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Dämonen

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 372

Dämonen.

Roman von

Waltraud Kebla.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

Der Oberstleutnant saß an seinem Schreibtisch und rechnete. Seine hagere, verblühte Gattin half ihm. Es hätten auch noch die beiden Töchter Erna und Lisa helfen können: es wäre doch stets dasselbe dieser Aufstellung des Jahresbudgets herausgekommen, – die nackte Unmöglichkeit, bei diesen teuren Zeiten mit sechstausendzweihundertundfünfzig Mark Pension und fünfhundert Mark Zinsen sich auch nur leidlich über Wasser zu halten.

Herr von Langenbeck legte den Bleistift hin.

„Gertrud,“ sagte er dumpf, „es ist der Anfang vom Ende. Wir werden langsam verhungern, wenn es nicht gelingt, etwas dazu zu verdienen. Und die Mädels müssen mit ran. Es geht nicht anders. Wenn sie nur etwas Ordentliches gelernt hätten! Aber – mit ihrer Töchterschulbildung ist ja nichts zu holen – nichts! – Wer konnte das auch alles voraussehen, den verlorenen Krieg, die Auflösung der Armee, die steigende Teuerung und – meine schnelle Verabschiedung. Nun sitzen wir hier ausgerechnet in Berlin mit einer Sechszimmerwohnung, die jetzt zweitausendundachthundert Mark kostet, müssen sie behalten, weil wir kein anderes Unterkommen finden, und werden von morgen ab selbst die Marmelade zum Kaffee streichen müssen, werden –“

Er malte in düstersten Farben aus, woran sonst noch gespart werden könnte. Herr von Langenbeck war ja stets ein Mensch gewesen, der den Kopf leicht hängen ließ; kein richtiger Soldat; mehr Gelehrter. Daher hatte er auch zumeist Kommandos gehabt, bei denen er seine besonderen Fähigkeiten verwerten konnte.

Frau Gertrud von Langenbeck konnte ihrem Gatten jetzt ebenso wenig mit Rat und Tat beistehen, wie ihr dies schon früher, als man noch gedankenlos in den Tag hineingelebt hatte, stets unmöglich gewesen.

Sie saß ganz insich zusammengesunken da und dachte in diesem Augenblick nur an ihre Mädels, die armen Mädels, die jetzt unweigerlich alte Jungfern werden und irgendwo in einem Laden als Verkäuferinnen oder als Schreiberinnen in einem Bureau schnell verwelken würden.

Gestern hatte ja die blonde Erna noch erklärt: ‚Ehe ich Ladenmädel werde, gehe sich lieber ins Wasser!‘ – Und Lissi hatte sofort hinzugefügt: ‚Kriegsgewinnler und Schieber bedienen, – nein, dann heirate ich den dicken Mehlwurm von nebenan, der mich jetzt immer so frech anglotzt.‘

Der Oberstleutnant hatte da seine wehleidige Rede beendet und beschloß sie mit einem langen Seufzer. Dann raffte er sich auf.

„Hol’ die Mädels, Gertrud. Sie sollen schwarz auf weiß sehen, daß – wir arbeiten müssen. Und – wenn sie dazu ihre ablehnend hochmütigen Fratzen machen, dann – dann sollen sie mich kennen lernen. – Hol’ sie, Gertrud! Und warne sie! Sage ihnen nur gleich, daß – daß ihr Vater schon seit einer Woche heimlich um einige fünfzig Stellen sich beworben hat, Stellen mit dreitausend Mark Gehalt, Stellen, die – die unser Emil hätte ausfüllen können. – Ja, Frau, – es ist so: Ich bin herumgelaufen – hier und da, habe mich persönlich vorgestellt, habe meinen Adel unterschlagen, habe gekatzbuckelt vor krummnasigen Fettwänsten, habe gebeten – gebeten! Und – man hat mich doch überall höflich oder höhnisch hinauskomplimentiert – überall!“

„Oh – Emil war ein heller Kopf und ein so gewandter Mensch,“ meinte Frau Gertrud. Ihr Gesicht strahlte in Erinnerung an diesen letzten Burschen, den der Oberstleutnant während des Krieges gehabt hatte. „Emil verstand alles, alles. Und doch war er nur Friseurgehilfe. Wie schnell hat er zum Beispiel Kochen gelernt –“

Herr von Langenbeck nickte sinnend. „Wenn ich nur wüßte, wo er jetzt steckt. Ich bin überzeugt, er würde mich schon irgendwie unterbringen. Er ist ein so dankbarer Mensch. Die letzte Karte von ihm kam vor drei Monaten aus Hamburg. Er scheint seine Stellung oft gewechselt zu haben.“

Frau Gertrud ging jetzt hinüber in das Zimmer ihrer Töchter, das nach dem Hofe hinauslag. Erna und Lissi saßen am Fenster in ihren Korbsesseln und lasen.

Die beiden Langenbecks waren hübsch. Das mußte ihnen der Neid lassen. Aber der stete Umgang mit ihresgleichen hatte ihnen Ideen eingeimpft, die in ihrer Einseitigkeit belächelnswert waren.

Als die verblühte, jetzt so sorgenbelastete Mutter nun sehr zögernd von der Notwendigkeit einer völligen Umgestaltung der bisherigen Lebensweise zu sprechen begann, meinte die blonde Erna, als Frau Gertrud endlich mit Tränen in den Augen schwieg:

„Es ist also wirklich so weit – wirklich! Wir sollen auf Stellenjagd gehen!“ Sie warf die Zeitschrift auf das Fensterbrett. „Mama, wenn ihr uns beizeiten hättet etwas lernen lassen, dann – dann wäre es uns jetzt leichter, uns – uns mit Tippfräuleins und Ladenmädchen auf eine Stufe zu stellen.“ Sie stand auf, ballte die Hände zu Fäusten, reckte die Arme halb vor. „Ich sehe noch Emils Gesicht vor mir, als er mir drei Tage vor seiner Entlassung in der Küche sagte: ‚Für Sie wird noch eine sehr schwere Zeit kommen, gnädiges Fräulein! Sie werden ein gutes Dutzend Löcher zurückstecken müssen. Bereiten Sie sich darauf vor.‘ – Ja – ich sehe noch sein Gesicht! Es war mitleidig, aber – für mich war dieser Ausdruck desto demütigender. Denn Hohn und Spott kicherten in seinen Augen.“

„Unsinn! Keine Spur davon!“ rief Lissi dazwischen. „All das bildest du dir ein. Emil und höhnisch! Keine Rede! Du hast ihn nur stets geradezu raffiniert hochmütig behandelt, weil du merktest, daß er dich anhimmelte. Emil war kein schlechter Mensch – im Gegenteil, er –“

„Schlecht – schlecht!“ fuhr die Blonde auf. „Ein Heuchler war er. Einer, der nur so tat, als ob er an uns hing, der stets allerlei Heimlichkeiten hatte, der nie – nie Friseur gewesen ist, vielleicht gar nicht Emil Harsfeld hieß. Wie viele schmuggelten sich mit falschen Papieren ins Heer ein!“

Frau Gertrud schüttelte verzweifelt den Kopf. „Kinder, zankt euch doch nicht wieder Emils wegen. Der Vater wartet. Kommt mit. Und – ich bitt’ euch herzlich! – Macht’s ihm nicht zu schwer. Es kann so nicht bleiben! Ihr müßt irgendeine Arbeit ergreifen –“

Erna dachte: ‚Gott – man sagt eben zu allem zunächst Ja und Amen. Bei der Überfüllung in allen Berufszweigen finden wir doch so bald keine Stellung. Und vielleicht hat man später Glück und bekommt etwas Standesgemäßes – Gesellschafterin oder dergleichen.‘ –

Und die braunhaarige Lissi dachte dasselbe.

Der Oberstleutnant aber machte seinen Töchtern sofort einen Strich durch die Rechnung. Er merkte, daß sie die Sachlage nicht ernst nahmen.

„Ich werde mich für euch nach Passendem umsehen,“ erklärte er mit seltener Schärfe. „Und – dann gibt’s kein Murren und Zögern, wenn ich was gefunden habe. – Ich fühle mich an eurer verkehrten Erziehung jetzt mitschuldig. Aber – von jetzt ab will ich mir keine Vorwürfe mehr zu machen haben. Ihr gehorcht und seid vernünftig, oder –“

Erna und Lissi hatten sich auf das alte rote Plüschsofa gesetzt, das nur deshalb mit drei Kelimkissen belegt war, damit die Mottenlöcher bedeckt wurden. Die Mädels erkannten, daß ihnen keine Galgenfrist mehr gewährt werden sollte. Sie fühlten; der Vater hatte jetzt wieder eine seiner plötzlichen Energieanwandlungen, bei denen er dann stets sein Ziel erreichte.

Sie saßen da mit hochmütig ablehnenden Gesichtern. In dieser Beziehung glichen sich die Schwestern; sie verstanden es gleich gut, ihren Zügen einen stolzen, unnahbaren Ausdruck zu geben.

Der Oberstleutnant wurde erregt. Er fing zu wettern an. Dann sprang er auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Da klang draußen die Flurglocke an.

Frau Gertrud rief leise: „Es wird der Postbote sein. Es ist bereits fünf Uhr –“

Bedienung hielten Langenbecks sich nicht mehr. So eilte denn Erna hinaus, die der Tür am nächsten war.

*

Erna schaute durch das Guckloch. Draußen stand ein Herr mit tadellos blankem Zylinder, mit blendend weißem Stehkragen und einem Brillanten in der Krawatte.

‚Also nicht der Postbote!‘ – Erna schaute genauer hin. Wer konnte nur dieser elegante, bartlose Herr sein?

Dann kam Erna das Gesicht plötzlich doch bekannt vor. Vielleicht irgend ein Offizier in Zivil. – Wem ähnelte dieser Herr nur – wem? – Sie dachte angestrengt nach.

Da – drückte er schon wieder auf den Klingelknopf.

Schrill – schrill!

Erna hakte die Sicherheitskette los, öffnete.

Der draußen zog den Zylinder: Verbeugung.

„Gnädiges Fräulein, ist Ihr Herr Vater zu sprechen? – Sie erkennen mich scheinbar nicht. Ja – ein fehlender Schnurrbart ändert zuweilen ein Gesicht beträchtlich –“

Erna fuhr zurück. Herr Gott: – Emil war’s, – Emil, der letzte Bursche – der Vielgewandte, vom Papa Vielgepriesene, – Emil, der Ironische, Schadenfrohe!

Ihre Miene wurde eisig.

„Papa ist daheim. – Bitte –“

Und Emil Harsfeld betrat den Flur, den er so manches Mal ausgefegt hatte, hing Zylinder und seidengefütterten kurzen Mantel an den Garderobenständer, dessen Spiegel er so oft genug blank gerieben.

Dies geschah mit der ruhigen Sicherheit des gesellschaftlich Gleichgestellten und sagte dabei zu der ältesten Langenbeck:

„Ich fürchtete schon, der Herr Oberstleutnant wäre vielleicht von Berlin fortgezogen, gnädiges Fräulein. Desto mehr freut es mich, Ihrem Herrn Vater als meinem Gönner aus ehrlicher Dankbarkeit jetzt einen Besuch abstatten zu können.“

Erna war sprachlos. – War das wirklich Emil?! War das Emil, der hier Tiegel und Töpfe gescheuert und die Stuben gesäubert, der Kartoffel geschält und ‚hintenrum‘ so manches fabelhaft billig besorgt hatte?! Emil mit den Soldatenstiefeln, der abgetragenen Litewka1 und den unförmigen Kommißhosen?!

Erna öffnete die Salontür. „Bitte, Herr Harsfeld, – ich werde Papa sofort benachrichtigen.“

„Zu liebenswürdig!“ Er verbeugte sich leicht, betrat den ihm so wohlbekannten Raum. Es war der letzte der vier Vordergemächer, hatte drei Fenster, davor einen kleinen Balkon. Dann musterte er die linke Seitenwand, die nach dem Nachbarhause hin. Dort stand das große Paneelsofa; daneben eine Vitrine.

Emil nickte befriedigt. – „Wenn nur das Weitere auch klappt!“ murmelte er und setzte sich in einen der Sessel, streckte die Beine aus, besah seine Lackschnürschuhe, zog die Handschuhe aus, reckte sie lang und nahm sie in die Linke. Dann glitten seine lebhaften Augen wieder durch das Zimmer, blieben auf der Balkontür haften, die gleichzeitig das mittlere Fenster bildete. Wieder nickte er mit einem leichten Zusammenkneifen der Augenlider. –

In des Oberstleutnants Arbeitszimmer herrschte förmlicher Aufruhr.

„Wer – wer?!“ das waren Herrn von Langenbecks einzige Worte gewesen, als Erna mit unsicherer Stimme erklärt hatte‚ Herr Harsfeld!‘ sei da.

„Nun – Emil!“ meinte Erna mit erkünstelter Ruhe. „Aber nicht ‚unser‘ Emil von einst. Nein – ein – ein Pseudo-Kavalier.“ Sie zog die Mundwinkel dabei etwas breit. –

Der Oberstleutnant war genau so sprachlos wie Erna vorhin. Desto lebhafter bestürmten seine Frau und Lissi die Älteste mit Fragen. Dann mischte auch er sich ein. Es war ein wildes Durcheinanderreden; es war, als ob plötzlich der Schah von Persien bei Langenbecks erschienen wäre. –

Der Oberstleutnant faßte sich zuerst. Sein Gesicht strahlte jetzt.

„Treue Seele, der Emil!“ sagte er. Und er dachte: ‚Vielleicht weiß der Rat, wo und wie ich was verdienen kann.‘

Dann ging er durch das Eßzimmer und den sogenannten blauen Raum in den Salon.

Emil Harsfeld erhob sich bei seinem Eintritt, kam ihm entgegen, wollte etwas sagen. – Langenbeck hatte ihm schon die Hand hingestreckt, nachdem er einen Moment die Augen förmlich aufgerissen hatte vor ungläubiger Verwunderung.

„Sie – Sie Braver, – wie freut es mich, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben!“ Er drückte seines früheren Burschen Hand, klopfte ihm mit der Linken auf die Schulter. „Donner – haben Sie sich aber herausgemacht, E…“ Er wollte ‚Emil‘ hinzufügen. Aber – er brachte es nicht über die Lippen. „Nehmen Sie Platz, lieber Harsfeld,“ fuhr er schnell und leicht verlegen fort. –

Nun saßen sie nebeneinander in den Sesseln. Und der Oberstleutnant sagte nochmals:

„Wahrhaftig – ich hätte Sie nie erkannt. Tatsache! Was doch das Zivil verändert –“

Emil schmunzelte harmlos. „Das mag schon sein, Herr Oberstleutnant. Ich habe stets auf ein tadelloses Äußeres viel gegeben. Ich bin sparsam, solide. Ich habe viel Geld verdient in letzter Zeit –“

„Wodurch?“ fragte Langenbeck schnell.

„Durch Börsengeschäfte –“

„Börsengeschäfte?“ Der Oberstleutnant war starr. „Sind Sie denn nicht mehr – Friseur, lieber Harsfeld?“

„Hm – das war ich vor Jahren nur ganz wenige Wochen, um ehrlich zu sein. Ich hatte ‚Friseurgehilfe‘ in meinen Militärpapieren stehen. Ich beließ es dabei. Warum nicht?! Der Soldatenrock machte alle gleich. Eigentlich war ich schon drei Jahre vor dem Kriege Spekulant –“

„Spekulant? – Ich bin so vollständig unerfahren in geschäftlichen Dingen. – Was verstehen Sie unter Spekulant?“

„Einen Menschen, der klug genug ist, besondere Verhältnisse zu besonderen Geschäften auszunutzten.“

„So – so –“ Langenbeck wußte jetzt genau so wenig wie vorhin, was ein Spekulant treibt.

„Wie geht es Ihnen, Herr Oberstleutnant?“ meinte Harsfeld nun und lehnte sich bequem zurück. „Wir leben in einer etwas tollen Zeit. Wer jetzt nicht fähig ist, dies zu begreifen, kommt unter die Räder.“

Langenbecks Gesicht wurde düster. Er nickte, seufzte.

„Ganz recht, – unter die Räder,“ wiederholte er zögernd. Und dann begann er seinem früheren Burschen sein Herz auszuschütten.

Emil ließ ihn reden. Dann begann er – und gleich der erste Satz war ein Hoffnungsstrahl:

„Weshalb vermieten Sie nicht zwei Zimmer Ihrer Wohnung möbliert, Herr Oberstleutnant? Sagen wir hier den Salon und nebenan das blaue Zimmer. Weshalb nicht? – Bei den heutigen Preisen könnten Sie monatlich dafür vierhundert Mark bekommen.“

„Vier … hun … dert?“ stotterte der Oberstleutnant. „Das ist wohl ausgeschlossen, lieber Harsfeld.“

„Warum?! Sie bekommen’s sicher. Das sind pro Jahr viertausendundachthundert Mark, das heißt, Sie wohnen umsonst und haben noch zweitausend Mark Überschuß. Wenn Sie dem Mieter noch die Nebenmahlzeiten verabfolgen, können zusätzlich eintausend Mark Verdienst dabei herausgeschlagen werden. – So, das wäre das Eine. –

Dann eine Stellung für Sie. – Sie möchten nicht müßig sein. Sie sind noch frisch und rüstig. Sie haben zumeist als Bureauoffizier Dienst getan, zuletzt im Generalstab. Zufällig weiß ich auch einen Posten, der Ihnen zusagen würde, mit achttausend Mark Gehalt. Die Stelle hat nur ein Unangenehmes: Jeden dritten Tag Nachtdienst von neun Uhr abends bis fünf früh.“

Dem Oberstleutnant wurde ganz schwindelig.

„Ist das alles wahr, lieber Harsfeld –“

„Ich mache nie Redensarten. – Ich habe auch einen Mieter für diese Zimmer, Salon und nebenan. Bitte sprechen Sie sofort mit Ihrer Frau Gemahlin. Der Mieter zahlt vierhundert Mark monatlich und für Morgenkaffee, Nachmittagskaffee und Abendbrot täglich zwölf Mark.“

Herr von Langenbeck starrte Emil ganz entgeistert an.

„Bitte – die Sache eilt,“ meinte Harsfeld. „Der Mieter ist ein ruhiger, solider Junggeselle, ein sehr angenehmer Hausgenosse, den Sie bereits kennen. Ich bin’s!“

„Sie?! – Sie?!“

„Wer die jetzige Zeit nicht begreift, kommt unter die Räder!“ sagte der Spekulant mit dem bleichen Gesicht kalt. „Begreifen Sie diese Zeit ebenfalls, Herr Oberstleutnant. Ich bin ein sehr wohlhabender Mann. Ich gedenke jetzt hier in Berlin ein neuartiges Unternehmen zu gründen. Mir fehlt ein zuverlässiger Bureauchef. Sie sollen es werden –“

Da streckte Langenbeck seinem früheren Burschen abermals beide Hände hin.

„Harsfeld, – Sie – Sie wollen doch nicht etwa aus – Dankbarkeit –“

Emils lebendige Augen kniffen sich halb zu; der Mund mit den dünnen Lippen wurde für einen Moment zum Strich.

„Dankbarkeit?!“ fiel er dem Oberstleutnant ins Wort. „Davon weiß ich nur gerade so viel, als es meine Geschäfte nicht stört. – Ich habe es eilig. Ich wohne im Hotel, will daher ein behaglicheres Heim haben. Ich hoffe, Ihre Gattin wird –“

Langenbeck stand schon auf. „Sie wird einverstanden sein – selbstverständlich,“ ergänzt er ganz glücklich. „Wir kennen Sie doch, bester Harsfeld. Sie waren uns stets ein angenehmer – Mitbewohner.“ Er hätte beinahe ‚Bedienter‘ gesagt. –

Dann ging er hastig hinüber in sein Arbeitszimmer; mit erregter Stimme berichtete er den neugierigen Damen den Verlauf seiner Unterhaltung mit Emil.

„Aha!“ warf die blonde Erna ein. „Wußt ich’s doch! Der und Friseur! Schieber wird er sein!“

Frau Gertrud war empört. „Du bist unleidlich in Deiner Voreingenommenheit gegen Harsfeld!“ rief sie. Und fügte hinzu: „Mann, ich muß ihn sprechen, unseren Emil! – Lissi, besorge schnell den Kaffeetisch. Harsfeld muß sehen, daß wir – die neue Zeit begreifen. Er trinkt mit –“

Erna lachte ironisch auf. „Dann entschuldigt Ihr mich wohl. Ich – ich setze mich mit einem Menschen, der meine Stiefel geputzt und meine Röcke ausgebürstet hat, nicht an denselben Kaffeetisch!“

Der Oberstleutnant war mit einem langen Schritt dicht vor seiner Ältesten.

„Du wirst!“ sagte er drohend. „Du wirst!“ Er packte ihr Handgelenk. Sie schrie leise auf. „Ich werde dir den Hochmutstick schon austreiben, du –“

Die Nachmittagssonne lugte in das Speisezimmer hinein. Und Emil Harsfeld saß zwischen dem Ehepaar Langenbeck und zeigte, daß er ein Weltmann war. Ein Gesandtschaftattachée hätte sich nicht tadelloser benehmen können. Frau Gertrud redete ihn nur mit Herr Harsfeld an; Lissi desgleichen; Erna – gar nicht; für sie war er Luft.

Und Emil erzählte von Hamburg, von München, von Luzern, von Kopenhagen, von Amsterdam.

Überall war er in den letzten Monaten gewesen. Und jetzt stellte sich auch heraus, daß er fließend französisch und englisch sprach, daß er bereits den Orient bis nach Japan hin kannte, daß er in Neuyork monatelang gelebt hatte und ein geradezu glänzender Schilderer der Besonderheiten der einzelnen Weltstädte sein konnte.

Auch Erna von Langenbeck konnte sich dem Reiz dieser eigenartigen Persönlichkeit auf die Dauer nicht entziehen. Sie begann Harsfeld heimlich zu beobachten, der über sie genau so hinwegsah, wie sie es tat, und dabei kamen ihr allerlei Erinnerungen an den anderen Emil, – der die Röcke gebürstet, der aber auch gelegentlich seine dunklen Augen mit verzehrender Leidenschaft in die ihren gebohrt hatte, – so – so verlangend, so gierig, daß es sie mitunter heiß überrieselt hatte trotz aller Auflehnung gegen des – ‚Burschen‘ Dreistigkeit.

*

Harsfeld blieb bis halb sieben Uhr bei Langenbecks. Am folgenden Vormittag wollte er einziehen. Das blaue Zimmer sollte sein Schlaf–gemach werden. Die Miete zahlte er gleich für drei Monate voraus.

Harsfeld küßte Frau Gertrud die Hand und ging. – Kaum waren Langenbecks nun allein, als sofort ein ähnlicher Aufruhr entstand wie vorhin. Das Stimmengewirr übertönte des Hausherrn Kommandostimme:

„Kinder – es ist wie ein Wunder! Dieser Emil ist kein Pseudokavalier! Dafür habe ich einen Blick; das merkt man doch so an allem.“ – Er schaute dabei seine Älteste etwas überlegen an.

Die blonde Erna wurde merkwürdigerweise rot und verteidigte sich nur leise mit den Worten:

„Trotz alledem, Papa. Mir – mir ist er geradezu unheimlich. – Ich weiß nicht, wie ich’s bezeichnen soll, aber – er hat etwas an sich, das beinahe –“

Sie suchte umsonst nach einem passenden Ausdruck, worauf Lissi rief:

„Ich hab’s – ich hab’s: etwas, das an den Rudolf Zöllner erinnert –“

Frau Gertrud nickte. „Sehr richtig – an Zöllner! – Das bleibt sich aber alles gleich! Die Hauptsache: Emil kam gerade zur rechten Zeit!“ –

Langenbecks wohnten am Nollendorfplatz. Das Haus gehörte nicht gerade zu den modernsten Mietpalästen. Aber es war peinlich sauber gehalten, und der Besitzer hatte sogar trotz der großen Kosten die Fassade neu streichen lassen. Das linke Nachbargebäude war äußerlich protziger, hatte nur vier Achtzimmerwohnungen und beherbergte jetzt lediglich Leute des neuen Geldadels. Rechts lehnte sich an das Langenbecksche Haus ein nur dreistöckiges Überbleibsel aus den Gründerjahren, ein engbrüstiger Bau, der unten einen Laden und in den Stockwerken nur Bureauräume beherbergte.

Emil Harsfeld bog sofort nach dem Eingang der Hochbahn ab und blieb dann wie unabsichtlich stehen, drehte sich um, holte sein goldenes Zigarettenetui hervor, steckte sich eine seiner 60-Pfennig-Zigaretten umständlich an und ließ dabei seine Blicke über dieses alte Gebäude hinschweifen, las unter den Fenstern des ersten Stockwerks das langgestreckte Blechschild, auf dem Herr August Mehlwurm sein Kommissionsgeschäft anpries und gleichzeitig in kleineren Buchstaben bekannt gab, daß er Brillanten, antike Kunstgegenstände und Gemälde belieh und ankaufte.

Dann fuhr Harsfeld mit der Hochbahn nach dem Potsdamer Platz und betrat das ‚Esplanade Hotel‘. Der dicke Portier verbeugte sich sehr tief. –

Harsfeld fragte ihn lässig:

„Ist Herr von Wertern schon zurück?“

„Jawohl, Herr Harsfeld. Vor fünf Minuten kam er im Auto –“

Harsfeld ließ sich im Lift nach oben in den zweiten Stock bringen. Dort bewohnten er und Wertern je zwei nebeneinanderliegende Räume. Er klopfte an die Tür von Nr. 21, öffnete dann sofort. An einem Diplomatenschreibtisch vor dem Fenster hatte ein blonder, sehr eleganter jüngerer Herr gesessen, dem das Monokel wie eingemauert vor dem rechten Auge funkelte. Er erhob sich. Sein frisches, längliches Gesicht mit dem ganz kurzen Schnurrbart hatte weichliche Linien. Ein Zug von Blasiertheit konnte den Eindruck nur verstärken, daß der Besitzer dieses beinahe mädchenhaften Gesichts ein wenig energischer Charakter sein mußte.

Harsfeld nickte ihm zu. „‘n Tag, Wertern. Na, Glück gehabt?“ – Er legte Hut, Stock und Mantel ab, reichte dem Blonden die Hand.

„Ein reiner Zufall,“ erwiderte Josef von Wertern eifrig. „Ich bin stundenlang in den Straßen mit dem Auto umhergegondelt. Dann fand ich in der – der – richtig, der Augsburgerstraße eine ältere Dame, die von ihrer Wohnung im Hochparterre die beiden Vorderzimmer –“

„Bon! Kontrakt gemacht?“ unterbrach der Andere ihn kurz.

„Ja. Auch schon die Bureaueinrichtung gemietet. Die Sachen werden morgen hingeschafft –“

„So, dann bleibt also nur noch die Anmeldung des neuen Gewerbebetriebs. Sehr gut alles.“ – Harsfeld warf sich in einen der Klubsessel, fuhr dann fort: „Auch ich habe mein Ziel – vorläufig – erreicht. – Vorläufig. Sagen wir besser: ich bin in das feindliche Lager eingedrungen. Ich werde bei Langenbecks von morgen ab möblierter Herr –“

Wertern lächelte süßlich, lehnte sich Harsfeld gegenüber an die Tischkante, schlug die Arme übereinander und fragte:

„Na – wie benahm sie sich denn?“

In Harsfelds bleiches Gesicht schoß das Blut. Seine Augen wurden größer. Er starrte geradeaus nach dem Kronleuchter hinauf.

„Sie benahm sich so, wie ich’s erwartet hatte,“ stieß er hervor. Seine Lippen wurden mit einem Male wieder zum schmalen Strich. „Wertern – ich habe ihr gegenüber am Kaffeetisch gesessen,“ fügte er gepreßt hinzu. „Ich habe mich beherrscht. Ich hätte am liebsten über den Tisch gelangt, sie gepackt, sie an mich gepreßt! – Oh – ich habe es nicht getan; ich habe eine Probe auf meine Selbstbeherrschung bestanden, wie ich sie noch nie durchmachen mußte. Ich habe wieder gemerkt, daß dieses stolze, hochmütige Mädchen mein Schicksal ist. Ich liebe sie mehr denn je; ich verzehre mich in Sehnsucht nach ihr. Aber – auch ich werde ihr Schicksal werden! Milo Harsfeld hat noch stets erreicht, was er wollte –“

Wertern schüttelte den Kopf. Sein Gesicht hatte wieder einen geradezu kindlich hilflosen Ausdruck.

„Sie sind ein seltsamer Mensch, Harsfeld,“ sagte er etwas bedrückt.

Milo Harsfeld setzte sich wieder. „Oh – Leute meiner Art gibt es nicht viele, – vielleicht auf eine Million einen. Und das ist schon viel. In Deutschland würden mithin von meiner Sorte so etwa ein Schock leben. – Doch das gehört nicht hierher. – Morgen wird dann also die neue Firma Josef von Wertern ihre Auferstehung feiern, und der Oberstleutnant wird übermorgen seinen Dienst antreten. Bisher hat er keine Ahnung, welcher Art das geschäftliche Unternehmen ist, in das er eintritt. Die achttausend Mark besänftigten alle vielleicht aufkeimenden Bedenken. – Glauben Sie mir, Seppi – wir werden viel Geld verdienen. Und nebenbei werde ich noch – mein besonderes Ziel erreichen –“

„Das Ihnen doch von vornherein bei alledem die Hauptsache war,“ fügte Wertern mit einem mehr mißtrauischen als lediglich fragenden Blick hinzu.

„Möglich,“ lächelte Harsfeld. „Ihnen kann’s ja egal sein, denk’ ich. Sie sind aus dem Dalles heraus. Sie leben jetzt wieder, wie Sie’s mal gewöhnt waren, und – das übrige kann Ihnen schnuppe sein –“. Das klang zynisch und auch gönnerhaft überlegen.

Wertern errötete. Seine Stirn krauste sich. Aber er schwieg. Er dachte daran, daß er noch vor vier Wochen als Oberleutnant a.D. mit einigen dreißigtausend Mark Wechselschulden aus der Zeit vor dem Weltkriege kläglich sein Leben als Unteragent eines Grundstückschiebers gefristet und dabei oft Dinge erlebt hatte, vor denen der Rest des einstigen Ehrgefühls sich schmerzhaft aufbäumte.

*

Lissa von Langenbeck holte zum Abendbrot ein. Der warme Maiabend gestattete ihr, nur die seidene Strickjacke überzuziehen, deren Lila bereits stark von der Sonne ausgeblichen war. Einen Hut verschmähte sie. Sie hatte ja nur fünf Häuser weit zu gehen.

Als sie die Treppe hinabstieg, sah sie im Flur einen Herrn stehen, der mit dem Hauswart Zöllner sprach. Nun erkannte sie ihn. Es war dessen Sohn Rudolf, der ehemalige Kunstschlosser.

Der Hauswart, grüßte sehr freundlich. Lissi dankte ebenso: „Guten Abend, Herr Zöllner!“

In Gedanken fügte sie hinzu: ‚Flegel!‘ – Das galt dem Sohne. Denn der hatte nicht mitgegrüßt und ihr sehr augenfällig noch mehr den Rücken zugekehrt.

Als die Haustür hinter Lissi mit einem singenden Pfeifen des pneumatischen Schließers zufiel, meinte Franz Zöllner, der Vater:

„Die werden nun wohl auch bald verschwinden, die Langenbecks. Haben tun sie nischt. Die Wohnung ist viel zu teuer für sie. Der Oberstleutnant sieht jetzt in Zivil um zehn Jahre älter aus. Oder es machen die dünnen Suppen. – Auf Rosen sind diese Herren nicht gebettet –“

Rudolf Zöllner hatte Lissi nachgeschaut, sagte nun feindselig: „Schadet nichts! Sie waren lange genug obenauf. Ein Dämpfer tat not. – Die Jüngste hat sich ordentlich herausgemacht. Vor zwei Jahren war’s noch nicht Fisch, nicht Vogel. Jetzt ist sie Weib – ein Weib, das sich sehen lassen kann! Nur in einem hat sie sich nicht verändert. Der Hochmut steht ihr noch immer auf dem Gesicht geschrieben. Vorgestern traf ich sie auf der Straße. Da schien sie auf einen Gruß zu rechnen. Kann lange warten –“

Der alte Mann mit dem gemütlichen Greisenantlitz blickte den Sohn etwas scheu an, seufzte dann leise:

„Einen Haß habt ihr gegen diese Leute, einen Haß! Wo nehmt ihr nur all das her? Ich – ich –“ Er schwieg verlegen vor dem ironischen Zucken um des Sohnes Lippen.

Eine Weile blieb’s still zwischen den beiden. Dann sagte Rudolf: „Ich muß fort, Vater. Auf Wiedersehen. Wir wollen heute nacht wieder eine große Razzia in der Motzstraße veranstalten. Da hat das Gesindel in Lackschuhen und Seidenstrümpfen wieder zwei heimliche Spielhöllen aufgetan. Wird recht lebhaft hergehen. Mich fürchtet die Bande schon wie ‘n leibhaftigen Satan –“

Der Alte seufzte wieder. „Junge, Junge, – daß du ausgerechnet den Beruf jetzt wählen mußtest.“

Der Sohn zuckte die Achseln. – „Auf Wiedersehen, Vater.“ Dann verließ er das Haus.

In dem blauen Jackenanzug und dem braunen, weichen Hut, den schmalen Schnürstiefeln und der schlanken aufrechten Gestalt, deren leichte Bewegungen so viel Kraft und Gewandtheit verrieten, hätte niemand mehr einen Mann vermutet, der vor dem Kriege tagsüber in den Borsigwerken am Schraubstock gestanden hatte. Für manche aus der Partei war Rudolf Zöllner viel zu eitel auf sein Äußeres geworden.

Er ging jetzt sehr langsam den Bürgersteig nach links hinunter, schwenkte dann rechts ab, umging die Hochbahnstation und bestieg eine Straßenbahn, in der schon ein lebensgefährliches Gedränge herrschte. In der Motzstraße verließ er den Wagen und schlenderte gemächlich weiter. Er wollte das Terrain nochmals besichtigen, bevor er abends mit seinen Leuten die Streife begann.

An der nächsten Straßenecke stand ein Zeitungsverkäufer. Zöllner steuerte auf ihn zu, nahm ein Abendblatt entgegen, fragte leise: „Was Neues, Harder?“

„Vier kamen schon im Auto nach Nummer 112. Dort scheint’s heute Großbetrieb zu werden.“ –

In der Motzstraße Nummer 112, 2. Etage, waren die Fenster dicht verhangen; den Boden bedeckten Läufern und Teppiche in dicker Schicht, damit kein Geräusch nach unten drang. – Die Inhaberin der Sechszimmerwohnung, eine ältere Witwe, betrieb ein Fremdenheim. Seit Tagen hatte sie jedoch einem geheimen Spielklub Unterkunft gewährt, dessen Vorstand und Leiter ein Genie in der Erfindung von Vorsichtsmaßregeln gegen eine Überraschung durch die Polizei war. Man fühlte sich daher auch ganz sicher in den drei Vorderzimmern. Jetzt um halb eins in der Nacht waren dort gegen dreißig Herren und Damen versammelt; eine bunte Gesellschaft, was Stand und Charakter anbetraf; hier waren sie alle gleich, alle eins; hier verwischte die Spielwut alle Unterschiede.

Milo Harsfeld und Wertern waren durch eine Hotelbekanntschaft schon gestern eingeführt worden. Heute waren sie abermals erschienen. Harsfeld beteiligte sich nur zum Schein. Wertern aber verriet die Jeuratte in allem, hatte längst kreisrunde Flecken auf den Wangen, Schweißperlen auf der Stirn, lächelte gequält blasiert und – verlor.

Harsfeld beobachtete ihn; beobachtete auch die anderen; dachte: ‚Schwächlinge!‘ Und pirschte sich wieder an den dicken Herrn Mehlwurm heran, der hier im Smoking wie eine Karikatur aussah. – Mehlwurm stand am Baccarattisch dicht hinter einem besetzten Stuhl und warf seine Hundertmarkscheine sehr geschickt auf die ausgewiesenen Spielfelder.

„Nichts geht mehr. Ab dafür,“ leierte der eine Bankhalter, deckte die Karten auf.

Mehlwurm strich den Gewinn ein.

„Sie haben fabelhaftes Glück,“ meinte Harsfeld und tat neidisch.

Der Dicke zuckte die Achseln. „Es geht an –“ Und sein Fettgesicht glänzte stärker.

Plötzlich von irgendwoher das laute Klirren von zertrümmerten, herabstürzenden Glasscheiben.

Alles lauschte. Der Herr Vorstand wurde unruhig.

Dann ein Krach. Die verschlossene Tür flog nach innen auf.

Lähmender Schreck. Beamte in Zivil drangen ein; allen voran Rudolf Zöllner.

„Ich erkläre Sie sämtlich für verhaftet!“ rief er laut. Seine grauen Augen schillerten; die Gesichtsmuskeln spannten sich. „Man kann auch vom Dache aus an Strickleitern durch die Hinterfenster eindringen!“ fügte er spöttisch hinzu.

Harsfeld stand ihm am nächsten.

„Bitte – können Sie sich legitimieren?“ fragte ihn Zöllner barsch und musterte ihn mit steigendem Argwohn. „Ich muß Sie kennen,“ sagte er plötzlich. „Wer sind Sie?“

Harsfeld überlegte blitzschnell. – Das war doch der Sohn des Hauswarts von Nr. 62, Nollendorfplatz. Den schien die neue Zeit auch als verborgenes Talent ausgegraben zu haben. Etwas unangenehm, dies Zusammentreffen. –

Milo Harsfeld lächelte Zöllner vertraulich an, beugte sich vor, flüsterte:

„Langenbecks Emil!“

„Ah!“ Zöllner witterte hier sofort einen ganz gefährlichen Hochstapler. – Emil war’s. Jetzt erkannte er ihn ganz genau trotz der unglaublichen Veränderung in Aussehen und Aufmachung.

„Sie behalte ich mir für zuletzt vor,“ sagte er kurz und wendete sich den anderen zu.

Harsfeld ging und setzte sich auf das Eckledersofa, streckte die Beine von sich, schob die Hände halb in die Hosentaschen. Und beobachtete Rudolf Zöllner.

Nach zehn Minuten trat dieser dann auf ihn zu.

Harsfeld machte eine einladende Handbewegung. Doch Zöllner fuhr ihn sofort an:

„Ihre Papiere bitte –“

„Nehmen Sie Platz,“ meinte Harsfeld und deutete wieder auf das Ledersofa. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Zöllner. Seit wann haben Sie denn umgesattelt?“

Zöllner blickte ihn durchdringend an. „Ihre Papiere. – Wird’s bald?!“

Die Augen der beiden Männer ruhten ineinander. In denen Milo Harsfelds war scheinbar nur leiser Ärger über die strenge dienstliche Haltung des anderen. Langsam zog er die Brieftasche, holte seinen Militärpaß und noch ein anderes Papier hervor, auf das eine Photographie geklebt war; reichte beides Zöllner mit einem: „Bitte – das dürfte genügen –“

Militärpaß: Emil Karl Alfred Harsfeld; geb. in Stettin; Beruf: Friseurgehilfe.

Das andere Papier war ein polizeilicher Ausweis für den Kaufmann Emil Harsfeld, wohnhaft Hamburg – und so weiter. –

Zöllner ließ den Namen und das Hotel ‚Esplanad‘ als jetzige Wohnung von einem Beamten notieren. Er war enttäuscht. Er dachte: ‚Natürlich durch Schiebergeschäfte hochgekommen, dieser Mensch‘, – und nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten.

Er gab Harsfeld die Papiere zurück. Wieder trafen sich ihre Blicke.

„Von morgen ab wohne ich Nollendorfplatz 62, 1 Treppe bei Langenbeck,“ sagte Harsfeld noch.

Zöllner fragte schnell: „Bei Langenbecks?“

„Ja – möbliert, Herr Zöllner. Die Herrschaften waren so liebenswürdig, mich aufzunehmen –“ –

Milo Harsfeld durfte gehen. Auch Seppi von Wertern hatte man entlassen. Unten auf der Straße trafen sie sich.

Harsfeld lachte. „Mal was anderes, so eine polizeiliche Überrumpelung.“

Wertern fragte, ob die Geschichte etwa Gefängnis kosten werde.

„Keine Spur, lieber Seppi. Geldstrafe! – Übrigens – der Kommissar mit dem Charakterkopf –“

„Wie ‘n Jesuitengeneral sah er aus –“

„– Stimmt! – Den kenne ich von früher her. Sie wissen, – der ‚Emil‘ von Oberstleutnants. Damals war dieser Zöllner ebenfalls noch Soldat, – Vizefeldwebel, Eiserne I. Der Vater ist in dem Hause der Langenbecks Portier. – Vielleicht werde ich mit Zöllner bekannter. – Beziehungen zu den Geheimen können manchmal recht wertvoll sein.“

Der gute Seppi hörte den Doppelsinn der Worte nicht heraus. –

Rudolf Zöllner hatte beide Spielklubs ausgehoben. Er fühlte sich Triumphator. Aber heute war’s nicht dieselbe restlose Freude wie sonst. Er konnte Harsfelds Augen nicht vergessen. Hatte er sich getäuscht? Hatte nicht wirklich in den Tiefen dieser Augen versteckter, überlegener Hohn gelauert?! Glaubte dieser Mensch etwa schlauer zu sein als Rudolf Zöllner?!

‚Du wirst mich kennen lernen,‘ dachte er. ‚Wenn an dir auch nur ein Fleckchen zu entdecken ist, – ich lege es bloß!‘ – Und seine Gedanken glitten sofort weiter.

Bei Langenbecks – möbliert?! Und – meinte Vater nicht, der – ‚Emil‘, der Bursche, sei wohl in das eine – ‚gnädige‘ Fräulein verschossen? – Etwa Lissi?! Etwa die, die ich selbst – Unsinn! Ich selbst!? Bin ich nicht Rudolf Zöllner, dem auch laue Mainächte nichts anhaben können, der hoch über diesen Schwächen steht, über den sogenannten – Naturtrieben?!

*

Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr saß Harsfeld in des Oberstleutnants Arbeitszimmer.

„Das neuartige Unternehmen, Herr von Langenbeck, will folgendes,“ sagte er soeben zu dem Hausherrn. „Der Vater der Idee, das muß ich noch vorausschicken, ist mein Freund Wertern – von Wertern, Oberleutnant a.D. Er gibt der Firma auch den Namen. – Wie Sie wissen dürften, sind neue Telephonanschlüsse jetzt kaum zu haben. Unzählige Geschäftsleute müssen sich ohne Metallstrippe begnügen. Wir werden nun einen Ersatz für diesen Mangel schaffen, werden – – doch das erkläre ich besser an einem Beispiel. Also: Müller hat Meier was Eiliges mitzuteilen. Müller hat Telephon, Meier nicht. Müller ist Abonnent beim ‚Telephonersatz‘, Inhaber Josef von Wertern, – ne, Josef Wertern. Müller telephoniert das Eilige an uns; wir schreiben’s auf, schicken einen Radlerjungen zu Meier; Meier schreibt sofort für Müller die Antwort, die der Radler uns übermittelt und die wir Müller telephonisch geben; oder, wenn‘s schneller geht, trägt der Radler die Antwort sofort direkt hin. –

Will der telephonische Meier eiligst Müller was melden, verläuft die Geschichte ähnlich. – Wir werden natürlich eine Riesenreklame für den ‚Telephonersatz‘ machen, werden zunächst dabei zusetzen, dann aber ganz fraglos glänzend verdienen, wenn wir verschwiegen, zuverlässig und stets im Galopptempo arbeiten. –

Ihre Aufgabe, Herr von Langenbeck, ist nun fürs erste die Anstellung von fünf Radlerjungen, die Auswahl zweier Telephonistinnen unter den sich auf unsere Anzeigen Meldenden und die gelegentliche Übernahme des Nachtdienstes im Bureau, – jeden dritten Abend –“ Er redete noch ein langes und breites, redete so überzeugend, daß der Oberstleutnant schließlich bestimmt glaubte, der ‚Telephonersatz‘ würde tatsächlich in kurzem ‚glänzend‘ laufen. –

Das Gespräch ging weiter. Langenbeck befand sich in so glücklicher Stimmung wie seit langem nicht mehr. Gestern hatte er noch im stillen gefürchtet, der ganze Glückstraum, der Emil hieß, könnte wie eine Seifenblase zerplatzen. Jetzt hatte er seinen schriftlichen Anstellungsvertrag in den Händen, und Harsfeld hatte ihm auch bereits das Gehalt für ein Vierteljahr vorausbezahlt. –

Sie plauderten nun von diesem und jenem wie Freunde.

Da trat die blonde Erna ein, nachdem sie kurz angeklopft hatte.

„Ihre Koffer sind soeben gekommen, Herr Harsfeld,“ sagte sie kalt und schaute ihn nur flüchtig an. Sie sah übernächtigt aus. In ihrem Antlitz war ein Ausdruck, der sich schwer enträtseln ließ: hochmütige Zurückhaltung und doch auch eine gewisse Hilflosigkeit.

Harsfeld erhob sich. „Dann kann ich ja gleich auspacken. Entschuldigen Sie, Herr von Langenbeck –“

Er ging in sein neues Zimmer hinüber, nachdem er sich vor Vater und Tochter verbeugt hatte.

Langenbeck schaute seine Älteste prüfend an. „Siehst blaß aus, Mädel. Na, wir werden uns jetzt sofort vom Lande Butter, Schmalz und Speck schicken lassen. Ihr sollt besser ernährt werden jetzt.“ Die gestrige heftige Szene zwischen ihm und Erna hatte er schon vergessen.

Erna stand mit gesenktem Kopf neben der Tür.

„Donner, – was gibt’s denn, Mädel?“ forschte er wieder und trat dicht vor sie hin.

Sie hob den Blick. Tränen glänzten darin. – „Ich habe wenig geschlafen, Papa. Du – du hast mich gestern gescholten. Es war gut, daß du es tatest. Ich – werde auch arbeiten, – verdienen. Ich konnte auch einen Satz Harsfelds nicht vergessen – gestern beim Kaffee, – als er so schneidend verächtlich sagte: ‚Wer seine gesunden fünf Sinne und seine gesunden Arme hat und sie doch nicht regt, müßte, ob Weib oder Mann, in ein Arbeitshaus gesteckt werden. Es ist wider die Natur, ein Schlaraffenleben zu führen‘ –“

Langenbeck legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Kind, Kind,“ sagte er gerührt. „Wir alle müssen ja umlernen. Stahlhart müssen wir sein.“ Er dachte an Harsfeld. „Stahlhart! Nur dann werden wir nicht zermalmt werden. Unser Stolz muß es jetzt sein, zu beweisen, daß wir uns von der neuen Zeit nicht unterkriegen lassen, daß wir genau so viel und mehr leisten als andere. Dann nur haben wir ein Recht zu sagen: Achtet uns! Ihr seht ja, wir arbeiten! – Und Arbeit ist das einzige Rezept, das uns allen aus diesem Elend heraushelfen kann.“ Aus ihm sprach der Gelehrte, der Grübler, der – jetzige Angestellte des ‚Telephonersatz‘.

Er küßte dann seine Älteste auf die Stirn. „Ich werde mal mit Harsfeld sprechen,“ sagte er. Und dann schob er sie zur Tür hinaus. Er wollte sich’s nicht anmerken lassen, wie nahe es ihm trotz der schönen Redensarten ging, daß seine Mädels nun auch hinaus in den Daseinskampf mußten. –

Erna tat ein paar Schritte; blieb stehen. Der Flur war leer. Sie preßte die zu Fäusten geballten Hände gegen die Brust; atmete schwer. Und horchte auf die verschwommenen Geräusche, die jetzt aus Harsfelds Zimmer an ihr Ohr drangen. Und sie fragte sich zum so und so vielten Male: ‚Was ist seit gestern nachmittag mit dir vorgegangen? Weshalb mußt du immer wieder an diesen Menschen denken, der durch die maßlose Frechheit seiner heimlichen Blicke schon vor Monaten, vor anderthalb Jahren, dir als erster in unverhüllter Weise, wenn auch wortlos, klar machte, daß du begehrt wirst, daß jemand nach deinem Besitz trachtet? Was zwingt dich seit gestern, immer wieder an ihn zu denken?‘

Die blonde Erna stand und starrte auf die Salontür mit Augen, in denen langsam etwas wie Haß aufglomm.

Und weiter gebar ihr Hirn widerspruchsvolle Gedanken.

‚Hast du mich vielleicht wachgerüttelt aus harmlosen Mädchenträumen? Weckte vielleicht die unreine Glut deiner Blicke das Weib in mir in der verflossenen Nacht, wo ich wie fiebernd in den Kissen lag und meine Seele sich wand in seltsamer Unruhe? Ist es das, – ist es dein brutales Mannestum, das mich aufgestört hat? – Ist es so, Emil Harsfeld, dann hüte dich! Zu mir reichen deine verlangenden Arme nicht hinauf – niemals!‘

Sie verharrte noch ein paar Sekunden regungslos. Dann wurden die Linien ihres verfinsterten Anlitzes weicher. Wieder erschien der Ausdruck von Hilflosigkeit in ihren Zügen, wie vorhin im Zimmer des Vaters, nur stärker ausgeprägt.

Wieder atmete sie schwerere. ‚Mein Gott,‘ schoß es ihr durch den Sinn, ‚werde ich auch wirklich den Stolz und die Kraft finden, Widerstand zu leisten? Ist dieser Harsfeld ein Teufel, daß er alles in mir umkehrt, daß ich – mich sogar vor ihm schäme. Vater und Mutter arbeiten zu lassen und selbst die Hände müßig im Schoße zu behalten?!‘

Als nun hinter ihr die Flurglocke schrillte, blieb ihr vor Schreck fast das Herz stehen. So sehr hatte sie sich in ihre Gedanken eingesponnen, so hoch brandeten die aufgepeitschten Wogen ihres ganzen Gefühllebens.

Sie ging langsam, unsicher und öffnete.

Seppi Wertern war’s.

Verbeugung; ganz Kavalier. Dann: „Gnädiges Fräulein gestatten; von Wertern, Oberleutnant von Wertern –“

Sie betrachtete ihn genauer. Ein weichliches Lebemannsgesicht! Aber – immerhin: von Wertern und Offizier. Aus ihrer Sphäre also.

„Ich bin Milo Harsfelds Freund, gnädiges Fräulein, möchte ihn besuchen –“

Hinter Erna tauchte der Oberstleutnant auf. – Abermals Vorstellung; im Wohnungsflur ein kurzes Gespräch. Dann klopfte Wertern bei Harsfeld an.

Der hatte sich eingeschlossen, fragte erst, wer Einlaß begehrte. – Er war in Hemdsärmeln. Der eine der beiden Riesenrohrplattenkoffer war schon leer.

„Ja – ich bin schnell beim Essen und noch schneller bei der Arbeit, lieber Seppi,“ meinte er. „Ich habe einmal einen ersten Preis im Wetthaareschneiden und Frisieren gewonnen. Jetzt hier in Berlin wird’s was Ähnliches werden. Schnell, sicher, gut – so kommt man weiter. Ich werde auch hier etwas scheren – ein Schäfchen –“ Seine Lippen wurden schmal und lang.

„Hm – Erna von Langenbeck als Schäfchen zu bezeichnen, erscheint mir etwas – geschmacklos,“ sagte Wertern leicht gereizt.

„Wen – das Fräulein von Langenbeck – und Schäfchen?!“ Harsfeld stieß es kurz hervor. „Das wäre allerdings geschmacklos. – Das Schäfchen ist die Berliner Geschäftswelt – was sonst, und die Haarschneidemaschine der – ‚Telephonersatz‘ – vielleicht.“ Ein Rätsellächeln zuckte um seine Lippen.

Seppi Wertern wurde nervös. „Aus Ihnen wird man nie klug, Harsfeld!“

Die großen Augen flackerten jetzt. Der Mund öffnete sich halb. Doch nur ein Achselzucken wurde die Antwort. Und dann bot der bleiche Mann seinem Gast Zigaretten und einen Likör an.

*

Acht Tage später. – Der ‚Telephonersatz‘ war noch immer nicht recht in Schwung gekommen. Langenbeck hatte den Eindruck gewonnen, daß Harsfeld und Wertern die Sache ziemlich gleichgültig betrieben. Na – ihm konnte’s egal sein. Er saß seine Bureaustunden ab, von 9-12, von 3-6, las dabei Zeitungen, rauchte Pfeife, plauderte mit der Telephonistin, schrieb Reklameartikel, erledigte die geringe Korrespondenz. Er hätte eigentlich zufrieden sein können. Doch er war es nicht. Er hatte das Gefühl, daß achttausend Mark Gehalt eine viel zu hohe Bezahlung für dies halbe Nichtstun waren – trotz der, übrigens sehr zwecklosen Nachtdienststunden. – Auch die Telephonistin – es war vorläufig erst eine eingestellt worden und dazu drei Radler – hatte gestern erklärt, sie würde kündigen. Sie langweile sich zu sehr. – Es war ein junges, fesches Mädel, die vielleicht gehofft hatte, im ‚Telephonersatz‘ an einen der beiden Inhaber näheren Anschluß mit Heiratsaussichten zu finden. –

Der Oberstleutnant wanderte jetzt morgens nach der Augsburger Straße. Links neben der Haustür war ein großes Emaileschild angebracht worden:

Telephonersatz!

Eilbotendienst an Stelle des Telephons!

Streng vertraulich! Gewissenhaft!

Er schloß die Tür im Hochparterre auf, entnahm dann dem Kasten einen Brief. – Ah – die fesche Telephonistin war angeblich erkrankt und kündigte gleichzeitig.

Kaum hatte er es sich an seinem Schreibtisch bequem gemacht, als auch schon die drei Radlerjungen angemeldeten wurden, die dann wieder nach unten in den hellen Kellerraum verschwanden, wo sie auf Aufträge warteten, – zumeist aber Karten spielten. –

Dann erschien ein älteres Fräulein, erklärte, sie habe gehört, hier sei eine Stelle als Telephonistin frei. – Die Zeugnisse waren gut. Herr von Langenbeck behielt sie gleich da. Sie setzte sich ins Nebenzimmer. Nach einer Weile rief sie eine bestimmte Nummer an, flüsterte nur in den Apparat hinein: „Alles erledigt –“

Als Antwort kam zurück: „Also auf die geringste Kleinigkeit achtgeben, Frau Schütz.“

Sie befolgte den Befehl mit der Gewißheit der erprobten Polizeiagentin. –

Der Oberstleutnant machte sich an die Arbeit. Drei neue Abonnenten hatten sich gemeldet. Jetzt waren es im ganzen 23. – Langenbeck trug die Leute in die Bücher ein. Und wieder bemächtigte sich seiner das Gefühl. ‚Dieses Unternehmen ist verfehlt. – Vielleicht bist du die Anstellung bald wieder los,‘ dachte er jetzt noch hinzu.

Wilhelm von Langenbeck seufzte. Diese acht Tage hatten genügt, daß er Milo Harsfeld nicht mehr so freudig als rettenden Engel begrüßte. – ‚Unsinn!‘ dachte er schließlich, ‚was mache ich mir unnötig den Kopf heiß!‘

Er stopfte sich die kurze Pfeife.

Eine halbe Stunde darauf trat Harsfeld ein; ruhig, abgeklärt wie immer, von einer gewinnenden Freundlichkeit trotzdem.

„Nun habe ich Fräulein Erna untergebracht,“ begann er sofort und nickte dem Oberstleutnant zu. „Ich komme soeben von Herrn Mehlwurm. Der hat vorgestern seine Bureaudame entlassen. Mehlwurm zahlt monatlich vierhundert Mark bei siebenstündiger Arbeitszeit. Er griff sofort zu. Er braucht jemand auf den er sich unbedingt verlassen kann. – Sie wissen – er beleiht und kauft nur Juwelen und sonstige Dinge von sehr großem Wert. Er ließ mich einen Blick in sein Allerheiligstes tun. Dort dürften hinter den eisernen Türen Millionenwerte aufgestapelt sein –“

Der Oberstleutnant bedankte sich etwas zögernd für die liebenswürdige Vermittlung.

Harsfeld schaute ihn offen an. „Es ist Ihnen nicht lieb, daß Fräulein Erna gleich im Hause nebenan ihr Brot verdient, Herr von Langenbeck, nicht wahr?“

Langenbeck spielte mit dem Federhalter. „Hm – ich habe mich schon damit abgefunden –“

„Auch diese Reste eines überzüchteten Standesbewußtseins werden schwinden,“ sagte Harsfeld. „All das ist Ballast, nichts weiter. Wer derlei nicht auf dem Rücken mit sich herumträgt, kann gerader und schneller gehen.“ –

Das neue Telegraphenfräulein stand derweilen hinter der Tür mit dem Ohr am Schlüsselloch; sie hatte vorzügliche Ohren. –

Mittags traf sie dann im nahen Kaufhaus des Westens mit Rudolf Zöllner zusammen, berichtete haarklein, was sie erlauscht hatte. Viel war es allerdings nicht. –

Zöllner hoffte in den nächsten Tagen auf besseren Erfolg. – „Kommt es Ihnen nicht jetzt schon so vor, als ob der ganze ‚Telephonersatz‘ nur ein Deckmantel für andere Dinge ist?“ fragte er die Agentin.

Frau Lina Schütz nickte. „Die ganze Aufmachung spricht Bände,“ meinte sie. „Na – wir werden schon herausbringen, was da hinter den Kulissen vorgeht.“ –

Der dicke Herr Mehlwurm schwamm in Wonne. Er hatte eine von den Langenbecks als Bureaufräulein. Das bedeutete vielleicht die Anknüpfung engerer Beziehungen zur Familie des Oberstleutnants. – Gewiß – lieber wäre es ihm gewesen, wenn dieser Harsfeld ihm die Lissi angeboten hätte, denn dann wäre vielleicht deren stolzes Herz schon hier in seinem Kontor zu erweichen gewesen – auch ohne Eltern.

Die Lissi Langenbeck! – Herr Mehlwurm seufzte und stöhnte geradezu vor Verliebtheit. Er stand jetzt gerade vor seinem Panzerspind und schloß ein Brillantgeschmeide weg, das soeben eine verschleierte Dame verpfändet hatte, auch eine von denen, die einst auf den Höhen der Menschheit wandelte und nun auch mal die Tiefen kennen lernte.

August Mehlwurm strich den blonden Spitzbart und lächelte selbstgefällig. – Ja – bei ihm war’s vor dem Kriege umgekehrt gewesen. Da arbeitete er noch als Verkäufer in einer großen Buchhandlung in der Potsdamer Straße. Dann – 1917 – fing er an, sich selbstständig zu machen – fing ganz klein an. Er hatte stets eine Schwäche für gute Bilder, Altertümer und Edelsteine gehabt; er war gebildet, war Abiturient, schlau – so schlau, daß man ihm beim Sacharinschmuggel nie abfaßte. Geld warf das ab – Geld! Schade, daß es nur alles bedrucktes Papier war, sogenannte Banknoten, Reichskassenscheine. –

Und 1918 im Herbst mietete er die vier Zimmer hier in der Nr. 61 am Nollendorfplatz und begann ‚ehrlich‘ zu verdienen – ganz ehrlich. Er konnte jetzt ruhig schlafen. Sein Gewissen war rein wie ein Hemd, das man mit Chlorkalk gebleicht hat. Der Chlorkalk war bei August Mehlwurm das Bankguthaben. Er hatte es eben nicht nötig, sich Gefahren auszusetzen; er konnte den anständig Gewerbetreibenden spielen. Und – es scheffelte auch so gehörig; er hatte eben einen guten ‚Riecher‘ gehabt für die Erfordernisse der Zeit. –

Er schloß den Tresor ab und ging wieder nach vorn ins Kontor. Dort saß Erna von Langenbeck hinter der Schranke an ihrem Schreibtisch. Die Vormittagssonne beleuchtete ihr blondes Haar, ihren Kopf; das Profil zeichnete sich scharf gegen die dunkle Gobelintapete ab.

Mehlwurm ging auf und ab. „Prachtvolles Wetter heute, Fräulein von Langenbeck. Der Juni verspricht schön zu werden.“ Er blieb neben ihrem Tische stehen. „Heute sind Sie nun genau acht Tage meine Mitarbeiterin. Wie die Zeit fliegt. – Sie haben mir Glück gebracht. Gestern die Perlenkette – ein glänzendes Geschäft! Heute das Kollier – noch glänzender. – Wären die beiden Damen an einen anderen Mann und nicht gerade an mich geraten, hätten sie Tausende eingebüßt. – Sie müssen zugeben, Fräulein von Langenbeck: ich übervorteile niemand!“

Erna hatte sich im Stuhl zurückgelehnt. Zwischen ihr und ihrem Chef war schnell ein zwangloser Ton aufgekommen, als sie erst gemerkt hatte, daß dieser kleine, dicke Mann mit dem geckenhaften Äußeren ein gebildeter Mensch von viel Taktgefühl war.

Sie nickte. „Das gebe ich ohne weiteres zu, Herr Mehlwurm.“ –

Es entspann sich eine Unterhaltung, die August, der Dicke dann recht geschickt auf Lissi hinüberspielte.

Erna wußte ja, daß ihr jetziger Chef seit langem ihre dunkelhaarige Schwester anhimmelte. Sie war gespannt, was Mehlwurm mit diesem Gespräch wohl im Schilde führte.

Er erzählte, er habe vorgestern in Wannsee ein hübsches Segelboot gekauft. – Und dann kam’s: er fragte, ob Erna und Lissi ihm nicht einmal die Freude machen wollten, mit ihm nach dem Obststädchen Werder zu segeln. Natürlich in Begleitung der Eltern. Und ob er sich wohl erlauben dürfte, den Herrn Oberstleutnant persönlich einzuladen?

Erna, die in letzter Zeit etwas blaß und leidend ausschaute, meinte nicht ganz ehrlich, ihr Vater würde sich fraglos freuen, wenn – und so weiter.

Mehlwurm strahlte. „Fräulein von Langenbeck – ich habe ja so gar keinen Verkehr. Ich möchte eben Anschluß an eine Familie gewinnen.“

Als Erna beim Mittagessen erzählte, daß ihr Chef nähere Beziehungen zur Familie anknüpfen möchte, blickten Herr und Frau Langenbeck auf Lissi.

Die zog die Oberlippe hoch, sagte aber nichts. Und Frau Gertrud erklärte dann vorsichtig: „Ein Mädchen ohne Vermögen muß heutzutage alle Illusionen streichen, wenn sie heiraten will –“

Worauf Erna warmen Tones hinzufügte: „Mehlwurm ist ein anständiger Kerl. Ich lasse nichts auf ihn kommen –“

Lissi, die all das allein anging, schwieg und dachte an Frau von Sperber, der sie bei Besorgungen im Wertheim begegnet und von der sie für heute abend zu einem gemütlichen Teeabend mit Herren eingeladen war. Die Eltern hatten ihr auch bereits gestattet hinzugehen, obwohl in den letzten Monaten über die kecke Majorswitwe so allerlei Gerüchte umgingen. Aber der Oberstleutnant war jetzt nicht mehr so engherzig wie früher, hatte zu seiner Frau gesagt: „Na – wenn schon! Mag sie auch insgeheim Ehevermittlerin sein, die Sperber. Sie hat drei schulpflichtige Kinder und will auch satt werden – wie wir!“

*

Nach Tisch hielt das Ehepaar Langenbeck jetzt regelmäßig ein Verdauungsschläfchen. Lissi ging in die Küche und half der Aufwärterin beim Abwaschen des Geschirrs. Erna, die heute Sonnabend nachmittags dienstfrei war, blieb zunächst in dem gemeinsamen Zimmer, das sie mit Lissi teilte, und besserte ihre Leibwäsche aus.

Sie horchte dabei aber dauernd nach dem Flur hinaus. – Harsfeld lebte ja wie die Uhr. Punkt halb drei kam er regelmäßig heim.

Jetzt wurde die Korridortür mit dem Schnepper geöffnet; sehr leise. – Harsfeld war eben ein rücksichtsvoller Mitbewohner.

Nach einer Weile ging Erna, nicht ohne abermals gegen die Verlockung angekämpft zu haben, einmal an der Tür zu lauschen, in die Küche, wo bereits das Tablett mit dem Kännchen stark aufgebrühten Bohnenkaffee für Harsfeld bereit stand. Gewöhnlich trug Lissi das Tablett zu ihm hinein. Bisher hatte Erna dies nur zuweilen getan.

Die Aufwärterin verschwand gerade durch die Tür nach der Hintertreppe. – „Ich werde Harsfeld den Kaffee bringen,“ meinte Erna leichthin, der Schwester halb den Rücken zukehrend.

Lissi, die der Mutter glich und mehr pikant als hübsch war, meinte spitzt: „Schade, daß Mehlwurm nicht bei uns wohnt. Mama würde selig sein! Ich müßte ihm sicher auch noch die Hemdknöpfe annähen!“

Erna wandte sich um, blickte Lissi fast wehmütig an.

„Mutter meinte es nur gut. – Es ist ja überhaupt weit genug mit uns gekommen. Die Langenbeck-Mädels, die nur –“ Sie schwieg plötzlich. „Ach was,“ fügte sie leicht erregt hinzu, „daß man sich die dummen Gedanken noch immer nicht ganz abgewöhnen kann!“

Lissi stand mit finsterem Gesicht da. „Dir wird’s leichter, sie abzuschütteln, – diese Gedanken, denn dir –“ –

Sie begann zu flüstern – „du wirst vielleicht den Mann heiraten, den du liebst, mag er auch einst – unser ‚Emil‘ gewesen sein. – Leugne es nicht, Erna. Du liebst ihn. Vorgestern nacht hast du im Schlaf wieder allerlei gemurmelt –“

„Das ist meine Sache gewesen!“ meinte die schlanke Blonde herb und verließ mit dem Teebrett die Küche. –

Milo Harsfeld hatte eine leichte, verschnürte Hausjacke an, saß am Fenster in dem niedrigen Faulenzer und las.

Es klopfte. Er erhob sich, rief „Herein!“, dachte, es würde Lissi Langenbeck eintreten wie zumeist.

Erna! Sein Herz verlangsamte den Schlag, jagte dann wieder. Äußerlich an ihm war jedoch nichts zu sehen.

Er trat auf sie zu, nahm ihr das Teebrett ab.

„Verbindlichsten Dank, gnädiges Fräulein –“ – Kein Wort weiter. Nur eine sehr förmliche Verbeugung. So mußte es sein; das gehörte zu seiner Behandlungsmethode.

Erna war leicht errötet. In ihre Augen kam ein besonderer Ausdruck.

„Ich hätte mit Ihnen noch etwas zu – besprechen, Herr Harsfeld,“ sagte sie kalt.

Er stellte das Tablett auf den Sofatisch.

„Ich stehe ganz zu Diensten, gnädiges Fräulein. Wollen Sie nicht Platz nehmen –“ – Eine Handbewegung nach dem altmodischen Plüschsessel hin.

Erna neigte leicht den Kopf, setzte sich. Er blieb stehen; mitten im Zimmer unter dem ebenso altmodischen, jetzt für elektrisch Licht umgearbeiteten Kronleuchter. In der Linken hielt er zusammengeballt sein hellblaues, seidenes Taschentuch mit dem schwarzen Rand.

„Weshalb treiben Sie mit uns ein so unehrliches Spiel, Herr Harsfeld?“ begann sie dann, und der Ton ihrer Stimme klang verächtlich und feindselig. Ihr Blick wanderte gleichzeitig zu ihm hin. Ihre Augen drohten ihm ebenso feindselig entgegen. – Sie belauerte seine Mienen; sie hoffte auf ein Erschrecken.

Eine knappe Verneigung seinerseits; dann wie bedauernd: „Sie hätten die hundert Mark sparen können, die Sie der Mutter Ihrer Vorgängerin bei August Mehlwurm gaben, damit sie Ihnen sagte, weshalb ihre Tochter so plötzlich von Mehlwurm entlassen wurde. Wenn Sie mich gefragt hätten: ‚Herr Harsfeld, ich argwöhne, Sie haben jenem Fräulein Wend die neue Stelle besorgt, damit ich selbst bei Herrn Mehlwurm, der ein gebildeter Mensch ist und bei dem ein Bureaufräulein es leicht hat, unterkommen könnte. – Ist dem so?‘ – dann hätte ich geantwortet: ‚Es ist so. Ich machte die Stelle für Sie frei, damit Ihnen der Übergang in den Daseinskampf leichter würde,‘ – Sie hätte also das Geld gespart, das nun Fräulein Wends Zunge gelöst hat –“

Erna senkte den Kopf; hob ihn ebenso schnell wieder. Nur einen Moment hatte ihre Zaghaftigkeit gewährt. Nun loderte das Verlangen stärker in ihr auf, ihn zu demütigen, ihn einmal verlegen zu sehen, ihn zu Ausflüchten zu zwingen.

„Die meisten Abonnenten des ‚Telephonersatz‘ sind nur Strohmänner!“ stieß sie in fast besinnungsloser Gehässigkeit hervor. „Die meisten! Nur wenige bezahlen das Abonnementsgeld. Sie setzen täglich bei dem Unternehmen zu. Es kann nie Gewinn abwerfen, nie, behauptet Herr –“ Sie stockte.

„Herr Mehlwurm natürlich!“ ergänzte er. „Er hat ja auch bei meinen Abonnenten heimlich Erkundigungen eingezogen, der eifersüchtige kleine Mann. Er neidet mir dieses Heim, weil, nun, Sie wissen wohl, weshalb. Er fürchtet, ich könnte seine geringen Aussichten auf die Hand einer gewissen jungen Dame noch verschlechtern. Und – er will sich bei Ihrem Vater beliebt machen, indem er ihm rechtzeitig nachweist, daß der ‚Telephonersatz‘ ein verdächtiger Schwindel sei. – Ich nehme Herrn Mehlwurm das alles nicht weiter übel –“

In Ernas Gesicht brannten zwei rote Flecken über den Wangenknochen. Sie wollte nicht wieder mutlos werden, platzte nun sofort heraus:

„Aus Dankbarkeit gegen Papa haben Sie niemals den ‚Telephonersatz‘ gegründet, damit er eine Anstellung fände – niemals! Tausende und Abertausende ist Ihnen Papa nicht wert. Sie – Sie verfolgen mit alledem ein verstecktes Ziel –!“

„– behauptet Herr Mehlwurm auch,“ setzte Harsfeld gleichmütig hinzu. „Herr Mehlwurm ist fraglos ein gescheiter Kopf. Vielleicht hat er auch recht mit seinem Verdacht –“

Erna erhob sich hastig. „Ah – das geben Sie also selbst zu – ein verstecktes Ziel!“ Sie hatte den rechten Arm hochgereckt. „Und dieses Ziel ist? – Antworten Sie! Sie halten Lügner ja für feige!“

Eine sekundenlange Stille. Dann ganz leise:

„Ein Weib!“

Und er sah ihr dabei fest in die Augen.

„Ein Weib!“ fuhr er etwas lauter fort. „Und dieses Weib wird mein werden, und müßte ich mit Gott darum kämpfen. Und siegte ich nicht, dann – wird Milo Harsfeld dieser lächerlichen Welt lebewohl sagen, denn dann verdient sie es nicht mehr, ihn zu tragen –“

Erna von Langenbeck hielt diesen Blicken nicht stand, wandte sich halb ab, ging langsam zur Tür. Sie fühlte, daß alle ihre Feindseligkeit blitzschnell dahinschmolz wie ein Eisstück, über das ein Strahl heißes Wasser hinsprudelt.

‚Ein Weib!‘ hatte er gesagt. Und – daß sie dieses Weib war, wußte sie.

Sie ging langsam, unsicher, wie im Dunkeln; sie mußte die Situation doch irgendwie retten, mußte irgend etwas sagen. Was nur – was?!

Sie fühlte den kühlen Messingdrücker der Tür in ihrer Handfläche. Das brachte sie etwas zur Besinnung. Sie stand still. – Was – was nur sollte sie nun als letztes sagen? Sie konnte doch nicht stumm hinausgehen?

Da …

„Erna, bleiben Sie doch.“ – So ganz anders plötzlich der Ton seiner Stimme – weich, flehend.

Und – Erna – Erna!

Wie gelähmt sank ihre Hand vom Drücker. Wie ein Schwindel überkam es sie. – Sie lehnte sich an die Tür. Sie schluchzte auf. Sie schämte sich vor sich selbst.

Erna von Langenbeck rannen jetzt die Tränen über die brennenden Wangen.

Dann merkte sie, daß er neben ihr stand. Wie durch einen Schleier nur nahm sie ihn wahr.

„Erna! Weshalb quälen Sie sich und mich?“ flüsterte er. „Ich würde mit Gott um Sie kämpfen. Aber ich gehe auch ganz still von dannen, wenn Sie mir heute schon sagen: ‚Niemals werde ich Sie lieben! Niemals!‘ – Seien Sie ehrlich, Erna. Beenden Sie die Qual! Sprechen Sie dieses ‚Niemals!‘ Dann – befreien Sie die Welt vielleicht von einem Manne, in dessen Brust der Glaube an sein eigenes Übermenschentum so fest sich eingenistet hat, daß ihm – nichts – nichts mißlingt, weil er eben von vornherein an jede Sache mit der Überzeugung des Siegers herangeht; vielleicht von einem Dämon, der – doch nein, – in dieser Sekunde der Entscheidung nichts Entweihendes – nichts. – Seien Sie ehrlich, Erna –“

Und sie?! – Reichlicher flossen ihre Tränen.

Dann – ein zagendes: „Ich – ich kann nicht –“

Da hatte er sie schon an sich gezogen. Ihr Kopf lag an seiner Brust. Er küßte ihr blondes Haar. – Und in ihre Ohren klang’s wie Musik – wie ferne Töne einer Äolsharfe, sanft, überirdisch:

„Du – ich liebe dich. Nur dich! Noch nie habe ich ein Weib angerührt – noch nie. Meine Lippen sind rein. Ich floh dein Geschlecht. Die Liebe macht schwach; in der Liebe zerfließt der Manneswille; das wollte ich nicht. Ich wollte stark bleiben. – Sei stolz: du hast mich bezwungen – mich, keine Dutzendware, keinen, der in zahllosen ähnlichen Spielarten überall zu finden –“

Wie Eiseshauch lief es für einen Moment über des Mädchens Leib hin. Sie fühlte, was er soeben von sich selbst gesagt: Vielleicht ein Dämon!

Doch das ging schnell vorüber.

Leib an Leib standen sie. Und der Rausch kam; die Wonne begann. Ihre Lippen lechzten nach seinen Küssen.

Sie hob das tränenfeuchte Gesicht; sie lächelte süß, hingebungsvoll.

Ihre Lippen fanden sich, ruhten lange aufeinander mit weichem Druck; ihre Seelen verschmolzen; sie wurden eins. Sie standen regungslos. Es waren Sekunden der Weihe. –

Gleich darauf huschte Erna über den Flur in das gemeinsame Zimmer. Lissi saß und las einen Leihbibliotheksband. Sie schaute auf, schaute forschend, rief:

„Erna – was –“

Die Ältere lächelte nur. Da schwieg Lissi. Und sagte erst nach einer Weile ganz scheu:

„Mir – mir ist so bang um dich. Ach, Mama verriet sich gestern, meinte: ‚Harsfeld kommt mir manchmal vor wie – wie Doktor Faust – geradezu unheimlich!‘ – So denkt Mama in Wahrheit über ihn.“

Das Lächeln erstarb in Ernas Zügen.

Ihr fiel ein, was er soeben beim letzten Kuß ihr zugeraunt hatte:

‚Meine Liebe gehört nur dir – nur! Aber ich selbst – ich kann nie ganz dein werden, nie – du wirst teilen mit etwas anderem. Doch dieses andere macht unsere Liebe nicht ärmer.‘

*

Harsfeld war wieder allein. Er stand noch dicht an der Tür, die er soeben hinter Erna leise ins Schloß gedrückt hatte.

Er stand und regte sich nicht; sein Kopf war vornübergesunken; in seiner ganzen Haltung zeigte sich etwas Müdes, Verzagtes.

Auch seine Gedanken waren nicht wie sonst.

‚Die größte Sünde soll die wider den Heiligen Geist sein,‘ dachte er. ‚So steht’s irgendwo in der Bibel. – Nein, die größte Sünde ist die wider das Mächtigste, was die Natur an Trieben uns ins Herz gepflanzt hat, – ist die wider die Liebe –‘

Er strich mit der Hand über die Stirn, wandte sich und ging wieder zu seinem Fensterplatz zurück. Er saß da mit müden, halb hängenden Mundwinkeln, halb geschlossenen Augen.

‚Sie wird nie begreifen, wenn sie alles erfährt, daß ich sie trotzdem liebe – nur sie, – auch nur sie je geliebt habe,‘ dachte er weiter.

Seine matten Augen hatten das große Paneelsofa gerade vor sich. Es stand an der Wand, die sich an das alte, engbrüstige Nachbarhaus anlehnte. – Und diese Augen wurden nun plötzlich klarer, größer, wie sie sich so förmlich in den verschossenen Plüsch der hohen Sofalehne einfraßen.

Es klopfte. Es war Wertern, Seppi mit dem Monokel, elegant, leicht blasiert, sorgenlos wie immer.

Er rollte einen Sessel ans Fenster, setzte sich.

Harsfeld holte Zigaretten, holte noch eine Kaffeetasse aus der Küche, stellte ein kleines Tischchen zwischen ihre Plätze.

„Sie sind heute wortkarger als sonst,“ meinte Wertern ahnungslos und blies Rauchringe in die Luft.

„Ich habe heute die Kosten zusammengerechnet, lieber Sepp –“

„Kosten?“

„Kosten! Ja – die Unkosten der letzten Monate. Ich besitze noch 2138 Mark –“

Wertern fiel die Zigarette aus der Hand. Er merkte es nicht. Er war geradezu versteinert. – Harsfeld bückte sich und legte sie auf die Aschenschale.

„Auf Ihr Kontor kommen seit Beginn unsrer Bekanntschaft 32000 Mark,“ fuhr er fort. „18000 davon haben Sie verjeut. Ich selbst habe für mich und den ‚Telephonersatz‘ in derselben Zeit 21350 Mark ausgegeben. Ich führe genau Buch, habe jeden Pfennig notiert –“

Wertern stierte ihn an, stotterte: „Und – und nun?“

„Nun – werden wir eben ernsthaft daran denken müssen, unsere Kasse wieder zu füllen –“

„Hm – wodurch?“

Harsfeld lächelte. Vor diesem Lächeln erwachte Wertern gleichsam. Er beugte sich vor.

„Was planen Sie, Harsfeld? – Sie – Sie sind mir unbegreiflich. Ich glaubte, Sie verfügten über unbeschränkte Mittel. Wie konnten Sie nur in aller Welt für – für ein Weib all das opfern, wenn –“

„Schweigen Sie!“ fiel ihm der Andere ins Wort. Und vor diesem Blick schaute Wertern ängstlich zur Seite. „Lassen Sie das Weib aus dem Spiel. Es kommt jetzt nur darauf an, daß mein Vorhaben gelingt. Und Sie werden dabei helfen, Wertern. Das ist selbstverständlich. Ich brauche eine Hilfe, einen Menschen wie Sie, den ich ganz in der Gewalt habe – ganz! Und der daher verschwiegen ist –“

Werterns Lippen zitterten. – „Sie – Sie sind ein – Satan!“ keuchte er.

Harsfeld sprach gleichmütig weiter; sprach mit monotoner Stimme; aber was er sagte, packte den anderen mit tausend Zangen.

„Millionen?“ stammelte Wertern. „Millionen?! Und – eine davon soll mir gehören?“

„Ja! – Man unterschätzt den Mann allgemein. Er hat in letzter Zeit Unsummen verdient. Er kann einen Aderlaß vertragen –“

„Und wann – wann?“

„Sehr bald. Anfang nächster Woche –“

Seppi Wertern stierte vor sich hin. Dann streckte er die Hand aus: „Gut – ich bin Ihr Mann, Harsfeld.“

Harsfeld lächelte.

„Ich habe Sie richtig eingeschätzt.“ – Das war wie ein brutaler Peitschenhieb. –

Wertern war gegangen. Es war jetzt fünf Uhr nachmittags.

Es klopfte wieder. Lissi trat ein.

„Entschuldigen Sie, Herr Harsfeld. Heute ist Sonnabend, also großer Reinmachetag. Am vergangenen Sonnabend wollte ich nicht stören. Heute muß es sein –“

„Ah – da soll wohl alles um und um gekehrt werden, gnädiges Fräulein,“ scherzte er. „Kann mir denken: Teppiche, Möbel klopfen, alles von den Wänden abrücken. – Leider – es paßt mir auch heute so schlecht. Ich habe Briefe zu schreiben. Nächsten Sonnabend räume ich dafür auch ganz das Feld. Dann mag die Scheuerfrau hier wüten –“

„Aber – ich habe die Frau doch schon hier, Herr Harsfeld. Geht’s denn wirklich nicht?“

„Schicken Sie sie mir herein. Es geht nicht!“ – Das war wieder der Milo Harsfeld, dem niemand widersprach.

Er gab der Scheuerfrau dann zwanzig Mark.

„So – nun bilden Sie sich ein, Sie hätten hier in Arbeit geschwelgt.“

Die Frau verschwand schmunzelnd. – Harsfeld blieb bis sieben Uhr daheim und las Tolstoi. Dann verließ auch er das Haus. Lissi hörte ihn weggehen. Sie wartete noch eine Weile, nahm nun die Teppichmaschine sowie Besen und Schaufel und betrat Harsfelds Arbeitszimmer, den früheren Salon.

Lissi in der großen Wirtschaftsschürze säuberte mit dem Handfeger die Scheuerleiste unten an der Wand unter dem mächtigen Paneelsofa. Gestern hatte sie hier Kalkstaub bemerkt. Sie lag halb unter dem Sofa, dachte dabei: ‚Merkwürdig – die weiße Schicht ist verschwunden. Kaum mehr wahrnehmbar. Ob etwa Harsfeld sich an den ‚Emil‘ von früher erinnert und die Leiste abgewischt hat?‘ Sie lachte leise auf. „Emil von früher!“ – War es denn wirklich mal Tatsache gewesen, daß Harsfeld ihre Schuhe geputzt hatte?! War das nicht nur wie ein ulkiker Traum?! – Nachher ging sie auch in sein Schlafzimmer. Dort stand unter dem linken Fenster der Riesenrohrplattenkoffer. Harsfeld hatte ihn nicht auf den Boden schaffen lassen. Und das Monstrum war nun überall im Wege. Freilich – er war nicht schwer. So griff denn Lissi zu und wollte ihn anderswohin ziehen.

Oh – hatte das Ungetüm plötzlich Gewicht bekommen! Und – ja, vorgestern, da war er noch federleicht gewesen.

Lissi hob ihn an der einen Seite an. Wahrhaftig, da waren jetzt mindestens zwei Zentner drin. – Merkwürdig – was mochte Harsfeld nur hineingetan haben?!

Hinter ihr plötzlich eine Stimme: „Recht schwer, nicht wahr?“

Sie fuhr mit einem leisen Aufschrei herum.

„Oh – ich glaubte, Sie würden erst später heimkehren,“ stammelte sie.

Er nickte ihr zu. „Wenn Sie wüßten, wie gut Sie diese große Wirtschaftsschürze kleidet. – Doch nein, – jungen Damen soll man nicht schmeicheln. – Darf ich Ihnen den Koffer weiterrücken? Es sind Steine drin, oder – gehamsterte Dinge, vielleicht ein Zentner Mehl. – Dergleichen –“

Sie lachte. „Mehl?! Oh – das könnte ich brauchen. Ich werde bei Ihnen einbrechen –“

„Hm – einbrechen?! Stellen Sie sich das so leicht vor? – Auch das will verstanden sein –“

Er zog den Koffer ein Stück weiter, nur mit der rechten Hand.

„Haben Sie Kräfte!“ rief die jüngere Langenbeck erstaunt.

Er setzte sich auf den Koffer. „Nun haben Sie also doch ein wenig Großreinemachen gespielt, gnädiges Fräulein,“ sagte er kopfschüttelnd. „Wozu das?! – Etwa auch nebenan?“

„Ja – aber nur das Allernötigste –“

„Mir rollte gestern ein Manschettenknopf unter das Paneelsofa. Hat dieser Ausreißer vielleicht vor Ihrem Besen kapituliert?“

„Nein. Aber wir wollen doch nochmals –“ Lissi eilte schon durch die offene Tür in den früheren Salon.

Harsfeld blieb hinter ihr. Mit Taschenspielergewandtheit hatte er von der linken Manschette den flachen Knopf mit dem Brillanten losgemacht. Während Lissi nun mit dem Besen unter das Sofa fuhr, warf er den Knopf ganz flach und unbemerkt von der anderen Seite bis an die Leiste.

„Ah – ich hab’ ihn schon!“ meldete Lissi triumphierend. „Da – bitte!“

„Meinen verbindlichsten Dank, gnädiges Fräulein.“ Er ging an seinen Schreibtisch, füllte sein goldenes Zigarettenetui aus dem kleinen Ebenholzkasten und meinte: „So – ich will nicht weiter stören. – Auf Wiedersehen –“

„Wie spät haben wir’s, Herr Harsfeld?“ fragte Lissi noch schnell.

„In fünf Minuten halb acht.“

„Oh – da muß ich ja sofort hier Schluß machen. Ich bin abends eingeladen. Auf Wiedersehen.“

Harsfeld ging langsam die Treppe hinab, dachte: ‚Sie ist ganz harmlos, hat nichts bemerkt. Dieses Zimmersäubern habe ich gleich gefürchtet. – Nun – die Gefahr ist ja bald vorüber.‘

*

Zu derselben Zeit saß August Mehlwurm in seinem tadellosen Smokinganzug im Empfangssalon der Frau von Sperber und suchte dieser vornehmen Frau gegenüber nach Möglichkeit den Weltmann herauszukehren.

Agathe von Sperber war trotz ihrer vierzig Jahre noch immer eine pikante Schönheit. Ihr Mann war im Kriege gefallen. Nach seinem Tode hatte sich dann eine Schar von Gläubigern über die arme Witwe gestürzt und Wechsel vorgewiesen, deren Gesamtsumme ein halbes Hunderttausend erreichte. Frau Agathe hatte nie etwas von diesen Schulden geahnt. Erst drohte sie völlig zusammenzubrechen unter dem doppelten Leid: Verlust des Gatten und Verdüsterung seines Charakterbildes. –

Dann war einer dieser Gläubiger, ein Herr Goldstein, ihr Berater geworden. Dieser säbelbeinige Zwerg mit dem melancholischen Massiasgesicht hatte sie langsam zu seinem gefügigen Werkzeug gemacht. Agathe von Sperber war viel zu unerfahren, um Isidor Goldstein auch nur etwas zu durchschauen. Ganz allmählich leitete er ihre Heiratsvermittlerintätigkeit ein. Bis dann die ersten hohen Gewinne all ihre Bedenken beschwichtigten, bis er noch einen Schritt weiter gehen konnte. Die Sechszimmerwohnung, die in einem Eckhause mit drei Eingängen am Bahnhof Charlottenburg lag, eignete sich ja vortrefflich für andere Zwecke. –

August Mehlwurm hatte soeben Frau von Sperber mit viel Pathos von seiner reinen Liebe zu Lissi von Langenbeck gesprochen und begeistert den Zufall gepriesen, der ihn durch Herrn Goldstein mit der ‚verehrtesten gnädigen Frau‘ hatte bekannt werden lassen.

Agathe von Sperber hörte geduldig zu, ließ sich nicht anmerken, daß seine schwülstigen Sätze sie peinigten. Ihr war es weit lieber, wenn jemand in ihr nur die ‚Geschäftsfrau‘ sah und kurz, klar die nötigen Fragen erledigte. –

Endlich kam sie zu Worte, erklärte, daß sie Lissi für heute eingeladen habe und daß sie ihr Bestes tun wolle, Herrn Mehlwurms Herzenswünsche ihrer Erfüllung näher zu bringen.

„Wir sind heute nur ein kleiner Kreis, acht Personen. Es wird musiziert werden und alles auf den Ton eines zwanglos – vornehmen Teeabends gestimmt sein –“

Mehlwurm faßte dies ‚zwanglos – vornehm‘ so auf, als ob die Majorin ein wenig zweifele, ob er diesen Ton treffen würde.

„Seien Sie unbesorgt, verehrteste gnädige Frau,“ beteuerte er daher eifrig. „Ich werde Ihnen keine Unehre machen. Ich bin ein gebildeter Mensch, bin Abiturient eines Vollgymnasiums und Kunstkenner, speziell was Gemälde, Altertümer und Edelsteine anbetrifft –“ Er zögerte etwas, fuhr dann fort: „Sollte aus – aus dieser Heirat etwas werden, so bin ich bereit, Ihnen, sehr verehrte gnädige Frau, einen Scheck über – über dreißigtausend Mark –“

„Dreißigtausend!“ rief die Majorin leise.

„Nun – sagen wir auch vierzigtausend auszufüllen. – Also vierzigtausend – auf mein Ehrenwort!“

Frau von Sperber behielt Herrn Mehlwurm zum Abendbrot da.

Gegen dreiviertel neun Uhr kamen die ersten Gäste. Mehlwurm wurde als ‚Kunsthändler‘ vorgestellt. Und dann erschien auch Lissi.

Die Majorin machte sie nun mit Mehlwurm bekannt. Der war krebsrot vor Verlegenheit. Lissi wußte von Erna, daß er ein ‚anständiger Kerl‘ war. – Er tat ihr leid in seiner totalen Vertattertheit. Sie kam ihm deshalb entgegen, gab sich zwanglos, überwand alle Anwandlungen stiller Heiterkeit angesichts seiner Bemühungen, sich ihr von der besten Seite zu zeigen.

Die übrigen Gäste waren Agrarier und adlige Offiziere, die gute Partien machen wollten, und drei Damen, eine Witwe mit zwei Töchtern aus dem Baltikum, schwer reich, lebensfroh, etwas männertoll – selbst die Frau Mama.

Frau von Sperber verstand es, die Stimmung zu beleben. Bald fühlte man sich sehr wohl und behaglich in den eleganten Räumen. Nichts deutete so darauf hin, daß hier Gott Amor Geschäftspatron war.

August Mehlwurm war überselig. Denn Lissi hatte nun auch selbst festgestellt, daß der kleine dicke Mann Gemüt besaß. Sie blieb freundlich zu ihm, obwohl seine Blicke infolge reichlichen Sektgenusses immer brennender wurden.

Gegen elf Uhr erschienen dann ‚ganz unerwartet‘ noch fünf Herren, darunter auch Herr Goldstein. Seine vier Begleiter, gleichfalls im Frack, gehörten zur Berliner Lebewelt. Auch ein bekannter Rechtsanwalt war darunter.

Goldstein verstand es dann, das Gespräch auf Spielklubs, Monte Carlo und die beliebtesten Hazardspiele zu bringen. Und wie erwartet äußerte Frau von Wenden, die Dame aus dem Baltikum, den Wunsch, einmal das berüchtigte Baccarat kennen zu lernen.

Im Nu war im großen Speisezimmer auf dem Eßtisch mit Kreide das Tableau mit den Feldern aufgezeichnet. Man nahm Platz. Goldstein und der Anwalt hielten die Bank. Man begann mit Einmarkeinsätzen.

Lissi hatte in ihrem Geldtäschchen nur acht Mark. Sie saß neben Mehlwurm. Aber – sie gewann. Sie setzte blindlings – gewann.

Es wurde Mitternacht. Sie dachte nicht an die Heimkehr. – Man war jetzt zu Fünf– und Zehnmarksätzen übergegangen. Die Gesichter brannten. Um halb eins erschienen abermals vier Herren.

Und Lissi gewann – gewann. – Einmal wollte sie die Scheine zählen. Da warnte Mehlwurm, der Kundige: „Um Gottes willen nicht! Das bringt Pech!“

Es wurde halb zwei. Da war es Mehlwurm, der Lissi zuraunte: „Brechen Sie auf. Es ist spät. Ich begleite Sie nach Hause –“

Unauffällig verschwanden sie im Flur. Lissis Handtasche war mit Scheinen vollgepfropft. Sie befand sich wie im Fieber. Noch nie hatte sie so viel Geld auf einem Haufen gesehen wie das, was nun ihr gehörte.

Frau von Sperber gab Mehlwurm den Hausschlüssel mit. Leise schlichen die beiden die Treppe hinab. Lissi hatte den hellen Schleier bis zum Kinn hinabgezogen. Sie fühlte erst jetzt, daß ihr Gesicht wie Feuer glühte. Sie schämte sich etwas.

Sie traten auf die Straße hinaus. Der Nachthimmel war bedeckt. Auf den hohen Geleisen des nahen Bahnhofs glitt die leuchtende Feuerreihe eines Fernzuges entlang.

Die Straße war menschenleer. Mehlwurm schlug die Richtung nach dem Bahnhof ein. Aber sie waren kaum wenige Meter gegangen, als hinter ihnen eilige Schritte erklangen. Dann vertrat ein Herr ihnen den Weg.

„Wo kommen Sie her?“ Die Frage war wie ein Befehl. Gleichzeitig holte der Herr eine Metallmarke hervor, fügte hinzu: „Kriminalpolizei!“

Lissi hatte ihn sofort erkannt: Rudolf Zöllner war’s! – Im ersten Schreck hatte sie Mehlwurms Arm umklammert, trat jetzt aber wieder zur Seite.

Rudolf Zöllner! Gerade er – er! – Aber – gerade deshalb wurde sie auch sofort wieder ruhiger.

Mehlwurm ahnte, daß es sich um eine Razzia handelte, daß man es auf Frau von Sperber abgesehen hatte. Lügen hielt er für zwecklos. So erklärte er denn, daß er und seine Begleiterin von einem Teeabend von der Majorin kämen.

Zöllner fragte weiter. Und so ward offenbar, daß sie sich am Glücksspiel beteiligt hatten.

„Sie kenne ich bereits!“ sagte Zöllner barsch zu August Mehlwurm. „Legitimieren Sie sich – ebenso Sie!“ Das galt Lissi.

Lissi stand zitternd da. Ein lähmendes Entsetzen verwirrte ihre Gedanken: „Polizei – Gericht – Gefängnis –“, das wirbelte in ihrem Hirn durcheinander.

„Bitte – wer sind Sie?“ herrschte Zöllner sie jetzt abermals an. – Da kam der Mut der Verzweiflung über sie. Sie trat ganz dicht an ihn heran.

„Lissi von Langenbeck,“ flüsterte sie. „Oh – ich flehe Sie an, Herr Zöllner, – verhaften Sie mich nicht. Ich – ich –“ – Sie begann zu weinen.

Rudolf Zöllner war einen Moment völlig sprachlos. – Lissi von Langenbeck?! – Lissi?! – Noch nie hatte er ihr so dicht gegenüber gestanden. Er hörte ihr leises Schluchzen. – Und er handelte ganz, wie ihm’s diese Augenblicksstimmung eingab.

„Sie können gehen,“ wandte er sich an Mehlwurm. „Die Dame werde ich heimbringen. – Seien Sie froh, daß ich Sie diesmal nicht beim Spiel abgefaßt habe. – Gehen Sie!“

August Mehlwurm zögerte. Da sagte auch Lissi ungeduldig: „So gehen Sie doch!“ –

Und er schlich davon wie ein begossener Pudel.

Zöllner rief einen abseits stehenden Beamten heran, gab ihm verschiedene Anweisungen. Dann schritt er neben Lissi weiter. Eine Weile blieb er stumm. Zu vieles arbeitete in ihm, rührte ihm die Seele auf.

Endlich begann er: „Wie sind Sie zu Frau von Sperber geraten, Fräulein von Langenbeck?“ –

Lissi erzählte alles der Wahrheit gemäß. Als sie von dem Baccarat im Eßzimmer berichten wollte, sagte Zöllner hastig: „Danke. Ich weiß jetzt Bescheid –“

Und wieder gingen sie stumm nebeneinander her. Dann meinte er unvermittelt:

„Sie konnten nicht ahnen, daß Frau von Sperber nicht nur Heiratsvermittlerin ist. – An wen wollte diese Dame Sie denn –“ Er beendete den Satz nicht, der ihm zu brutal geklungen hätte.

Aber Lissi hatte verstanden. Sie wollte ihn nicht reizen durch eine Antwortverweigerung. Sie sah sich in seiner Gewalt. Und bitter stieß sie hervor:

„An meinen Begleiter – Herrn Mehlwurm! – Muß ich noch deutlicher werden?“

Rudolf Zöllner schoß das Blut ins Gesicht. „Entschuldigen Sie –“, murmelte er. „Ich – ich hatte kein Recht, danach zu fragen –“

Lissis Bitterkeit machte sich in Tränen Luft. Und schwer verständlich flüsterte sie dann, plötzlich von dem Wunsche beseelt, Zöllner möchte sie nicht für eine berechnende Spekulantin auf Mehlwurms Reichtum halten: „Ich – ich wußte nicht, daß auch – er eingeladen war –“

Zöllner konnte sich jetzt nicht länger beherrschen.

„Das glaube ich, daß Sie’s nicht wußten. Wie sollten Sie auch wohl ernstlich eine Ehe mit diesem – diesem Manne in Erwägung ziehen, – Sie – Sie, die doch schon äußerlich so gar nicht zu ihm paßt! Wie sollte ein Weib sich wohl vor sich selbst so erniedrigen, sich – zu verkaufen! – Nein – das müßte ja schon ein Wesen sein, das keine Spur von Selbstachtung besitzt. Und Sie – Sie sind doch so stolz, so maßlos stolz auf Ihre Herkunft!“

Lissi hörte die leise Ironie sehr wohl heraus, die in diesem ‚so stolz‘ lag. Sie hatte sich jetzt wieder gefaßt. –

„Stolz?!“ meinte sie. „Oh, – ich mag’s gewesen sein. Man lernt um heutzutage –“

„Der Lehrmeister ist die Not!“ warf er ein. Und es klang wie ‚Eure Not – unser Triumpf!‘

„Nein! Nicht die Not! Ein Mensch – ein seltsamer Mensch – der jetzt häufig in abendlichen Plauderstunden uns den Blick geweitet hat –“

„Etwa – Ihr Mieter?“

„Ja – Harsfeld!“

„So so, – Harsfeld!“ – Und weiter wanderten sie durch die stillen Straßen. Und weiter sprachen sie von dem Manne, der schon lange von Zöllner beobachtet wurde.

*

Lissi schlich wie eine Diebin in die elterliche Wohnung und in das gemeinsame Zimmer. Sie wußte: der Papa hatte Nachtdienst, und die Mama schlief so fest. – Daher hoffte sie, daß ihr spätes Kommen nicht bemerkt werden würde. Erna würde ja schweigen.

Die Ältere war wach. – „Lissi, es ist nach zwei Uhr. Ich habe mich schon geängstigt,“ sagte Erna leise und setzte sich im Bett aufrecht.

Die Jüngere legte Hut und Mantel ab, schlüpfte in die Morgenschuhe. Dann erst nahm sie auf dem Bettrand der Schwester Platz, ergriff deren Hände, beugte sich vor.

Erna hatte ihre kleine Nachttischlampe mit dem gelben Schirm eingeschaltet. Sie fühlte, daß Lissis Finger eiskalt waren und zitterten.

„Was – was ist dir zugestoßen?“ forschte sie in jäher Angst. „So sprich doch! Weshalb schaust du mich nicht an?“

Lissi stöhnte auf. „Du – du, – das – Unheil ist schon da! Harsfeld. – Oh Gott – ich habe ja Schweigen gelobt. Aber – ich bring’s nicht über’s Herz, dich – nicht zu warnen –“

Die Ältere machte ihre Hände frei, packte die Schwester bei den Schultern.

„Du – rede! Was heißt das: Warnen?! – Wovor?! Vor – ihm, vor Harsfeld?“

Lissi weinte wimmernd. – „Ja. – Mein Gott, – was tu’ ich nur?! Zöllner – hat doch mein Wort, daß ich niemandem auch nur andeutungsweise –“ Sie weinte stärker.

Erna war bei dem Namen Zöllner zusammengezuckt. – Rudolf Zöllner nur konnte gemeint sein, der jetzt bei der Kriminalpolizei angestellt war. – Kriminalpolizei. Und Harsfeld! – Sie mußte erfahren, um was es sich handelte, – mußte! Und so begann sie denn Lissi zu beschwören, ihr alles mitzuteilen – alles!

„Ich bin deine Schwester. Ich stehe dir näher als dieser Zöllner. Willst du mich denn unglücklich machen?! Ich liebe Harsfeld. Und diese Liebe darf mir nicht zerstört werden –“

Lissis Tränen versiegten. Sie sah keinen anderen Ausweg. Sie erzählte.

Erzählte wirr und zusammenhanglos. Wie Zöllner ihr versprochen habe, daß ihr aus der Beteiligung an dem Hasardspiel keinerlei Unannehmlichkeiten erwachsen sollten. Als Dank solle sie ihm möglichst viel über Harsfeld mitteilen, den er für einen Hochstapler halte. Alles, jede Kleinigkeit solle sie erwähnen; auch das, was ihr ganz belanglos erschiene. Und da habe sie ihm unter anderem auch von dem Kalkstaub auf der Scheuerleiste im Salon und von dem plötzlich so schweren Koffer berichtet; auch, daß Harsfeld die gründliche Reinigung seiner Zimmer heute abermals unmöglich gemacht habe. –

Da sei dann Zöllner plötzlich stehen geblieben, habe gefragt: ‚Die Wand, an der das Paneelsofas sich befindet, ist wohl die nach dem Nachbarhause hin, wo Mehlwurm im gleichen Stock wohnt?‘ –

Und als sie nun mit ‚ja‘ geantwortet habe, sei Zöllner mit einem Male ganz ruhig geworden. ‚Das genügt mir!‘ habe er nur gesagt. ‚Jetzt werde ich zufassen –‘

Erna von Langenbeck stierte in das Licht der Nachttischlampe. Eine Erinnerung war erwacht, – Harsfelds rätselhafte Worte: ‚Du wirst teilen müssen mit etwas anderem –‘ – Das Andere – das war das Verhängnis! Das kannte Zöllner jetzt! – Zufassen wollte er. Zufassen!

Das blonde junge Weib regte sich. In wilder Hast kleidete sie sich notdürftig an, steckte das Haar auf, schlüpfte in ihren Seidenmantel.

„Was hast du vor?“ flüsterte Lissi angstvoll. „Mein Gott – was hast du nur vor?“ Sie umklammerte die Ältere.

Erna war bleich. Starr sah sie die Schwester an.

„Gewißheit will ich haben. Er soll mir beichten. Und – er wird es tun – sofort!“

„Du – du willst zu ihm?“ Lissi zitterte wieder. „Bedenke – er ist sicher ein – ein Verbrecher. Zöllner verdächtigt niemand umsonst. Dazu ist er viel zu anständig von Gesinnung –“

Die Ältere lachte kurz auf. „Anständig – anständig, – und verlangt von dir als Dank – Spitzeldienste!“

„Du tust ihm unrecht. Wirklich! – Um ehrlich zu sein, Erna: ich hätte Zöllner auch aus freien Stücken gebeten, über Harsfeld Erkundigungen einzuziehen. Als du mir gestern nachmittag andeutetest, daß du dich sozusagen mit Harsfeld verlobt hättest, überkam mich eine seltsame Angst. Harsfeld hat so etwas – vom Übermenschen an sich, macht in so vielem den Eindruck, daß er jenseits von Gut und Böse steht. Ich meinte es nur gut mit dir, als ich Zöllner alles so haarklein erzählte. Ich hätte ja auch schweigen können. – Erna, – geh’ nicht zu ihm. Bedenke: es ist Nacht. Er schläft. Wie willst du ihn wecken?!“

Erna von Langenbeck drängte die Schwester von sich – so kräftig, so rauh, als wolle sie von einer Feindin sich losmachen.

„Du – du hast mir einen schlechten Dienst erwiesen,“ rief sie leidenschaftlich. „Was geht dich meine Liebe an?! Nichts – nichts! – Wenn du nicht willst, daß ich dich als die Vernichterin meines Glückes – hassen lerne, dann – gib den Weg frei!“

Lissi regte sich nicht. In ihren Ohren klang nur das eine Wort nach: Hassen – Hassen!

Ein Türschloß schnappte leise. – Lissi war allein. Und sie dachte: ‚Alles hat dieser Mensch, dieser Harsfeld, hier auf den Kopf gestellt, – alles! Der Papa ist anders geworden, redet nur noch vom Geldverdienen; die Mama betet den Götzen Reichtum an, möchte uns am liebsten einem zwanzigfachen Millionär anbieten; Erna weiß kaum noch etwas von Standesbewußtsein und von dem, was wir unserem adeligen Namen schuldig sind. Und – ich selbst?! Ich arbeite wie eine Magd, nur weil dieser Harsfeld mich mit seinen schlauen Reden dazu gezwungen hat; mehr noch, er hat mir geradezu die Lust an der Arbeit suggeriert! –

Unser ganzes Heim ist verändert; die Menschen darin ebenso. – Weshalb? – Ja – weil Harsfeld eine ungeheure Macht über die Seelen besitzt, weil er jeden an der empfindlichsten Stelle zu packen weiß. –

Und jetzt noch als letztes: Meine Schwester droht mit ihrem Haß! Erna droht mir – Erna, die bisher stets betonte: die Bande des Blutes dürften durch nichts gelockert werden! Haß – Haß! Und alles – unseres früheren – Burschen wegen, den Rudolf Zöllner für einen Verbrecher hält!‘ –

Das blonde junge Weib lauschte an Harsfelds Schlafzimmertür; legte das Ohr an die Füllung, hielt den Atem an. – Nichts – nichts, – kein Laut!

Ganz leise begann sie nun zu pochen. Bald wurde sie kühner, klopfte stärker. – Nichts – kein Laut.

Daheim war er; daß wußte sie; sie hatte gehört, wie er nach Hause kam.

Erna schlich zur nächsten Tür; horchte abermals.

Harsfeld war wirklich noch wach! Sie hörte schwache Geräusche – so schwach, daß sie zuweilen nicht wußte, ob es nicht das Blut in ihren Ohren gewesen, das sang und brauste und sie narrte.

Da – jetzt deutlicher! Wie ein Kratzen und Scharren war’s. Nun raschelte Papier. Dann wieder das Kratzen.

Erna preßte plötzlich die Hand auf das jagende Herz.

Mein Gott, – sollte es Wahrheit sein?! Sollte er wirklich – wirklich?! – Sie dachte den Gedanken nicht aus. Sie sah das Paneelsofa vor sich. Sah darunter die Scheuerleiste, weiß bepudert. –

So hatte ja Lissi gesagt: ‚Es lag Kalkstaub darauf vorgestern. Und gestern war er weggewischt –‘

Erna brachte das Auge an das Schlüsselloch. Der Schlüssel steckte von innen; doch sein Bart stand seitwärts, so daß unten ein gezacktes Löchlein frei war. –

Doch – zu sehen war nichts. – Vielleicht hatte er ein Tuch über den Drücker gehängt. – Erna huschte zum Garderobenständer, fand eine lange Hutnadel, mit der sie dann durch das Schlüsselloch stach und durch vorsichtige Auf- und Abwärtsbewegungen wirklich ein Tuch entfernte. Es fiel drinnen lautlos zu Boden. Nun hatte sie die Mitte des Zimmers vor sich, konnte in dem ungewissen Halbdunkel des heraufdämmernden Morgens links neben der Balkontür den Schreibtisch unterscheiden, rechts davon den schmalen Bücherschrank. Die Fenstervorhänge erschienen bereits durchsichtig. Das Auge gewöhnte sich schnell an das spärliche Licht. Und Erna bemerkte nun eine Gestalt, die wie ein Gespenst durch ihr Sehfeld glitt. Es war Harsfeld in Hemdsärmeln; Harsfeld, der in den vor dem Leibe abwärts gestreckten Armen etwas Schweres trug, etwas, das – wie losgebrochene Ziegelsteine aussah. Er verschwand damit nach rechts, nach dem Schlafzimmer zu. Und dort – stand der Koffer – der große Rohrplattenkoffer, der leer gewesen war und nun Zentner wog.

Erna von Langenbeck lehnte sich an die Türfüllung; ihre Knie zitterten. – Sie raffte sich auf. Nur jetzt nicht schwach werden! Nur jetzt nicht!

Sie klopfte – klopfte wieder; stand tief gebückt dabei, das Auge am Schlüsselloch.

Klopfte abermals. – Jetzt eine Gestalt – er – er! Und – er stand drinnen vor der Tür.

„Öffne, – ich bin’s, Erna! Öffne sofort, wenn du mich lieb hast! Dir droht Gefahr. Ich flehe dich an – öffne!“

Der Schlüssel wurde herumgedreht, kreischte leise.

Die Tür ging auf. Harsfeld trat zur Seite, machte Erna Platz. Sie huschte hinein; hinter ihr schloß sich die Tür wieder.

*

Erna blieb mitten im Zimmer stehen. – Das Halbdunkel dort an der Wand nach dem Nachbarhause hin, wo sonst das Paneelsofa stand, das jetzt mit einer Drehung nach links senkrecht zu der Mauer gestellt war, zeigte einen runden, helleren, weißen Kreis, der von einer Laterne herrührte, die vom Boden aus ihren Lichtkegel vorwärtsschickte, hinein in eine metergroße Öffnung mit unregelmäßigen Rändern, – in ein Loch in der Mauer.

Erna schritt auf ihren weichen Morgenschuhen vorwärts mit seltsam ungelenken Bewegungen wie ein Automat; vor dem Loche machte sie halt; bückte sich etwas; schaute hinein.

Dann wandte sie sich um.

Harsfeld saß in der Sofaecke. Er hatte sich schnell seine Hausjacke übergezogen. – Er sah dem blonden Weibe ins Gesicht; ohne Scheu; er sah in ihren Augen das Entsetzen, das Grauen aufzucken; sah, wie ihre Arme sich langsam hoben in einer ungewollt schönen Geste schmerzlicher Abwehr.

„Komm’, setz’ dich zu mir,“ bat er leise. „Komm’, du, die ich liebe. Die Stunde der Entscheidung ist da –“

Ein Stöhnen drang aus ihrer Brust hervor; ein weher Seufzer floh über die entfärbten Lippen.

Links von ihr stand einer der Sessel. Sie tastete sich hinein wie eine Blinde; sank in sich zusammen, als habe ihr Körper alle Kraft verloren. Ihre Hände reckten sich hoch, verhüllten das erstarrte Antlitz.

Dann wurde sie gewahr, daß Harsfeld den Schreibsessel neben den ihren gestellt hatte, daß er an ihrer Rechten saß.

„Höre mich an,“ flüsterte er. Und jedes Wort formte sein Mund dann klar und ohne Zögern. „In meinem Elternhause wehte ein Eiseshauch. Mein Vater war ein Despot in seiner Familie. Er, der außerhalb seiner Wohnung vor jedem Menschen katzbuckelte, der ihm vielleicht nützen konnte, entschädigte sich für den Widerwillen, den er vor seiner eigenen Kriecherei empfand, durch die maßloseste Tyrannei gegenüber den Seinen. Meine Mutter haßte ihn und wir Kinder haßten ihn ebenso. –

Das war mein Elternhaus. Und ich jubelte, als ich es gegen den Friseurladen Meister Schaberts in Anklam vertauschen durfte. Aber – auch hier lernte ich die Menschen nur von der häßlichsten Seite kennen. Schabert war ein Schürzenjäger; seine Frau betrog ihn mit dem Gehilfen; die fünfzehnjährige Tochter, bereits voll entwickelt, war das Liebchen des reichsten Juden der Stadt. –

Ich will niemanden dafür verantwortlich machen, daß in meiner Seele Triebe aufgewuchert waren, die mich sehr bald auf die Bahn des Verbrechens drängten. Mit achtzehn Jahren war ich ein schlauer, gewiegter Einbrecher. Keiner von denen, die Wäsche und Silber stehlen. Nein – ich stahl nur Sachen von hohem Wert, beraubte nur die, denen man nachsagte, sie besäßen im Überfluß und seien geiziger als ein Bettler, der auf seinen im Strohsack verborgenen Tausenden schläft. –

Ich wurde nie abgefaßt. Ich bereiste die ganze Welt. Ich spielte allerlei Rollen, lernte die Menschen immer genauer kennen, verlernte es, Nerven zu haben und die Menschen zu achten. Ich war stärker als sie alle. Ich verlachte die Polizei. Ich speiste mit ihren Vertretern an einem Tisch. Ich spielte mit ihnen wie mit blinden Puppen. Ich spürte, daß in mir ein Dämon wohnte, der mir Gewalt über alle gab. Dieser Dämon war die ungezügelte Leidenschaft für das Verbrechen; aus dieser Leidenschaft war alles Übrige aufgekeimt, groß geworden: Schlauheit, Menschenkunde, Gewissenlosigkeit, Kühnheit, Erfindungsgabe – und noch mehr. Kurz – meine ganze Persönlichkeit war lediglich ein Produkt dieses verbrecherischen, bei mir aber verfeinerten Triebes. –

Ich war der – Gentleman-Einbrecher, wie ihn die Leute mit Phantasie am Schreibtisch erfinden. Dann kam der Krieg. Ich wollte nicht untätig zuschaun. Ich schlug mich von Südamerika nach der Heimat durch. Mit dem bunten, besser dem feldgrauen Rock zog ich auch einen anderen Menschen an. Ich tat meine Pflicht. –

Das Schicksal führte mich schließlich hier in euer Haus, nachdem ich draußen an der Front in den Schlammgräben der Champagne mir die Nierenentzündung geholt hatte.

Ich liebte dich vom ersten Sehen an. Ein zweiter Dämon war in meine Seele eingedrungen; die Liebe! Nun wohnten zwei Triebe in mir; gleich stark; verschieden geartet wie Sturm und Maisonnenschein. –

Ich verließ euer Haus; ich wollte wiederkommen; ich begann meine alte Tätigkeit abermals. Und nachdem ich genug beisammen hatte, um Jahre in Üppigkeit leben zu können, begann ich dich und die deinen heimlich zu beobachten. Dabei wurde ich auch auf euren Nachbarn Mehlwurm aufmerksam. Ich verkaufte ihm in der Maske eines Entente-Offiziers Juwelen; kundschaftete seine Räume; seine Sicherheitsmaßregeln aus; erkannte, daß er einen Aderlaß vertrug, daß aber schwer an ihn heranzukommen war –“

Erna hatte die Arme sinken lassen. Der Kopf hing weiter so matt herab.

„Die Zeit war da, wo ich wieder bei euch auftauchen konnte. Ihr darbtet. Ihr würdet gefügige Werkzeuge sein, sagte ich mir. –

Dein Vater mit seinem leisen Schlaf mußte zuweilen für die Nacht von hier entfernt werden. So ward er Angestellter des lächerlichen ‚Telephon-Ersatz‘. –

Dann brauchte ich jemand, der mir über Mehlwurm Bericht erstattete, den ich heimlich aushorchen konnte. Ich wollte wissen, wann sein Tresor ein Wertstück enthielt, das er gekauft hatte und das einen Zugriff verlohnte –“

Das blonde Weib schluchzte auf. –

„Dich brachte ich zu Mehlwurm; du solltest mir dienen nach meiner Absicht. Der eine Dämon hatte da den anderen besiegt; selbst die, die ich liebte, war mir als Werkzeug gut. –

Es kam der gestrige Nachmittag. Es kam das Glück zu mir. Und so lange du bei mir warst hatte der erste Dämon sich scheu verkrochen. Als du gegangen, rührte er sich wieder und, – nein, er siegte nicht, aber er wurde abermals dem anderen ebenbürtig. –

Vielleicht verstehst du mich nicht. Es ist so! Ich liebe dich, und doch werde ich nie von dem lassen können, was – meine besondere Begabung ist.

Jenes Loch in der Mauer würde morgen nacht bis an die Rückwand des Tresors des Nachbars gereicht haben. Diesen Geldschrank hätte ich erbrochen. Den Gedanken, dich auszuhorchen und zu warten, bis der Zugriff noch lohnender, hatte ich aufgegeben, nachdem ich dich geküßt.

Und nun –“

Er schwieg plötzlich.

Immer heller war’s im Zimmer geworden. Von der Straße her drangen die Geräusche des erwachenden Großstadtlebens in das Gemach, das zwei Menschen und zwei Dämonen beherbergte.

„Und nun, Erna,“ fuhr Harsfeld noch leiser fort, „nun ist die Stunde der Entscheidung da –“ – Er schwieg wieder und wartete. –

Das Weib neben ihm regte sich nicht.

Er sprach von neuem. – „Ich hoffte, du würdest jetzt irgend welche Worte finden. – Du hättest sie leicht gefunden, wenn – wenn – doch nein, – den Satz will ich als letzten beenden. – Du brauchst mir nicht zu sagen, weshalb mir Gefahr droht. Meine Person ist vielgestaltig, ich bin daheim und verlasse doch über den Balkon das Haus wieder. Ich bin überall, wenn ich es sein will. –

Rudolf Zöllner spürt mir nach. Seine Spionin sitzt an meinem Telephon. Ich zahle ihr Gehalt und belächele sie und ihn. Ich weiß, daß er Lissi heute heimgebracht hat. Das übrige reime ich mir leicht zusammen: Paneelsofa, Kalkstaub, mein schwerer Koffer. – Ich gebe zu: ich hätte hier in vielem vorsichtiger sein müssen. Aber der andere Dämon schwächte den ersten. – Nun bist du bei mir, Erna, nun weißt du alles. Und nun?“

Da regte sie sich. Ihr Kopf hob sich ein wenig; ihr Körper straffte sich etwas. Sie redete wie jemand, der nie mehr froh sein kann, der innerlich erfroren ist; sie redete mit leblosem Gesicht an ihm vorbei, blickte auf die Laterne am Boden.

„Ich verstehe dich nicht. Ich kann es nicht. Die Liebe hätte stärker sein müssen als der unreine Trieb, den du Dämon nennst. Ich werde dich nie vergessen. Und weil ich stets an dich denken werde, will ich mir nicht vorzustellen brauchen, wie du hinter Kerkermauern dahinsiechst. – Zöllner läßt das Haus schon jetzt überwachen. Vielleicht verhaftet er dich schon heute. –

Ich will dir helfen, ihm zu entgehen. Wir werden das Loch in der Mauer wieder schließen. Auf dem Hausboden stehen noch von einer Ausbesserungsarbeit her Eimer mit Sand und Zement. Du wirst geschickt genug sein, den Maurer zu spielen. Wir kleben ein Stück Tapete über die Stelle –“

Sie sah nicht, daß er lächelte. Es war ein wehes, trauriges Lächeln. –

„Wir können die Tapete künstlich trocknen. Wir haben einen kleinen Petroleumofen. Den stellen wir an die feuchte Stelle. Dann wird niemand wissen, daß du – etwas geplant hattest. – Die Ziegelsteine in deinem Koffer werden Mörtelspuren zurückgelassen haben. Wir werden den Koffer säubern –“

Sie erhob sich langsam. „Warte. Ich hole die Eimer vom Boden – und alles, was wir sonst noch brauchen. Die Uhr auf deinem Schreibtisch zeigt auf vier. Wir haben noch über eine Stunde Zeit, bevor Papa heimkehrt –“ –

Als sie dann wieder bei ihm erschien, hatte er bereits die Steine sämtlich vor dem Loche aufgeschichtet.

Sie half ihm schweigend und gewandt. Sie wunderte sich nicht, daß er das Loch so gut wieder zumauerte, als hätte er stets nur das Handwerk eines Maurers ausgeübt. –

Es war kurz nach fünf. Die beiden hörten den Oberstleutnant leise heimkehren, im Schlafzimmer verschwinden.

Der Petroleumofen wurde angezündet. Das Stück Tapete lag zugeschnitten bereit. Erna wischte die Scheuerleiste feucht ab, ebenso den Fußboden, entfernte alle Spuren ihrer gemeinsamen Tätigkeit.

Draußen schien bereits die Sonne.

Dann gab es nichts mehr hier für Erna zu tun. Sie ging zur Tür, drehte sich nochmals um.

„Ich werde beten, daß Zöllner dir noch Frist gewährt. – Die Mauer muß trocknen. Sonst –“ Es war wieder, als spräche eine Fremde.

Harsfeld blickte sie an mit klaren, gelassenen Augen.

„Ich danke dir,“ sagte er einfach.

Die Tür schloß sich hinter ihr. –

Lissi saß am Fenster, als die Ältere ins Zimmer schlich. Und Lissi fragte mit tränenerstickter Stimme und gerungenen Händen: „Was – was – habt ihr –“ Sie weinte laut auf, preßte das Taschentuch sofort erschrocken vor den Mund.

Erna stellte sich dicht vor sie hin.

„Lissi,“ sagte sie schwer, „du hast Einfluß auf Zöllner. Du wirst dich heute vormittag, möglichst bald, mit ihm irgendwie in Verbindung setzen. Du wirst ihm sagen, ich sei schwer erkrankt. Wenn er jetzt sofort Harsfeld verhaften wollte, würde er mich töten. Sage ihm nur getrost, daß ich Harsfeld liebe. Er wird dann vielleicht Rücksicht nehmen und warten. – Ich werde auch krank werden. Ich fühle es. Mein Kopf brennt; mein Hirn glüht. Ich sehe dich kaum vor Funkenrädern, die vor meinen Augen aufzucken. Und in meiner Brust ist alles wie vor Kälte erstarrt.“

Lissi bemerkte durch den Tränenschleier, daß ihre Schwester wie eine Trunkene schwankte; sprang auf und führte sie nach dem Bett; entkleidete sie und legte sie nieder, stand dann am Fußende und fand keine Tränen mehr.

*

Rudolf Zöllner bewohnte im Zentrum der Stadt unweit der Wilhelmsstraße ein sehr bescheiden möbliertes Zimmer. –

Es war jetzt neun Uhr vormittags. Er saß und frühstückte. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Schreibunterlage; darauf ein Blatt Papier, mit Bleistiftzeilen bedeckt. Er hatte soeben ein Schreiben entworfen, in dem er um Enthebung von seiner Stelle bei der Polizei bat. –

Er wußte, daß man auf seine Dienste nicht ganz verzichten würde. Er wollte sich anderweit betätigen, mußte es, denn für den jetzigen Posten fehlte ihm eins, das niemand sich anzwingen kann. –

Er hörte draußen die Flurglocke schrillen, vernahm seine Wirtin über den Gang hasten. Da klopfte sie auch schon bei ihm an, meldete laut: „Eine Dame wünscht Sie zu sprechen –“

Und schon trat diese ein. Zöllner prallte zurück. Er hatte Lissi von Langenbeck trotz des dichten Schleiers erkannt.

„Sie – Sie?!“ sagte er, unfähig, sich zu sammeln.

„Darf ich mich setzen? Ich bin – etwas abgespannt.“ –

Er rückte ihr schnell einen Stuhl zurecht.

Sie nahm Platz, schlug den Schleier hoch. – Ihr blasses Gesicht beunruhigte ihn noch mehr.

„Was – ist geschehen? Es muß doch –“ Vor ihrem qualerfüllten Blick schwieg er. Sie nickte jetzt, sagte:

„Ja – es ist etwas geschehen. Ich habe etwas getan, daß ich bitter bereue. Ich habe Ihnen Waffen gegen einen Mann in die Hand gegeben, den meine Schwester liebt. Ich habe es gut gemeint mit Erna. Und doch war es nicht lediglich die Absicht, sie von diesem Menschen zu trennen, die mich die – Verräterin spielen ließ. Nein – über dieser Absicht stand der Wunsch, Sie mir zu Dank zu verpflichten, damit Sie mich nicht verrieten, als Teilnehmerin an dem Spielabend bei Frau von Sperber. Dieser Wunsch war also niedrigste Selbstsucht. Erst nachher ist mir dies klar geworden, als ich sah, was ich angerichtet hatte. Ich komme mir wie eine gemeine Verräterin vor. Vielleicht begreifen Sie eine so strenge Auffassung nicht –“

„Glauben Sie?!“ warf er ein. „Doch – sprechen Sie weiter –“

„Die Verräterin möchte alles ungeschehen machen,“ fuhr sie hastig fort. „Deshalb bitte ich Sie: Nehmen Sie an, ich hätte jene Dinge nicht dem Beamten, sondern dem Manne erzählt, der einst im ersten und zweiten Kriegsjahr, wenn er von der Front auf Urlaub daheim war, so harmlos mit dem Backfisch Lissi plauderte, der später sich freute, als sie ihm zur Beförderung und zum Eisernen I. gratulierte, der dann aber plötzlich dieselbe Lissi nicht mehr kannte und – nur heimlich ihr nachschaute –“

Rudolf Zöllner war rot geworden.

„Ich bitte Sie also darum, daß der Beamte vergißt, was eine Schwester –“

Er hatte sich schon erhoben, reichte ihr das Blatt Papier hin, sagte ernst: „Sie bereuen etwas. – Ich bereue nichts, obwohl ich in der verflossenen Nacht meine Pflicht verletzt habe. Ich hätte die Spielergesellschaft bei Frau von Sperber ausheben müssen. Ich tat es nicht. Ich schickte meine Leute unter einem Vorwand heim. – Und weshalb: Weil ich fürchtete, durch ein Eingreifen bei Frau von Sperber könnten auch Sie bloßgestellt werden, was den Umständen nach sehr nahelag. –

Ich kann meine jetzige Dienststellung nicht weiter bekleiden. Der Beamte und der Mensch sind miteinander in Konflikt geraten. Der Mensch hätte nicht siegen dürfen. Das ist – meine Auffassung! Deshalb wird dieses Schreiben nachher sofort in Reinschrift abgehen; deshalb – mögen andere jenen Harsfeld zu entlarven suchen, denen ich – das muß ich! – meine Verdachtsgründe gegen ihn, so weit sie außerhalb Ihres Hauses liegen, mitteilen werde. Was Sie mir sonst erzählt haben, Fräulein von Langenbeck, habe ich – und das war meine Niedrigkeit – von Ihnen halb und halb als Dank für mein Schweigen gefordert. – Sie sehen nun, wie wir beide uns heute hier gegenüberstehen, – beide mit unruhigem Gewissen, beide als Menschen, die gefehlt haben, weil sie eben nur Menschen sind. – Ich aber habe etwas dazugelernt, bin um eine Erfahrung über mich selbst reicher geworden. Ich glaubte an meine Unfehlbarkeit zu fest. Ich wandelte sehr stolz und selbstbewußt auf der Höhe und bin doch abgeglitten –“

Lissi von Langenbeck streckte ihm zaghaft die Hand hin.

„Um meinetwillen sind Sie abgestürzt,“ flüsterte sie. „Wie soll ich es Ihnen danken, daß –“

Er hatte ihre Hand mit hastiger Bewegung ergriffen, legte nun auch seine Linke über die vereinten Hände. Lissi fühlte, daß diese Hände sehr kühl waren und zitterten.

„Sprechen Sie nie mehr von Dank,“ sagte er eindringlich und doch mit jenem vibrierenden Ton, der die mitschwingende Seele verrät. „Nie mehr! Sie haben ja gesehen, was zuweilen bei dem Bestreben dankbar zu scheinen, herauskommt.“

In seinen Blicken lag jetzt alles, was er für sie empfand. Bisher hatte er es bekämpft als etwas, das ihn gleichsam besudelte – ihn – den Proletarier, einen der rührigsten, begeistertsten Mitarbeiter an der Festigung der jungen Republik. Diese Nacht hatte seinen Sinn gewandelt, hatte ihn auch gelehrt, die Sache und die einzelne Person zu scheiden.

Lissi nickte verlegen. „Gut – also kein Dank! Aber – vielleicht – Freundschaft fortan, gute Kameradschaft?“

„Ja – gern – so gern!“ – Sie erwiderte den Druck seiner Hand. Und sie lächelte schwach, meinte:

„Zwei Sünder, die einen Bund schließen –“

Als Lissi daheim anlangte, fand sie Erna im gemeinsamen Zimmer nicht vor. Der Oberstleutnant schlief noch. Frau von Langenbeck war zur Kirche gegangen. –

Die Totenstille in der Wohnung ängstigte Lissi. Überall suchte sie die Schwester. Schließlich dachte sie an Harsfelds Zimmer. –

Sie klopfte an die Salontür. Nichts – nichts. Klopfte abermals. Dann legte sie die Hand auf den Drücker. Die Tür ging auf.

Mitten auf dem Teppich unter dem Kronleuchter lag Erna halb zusammengekrümmt; neben ihr ein Briefumschlag, der hastig aufgerissen worden sein mußte; in ihrer Linken, die zur Faust geballt war, steckte ein Brief.

Erna war vollständig angekleidet und frisiert. Der Salon bot im übrigen das gewöhnliche Bild dar. Das Paneelsofa stand an der Wand. Alles war wie sonst.

Lissi kniete neben der Schwester; sah sofort, daß diese nur bewußtlos.

Eine dumpfe Ahnung drängte sie, der Ohnmächtigen den Brief aus der Hand zu nehmen. Sie las – las, als träume sie. Nur ein Gedanke regte sich schwach in ihr: Zu spät – zu spät!

– ‚Erna! Bevor ich diese Welt verlasse, die mir nun nichts mehr zu bieten hat, will ich dir auch den einen Satz beenden, den ich in der Nacht nicht zu Ende sprach.

Ich sagte: ‚Du hättest Worte leicht gefunden, nämlich die passenden Worte nach meiner Beichte, wenn – also wenn deine Liebe so groß gewesen wäre, wie ich es von dem Weibe erwartete, die fernerhin mein Leben vielleicht ganz hätte ausfüllen können und die mich so zurückgeführt hätte in die Gemeinschaft derer, die nicht jenseits von Gut und Böse stehen! –

Du fandest die Worte nicht. Du fandest nur den Mut, mitzuhelfen, damit ich straflos bliebe.

Ich ließ dich gewähren, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr zu retten war. Das Loch in der Mauer, selbst das wieder verschlossene, wäre den Polizeiaugen nie entgangen. So bin ich denn ein doppelt verlorener Mann: enttäuscht in meiner Liebe, überführt als Verbrecher. –

Es ist Zeit mithin, daß ich den Vorhang zuziehe und die Komödie meines Lebens beende. Ich werde scheinbar eines natürlichen Todes sterben. Und ich hoffe, daß ihr, du und die Deinen, nicht meinetwegen noch Ungelegenheiten habt. –

Lebe wohl! Mein letzter Gedanke wird dir gehören. –

Noch eins: in meinem Schreibtisch liegt ein an deinen Vater adressierter Brief – mein Testament. Sorge, daß dein Vater ein gewissenhafter Testamentsvollstrecker ist.“ –

Lissi schob den Brief und den Umschlag in die Tasche. Dann suchte sie die Schwester ins Bewußtsein zurückzurufen.

Erna kam zu sich. Ihre Gedanken waren klar. Sie wußte genau, weshalb sie umgesunken.

„Als ich nach kurzem Schlaf in meinem Bett erwachte,“ berichtete sie leise, „fühlte ich mich kräftiger. Dann kam aber auch schon die Angst um Harsfelds Sicherheit mit doppelter Wucht auf mich eingestürmt. Ich kleidete mich hastig an, klopfte, trat hier sofort ein. –

Er hatte den Hut auf dem Kopf, den Stock in der Hand: wollte ausgehen.

Er sagte nichts; sah mich nur sekundenlang an, als wollte er mein Bild sich noch besser einprägen; dann schritt er schnell an mir vorbei zur Tür hinaus.

Und da sah ich den Brief auf der Schreibtischplatte –“ Sie schwieg. Und fügte nun seltsam hart hinzu: „Ich bin ihm von Herzen dankbar, daß er sich selbst bis zuletzt treu geblieben ist. Jetzt werde ich an den Toten mit aller Liebe und Treue als an den einzigen Mann zurückdenken können, dem ich mich in die Arme schmiegte und dem ich meine Lippen darbot. Er mag ein Dämon gewesen sein, ein Übermensch. Groß in seiner Art war er doch –“

Eine Stunde später erschien Rudolf Zöllner bei Langenbecks. Lissi öffnete ihm. Er brachte die Nachricht, daß in einem Cafee ein Herr plötzlich, an Herzschlag offenbar, verschieden sei – ein Herr – Harsfeld. –

Sein Testament enthielt die genaue Beschreibung einer neuartigen Haarschneidemaschine, die er erfunden und die er sich hatte patentieren lassen. Alle seine Rechte an der Erfindung hatte er an Herrn von Langenbeck übertragen und diesem auch genau klargelegt, wie er das Patent verwerten solle. –

Der Oberstleutnant befolgte die Ratschläge genau und schuf sich bin kurzem eine gesicherte Existenz. Erna war seine beste Stütze dabei. Sie trug fortan nur noch die schlichtesten Kleider. Ihre Spaziergänge führten sie stets auf den Kirchhof an Harsfelds Grab.

August Mehlwurm hat auf Lissis Besitz jede Hoffnung aufgegeben, seit Rudolf Zöllner im Hause Langenbeck eifrig verkehrt und seit der alte Zöllner in der Nachbarschaft schmunzelnd erzählt hat: ‚Es wird wohl bald eine Verlobung geben –‘

Und es gab auch wirklich eine Verlobung. Die alte und die neue Zeit reichten sich die Hände. – Adel und Proletariat. –

Zöllner trat in die Fabrik seines Schwiegervaters ein. Und wenn er mit seinem jungen Weibe gelegentlich über Harsfeld sprach, sagte er stets ‚unser Harsfeld‘.

 

 

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Fussnote:

1 (poln.) bequemer, weicher Uniformrock mit Umlegekragen