nicht auf, nickte nur schwach mit dem Kopf. Und dann flüsterte sie, jetzt in ganz anderem Ton:
„Denken Sie noch daran – noch an Ihre Worte: ‚– helleren Sonnentagen entgegenhoffen –‘? Begreifen Sie mich jetzt – mich als Weib?“
„Ich begreife alles,“ erwiderte er hastig. „Alles. Obwohl ich zugebe, daß ich nichts weiß von dem stärksten Triebe, der uns Menschen beseelt, – daß ich ein Unkundiger in der Liebe bin. Aber ich bin anderseits welterfahren genug, um ermessen zu können, wie qualvoll eine solche Liebe sein muß, ein solches Nebeneinanderhergehen –“
Sie nickte wieder. „Ja – unendlich qualvoll ist’s! Oh – ich könnte Ihnen noch mehr beichten! Denn mein Leid ist nicht alltäglich, ist – ein Frauenschicksal von besonderer Art. Wie es ist, können Sie nicht im entferntesten ahnen!“
Die ersten Tränen entquollen ihren Augen; und die Tropfen fielen auf seine Hände, mehrten sich.
„Sie Ärmste!“ murmelte er mit halb erstickter Stimme.
Jetzt weinte sie, daß ihr Leid bebte. Und ratlos saß er ihr gegenüber.
Trösten? Wie nur – wie? – Leise drückte er ihre Hände, ganz sanft. Sie spürte es; sie hörte auf zu weinen; machte ihre Hände frei, trocknete schnell die Tränen, lächelte weh, lächelte ihn an.
„Sie wollten nie mein Freund werden,“ meinte sie nun und streckte ihm die Hände wieder hin. „Sind Sie es nicht geworden in dieser Minute, wo ich Ihnen einen Blick gönnte in ein so armselig leeres Frauenherz?“
Sie stand auf; zwang ihn so, sich gleichfalls zu erheben. Dicht vor ihm war nun das reife, schöne Weibesantlitz mit den dunklen Augen, in denen jetzt ein stilles Sehnen aufglomm wie die ersten Flämmchen eines großen Brandes.
„Nein – Nein!“ flüsterte sie weiter, „kein leeres Frauenherz! Etwas Neues ist darin erwacht an einem Junitage unter schattigen Buchen, als ein Ameisenheer über den Weg zog –“
Ihre Blicke begannen zu flammen.
„Etwas Neues, mein Freund. Und – dieses Neue gehört Ihnen – Ihnen allein! Ich darf’s verschenken – ich darf’s ohne Gewissensskru–pel –“
Ihre Augen lockten; ihr blühender Mund lockte. Und um Otto Müller wogte wieder die Wolke des zarten und doch so aufreizenden Wohlgeruchs.
Wie ein Schwindel überkam’s ihn.
Dieses – dieses Weib, diese schöne, begehrenswerte Frau – sein wollte sie werden, sein!
Ihre Hände umkrallten heiß die seinen; er wehrte sich wieder. Nicht lange. Er war jung, gesund; er hatte seine beste Kraft nicht vergeudet.
Feuerwogen schienen um ihn hochzubranden; er wußte nicht mehr, was er tat, spürte plötzlich ihre Lippen, riß sie an sich, küßte sie, stöhnte auf vor leidenschaftlichem Begehren, saß plötzlich auf dem goldenen Diwan, hatte sie auf dem Schoß, stammelte wie ein Trunkener, fühlte die weichen Rundungen ihres Leibes immer deutlicher.
Da – klopfte es.
Poch – poch – von der Tür her.
Nochmals: Poch – poch!
Frau Hilde sprang auf. Ging zur Tür.
„Ich wünsche nicht gestört zu werden,“ rief sie mit leicht zitternder Stimme.
Und Evis Stimme klang zurück:
„Ich bin’s, Mama. Herr Ingenieur Müller wird von der Zentrale aus am Telephon dringend verlangt.“
„Schon gut. Er wird sofort an den Apparat kommen –“
Sie wandte sich nach ihm um. Und er stand jetzt da wie einer, der soeben aus der Narkose erwacht ist.
Sie achtete nicht darauf, umschlang ihn, küßte ihn.
„Geh’ – ich warte hier. Das Telephon steht im dritten Zimmer rechts –“
Und dort traf er auf Evi. Sie hatte soeben hinübergerufen, daß Herr Müller sich sofort melden würde, hielt noch den Hörer in der Hand, legte ihn nun auf die Schreibtischplatte, trat zurück, schaute den Ingenieur so seltsam argwöhnisch an.
Er wurde verlegen unter diesem Blick. Zögernd begrüßte er sie mit kurzem Händedruck. Und dann ließ sie ihn allein. –
Der Oberingenieur aber teilte ihm mit, daß er sich sofort zur Nachuntersuchung auf dem Bezirkskommando melden solle – sofort! Und er fügte hinzu: „Kollege, machen Sie sich darauf gefaßt, daß man Sie einstellt. Jetzt wird jeder Mann gebraucht – leider!“
„Oh – das wäre mir nur lieb!“ erwiderte er hastig und setzte leise, nur für sich selbst hinzu: „Sehr lieb. Ich – will nicht hierbleiben – nein, – ich will nicht!“
Der Rausch war verflogen. Er wollte Frau Hilde fliehen. Mitleid und flüchtiger Sinnentaumel hatten keine Macht mehr über ihn.
Er setzte sich an den Schreibtisch dessen, dem er das Weib nicht treulos machen wollte; schrieb schnell ein paar Zeilen an Frau Hilde; versiegelte den Umschlag dann; ließ den Brief auf der Platte liegen und schlich wie ein Dieb davon, atmete auf, als die Parkwege ihn aufnahmen.
Und – traf hier abermals mit Evi zusammen. Sagte ihr, weshalb er es so eilig habe, daß er sich freiwillig ins Feld melden würde, falls man ihn nicht einstellte.
Evis Augen wurden feucht. Sie nestelte vom Halse das kleine Medaillon ab mit dem goldenen Kettchen.
„Nehmen Sie’s – als Talisman,“ flüsterte sie, drückte es ihm in die Hand und lief dem Hause zu. –
Frau Hilde wartete lange. Dann ging sie in das Arbeitszimmer ihres Mannes; fand den Brief.
‚Liebe Freundin! Auch ich werde Grünmünde noch heute verlassen. Ich muß es. Leben Sie wohl und denken Sie zuweilen an den Sie aufrichtig verehrenden
Otto Müller.‘
Und Frau Hilde?
Sie legte diese Abschiedszeilen so anders aus; dachte, ein Abschied Auge in Auge sei ihm zu schwer geworden.
Dann kam Evi; erzählte, daß sie Herrn Müller das Medaillon als Talisman aufgezwungen habe.
Frau Hilde sah ihre von Tränen leicht geröteten Augen; hörte das Zittern der feinen Mädchenstimme; und in ihrer Seele ging ein Ahnen auf, daß dieses halbe Kind diesen selben Mann liebte.
Ein Talisman von Evi! Und – von ihr nahm er nichts mit als die Erinnerung an diese heißen, tollen Küsse.
Nichts?! Waren diese Zärtlichkeiten nicht weit mehr als das goldene Medaillon?! Würden sie nicht stets lebendig bleiben in seinem Gedächtnis?
Und siegesgewiß dachte sie ein freudiges Ja!
*
Der deutsche Riese lag erdrosselt am Boden. Eine neue Zeit war angebrochen; neue Kräfte regten sich, über dem Grabe des Toten ein Bauwerk aufzurichten mit Hilfe anderer Bauleute und anderen Materials.
Zehn Monate waren sein der Staatsumwälzung vergangen. Auch in Grünmünde hatte das Neue seinen Einzug gehalten wie überall; auch hier mühte man sich nach bestem Können, die Wunden des Krieges langsam zum Vernarben zu bringen.
Landrat von Maubrach hatte Grünmünde nicht wiedergesehen. Er war bereits 1915 im Sommer in der Champagne gefallen. Verweser des Landratsamtes war jetzt wieder der alte Rechnungsrat Hoffmann. Frau Hilde und Evi wohnten noch in der früheren, auf vier Räume verkleinerten Dienstwohnung. Man hatte Mutter und Kind dort weiter geduldet, weil Frau von Maubrach darum bat. Sie war in der Stadt beliebt. Erst als es hieß, man würde sie zur Räumung der Wohnung zwingen, hatte sich herausgestellt, wie viele Freunde sie gerade in der Arbeiterbevölkerung besaß und was sie alles insgeheim Gutes getan.
Auch die Terrasse hatte man den beiden belassen. – An einem warmen Septembermorgen saßen Mutter und Kind dort beim Kaffee; saßen wie zumeist schweigend und hingen ihren Gedanken nach; die letzten Jahre hatten die Schranke zwischen Frau Hilde und der nun erwachsenen Tochter nur noch erhöht. Sie lebten nebeneinander, nicht miteinander. Sie verstanden sich nicht. Mehr noch: zwischen ihnen gab es so viel Unausgesprochenes, daß eines vom andern argwöhnte, es würden allerlei Dinge verheimlicht, die doch erst durch diesen Argwohn Bedeutung erhalten hatten.
Bald nach Ingenieur Müllers Abschied hatte Evi eine Postkarte gefunden, die er Frau Hilde aus Berlin gesandt hatte – einen förmlichen Gruß und Dank für – alles. Und über dieses Alles waren in dem klugen Kinde mancherlei Gedanken aufgestiegen. Sie hatte nicht vergessen, wie die Mutter damals ihr durch die Tür zugerufen: ‚Ich wünsche nicht gestört zu werden!‘ – hatte ebensowenig vergessen, daß nie zwischen ihren Eltern ein wärmeres Wort gewechselt worden war. – Die Karte hatte Evi mißtrauisch gemacht.
Drei Tage später war von Müller ein zweiter Kartengruß eingetroffen, diesmal für sie. Und – diese Karte war ganz eng beschrieben gewesen. – Wie hatte sie sich darüber gefreut! Aber – die Mutter hatte ihr die Freude schnell vergällt. Sie hatte ihm antworten wollen. Frau Hilde ließ es nicht zu:
„Es schickt sich nicht. Du bist kein Kind mehr,“ hatte sie gesagt.
Evi schwieg dazu. Am folgenden Morgen aber erklärte sie der Mutter sehr ruhig: „Ich werde doch an Herrn Müller schreiben, Mama. Ich finde nichts Unschickliches dabei, mich bei ihm für seinen Gruß zu bedanken.“
Frau Hilde hatte Evi daraufhin groß angesehen. Aber vor dem klaren, kühlen Blick des großen Mädels schlug sie die Augen zu Boden. – Evi schrieb. Doch der Ingenieur ließ nichts mehr von sich hören – nichts! Wenigstens gelangte kein Lebenszeichen von ihm in Evis Hände.
Und dann stellte sie fest, daß die Mutter den Patentschlüssel zu dem neu angeschafften großen Briefkasten nie aus den Händen gab. Dies fiel ihr auf. Bald nachher traf sie den alten Briefträger Rösicke morgens im Park, wollte ihm die Zeitungen und was sonst noch für Maubrachs da war abnehmen.
„Ne, Freilein, die Frau Landrat hat’s verboten,“ meinte der grauhaarige Mann.
Von dem Augenblick an argwöhnte Evi zweierlei; daß die Mutter mit dem Ingenieur im Briefwechsel stehe und daß ihr selbst weitere Karten Müllers vorenthalten worden seien.
Frau Hilde wieder wurde den Verdacht nicht los, Evi fände doch Mittel und Wege, heimlich mit dem Ingenieur zu korrespondieren. –
Evi wuchs heran. Die bitteren Kriegsjahre schlichen vorüber. Der Name Otto Müller ward zwischen den beiden Frauen nie erwähnt. –
Das Hausmädchen betrat die Terrasse.
„Gnädige Frau, Herr Rechnungsrat Hoffmann bittet um eine Unterredung –“
„Eine große Neuigkeit, Frau Landrat!“ Er war ganz aufgeregt. „Die Regierung hat einen Nachfolger für Ihren Herrn Gemahl bestimmt. Oh – Sie kennen ihn, Frau Landrat! Ja – ja, die heutige Zeit, die hebt so manchen in den Sattel, der sich’s nie träumen ließ, daß er mal Verwaltungsbeamter spielen müßte –“ Eine kleine Pause. „Also, Frau Landrat, – ein Bekannter ist’s, einer, der bei der Überlandzentrale beschäftigt war: der Ingenieur Müller – Otto Müller!“
Evi schaute prüfend die Mutter an. Die war bleich, dann blutrot geworden, faßte sich aber schnell.
„So, – Herr Müller,“ meinte sie scheinbar gleichmütig. „Er war ja wohl auch ein sehr befähigter Mensch. Ich denke, es wird sich mit ihm auskommen lassen –“
„Das bleibt abzuwarten,“ erklärte der alte Herr etwas zaghaft. „An mir soll’s gewiß nicht liegen. Aber – neue Besen – hm ja – und ich habe noch gar keine Lust, mich pensionieren zu lassen –“
Frau Hilde nickte ihm aufmunternd zu. „Keine Sorge, lieber Herr Rat – Herr Müller wird sich doch nicht vorschnell seines besten Mitarbeiters entäußern. Nein, da glaube ich Sie vollständig beruhigen zu können. Ganz fremd ist mir der Nachfolger meines Mannes ja nicht. Ich hoffe, er wird auf mein Urteil in vielem etwas geben –“
Evi lauschte gespannt. Obwohl der Ingenieur in ihrer Erinnerung nur noch in recht undeutlichen Umrissen fortlebte und sie an ihn nur wie an einen Menschen dachte, der einmal flüchtig unseren Lebensweg gekreuzt hat, war jetzt plötzlich all das in ihr seltsam lebendig geworden, was der Ingenieur für sie als halben Backfisch bedeutet hatte; alles – die gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt, am Hafen entlang, im Parke; auch jene Stunde, wo die Kinder aus dem Nachen ihr ‚Strohzopp‘ nachgerufen hatten; mehr noch: deutlicher denn je dämmerte ihr die Erkenntnis auf, daß sie Otto Müller schon vordem irgendwo, irgendwann begegnet sein müsse, daß sie ihn besser kenne, als sie selbst ahne.
Sie lauschte. – Die Mutter hatte soeben davon gesprochen, daß der neue Landrat etwas auf ihr Urteil geben würde. Und sofort war der Verdacht wieder da: sie hat mit ihm heimlich korrespondiert; deshalb vertraut sie ihrem Einfluß auf ihn.
Evi von Maubrach sann nach. Jetzt zum ersten Mal über die Frage: Liebt die Mutter den Ingenieur? – Und sie prüfte dies mit dem gereiften Verstande der Neunzehnjährigen, die mit offenen Augen dem Leben mit seinen vielfachen dunklen Tiefen gegenüberstand. Sie prüfte auch das Äußere der Frau, die vielleicht ein Anrecht hatte auf den, der nun bald hier als neuer Herr einziehen würde; sie erkannte neidlos an, daß auch diese Jahre der Schönheit ihrer Mutter nichts hatten anhaben können. Frau Hilde sah weit mehr wie ihre Schwester aus, wenn auch bereits manches an diesem zarten, glatten Gesicht Kunst war: Puder, Augenbrauenstift – und anderes. –
Evi sagte nichts. Nach einer Weile verschwand sie in ihrem Zimmer.
Frau Hilde hatte ihr nachgeschaut. In ihrem Blick war etwas Feindseliges. Sie traute Evi nicht. Sie witterte in ihr die Rivalin.
Wie unbequem war ihr gerade jetzt die erwachsene Tochter. Und – gerade Evi, die – merkwürdig genug! – mit ihr so große Ähnlichkeit hatte! Wenigstens meinten die Bekannten das. Sie selbst fand das nicht. Jedenfalls konnte von einer ‚großen‘ Ähnlichkeit keine Rede sein. – Sie überlegte. Wenn sie Evi jetzt für einige Wochen zu Onkel Egon auf die einsame Haffinsel schickte, dann – kaum war dieser Gedanke ihr gekommen, als sie auch schon das Nötige vorzubereiten beschloß. Sie machte sich zum Ausgehen fertig, bestellte in der Stadt auf dem Postamt ein Ferngespräch, wartete geduldig eine halbe Stunde und begrüßte dann den Onkel ihres Mannes, der noch immer für sie schwärmte, sofort mit den Worten: ‚Onkelchen, ich habe eine große Bitte. Ladet doch sofort Evi brieflich recht dringend ein. Ich habe sehr ernste Gründe, sie für einige Zeit –‘
*
Evi hatte sehr bald nach dem Aufbruch der Mutter in der Küche mit dem Hausmädchen das Nötige über das Mittagessen besprochen. Maubrachs hielten sich nur die eine Bedienung jetzt. Evi hatte in einem Hotel der Stadt Kochstunden genommen und besorgte die Mahlzeiten ganz allein. Es machte ihr Freude, und – es lenkte die Gedanken so wohltätig ab. An seichten Zerstreuungen fand sie überhaupt kein Vergnügen.
Evi band sich jetzt die große Wirtschaftsschürze vor und ging in den Hinterhof des weitläufigen Gebäudes hinunter, um die Hühner zu füttern und nachzusehen, ob der Kaninchennachwuchs gut gedieh.
Die Hinterfenster des Treppenhauses des Bureauflügels gingen in den kleinen Hof hinaus. Eins davon war offen. Und dahinter stand ein Herr, der soeben erst das Gebäude betreten hatte.
Er war etwas über mittelgroß, schlank, trug den Schnurrbart kurz gestutzt und hatte ein paar eigentümlich scharfe, durchdringende Augen, dazu sehr dicke Brauen. Alles in allem war es ein Männergesicht, das man nicht leicht übersah, das auffiel. Jeder gewann wohl sofort den Eindruck; dieser Mann weiß, was er will; und was er will, führt er auch durch.
Evi stutzte. Sie wollte vorüber. Er zog den Hut, verbeugte sich; und fragte leise:
„Fräulein Evi von Maubrach?“
Evi kam die Stimme bekannt vor. Sie blieb stehen; blickte den Fremden forschend an. Nicht allzulange. Wich etwas zurück, stammelte:
„Herr – Herr Ingenieur Müller?“
Da trat er auf sie zu; sein Gesicht strahlte.
„Ja, Fräulein Evi, – Otto Müller! Oh – was sind Sie schön geworden, Fräulein Evi –“
Seltsam! Die letzten Jahre versanken für Evi; es war ihr, als ob der Ingenieur noch immer ihr großer Freund sei, als hätten sie erst gestern am Hafen über den – ‚Strohzopp‘ gesprochen, als hätte er ihr erst gestern gesagt: ‚Purer Neid ist’s, Fräulein Evi – Ihr Haar ist so schön –‘ –
Und deshalb wurde sie bei dieser Schmeichelei, die doch die ehrlichste Bewunderung war, nur wenig verlegen, streckte ihm nun wie einem lieben Kameraden die Hand hin und sagte:
„Wir haben uns so schnell wiedererkannt, obwohl wir beide uns doch wohl stark verändert haben. Damals trugen Sie einen Spitzbart, und –“
„– Sie einen dicken, dicken – Strohzopp!“ vollendete er.
Da lachten sie beide heiter auf. – Und das war ihr Wiedersehen.
Evi bat ihn dann, falls er Zeit habe, mit auf die Terrasse zu kommen.
„Mama ist in der Stadt, wird aber wohl sehr bald zurück sein,“ sagte sie harmlos, beobachtete aber doch dabei scharf sein Gesicht. „Mama würde sich freuen, Sie begrüßen zu können. Wir sprachen noch vorhin von Ihnen, nachdem Rechnungsrat Hoffmann uns mitgeteilt hatte, Sie seien zu Papas Nachfolger ernannt.“
Sie täuschte sich nicht; bei den letzten Sätzen hatte sein Gesicht den frohen Ausdruck verloren, hellte sich aber sofort wieder auf.
„Wenn Sie gestatten, leiste ich Ihnen ein wenig Gesellschaft, Fräulein Evi,“ sagte er schnell. „Aber – ich nehme mir da so ohne weiteres das Recht heraus, die förmlichere Anrede Ihnen gegenüber fallen zu lassen. Darf ich denn noch ‚Fräulein Evi‘ als das Vorzugsrecht des –“
„Gewiß dürfen Sie, gewiß!“ fiel sie ihm in’s Wort. „Ich habe jene Tage nicht vergessen, als wir zusammen gelegentlich spazieren gingen und als ich so stolz war, daß der – Herr Ingenieur Müller sich mit mir so ernsthaft unterhielt –“ All das kam so natürlich und zwanglos heraus, daß auch der neue Herr Landrat Evi als junger Dame gegenüber nun sofort den alten kameradschaftlichen Ton wiederaufnahm.
Dann saßen sie auf der Terrasse in den Korbsesseln an der einen Tischseite dicht beieinander. Evi hatte Zigarren, Zigaretten und eine Flasche Rotwein bringen lassen. – Und er fühlte sich sofort behaglich, so, als ob er hier stets daheim gewesen.
Das Gespräch stockte nicht einen Augenblick. Erst als er plötzlich sie voll ansah und fragte:
„Weshalb haben Sie mir eigentlich auf meine Karten aus dem Felde nie mehr geantwortet?“ – Da erst senkte sie den Kopf, preßte die Lippen einen Moment fest zusammen und entgegnete nach einer Weile zögernd:
„Bitte – ersparen Sie mir eine Antwort –“ Sie schaute dabei nicht auf.
Er rauchte schweigend ein paar Züge, legte dann die Zigarette auf die Aschenschale, nahm Evis Hand, die auf der Lehne ihres Korbsessels ruhte, in die seine und fragte nochmals:
„Weshalb antworten Sie nicht? Weshalb soll ich Ihnen gerade diese –“
Sie war schnell aufgestanden, ging nach der anderen Seite der Terrasse hinüber, stellte sich an die Brüstung, stützte sich auf die kühlen Steine und suchte die flammende Empörung des Herzens zu besänftigen. – Also hatte ihre Mutter die Botschaften des Ingenieurs wirklich unterschlagen! Ihr Argwohn war gerechtfertigt gewesen! Und – jetzt war ihr auch völlig klar, weshalb Otto Müller für sie nicht mehr hatte vorhanden sein dürfen: weil ihre Mutter schon in dem halberblühten Backfisch die – Rivalin fürchtete! –
Der neue Herr des Landratsamtes beobachtete Evi nachdenklich. Er vermochte sich nicht zu erklären, weshalb sie, die ihm gegenüber doch so offen war, diese Frage ausgeschaltet haben wollte.
Er wartete eine Weile. Dann stand er auf, trat neben sie.
„Ein wundervoller Fernblick,“ sagte er leise. „Meine neue Heimat ist schön. Es soll ganz meine Heimat werden. Hier will ich arbeiten im Dienste der Allgemeinheit, hier will ich mithelfen, das junge Deutschland von Grund auf gesund zu machen –“
Er sprach weiter. In seine Augen trat wieder derselbe Ausdruck, der denen des kleinen, frechen Jungen eigen gewesen, – der des träumerischen Schwärmers. – Evi hörte still zu. Und sie sah, wie sein Blick leuchtete, wie der fanatische Politiker aus ihm redete, wie groß und heilig er sein neues Amt auffaßte.
*
In der offenstehenden Tür der Terrasse war soeben Frau Hilde erschienen. Das Hausmädchen hatte ihr sofort im Flur zugeflüstert: „Der neue Herr Landrat ist beim Fräulein –“
Und da war Frau Hilde wachsbleich geworden, hatte schnell den Hut abgelegt, das Gesicht leicht übergepudert, das Parfümflakon in Anspruch genommen und versucht, sich zur Ruhe zu zwingen.
Er war da! Er – die Hoffnung ihrer reifen Jahre! Er, den sie liebte, den sie begehrte mit jener unbefriedigten Leidenschaft, die so leicht Sinnenreiz für wahre Liebe hält.
Er war da – und Evi hatte ihn zuerst gesprochen! – Ein Zufall das – wirklich ein Zufall? Oder hatten die beiden stets hinter ihrem Rücken weiter in Briefwechsel gestanden, hatte Evi vielleicht gewußt, daß er heute kommen würde?
Sie ging leise auf die beiden zu. Horchte ein wenig. Wie dieser Müller sich zum Vorteil verwandelt hatte! Und – wie verstand er zu sprechen! Man meinte: das war einer, der die Volksseele aufzustacheln, mit fortzureißen wußte.
„Ach – Herr Ingenieur, – welche Freude!“
Die beiden fuhren herum. Und – Otto Müller wurde seit langem zum ersten Male wieder verlegen.
Frau Hilde – sie, die er in den Armen gehalten, die er geküßt, die ihm dann regelmäßig geschrieben, die ihm viele, viele Päckchen ins Feld gesandt hatte.
Sie reichte ihm die Hand. Lächelte ihn an.
„Herzlich willkommen in Ihrem Wirkungskreis, Herr Landrat,“ sagte sie herzlich.
Man nahm wieder Platz. Jetzt spielte Evi nur eine Nebenrolle. Als Frau Hilde den ‚lieben alten Freund‘ dann bat, heute ihr Mittagsgast zu sein, als er sofort mit Dank die Einladung annahm, entschuldigte Evi sich. „Ich muß in die Küche. Ich spiele selbst Köchin –“
Sie ging. – Frau Hilde ließ noch zehn Minuten verstreichen. Dann erklärte sie, sie finde es hier zu kühl auf der Terrasse. – Und nun saß sie wieder ihm gegenüber auf dem goldenen Diwan und er in dem kleinen Seidensessel – wie damals, wie einst.
Aber – es war das Einst nicht mehr. Und Otto Müller war nicht mehr der unerfahrene Mann, dessen Sinne sich in einer Wolke von Parfüm und durch Frauentränen umnebelten.
Er blieb freundlich, kameradschaftlich – herzlich, – aber er blieb der Vorsichtige! Er war auf seiner Hut. Er hatte schnell herausgemerkt, daß Frau Hilde an dieses Wiedersehen Hoffnungen knüpfte, die sie oft genug schon in ihren Briefen fein angedeutet hatte, – Hoffnungen, die er nicht erfüllen konnte.
Frau Hilde fühlte, daß sie ihn erst von neuem erobern mußte; glaubte am richtigsten zu handeln, wenn sie ihm keine Zeit ließ zur Besinnung zu kommen; wandte alle Künste an, die ihr, dem schönen Weibe, zu Gebote standen, sein Blut zu erhitzen; wurde in ihrer Angst, ihn zu verlieren, fast zur raffinierten Dirne.
Halb auf dem goldenen Diwan liegend, den Kopf in die Hand gestützt, bot sie ein Bild dar, das jeden Mann erregt hätte. – Nur Otto Müller nicht.
Die Zeit verstrich. Frau Hilde versuchte es mit anderen Mitteln, spielte eine Szene ähnlich der, wie er sie schon einmal hier in diesem luxuriösen Gemach erlebt hatte.
Und da – gerade als sie seine Hand umklammert hatte, als wieder ihre Tränen auf seine Haut tropften, – da klopfte es.
Poch – poch – poch – poch.
Und Evi rief von draußen: „Mama, eine Dame wünscht dich zu sprechen, eine Frau Thussi Stürmer.“
Frau Hildes Gesicht verzerrte sich. Aber sie nahm sich zusammen.
Thussi Stürmer! Thussi Stürmer, geborene Wümpler. – Seit Jahren hatte sie nichts mehr von ihrer einstigen Intimsten gehört – nichts mehr. –
Sie rief zurück: „Ich komme sofort –“, trocknete die Augen, bat Otto Müller, hier zu warten, ging hinüber in ihres Mannes Arbeitszimmer.
Dort saß ein mageres, ärmliches Frauchen mit vielen Silberfäden im Haar. – Das – das sollte Thussi Wümpler sein?! – Frau Hilde stand ganz fassungslos, brachte kein Wort heraus.
„Du erkennst mich wohl nicht,“ sagte das verhärmte Weib hart und bitter. „Ja – ich sehe etwas anders aus als du. An dir sind die Jahre spurlos vorübergegangen –“
Hilde erfaßte unendliches Mitleid. Sie eilte auf Thussi zu, wollte sie in die Arme schließen.
Aber die Witwe des Buchhalters hob abwehrend beide Arme. – „Laß das!“ meinte sie finster. „Du würdest deine größte Feindin an deine Brust ziehen.“ Sie reckte sich höher. „Ja – deine Feindin bin ich. Du hast mir einst Gisbert von Maubrach geraubt, gestohlen. Ich habe das Elend kennengelernt. Ich darbe jetzt, hungere, bin krank. Wäre vielleicht längst tot – längst. Aber der – Haß gegen dich hat mir stets wieder Kraft gegeben. Nur ein einziges Mal habe ich diesen Haß vergessen; als der Krieg ausbrach, als ich wußte, daß auch Gisbert hinausmüßte gegen den Feind. Da fand ich für Tage und Wochen ein Gefühl der Reue. Aber als er dann fiel, er, den ich geliebt hatte und den du – du nur unglücklich gemacht hast, du, die – Unreine, die – Betrügerin – war der alte Haß wie–der da –“
Hilde schwankte zum nächsten Sessel, sank hinein und schlug die Hände vor das leichenblasse Gesicht, brachte nur ein trockenes Schluchzen heraus.
Und der verkörperte Haß redete weiter. „Stets habe ich um dich herum spioniert – stets, habe Unsummen geopfert dafür. Ich kenne die Geschichte deiner Ehe. Ich weiß, daß du jetzt einen Anderen zu heiraten gedenkst, – jemand, der – bei mir seit einem Jahr in Berlin möbliert gewohnt hat und bei dem ich Briefe von dir fand – viele Briefe. Nun willst du dich entschädigen für die Jahre des Darbens, nun möchtest du Otto Müllers frische Männlichkeit an dich ketten. – Leugne es, wenn du’s kannst, wenn du’s wagst! – Nein – niemals wird dir dies gelingen! Die Welt wird jetzt erfahren, wer Evi von Maubrach ist – Grünmünde wird staunen. Du selbst wirst mir entgegenschreien: Du lügst! – Und doch – es ist die Wahrheit: Evi ist dein – leibliches Kind, dem du in Kairo das Leben gegeben!“
Frau Hilde schnellte hoch.
„Du – du lügst!“ stieß sie heiser hervor.
„Siehst du – da ist es schon, dieses ‚Du lügst!‘ Und doch – niemals log ein Mensch weniger als ich in diesem Augenblick. Jene Müllers aus Kairo, die deine kleine Eveline als eigen annahmen, verzogen nach Südamerika. Das Kind war ihnen lästig. So gaben sie’s denn einer älteren Schwester des Mannes, die gerade ihr eigenes kleines Mädchen durch den Tod verloren hatte, die nach Berlin übersiedelte und deine Eveline als ihr Fleisch und Blut ausgab, die die Behörde täuschte, die dann die Lina Müller von den alten Maubrachs adoptieren ließ – die Lina Müller, dein Kind! – Und Otto Müller? Weißt du, wer das ist? Das – das ist der Sohn jener Waschfrau, das ist Evelines Pflegebruder –“
Das kränkliche, magere Geschöpf, diese Hülle eines nimmermüden Hasses, preßte die Hände gegen die dürre Brust, überwand die Schmerzen, die in dem krebszerfressenen Leibe wühlten, fuhr fort mit derselben, von hellem Wahnsinn entfachten Vernichtungsrede.
„Grünmünde wird mit Fingern auf dich weisen, auf die vornehme, schöne Frau, die ihren Gatten noch vor der Ehe hinterging, die schuldbeladen vor den Altar trat. Und der, den du nun für dich erkoren hast, – er wird –“
Ihre Stimme versagt jäh, ging über in einen entsetzlichen Schrei. Sie taumelte – sank zu Boden, wimmerte nur noch; ihr Körper wand sich in furchtbaren Zuckungen.
Der Schrei hatte Evi herbei gelockt. Man bettete die Kranke in Frau Hildes Schlafzimmer. Der Arzt kam, schüttelte den Kopf. „Es ist fraglich, ob sie überhaupt noch einmal zur Besinnung kommt –“
Der junge Landrat blieb unter diesen Umständen nicht zu Tisch. – Und Frau Hilde saß nun mit starrem Gesicht am Lager der sterbenden Feindin und – kämpfte den letzten Kampf.
Niemanden ließ sie ins Zimmer. Sie wollte allein sein. Sie mußte sich klar werden über das, was in ihrem Innern vorging.
Bleichen Antlitzes schaute sie auf das verfallene, vergrämte Gesicht dort in den Kissen. – Also Thussi Wümpler war’s gewesen, die ihrem Gatten damals mitgeteilt, daß in Kairo eine Eveline zur Welt gekommen.
Und – diese Eveline war jetzt – ihre Rivalin! Sie ahnte mit dem überfeinen Instinkt des liebenden Weibes, daß Evi sich über ihre eigenen Gefühle täuschte, daß sie noch nicht wußte, was ihr Otto Müller galt.
Ihr Kind! Ihr Kind war’s, der sie Karten und Briefe unterschlagen hatte, gegen die sie hatte mit aller Rücksichtlosigkeit vorgehen wollen.
Und – wenn Thussi jetzt hier starb, wenn dieser haßerfüllte Mund für immer verstummt war, – dann – dann durfte sie vielleicht doch noch hoffen, den Mann zu erringen, nach dem ihre Seele lechzte, der ihr Sonnentage hatte schaffen sollen.
Vielleicht! Vielleicht gewann sie den Kampf gegen Evi. –
Niemand, auch er nicht, würde nun all diese Geheimnisse erfahren. – Vielleicht war ihr reifes Weibestum stärker als die Unberührtheit ihres Kindes.
Ihres Kindes! – Darüber kam sie nicht hinweg! Ihre Evi, der sie unter Schmerzen das Leben gegeben.
Sie weinte leise vor sich hin. Und klarer und klarer ward’s in ihrem Innern. – Die Tränen versiegten. Milder Friede erschien auf Frau Hildes kampfzerwühltem Gesicht.
Sie hatte gesiegt – sie hatte sich selbst besiegt. –
Als die Sonne sank, starb Thussi Stürmer in Hildes Armen. Bei vollem Bewußtsein schlummerte sie hinüber. Als ihr umflorter Blick die Feindin an ihrem Lager erkannt hatte, als sie spürte, daß es zu Ende ging, suchte ihre kraftlose Hand die der Anderen, drückte sie schwach, lächelte dazu ein überirdisches Lächeln.
Der Haß in ihr war tot. Die Reue war doch wieder erwacht – wie damals, als sie Gisbert von Maubrach den Eilbrief schickte.
So starb sie. Und ihre erkaltende Hand netzten die Tränen des Weibes, deren Schicksal sie gewesen.
*
Vom nächsten Tage ab war Frau Hilde äußerlich eine andere. Sie legte Trauer um die verstorbene Freundin an; kleidete sich einfach; benutzte keinen Puder mehr, – wurde jetzt in allem die Mutter einer erwachsenen Tochter.
Dem neuen Landrat wich sie aus, jedoch nicht auffällig, fand schnell ihm gegenüber einem mütterlich freundlichen Ton; begünstigte ebenso unauffällig das Aufblühen einer Liebe, die in dem alten großen Gebäude verstohlen durch die Gänge wisperte.
Und gleichzeitig warb sie auch um Liebe: um die ihres Kindes. Warb geduldig.
Und als an einem stürmischen Oktoberabend der Wind das Landratsamt umheulte, saß Frau Hilde wieder einmal auf dem goldenen Diwan und neben ihr Evi.
Und Evis Kopf lag an ihrer Brust. Und über den blonden Scheitel ihres Kindes hinweg, beichtete Frau Hilde – alles – alles. Nichts verschwieg sie; legte vor ihrem Kinde ihre Seele bloß, schonte sich nicht, flüsterte mit schwerer Stimme von dem goldenen Diwan, den sie hätte eigentlich hassen müssen.
Evi ruhte still an der Mutter Brust. Ganz eng umschlungen hatten sich die beiden Frauen.
Der Sturm tobte; die See brüllte; die Fenster klirrten leise.
So fanden sich Mutter und Kind. –
Und Evi?! – Die war wie verwandelt. Die trällerte jetzt oft ein Liedchen vor sich hin, gab der Mutter schallende, übermütige Küsse, tanzte urplötzlich mit ihr im Zimmer herum.
Wenn sie mit dem gestrengen Landrat zusammen war, dann geschah es oft, daß sie, die jetzt wußte, weshalb sein Gesicht ihr damals gleich so merkwürdig bekannt vorgekommen war, allerlei Andeutungen machte, die er nie recht begriff, – über Dinge, die vielleicht noch an den Tag kämen, Dinge, die sich in der Gabrielstraße abgespielt hätten. – Wenn er dann aber in Evi drang, ihm diese Andeutungen näher zu erklären, schüttelte sie stets den Kopf:
„Später, Herr Landrat!“ – Damit mußte er sich begnügen.
Bis dann ein Novembernachmittag kam, an dem er Evi allein im Damensalon antraf, wo sie auf dem goldenen Diwan saß und eine Photographie in den Händen hielt, die sie schleunigst beiseite legte bei seinem Eintritt. Nachher rief das Mädchen sie hinaus. Und da war er etwas indiskret, nahm das Bild auf, stutzte.
Der Windelturm! Kein Zweifel – es war die Mietskaserne in der Gabrielstraße! – Und auf der Rückseite der Kabinettphotographie stand:
Einst meine Heimat!
Lina – Eveline
Evi kam zurück; setzte sich wieder auf den goldenen Diwan. Und Otto Müller stand vor ihr, hatte die rechte Hand auf dem Rücken, brachte sie jetzt zum Vorschein, hatte die Photographie in den Fingern.
„Woher haben Sie dieses Bild, Fräulein Evi?“ fragte er leise.
Sie schaute zu ihm auf. – „Ich habe es vor kurzem durch einen Berliner Photographen anfertigen lassen –“
Da wußte er Bescheid.
„Evi – Evi, – nicht wahr. Sie sind – meine Schwester Lina –“
Sie nickte nur. Sie sah, wie bleich er war; sah die furchtbare Enttäuschung in seinem Gesicht.
Er wandte sich ab und trat an das Fenster.
Dachte: vorbei! Du liebst sie – und es ist deine Schwester, – das Adoptivkind der Maubrachs!
Hinter ihm eine Stimme:
„Ihre Schwester – und doch nicht Ihre Schwester. Der Landrat von Maubrach war nicht mein Vater. Aber – meiner Mutter leibliches Kind bin ich –“
Er fuhr herum.
„Evi – ist das wahr?“
„Ja. Ich bin nur Ihre Pflegeschwester, Otto, – bin die – Strohjöhre, Otto –“
„Lina – Eveline – Evi!“
Er hatte ihre Hände ergriffen.
„Meine – kleine Lina von einst –“
Und vor dem goldenen Diwan kniete er nun; schaute sie flehend an, konnte vor innerer Bewegung kein Wort hervorbringen.
Evi beugte sich langsam herab. Ihre Lippen fanden sich im Kuß der ersten bräutlichen Zärtlichkeit.
Ein letzter Strahl der scheidenden Sonne ließ den goldenen Diwan matt aufleuchten. Der Kuß hatte ihn entsühnt.
Die Schuld einer Mutter war verziehen.
* *
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