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Das Erbe des Selbstmörders

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 373

Das Erbe eines Selbstmörders.

Roman von

Swea von Münde.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

Gunnar Alfström war Kassierer bei den elektrischen Kraftanlagen der Trollhätta-Fälle. Er war dem Äußeren nach ein echter Nordländer: blond, helläugig, schlank, aber breit in der Brust, und sehnig und zäh. – Nur sein Charakter entsprach nicht seiner sympathischen Erscheinung. Als er vor vier Wochen von längerem Urlaub, den er in Italien zugebracht hatte, zurückgekehrt war, konnte er den Kollegen vom Kraftwerk gar nicht genug von den Reizen der hübschen Roulettekugel erzählen, die er in Monte Carlo kennen gelernt hatte.

Durch ihn wurde das kleine, ehrbare Städtchen Trollhätta an den berühmten Wasserfällen gleichen Namens ein Spielernest. In aller Heimlichkeit huldigte man dem Hasard1. Man hatte ja auch in Trollhätta so gar keine Zerstreuung. Auch der Sonntagbummel mit der Eisenbahn nach Göteborg wurde schließlich etwas Altes. Das Roulette aber war wie ein reizvolles Weib, das heute alles gewährt und morgen alles verweigert und daher nie langweilig wird.

Gunnar Alfström verließ das Bureau des Verwaltungsgebäudes als letzter. Ganz langsam schritt er hinter den Kollegen her. Seine Gedanken umkreisten ständig den Kassenschrank, in dem, wenn unversehens eine Revision erfolgte, achtzehntausend Kronen fehlen würden.

Alfström verfluchte seine Spielerleidenschaft. Doch – die Einsicht kam zu spät.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was hätte er darum gegeben, wenn er’s hätte ungeschehen machen können! Schon Sigrids wegen! Sie würde sich ja von ihm abwenden, falls er ins Gefängnis kam! –

Er seufzte. – Und – er sollte nun in dieser Stimmung in das Gasthaus an den gemeinsamen Mittagstisch gehen und wieder ganz harmlos und heiter tun?! – Nein – das brachte er nicht mehr fertig. Dazu war er jetzt doch schon mit den Nerven zu sehr herunter. – Außerdem verspürte er auch nicht den geringsten Hunger.

Planlos wanderte er an den Fällen entlang, bog dann links in den schmalen Weg ein, der auf einen primitiven Holzsteg zuführte. Dieser schwebte, umspült fast von den hochgehenden Wellen der reißenden Strömung, über dem grüngelben Wasser und verband das Ufer mit einem jener kleinen, buschbewachsenen Felseninselchen, die mitten in den Fällen liegen.

Alfström wollte auf dem Eiland im Gras Mittagrast halten. Vielleicht, so dachte er, schläfst du ein. Dann vergißt du wenigstens für Stunden das Elend deiner Lage.

Der Ingenieur wand sich durch die Büsche und die stachligen Ranken hindurch und suchte ein freies, grasiges Plätzchen. Mit einem Mal stutzte er. Etwas Helles schimmerte durch das Grün. Gleichzeitig hatte er auch eine Stimme gehört, die in gleichmäßigem Tonfall leise sprach.

Alfström wurde neugierig. Er schlich noch näher heran.

Da saß in einer Mulde mit dem Rücken nach ihm hin ein gut gekleideter Mann, der eine weiche, hellgraue Reisemütze trug. Der Mann murmelte deutsche Worte:

„– fünfundneunzig – sechsundneunzig – siebenundneunzig –“ Bis 148 zählte er so weiter.

Und Alfström sah auch, daß er Banknoten zählte.

Nun lachte der Mann kurz auf.

„Es hat gelohnt! – Den Teufel auch, man muß nur die Gelegenheit beim Schopf ergreifen –“

Dem Ingenieur war plötzlich alles Blut zum Herzen geschossen. Er verstand genug Deutsch, um das Selbstgespräch des Fremden belauschen zu können. Und – er hatte jetzt erkannt, daß die Banknoten Tausendmarkscheine waren.

*

Sigrid Torstenson kam aus dem Bureau des Rechtsanwalts Terkollen, wo sie erstes Schreibmaschinenfräulein war und nebenbei auch den alten Bürovorsteher Lungaard vielfach vertrat, dessen Gallensteinleiden ihn häufig zwangen, ein paar Tage daheim zu bleiben.

Es war Mittagszeit, und die Straßen der norwegischen Hauptstadt Christiania zeigten daher das Bild weltmännischen Verkehrs. Mancher Männerblick folgte Sigrid. Sie wurde auch oft gegrüßt und dankte stets mit den ihr eigenen liebenswürdigen Lächeln.

Als sie dann das alte Häuschen am Hafen erreicht hatte, daß der Kapitän Sven Torstenson seiner Frau hinterlassen hatte, stand die Mutter vor der Tür im Gespräch mit Holger Bark, dem Kriminalbeamten der hiesigen Polizei, einem Mann in mittleren Jahren, der einst – noch vor zwei Jahren – zu Sigrids eifrigsten Bewerbern gehört hatte.

Bark begrüßte Sigrid mit der Vertraulichkeit des alten Bekannten. Frau Torstenson ließ eine Unterhaltung zwischen den beiden jedoch nicht aufkommen, sondern sagte etwas erregt:

„Es ist eine Depesche aus Trollhätta vorhin für dich abgegeben worden. Vielleicht meldet sich Gunnar zum Besuch an.“

Bark war flüchtig errötet. Er verabschiedete sich nun sofort und schritt seinem eigenen nahen Heim zu. Auch er hatte den Vater früh verloren und lebte mit seiner Mutter zusammen in einem ähnlichen, blitzsauberen, bescheidenen Häuschen.

Holger Bark war jetzt neununddreißig Jahre alt. Er war etwas unter mittelgroß und hatte Anlage, sich ein Bäuchlein zuzulegen. Er kämpfte gegen diese Leibesfülle mit der ihm in so hohem Maß eigenen Energie beständig an, trieb Sport, mied fette Speisen, trank wenig und hatte sich eine Art halben Laufschritt angewöhnt. Sein bartloses Gesicht mit den wulstigen Falten um den Mund und der starken Nase verriet jedem sofort, daß dieser bewegliche Mann kein Durchschnittsmensch sein konnte.

Er stieg nun die Treppe zu dem einzigen Stockwerk des Häuschens empor, wo die Mutter und er in den drei kleinen Zimmern in harmonischer Zufriedenheit seit langen Jahren wohnten.

Frau Bark war klein und kugelrund. Ihr verstorbener Mann, der Oberlotse, hatte sie stets nur ‚sein Dickerchen’ genannt. Sie lächelte beständig und kochte beständig. Sie aß gern und viel. Und sie war geradezu untröstlich, weil ihr Holger durchaus schlank bleiben wollte und ihre schönsten Gerichte verschmähte.

Als sie sich dann kaum an den Mittagstisch gesetzt hatten, erschien Sigrid mit einer Depesche in der Hand.

„Gunnar ist verschwunden,“ rief sie ganz verstört. „Sein Freund Sharp hat es mir telegraphiert.“

Frau Bark schob ihr einen Stuhl hin und tätschelte ihr die Wangen.

„Nur nicht gleich das Schlimmste denken, Sigrid. Mein Mann galt auch dreimal für verschollen –“

Holger las die Depesche:

„Gunnar seit Freitag abend hier nicht aufzufinden. Vielleicht dort? – Sharp.“

„Ich werde nach Trollhätta fahren, Fräulein Sigrid,“ sagte der Kriminalbeamte einfach. „Nicht wahr, – das ist doch auch Ihr Wunsch.“

„Oh – wie soll ich Ihnen danken –“

Er wehrte ab. „Keine Ursache. Ich habe dort nämlich ohnedies zu tun. Man hat vor dem mittleren Schutzwehr der Fälle gestern früh eine gänzlich verstümmelte Leiche gefunden. Einiges an der Sache ist mir aufgefallen. – Ich reise nachmittags um fünf ab, Mutter, du packst wohl die Reisetasche wie gewöhnlich.“

Sigrid war blaß geworden.

„Mein Gott – vielleicht ist der Tote aus den Fällen Gunnar –“, stöhnte sie auf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Nein – er ist es bestimmt nicht,“ meinte Bark. „Beruhigen Sie sich nur, Fräulein Sigrid. Wenn auch nur die Möglichkeit vorgelegen hätte, daß er es sein könnte, hätte ich doch Ihnen gegenüber die Leiche nicht erwähnt. Der Tote ist ein Fremder. Wahrscheinlich ein Tourist. Der Reiseverkehr hat ja bereits eingesetzt.“

Sigrid verabschiedete sich gleich darauf und eilte bedeutend gefaßter heim.

Holger Bark aber sagte zu seiner Mutter, die ihm gerade den Suppenteller füllte:

„Alfström ist ein Spieler geworden. Er hat ganz Trollhätta mit dieser Leidenschaft verseucht, diesem Roulettespiel. – Viel ist an ihm ja nie dran gewesen, an dem in Äußerlichkeiten aufgehenden Herrn. Leider habe ich Sigrid nicht warnen können vor ihm. Gerade ich nicht. Du weißt warum, Mutter. Einmal war er mein Schulkamerad. Dann aber – die Hauptsache! – war er der bevorzugte Bewerber –“

Frau Bark nickte und lächelte schmerzlich.

„Mein armer Junge,“ sagte sie mitleidig. „Bist du denn noch immer nicht über diese Herzensenttäuschung hinweggekommen.“

„Das werde ich nie. – Menschen meines Schlages lieben nur einmal. Ebenso wenig wie ich mich in anderen Dingen verzettele, könnte ich dies bei den Gefühlen, die den stärksten Trieb in uns darstellen. – Doch, lassen wir dieses Thema ruhen. Ich kann auch gerade jetzt eine Ablenkung nicht brauchen. Der Fall dort in Trollhätta beschäftigt mich sehr. Der Tote hatte nicht das geringste an Wertsachen oder Papieren bei sich. Nichts an der Leiche gab Aufschluß über Woher und Wohin. So schrieb der Polizeidirektor nach hier an die Oberbehörde, um die Entsendung eines Detektivs zu begründen.“

„Ach Holger, du bist schon wieder mittendrin in einer dieser blutigen Geschichten,“ klagte Frau Bark. „Wie man einen solchen Beruf lieben kann, wird mir stets unverständlich bleiben. Ich hätte dich tausendmal lieber als Rechtsanwalt gesehen. Ein Jammer, daß du das Studium abbrachst. Ein Anwalt hat es auch nicht nötig, so sehr auf körperliche Gelenkigkeit zu sehen wie ein Kriminalbeamter. Du hättest deinen Leib nicht so zu kastrieren brauchen und –“

Holger Bark lachte heiter auf. „Als Rechtsanwalt würdest du mich fraglos schon bis auf zwei Zentner Gewicht aufgemästet haben.“ –

Er wurde wieder ernst. „Übrigens, was Gunnar Alfström betrifft, Mutter, – sein Verschwinden stimmt mich sehr bedenklich. Jeder Spieler ist schon ein halber Verbrecher, – das heißt jeder leidenschaftliche Spieler. Nichts untergräbt den Charakter so sehr als das Jeu2!“

„Oh Himmel!“ rief Frau Bark entsetzt. „Die arme Sigrid. Ich kenne dich ja, Holger. Ohne Grund sprichst du derlei Bedenken nicht aus –“

„Warten wir ab,“ meinte er. „Jedenfalls – finden werde ich Alfström, und sollte er aus Norwegen ohne Spuren zu hinterlassen im Flugzeug davongesegelt sein.“

*

Herr und Frau Ziegler saßen beim Morgenkaffee. Das Eßzimmer, in dem gleichzeitig des jungen Schriftstellers Schreibtisch und Bücherschrank vor dem linken Fenster und an der Wand daneben standen, war sehr hübsch ausgestattet, zeigte aber doch überall einen gewissen Mangel an Sauberkeit und Ordnungsliebe, der lediglich auf Rechnung Frau Hedis kam. –

„Nimm du doch bitte den Rest Marmelade,“ sagte Viktor freundlich. „Mir macht es nichts aus, trocken Brot zu essen. Wirklich nicht –“

Hedi behielt den mürrischen, verschlossenen Gesichtsausdruck bei und schwieg.

Nochmals bat er und langte über den Tisch nach ihrer Hand. –

„Sei doch verständig, Schatz,“ fügte er hinzu, als sie ihre Hände hastig in den Schoß legte. „Du raubst mir ja jede Lust zur Arbeit mit deinen Launen –“

„Launen?“ Ihr Kopf mit dem noch unfrisierten Blondhaar schnellte hoch. „Launen?! So nennst du meine nur zu berechtigten Sorgen?! – Aber – so seid ihr sogenannten Künstler nun einmal! – Ihr verdreht alles, wie es euch paßt –“

„Aber Hedi!“ Er blieb ganz ruhig. „Kann ich denn etwas dafür, daß ich in letzter Zeit mit meinen Arbeiten Pech gehabt habe? – Wir werden ja auch über diese Zeit der sieben mageren Jahre hinwegkommen –“

„So?! Wie denn?! – Wohl auf die Weise, daß wir noch mehr von unseren Sachen aufs Leihamt tragen! Seit drei Wochen ist auch nicht ein Pfennig Honorar eingegangen. Und ich – ich muß noch immer in demselben Hut vom vorigen Frühjahr umherlaufen, ich muß jetzt sogar Sonnabends das Großreinemachen ohne Hilfe einer Scheuerfrau erledigen und habe schon Hände – Hände wie – wie die ärmste Arbeiterin –“

„Warte doch nur ab,“ verteidigte er sich zögernd. „Der Leipziger Verlag muß mir ja in den nächsten Tagen Bescheid über die ‚Toteninsel’ schicken. Dann haben wir wieder achthundert Mark zur Verfügung. Und dann sollst du –“

Es läutete im Flur.

„Geh’, öffne,“ meinte Frau Hedi. „Ich bin doch noch nicht angezogen –“

Er ging. Als er wieder eintrat, hatte er die Morgenzeitungen in der Hand und einen Brief.

„Für dich, Schatz. Von Erna Versen –“ Er reicht ihr den Brief. Sie sah nicht, daß Viktor bleicher als vorhin aussah.

Während sie den Brief ihrer Schulfreundin überflog, ging er wieder in den Flur, wo der dicke, lange Einschreibebrief hinter der Flurgarderobe versteckt lag. Er hatte nur den Firmenaufdruck der Absenderadresse gelesen und schon gewußt, daß der Leipziger Verlag seinen Roman ‚Die Toteninsel’ ihm zurückgeschickt hatte.

Also wieder ein Fehlschlag. Nichts glückte ihm mehr – nichts!

Ganz mutlos zog er den paketartigen Brief hinter der Flurgarderobe hervor und verbarg ihn unter der Weste. Dann betrat er das Eßzimmer wieder, setzte sich an den Schreibtisch und schmuggelte den Roman unbemerkt in die Schublade hinein, die er leise abschloß.

Hinter ihm am Kaffeetisch lachte Frau Hedi plötzlich bitter auf.

„Versens reisen übermorgen nach Stockholm,“ sagte sie dann spitzen Tones. „Natürlich – so ein Kaufmann kann sich das leisten! Erna schreibt auch, daß ihr Mann ihr zum Geburtstag eine silberne Frisiergarnitur geschenkt hat. – Lies nur mal den Brief. Man merkt so recht, wie sehr es Erna Freude macht, mit allem möglichen zu prahlen. Na – viel Geist besaß sie nie. Und jetzt scheint sie noch dümmer geworden zu sein.“

„Aber Schatz! Wer wird denn so neidisch sein!“ meinte Viktor und zwang sich zu einem scherzhaften. „Versen mag ja ein guter Kerl sein. Ein Adonis ist er nicht. Also hat auch Erna in der Ehe nicht das gefunden, was sie mal erträumt haben wird. Man muß im Leben sich bescheiden lernen. Das ist die wahre Lebenskunst. Man lernt sie zu zweien leichter, wenn man sich liebt –“

Er war aufgestanden und hinter Hedis Stuhl getreten, streichelte ihr den blonden Wuschelkopf.

„Und – wir lieben uns doch, Schatz,“ fügte er wie fragend hinzu. „Es werden ja bald fette Jahre kommen, Hedi. Du mußt mir nur nicht die Arbeitsfreude schmälern durch – durch übertriebene Sorgen.“

Sie machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf.

„Laß das!“ sagte sie unliebenswürdig. „Mich stört dieses – dieses Herumwühlen in meinem Haar.“

Sie schob die Kaffeetasse mit einem heftigen Stoß von sich, so daß die umfiel und ein Rest des braunen Trunkes auf das Tischtuch floß.

„Überhaupt – dieses Leben ertrage ich nicht länger.“ Sie hatte jetzt jede Selbstbeherrschung verloren. „Wenn ich geahnt hätte, daß – daß es mit deinen Einnahmen so unsicher bestellt ist, dann – dann –“ Sie zögerte nun doch, den Satz zu vollenden.

Viktor hatte sich neben ihr mit den Fäusten schwer auf den Tisch gestützt, sagte nun mit leicht zitternder Stimme: „Dann – dann? – Was denn – dann? – Wolltest du hinzufügen: ‚…dann hätte ich dich nicht genommen?’ – So sei doch ehrlich, Hedi! So spricht doch!“

Sie begann zu schluchzen.

„Ich – ich hatte es doch im Kontor bei Birnbacher & Co. so gut,“ brachte sie stoßweise hervor. „160 Mark Gehalt. Und die Eltern ließen sich nur 30 Mark als Beisteuer zur Wirtschaft geben. 130 Mark hatte ich ganz für mich. Und Birnbacher schenkte mir fast jeden Monat etwas leicht Angeschmutztes aus dem Warenlager. – Blusen, Wäsche, Florstrümpfe –“

Viktor Zieglers schmales Gesicht, das er absichtlich glattrasiert trug, weil so seine wohlgeformte Mundpartie noch besser zur Geltung kam, hatte sich vor innerer Erregung verzerrt. Kein Wunder! Soeben waren ihm ja endlich die Augen darüber aufgegangen, wie es mit Hedis Liebe bestellt war.

Sie redete weiter. Dann weinte sie stärker. Und er stand stumm, regungslos neben ihr. Seine dunklen Augen waren mit einem Blick ungläubigen Staunens auf sie gerichtet. Am liebsten hätte er sie bei den Schultern gepackt und ihr zugeschrien:

„Du – nur du bist schuld, daß ich nichts mehr leiste, daß meine Arbeiten immer minderwertig sind. – Du mit deinen ewigen Sticheleien und Klagen, du mit deiner geistlosen Putzsucht, mit deinem lächerlichen Neid, mit deiner Unlust, unsere kleine Wirtschaft in Ordnung zu halten –“

Aber – er preßte die Lippen ganz fest zusammen. Er konnte sich beherrschen. Und – er war gerecht. Gewiß – sie mußte vieles jetzt in der Ehe entbehren, was ihr als Mädchen zur Verfügung gestanden hatte. Und er war es ja gewesen, der ihr bei der Verlobung im Rausch der ersten Küsse goldene Berge versprochen, der sie seinen Genius, seine kleine Zauberfee genannt hatte, die ihm schnell zur Berühmtheit verhelfen würde.

Daß es schon nach acht Monaten so ganz anders gekommen, – daran trug Hedi ja nicht allein die Schuld. Er war eben von Anfang an zu nachgiebig gewesen, er hätte nie dulden dürfen, daß von der Dreizimmerwohnung der freundlichste Raum als – jetzt nie genutzter – Salon eingerichtet und sein Schreibtisch ins Esszimmer gestellt wurde, wo er tagsüber dauernd durch Hedi notwendig abgelehnt werden mußte. Und er hätte ihr ebenso sofort klar machen müssen, daß ein Schriftsteller Sammlung, Ruhe, Alleinsein braucht. Daß man hätte sparen sollen. – Ach – so viel hatte er sich vorzuwerfen. Er war ja um sieben Jahre älter als sie; er kannte das Leben besser. –

Zu alledem war’s nun zu spät. Die Entfremdung war da. Hedi machte aus ihrer Unzufriedenheit keinen Hehl mehr, auch daraus nicht, daß sie sich zur Hausfrau so wenig eigne.

Und jetzt noch ein neuer Schlag für ihn; sie schien zu bereuen, ihn überhaupt geheiratet zu haben.

Nein – daß es schon so in ihrem Inneren aussah, – das hatte er doch nicht vermutet!

Und Sie?! – Sie saß da und weinte – weinte.

Nichts war ihm so gräßlich wie Tränen dieser Art. Er wußte ja, Hedi konnte die Tränendrüsen fließen lassen, wann und wie sie wollte. Suchte er etwas durchzusetzen, was er für richtig hielt, so – weinte sie! Wollte sie abends ins Theater, während er in Arbeitsstimmung war und daheim zu bleiben vorschlug, so gab es – Tränen. – Wollte sie ihn ärgern – und er hatte das Gefühl, daß sie’s oft wollte –, so rannen ihr kleine Tropfenbäche über die Wangen. –

Er stand, schaute auf ihren blonden Kopf hinab und – dachte an das, was sein alter, menschenkundiger Vater ihm gesagt hatte, als er von seiner Absicht sprach, sich mit Hedwig Schmidt zu verloben.

„Junge,“ hatte der alte Amtsgerichtsrat gesagt, „das wird nie was Rechtes, diese Ehe. Du hast nichts, sie hat nichts. Nur – Ansprüche habt ihr beide! Und auf die werdet ihr als Eheleute verzichten müssen. Du wirst das vielleicht können. Aber die Hedwig, die doch daheim nicht den Finger in kalt’ Wasser steckt und bis zum Abend in Lackschuhen umhertänzelt! Ob die’s fertigbringt, ganz bescheiden als Hausfrau zu leben, – das bezweifle ich sehr stark. – Junge, – ein Genie bist nun nicht! Du bist so’n Durchschnittsdichterlein. Und diese Sorte muß reich heiraten! Dann kannst du an einem Roman ein Jahr herum feilen; dann wirst du nicht zum Lohnsklaven, zum Akkordarbeiter. –

Ich warne dich, Junge! Wir beide haben seit Mutters Tod wie Brüder gelebt in unseren vier Wänden. Und – na, überleg’s dir recht reiflich –“ –

Drei Monate später war dann doch die Hochzeit gefeiert worden und wieder einen Monat drauf hatte der Amtsgerichtsrat Ziegler sich von Berlin nach einem Provinznest versetzen lassen und in aller Stille seine Hausdame geheiratet, was er Viktor erst nachher mitteilte, – brieflich, in seiner stets etwas burschikosen Art durch die Sätze: ‚Du hast mich im Stich gelassen, Junge. Das Alleinsein soll der Deubel holen. Nie wäre ich alter Esel noch auf derlei Gedanken verfallen, wenn du mir nicht son schlechtes Beispiel gegeben hättest.“

*

Der junge Schriftsteller schlug die Richtung nach dem nahen Grunewald ein. Er liebte die Natur. Er freute sich über jede Eidechse, die an ihm vorbeihuschte. Über jeden Vogel, schaute einem eifrig hämmernden Buntspecht zu und einer Ameisenarmee, die auf der Wanderung nach einer toten Krähe begriffen war.

Ziegler war nicht mehr jung genug, um sich darüber hinweg zu täuschen, daß sein Ehe bereits Risse aufwies, die kaum mehr auszubessern waren. Wenn er sich auch heute wieder für eine halbe Stunde eingebildet hatte, Hedi sei doch weniger oberflächlich, als er zu fürchten Grund hatte, so lag dies lediglich daran, daß er eben noch immer in sein schönes Weib verliebt war und daß er sich daher nur zu leicht zu einer halben Selbsttäuschung zwang.

Er wollte jetzt an all dies nicht erinnert werden. Aber die Gedanken kehrten doch immer wieder zu seiner Frau zurück und zu dem drohenden Zusammenbruch seiner ganzen Existenz. Schließlich gab er nach und wehrte diese strenge Überprüfung der Gründe, die zu seinen schriftstellerischen Fehlschlägen geführt hatten, nicht mehr von sich ab, versenkte sich vielmehr mit wachsender Bitterkeit in Grübeleien, deren Hauptpunkt immer der blieb, daß Hedi nie auf seine besondere Art von geistiger Arbeit irgendwelche Rücksicht genommen hatte und daß sie nun, wo die Einnahmen ausblieben, ihm noch den letzten Rest von Schaffensfreude durch ihr verständnis- und teilweise recht liebloses Gebaren raubte.

Viktor Ziegler fühlte bald bei all diesen Gedanken eine trostlose Müdigkeit in seiner Seele. Er sah keine Möglichkeit, die ihn geradezu geistig lähmenden Unzuträglichkeiten in seiner Ehe zu beseitigen. Dazu hätte – Geld gehört, – ein Vermögen, dessen Zinsen ausreichend waren, den Haushalt von Grund auf umzugestalten, eine größere Wohnung zu nehmen, eine Bedienung zu halten und ganz besonders Hedis vielfache Toilettenwünsche zu befriedigen.

Ein Vermögen?! – Woher es nehmen?! –

Er lachte kurz auf. –

Ja, wie recht doch der Vater gehabt, der ihn vor dieser Heirat gewarnt und der offenbar Hedi richtiger eingeschätzt hatte als er selbst. – Reich mußte ein Schriftsteller sein, reicht und sorgenlos.

Jetzt zum ersten Male fragte er sich: ‚Liebst du sie wirklich? Hast du sie je geliebt, so wie du dir diese Liebe einst gedacht hast? – Sei ehrlich, Viktor – deine Gedanken erfährt ja niemand –’

Er starrte zu Boden, starrte in ein kleines Buschwerk von jungen Buchen und kleinen Tannen hinein, das dicht neben dem Pfad sich erhob.

Und er war ehrlich: ‚Nein – die Liebe, wie du sie in deinen Romanen schilderst, dieses völlige Aufgehen von Mann und Weib ineinander und dieses freudige Aufgeben eigener Wünsche füreinander, – das ist es nicht, wird es nie werden – nie! – Deine schönheitsdurstige Seele hat dich verführt, über dem Anblick eines liebreizenden Gesicht und einer jungfräulich vollen Gestalt über die inneren Mängel hinwegzusehen. Du hast dir nicht ein Weib, eine Lebensgefährtin, erwählt, sondern nur ein – Weibchen, das deine Sinne reizte. – So ist’s! – Und nun – bist du gefangen, nun – halte durch, kämpfe weiter, bis – bis –’

Seine Gedanken machten jäh halb. – Bis?! – Ja, – was sollte nun weiter werden? Würden nicht allmählich auch Möbelstücke verkauft werden müssen, würde nicht Hedis Laune immer unerträglicher werden, daß er – an Selbstmord denken würde?! –

Selbstmord! – Ja – das war’s gewesen, vor dem seine Gedanken plötzlich zurückgewichen waren, vor diesem letzten Ausweg aller derer, die sich in der Wirrnis ihres Lebens nicht mehr zurückfanden.

Er starrte weiter ganz geistesabwesend in das Grün der jungen Buchen hinein.

Selbstmord! Viele hielten dieses Gewaltmittel, das Dasein mit sei–nen Unzulänglichkeiten von sich abzuschütteln, für Feigheit.

Viktor Ziegler wollte diesen Gedanken weiter ausspinnen, da wurde er abgelenkt. Seine Augen, die das Buschwerk bisher nur als Ganzes betrachtet hatten, waren jetzt auf einer Lücke in den Zweigen haften geblieben, weil dahinter ein heller Fleck schimmerte, der die Blicke des Sinnenden halb unbewußt länger festhielt und den Geist anregte, diese Helle näher zu ergründen.

So kam’s, daß Viktor Ziegler gleichsam erwachte und der Gegenwart und seiner Umgebung mehr Beachtung schenkte.

Er richtete sich auf, beugte sich vor, schaute genauer hin.

Seine Augen weiteten sich urplötzlich; er wich zurück.

Das Helle in der Gebüschlücke war – ein Menschenantlitz – ein fahles, gelbliches Totengesicht. –

Viktor Ziegler war kein Feigling. Leichen schreckten ihn nicht. – Er überlegte kurz; er mußte diesen schauerlichen Fund melden; am nächsten von hier lag die Försterei Grunewald; dorthin würde er gehen; dann hatte er seine Pflicht als Staatsbürger erfüllt.

Aber – die Neugierde trieb ihn, sich den stillen Mann dort aus der Entfernung genauer anzusehen. Er trat also ganz dicht an die Lücke heran, hob die Zweige auseinander.

Das erste, was er nun besonders wahrnahm und was jedem sofort aufgefallen wäre, war ein vernickelter, glänzender Revolver, der neben der gutgekleideten, bartlosen Leiche lag.

Dann – und beide Feststellungen erfolgten kaum durch einen Bruchteil von Sekunden getrennt – sah er an der rechten Schläfe des zwischen Anemonenstauden ruhenden Kopfes einen dunklen, braunroten Fleck mit verwischten, schwärzlichen Rändern.

Ein Selbstmörder also. –

Und – seltsam genug – er, Viktor Ziegler hatte hier in der nächsten Nähe dieses Lebensmüden mit demselben Gedanken gespielt.

Seine Neugier war längst in stille Teilnahme für den blonden Toten übergegangen; er fühlte sich diesem gleichsam verwandt; er dachte: ‚Vielleicht hast du auch das Leben von dir geworfen, weil du in der Liebe nur Enttäuschung fandest.’

Schon wollte er die auseinander gebogenen Zweige wieder zurückschnellen lassen, als er noch etwas bemerkte, das ein wenig abseits von der Leiche halb hinter einer winzigen Tanne lag.

Es war ein gelbgrauer Filzhut aus rauhem Lodenstoff, der da mit der guten Füllung nach oben sauber auf dem Hutknick stand. Und darauf schimmerte, mit einer Sicherheitsnadel befestigt, etwas Weißes – ein Briefumschlag.

Viktor Ziegler reckte sich höher, stellte sich auf die Fußspitzen, schob den Kopf noch weiter durch die Zweige; und sah nun neben dem Brief den Oberrand einer dicken Brieftasche aus rotem Leder, dann auch eine dunkelgrüne Herrenlederbörse und ein Stück einer goldenen Taschenuhr.

Wie gebannt hafteten seine Augen minutenlang auf dem hellgrauen Hut. –

Viktor Ziegler stand am Scheideweg. Der Versucher war gekommen und hatte ihm ein ‚vielleicht!’ zugeraunt.

Vielleicht – enthielt die dicke Brieftasche Geld – ein Vermögen, – gerade das Vermögen, das er brauchte, um – nicht so zu enden, wie dieser Tote hier, der sich etwa in seinem Alter befinden mußte.

Vielleicht!

Der Versucher blieb neben Viktor und flüsterte weiter. Dieser wehrte sich. Er erkannte, wie sehr ihn dieses Eheelend bereits seelisch verwandelt hatte; er erschrak vor sich selbst. Nie – niemals hätten derartige Gedanken früher Raum in ihm gewinnen können – niemals.

Viktor Ziegler wollte sich zwingen, rückwärts zu schreiten. ‚Nur ein Schritt, dann bin ich frei von diesem Bann’, sagte er sich.

Der Schritt unterblieb; seine Füße waren wie angekettet an den Boden.

Und – er unterlag. Urplötzlich gab er nach; urplötzlich schossen ihm andere Gedanken durch den Kopf: ‚Wenn du sehen willst, was die Brieftasche enthält, mußt du vorsichtig sein!’

Und daraus entwickelte sich eine Reihe von Entschlüssen, die nur der neue Viktor Ziegler faßte, – der, dessen Absicht es war, hier unbemerkt einen Toten zu bestehlen.

Er trat zurück, spähte umher. Er verließ den Platz, schritt tiefer in den Hochwald hinein, umkreiste die Stelle, überzeugte sich, ob nicht irgendwo jemand ihn beobachtete.

Er handelte wie ein gewiegter Verbrecher. Seine Intelligenz kam ihm zu Hilfe. Alles tat er nach reifer Überlegung. –

Er näherte sich dem Buschwerk wieder, suchte einen trockenen Ast, den er als Haken benutzen konnte, schob sich soweit vor, daß er den Hut mit dem Ast erreichen konnte, zog ihn an sich, steckte schnell dessen Inhalt zu sich und brachte ihn dann mit dem Haken etwa an dieselbe Stelle zurück.

Nun schlug er den Rückweg ein, quer durch den Wald. Erst als er von Süden her das Rollen eines Eisenbahnzuges auf der Strecke Berlin-Wannsee hörte, machte er in einer Mulde halt, wo er nicht belauscht werden konnte. Er nahm die Brieftasche hervor, öffnete sie.

Er wurde leichenblaß. Banknoten waren darin – Tausendmarkscheine. Er zählte sie mit zitternden Fingern.

147000 Mark enthielt die Tasche! Sonst nichts – nichts!

Dicke Schweißperlen bedeckten seine Stirn.

147000 Mark! – Ihm schwindelte. – Ein Vermögen! Geld – Geld, die Rettung war’s!

Er steckte die Tasche wieder zu sich; halb taumelnd ging er weiter.

Ging und wußte kaum wohin. Er hatte den Bahnhof Grunewald vor sicht; bog in den langen, halbdunklen Tunnel ein. Der Schall seiner eigenen Schritte machte seinen Nerven vibrieren. –

In der Villenkolonie kam ihm ein leeres Auto entgegen. Er winkte.

„Chauffeur – Charlottenburger Bahnhof!“

Er stieg ein; stieg dann jedoch wieder aus, zahlte, betrat das Bahnhofsgebäude, suchte den Waschraum für Herren auf; ließ die goldene Uhr nebst Kette in das Becken gleiten; den goldenen Trauring; die lederne Börse. Er tat’s hastig. Dann zerschnitt er die Brieftasche, warf die Stücke hinterdrein.

Nun besaß er von den Sachen des Selbstmörders nur noch den Brief und die Geldscheine. –

Von dem nächsten Postamt schickte er eine mit verstellter Handschrift ausgefüllte Postanweisung über 1800 Mark ab; als Absender hatte er den Berliner Universum Verlag angegeben, der schon mehrere Romane von ihm veröffentlicht hatte.

Dann kehrte er heim. Die Blässe seines Gesichts fiel der Hausbesorgersfrau auf, die gerade den Treppenflur reinigte.

„Sind Sie krank, Herr Ziegler?“

„Ich? Krank?!“ Er lachte. „Keine Spur! – Im Gegenteil – mir geht’s besser denn je –“

Es gab ihm einen Stich durchs Herz, daß er so heucheln konnte. –

Er schloß die Wohnungstür auf. Hedi kam ihm entgegen.

„Schon zurück? Ach – ich habe gerade erst mit Reinemachen anfangen wollen. Ich mußte doch erst an Erna schreiben, mich für ihren Brief bedanken –“

Sie war verlegen. Sie fürchtete, daß er ihre Arbeitsunlust durchschaue.

Er aber nahm sie und küßte sie.

„Du, Schatz, – rate einmal, wo ich war?“ –

Er zog sie ins Eßzimmer.

„Wo denn? – Du – du siehst ja so – anders aus –“

Ihm zitterten plötzlich die Beine in einem Anfall von Nervenschwäche. Er setzte sich schnell, zog Hedi auf seinen Schoß.

„Ich war bei Grautner, Schatz. – Ja, denk’ dir, – mir fiel das so ein, als ich vor der Haustür stand. Ich habe seit einem Jahr ihm keine Arbeit mehr angeboten gehabt. Sein Verlag bezahlte mir zu wenig. – Grautner war sehr liebenswürdig. Ich unterbreitete ihm die Idee für eine Serie neuartiger Detektiverzählungen. Eigentlich hatte ich die Idee ja dem Dresdner Saxonia-Verlag anbieten wollen. – Ein Glück, daß ich der Eingebung des Augenblicks gefolgt war. Grautner griff sofort zu und hat mir sogar – nun rate mal wieder, – na, was hat er?“

„Herr Gott – Vorschuß bezahlt?“

„Ja – und gleich zweitausend Mark!“

Frau Hedi glitt von seinem Schoß herab und tanzte im Zimmer umher.

„Zweitausend Mark! Zweitausend Mark!“ rief sie immer wieder.

Dann küßte sie Viktor.

„Männe, Männe – ist das ein Glück! – Aber – du scheinst dich gar nicht zu freuen, du – siehst so –“

„Mir ist auch nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen,“ unterbrach er sie. „Hole mir doch aus dem Schlafzimmer die Pyramidontabletten und ein Glas Wasser.“

Sie eilte davon. Und er griff in die Brusttasche, zog das Banknotenbündel hastig hervor, verbarg es in dem Bücherschrank hinter den dicken Bänden des Konservationslexikons; nur zwei Scheine ließ er auf dem Tisch liegen.

Dann nahm er auch den Brief des Selbstmörders, dessen Umschlag in lateinischen Buchstaben nur zwei Worte als Aufschrift enthielt – Worte einer fremden Sprache. Es konnte schwedisch sein. Viktor wußte es nicht genau.

Da hörte er eine Tür klappen. Hedi kehrte zurück.

Er riß irgend ein Buch auf dem Schrank, legte den Brief hinein, schob es wieder zurück an die alte Stelle.

Hedi stand schon in der Tür.

„Hier, Männe, – schnell, damit du das Kopfweh loswirst. Dann legst du dich eine halbe Stunde nieder und – Mittag essen wir auswärts, du – dieser Tag muß gefeiert werden. – Himmel – hier liegt ja auch das Geld. – Ach – diese schönen braunen Scheine! – Männe, eigentlich bist du doch ein Genie –“

Er spülte gerade die beiden Tabletten hinab, nickte ihr mit einem gequälten Lächeln zu, sagte dann:

„Ein Genie – vielleicht!“ –

Er war wieder allein; lag auf dem Diwan und mühte sich ab, an nichts – gar nicht zu denken.

Hedi war nach dem Leihamt gefahren, um die versetzten Sachen wieder einzulösen. –

Und anderthalb Stunden drauf saßen sie in einer Weinstube in der Leipziger Straße und tranken sich mit Sekt zu. –

Viktor bestellte bald eine zweite Flasche.

„Du wirst dir einen Schwips antrinken,“ lachte Frau Hedi. Aber sie hielt wacker mit.

Beim Mokka erklärte Viktor dann plötzlich:

„Schatz – wollen wir mal ganz leichtsinnig sein? Wie wär’s, wenn wir es den reichen Versens gleichtäten und – uns mal Schweden und Norwegens ansehen würden?“

Sie jubelte auf. Sie ahnte nicht, daß ihm jetzt hier in Berlin der Boden unter den Füßen brannte.

*

Frau Kapitän Torstenson wischte gerade in den Fremdenzimmern Staub, als die Zugglocke mit ihrem hellen Gebimmel ertönte.

Sie eilte hinaus und öffnete. Vor ihr standen ein Herr und eine Dame, deren Anzug sofort die Touristen verriet.

Der Herr radebrechte mühsam gerade so viel Norwegisch, um Frau Torstenson klarzumachen, daß das Schild an der Haustür ‚zwei möblierte Zimmer nebst Küche und Nebengelaß zu vermieten’ sie hereingelockt habe und daß sie die Zimmer ansehen möchten.

Frau Torstenson lächelte freundlich.

„Sie sind Deutsche, nicht wahr? – Bemühen Sie sich nicht um meine Muttersprache, mein Herr. Ich beherrsche die ihrige leidlich, wie sie hören. Mein Mann und ich haben einmal zwei Jahre in Hamburg gewohnt.“

„Oh – das trifft sich ja sehr gut,“ meinte der Herr. „Ich bin der Schriftsteller Ziegler aus Berlin. Hier meine Frau.“ –

Frau Torstenson zeigte die Zimmer. Alles war peinlich sauber und behaglich. Im Vorderzimmer stand sogar ein Schreibtisch. Man wurde handelseinig, und Zieglers mieteten auf einen Monat mit voller Verpflegung, zogen dann auch sofort ein.

Hedi fand die Aussicht von dem zu ebener Erde liegenden Wohnzimmer auf den Hafen und den berühmten ‚hellblauen’ Christianiafjord entzückend, fand die Frau Kapitän reizend und freundete sich mit ihr schon am ersten Tage sehr an.

Abends, als sie und Viktor mit der Zahnradbahn zum Holmenkollen, dem bekannten Aussichtspunkt, hinauffuhr, wußte sie ihm bereits die ganze Lebensgeschichte der Frau Kapitän zu erzählen.

„Und – denk’ dir, – wie interessant, Viktor,“ sagte sie nun, „die einzige Tochter unserer Wirtin, Sigrid mit Namen, hat unlängst ihren Verlobten auf unerklärliche Art verloren. Er war Ingenieur bei der elektrischen Kraftanlage der Trollhätta-Fälle und ist plötzlich spurlos verschwunden. Sigrid weilt jetzt selbst seit vier Tagen in Trollhätta und hilft den – den – ja richtig – den Ingenieur Gunnar Alfström suchen. – Ein wahrer Romanname: Gunnar Alfström! Klingt hübsch, nicht? Du mußt eine Novelle schreiben und den Namen darin benutzen, eine Novelle, die hier in Christiania spielt –“

Viktor, der sehr blaß und schmal aussah, meinte zerstreut: „Ich hoffe, ich werde hier auch die Anregung zu einem größeren Roman finden –“

Er hatte kaum hingehört auf ihr Geplapper.

Was ging ihn das Leid Fremder an?! Er hatte mit dem eigenen Gewissen genug zu kämpfen; er sehnte sich jetzt nur nach einem: nach Arbeit – Arbeit und wieder Arbeit, nach einem Stoff, der ihn packte, der all seine Gedanken gefangen nahm. Er wußte, dann würde er vergessen können, dann würde er nicht mehr alltäglich von einem fahlen Totenantlitz träumen. –

Am nächsten Morgen erklärte er Hedi, daß er jetzt eine genaue Tageseinteilung einhalten würde, das heißt, bis elf Uhr vormittags arbeiten, dann wieder von drei bis fünf nachmittags und abends auch noch ein paar Stunden.

Hedi hatte nichts dagegen. Frau Torstenson hatte ihr schon versprochen, sich ihrer anzunehmen, da sie genügend Freizeit habe. Hedi wieder wollte bei ihr so ein wenig die norwegische Kochkunst mit ihren besonderen Gerichten erlernen. –

Auf diese Weise blieb Viktor viel allein und hat dann nach vier Tagen bereits drei Kapitel eines neuen Romans fertig.

Heute saß er nun wieder am Schreibtisch. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die breiten Fenster in das freundliche Zimmer hinein. Vom Hafen her klang Sirenengeheul, Kreischen von Kranketten und das singende Rufen der Stauer herüber. Viktor störten diese Geräusche nicht. Er war ganz bei seiner Arbeit. Dann war die Außenwelt für ihn tot; auch sein Gewissen.

Nur einmal legte er die Feder ein paar Minuten beiseite, als er an eine Stelle in seinem Roman gelangt war, wo er eine Nebenfigur einschalten mußte, eine junge verheiratete Frau, deren Charakter etwa dem Hedis gleichen sollte.

Da dachte er an Hedi. Und was er dachte, war das Ergebnis der Erfahrungen der letzten Zeit.

Nie war ihm ihre seelenlose, ihre spielerische Oberflächlichkeit so klar zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er – das Erbe des Selbstmörders angetreten hatte; nie hatte Hedi so deutlich gezeigt wie jetzt, daß sie zu ihm nur herzlich und stets guter Dinge sein konnte, wenn er ihr jeden Wunsch erfüllte und wenn sie gedankenlos ohne jede ernste Beschäftigung in den Tag hineinleben konnte.

Oft, wenn sie ihn jetzt mit stürmischen Zärtlichkeiten überschüttete, packten ihn Ekel und – Wut! Ja – es war eine stille Wut, die häufig in ihm hochstieg gegen die Frau, die seinen Namen trug und ihn zum Verbrecher gemacht hatte.

Sie merkte nicht, daß er kühler und ablehnender wurde. Sie schrieb dies lediglich dem Umstand zu, daß er durch den neuen Roman völlig in Anspruch genommen wurde. Sie war auch ganz zufrieden damit, ihre Dankbarkeitsbeweise sparen zu können. Viktor war jetzt ja so – so leidenschaftslos, so – abgeklärt. Das war ihr langweilig. –

Viktor begann wieder zu schreiben. Es ging flott vorwärts. Niemand störte ihn. Frau Torstenson und Hedi waren in der Stadt, um Einkäufe zu erledigen.

Er zündete sich dann gerade eine neue Zigarre an, als die Flurglocke bimmelte. Und nun stand er der blonden Sigrid gegenüber.

Sie maß ihn mit erstauntem Blick. Er erkannte sie sofort nach einer Photographie, die die Frau Kapitän ihm gezeigt hatte.

Er stellte sich vor, erklärte, daß er hier Mieter sei.

Sie trat zunächst auf seine Bitte in sein Arbeitszimmer. Er trug ihr den kleinen Koffer hinein. Etwas erschöpft ließ sie sich in den altertümlichen Plüschsessel fallen.

„Ich komme soeben von der Bahn,“ sagte sie. „Mama wird wohl schon meinetwegen in Sorge gewesen sein. Ich konnte seit Tagen nicht schreiben. – Sie wissen vielleicht, daß ich meinen Verlobten suchte, der –“

„Ich weiß,“ nickte Viktor, der diese Sigrid Torstenson weit hübscher fand, als das Bild sie darstellte. Er wunderte sich jedoch, daß sie mit solcher Gleichgültigkeit über das rätselhafte Verschwinden des Ingenieurs berichtete. Er dachte, die Liebe könne hier wohl kaum so sehr groß gewesen sein.

Sigrid sprach das Deutsche fast fließend.

„Ja – niemand weiß,“ fügte sie nun hinzu und schaute dabei zu Boden, „wo er geblieben ist. Ich bin in verschiedenen Städten gewesen, weil man dort eine Spur von ihm entdeckt zu haben glaubte – in Göteborg, Malmö, Trelleborg – selbst in Kopenhagen. Alles war umsonst. Ein alter Freund unserer Familie half mir suchen, ein hiesiger Kriminalbeamter namens Holger Bark.“

Abermals dachte Viktor: ‚Wie kühl und sachlich sie den merkwürdigen Fall behandelt! Nein – von einer tiefen Herzensneigung zwischen den beiden kann keine Rede gewesen sein.’ –

Er sagte Sigrid nun einige teilnehmende Worte, die sie jedoch mit der Bemerkung unterbrach:

„Gunnar und ich waren uns in letzter Zeit stark entfremdet worden. Ich hielt es trotzdem für meine Pflicht, mich um ihn zu bemühen, obwohl er vielleicht –“ Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern erhob sich und griff nach ihrem Koffer.

„Ich will nicht weiter stören, Herr Ziegler,“ erklärte sie hastig, ohne ihn dabei anzusehen. „Sie als Schriftsteller müssen jede Ablenkung doppelt schwer empfinden. Ich – ich habe mich ja auch so nebenbei als Novellendichterin versucht. Daher vermag ich doch etwas besser als ein Laie zu beurteilen, wie leicht die Stimmung eines aus der Phantasie frei Schaffenden beeinträchtigt werden kann.“

Sie wandte sich zur Tür. Viktor nahm ihr jedoch den Koffer ab mit einem liebenswürdigen: „Sie gestatten, Fräulein Kollegin –“ –

Sie schritten die Treppe in den Oberstock empor.

Im Wohnzimmer der Frau Kapitän entwickelte sich dann doch noch ein längeres Gespräch zwischen ihnen. Viktor hatte Sigrid gebeten, ihm einmal diese oder jene ihrer Novellen zum Besten zu geben. – Sie hatte ohne Zögern mit einem „Bitte – gern!“ geantwortet. Alle überflüssigen Redensarten und jede Ziererei haßte sie geradezu. Sie war eine offene, gleichmäßige Natur, frei von Stimmungswechseln, wenn sie nicht schon einen sehr gewichtigen Grund hatten, dabei klug, strebsamen und fleißig aus ehrlicher Freude an der Arbeit und über jeden kleinen Erfolg.

Viktor merkte all dies sehr bald aus gelegentlichen Bemerkungen heraus, mit denen sie offen ihre eigene Person streifte, ohne je auch nur im entferntesten den Eindruck zu erwecken, sie wolle sich in ein günstiges Licht setzen.

Als er dann wieder in das Erdgeschoß hinabstieg, waren sie bereits gute Kameraden geworden.

Viktor Ziegler saß wieder am Schreibtisch. Aber – die Stimmung war dahin. Er saß und – stellte Vergleiche an zwischen Sigrids etwas herber Art und dem jedem Lebensernst abgeneigten Charakter Hedis.

Seltsam war, daß die beiden sich dabei äußerlich ähnlich sahen. Ein Fremder hätte Sigrid und Hedi fraglos für Schwestern gehalten. Selbst auf Sigrids Photographie war diese Ähnlichkeit bemerkbar gewesen und hatte Hedi zu dem Scherz Veranlassung gegeben:

„Beste Frau Kapitän, mein Männe wird Fräulein Sigrid und mich noch verwechseln. Da muß ich doch die Augen gehörig offen halten!“

Frau Torstenson hatte dazu gelacht.

*

Abends lernte auch Hedi ihre Doppelgängerin kennen. Aber sie war enttäuscht.

„Eine kalte, langweilige Schönheit,“ sagte sie nachher zu Viktor. – Dieser schwieg sich aus.

„Findest du nicht, Männe?“ meinte Hedi sofort etwas angriffslustig.

„– ich kenne sie noch zu wenig, Kind. Der erste Eindruck jedenfalls war ein anderer –“

„So?! – Übrigens – du hast dir jetzt angewöhnt, mich Kind zu nennen; seit einigen Tagen erst. Das – das hört sich so an, als ob ich ein unmündiges Schäfchen sei –“

Viktor, der bereits auf dem Bettrand saß und gerade seine Schnürstiefel mit einem weichen Lappen abrieb, schaute nach Hedi hinüber. Sie stand vor dem großen Spiegelschrank und reckte gerade die nackten Arme hoch, um das blonde Haar zu lösen. Sonst hatte er ihr dabei gern mit wachsender Verliebtheit zugeschaut. Jetzt sah er wohl, daß ihre Arm- und Handbewegungen graziös waren. Aber er erkannte auch, daß Hedi fraglos vieles davon gewissermaßen als Koketteriemittel einstudiert hatte.

An ihrem gereizten Ton merkte er, daß sie sich wohl weniger über die Anrede ‚Kind’ als vielmehr über sein Eintreten für Sigrid Torstenson geärgert hatte. Aber er wollte keinen Zank mit ihr. Er wußte, daß sie, falls er jetzt nicht einlenke, sofort ihre Tränenbächlein fließen lassen würde. Und dann würde sie ihm noch gleichgültiger und noch – widerwärtiger als bisher erscheinen. –

Ja – widerwärtiger. Es war so. –

Die Liebe, selbst die Sinnlichkeit, waren dahin. Das Erbe des Selbstmörders hatte diese Ehe zerstört. –

Er starrte vor sich hin und sagte dann mit erheuchelter Freundlichkeit:

„Wenn es dir nicht lieb ist, werde ich dich nie wieder ‚Kind’ nennen –“

Sie hatte sich umgewandt und ihn beobachtet.

„Du bist ja mit den Gedanken anderswo,“ meinte sie sehr laut. „Wo denn?! – Nein – wie du zusammenzuckst. Was fehlt dir eigentlich? Ich glaube, du hockst zu viel in der Stube; viel zu viel. Arbeite weniger. Wir haben ja jetzt Geld –“

Er nickte langsam und wiederholte mit schwerer Zunge. „Wir haben ja jetzt Geld –“

Frau Hedi zuckte die Achseln. „Nein, was seid ihr Schriftsteller nur für gräßliche Stimmungsmenschen. In Berlin vor der Abreise warst du doch so heiter und unternehmungslustig. – Wirklich ein Glück, daß Verses übermorgen herkommen. Dann habe ich doch wenigstens mal andere Gesellschaft, nicht immer Frau Torstenson mit ihren Seemannsgeschichten – vom fliegenden Holländer und ähnlichem Unsinn. Heute Vormittag behauptete sie allen Ernstes, auch der abgewiesene Freier Sigrids, der Detektiv Holger Bark, glaube an Seegespenster. –

Wie wär’s übrigens, wenn wir Versens vorschlügen, bei Frau Bark die Erdgeschoßzimmer zu mieten?“

Viktor blickte auf. – Vorhin, als Sigrid von Holger Bark gesprochen hatte, war ihm gar nicht recht zum Bewußtsein gekommen, daß dieser Holger ja Kriminalbeamter war. Nun aber beschlich ihm plötzlich ein schnell wachsendes Gefühl des Unbehagens.

Ein Detektiv! Und er, Viktor Ziegler, – er war doch ein – Verbrecher; sozusagen also der Gegenpol zu einem solchen gewerbsmäßigen menschlichen Spürhund; und – da wollte nun Hedi Versens gerade bei Frau Bark unterbringen?! Dann würde man ja fraglos auch Holger kennen lernen. –

Viktor wußte, daß der Detektiv ihm nie gefährlich werden könne. Wenigstens nahm er dies in dieser Minute an, wo ihn Barks Berufstätigkeit ein wenig gestört hatte. ‚Nein,’ sagte er sich, ‚ich brauche diesen Mann nicht zu fürchten, der hier in den nordischen Staaten sich einer beinahe volkstümlichen Berühmtheit erfreuen soll, wie Frau Torstenson gelegentlich mal betont hat. Wie soll er ahnen, daß ich einen unbekannten, in der Nähe von Berlin aufgefundenen Toten beraubt habe?! Ich bin ganz sicher vor ihm. Trotzdem werde ich vorsichtig sein. Manchmal hat schon ein Zufall Dinge ans Tageslicht gebracht, die wie im tiefsten Schoß der Erde begraben zu sein schienen –’

Hedi wartete auf eine Antwort. Sie merkte, daß Viktors Blicke gleichsam durch sie hindurchschauten und andere Bilder in irgendeiner endlosen Ferne wahrnahmen. Sie beobachtete ihn abermals. Und sie stellte fest, daß in seinen Zügen ein seltsam gequälter Ausdruck war, etwas, das sie früher nie mit so aufdringlicher Deutlichkeit erkannt hatte; jedenfalls etwas, das ihr völlig neu und fremd an ihm war.

„Mit dir ist eine Unterhaltung heute unmöglich,“ sagte sie mit stärkerer Gereiztheit als vorhin. „Deine Gedanken scheinen im Weltenraum umherzuirren oder – ein Stockwerk höher –“

Er erwiderte nichts auf diesen neuen Nadelstich. Er hatte auch kaum hingehört. Er dachte nur an Gunnar Alfström.

‚Ich muß Frau Torstenson gleich morgen ganz unauffällig bitten, mir ein Bild des Ingenieurs zu zeigen,’ überlegte er. ‚Dann kann ich mir Gewißheit verschaffen, ob mich wirklich ein tückischer Zufall in das Haus der Braut dessen geführt hat, den ich gegen seinen Willen beerbt habe –’

Frau Hedi schlüpfte ins Bett. Viktor drehte das Licht aus und versuchte gleichfalls einzuschlafen. Hedis tiefe, gleichmäßige Atemzüge weckten seinen Neid. Wie ruhig und fest sie schlummerte! Und – er hatte nur ihretwegen einen feigen Diebstahl begangen und litt nun unter so furchtbaren Gewissensqualen. –

Als Viktor Ziegler um sieben Uhr morgens sich leise erhob, sich ankleidete und am Schreibtisch Platz nahm, fand er auf der Schreibtischplatte in dem bereits aufgeräumten Vorderzimmer ein dünnes Heft liegen, das drei Novellen enthielt.

Er las. Er las zunächst mit den Augen des nachsichtig sein wollenden Berufsschriftstellers. Wie schnell wurde aus dem Kritiker ein ehrlicher Bewunderer. –

Er legte das Heft beiseite, sann vor sich hin.

Welch reiche, keusche Mädchenseele sprach aus diesen zarten Erzählungen, die wie die kaum erschlossenen Rosenknospen waren – köstliche Gebilde von Schönheit und Duft! Und – wie formvollendet alles; wie schlicht der Stil, wie gewandt der Ausdruck. Und dabei waren’s doch nur drei Übertragungen ins Deutsche, nicht einmal die Niederschrift in Sigrids Muttersprache. –

Sie mußte diese drei Novellen zu einem besonderen Zweck übersetzt haben. Vielleicht hatte sie sie in einer deutschen Redaktion einreichen wollen. – Jedenfalls; die Arbeiten waren druckreif. Und er würde Sigrid zureden, sie einem ganz bestimmten Verlag anzubieten, der gerade dieser Art von Novellen bevorzugte. –

Dann schrieb er an seinem Roman weiter; er war in Stimmung; die Feder flog; die Gedanken kamen von selbst.

Hedi erschien aus dem Schlafzimmer; sie begnügte sich mit einem kühlen „Guten Morgen“. – Er nickte ihr nur flüchtig zu; trank am Schreibtisch Kaffee und aß nebenher die belegten Brötchen. –

„Fräulein Sigrid will mich ins Museum begleiten,“ erklärte Hedi später. Bis dahin hatten sie kaum ein paar Worte gewechselt. „Auf Wiedersehen, Viktor. Wir sind zu Tisch zurück.“ – Das war Hedis Abschiedsgruß. Nicht einmal die Hand reichte sie ihm.

Er war allein. Er hörte die Haustür zufallen.

Ein Gedanke beherrschte ihn jetzt; das Bild Alfströms! Er mußte es sehen, damit er vergleichen könnte. Das Gesicht des Selbstmörders war ja so unauslöschlich seinem Gedächtnis eingeprägt. –

Frau Torstenson weilte in der Küche. Zieglers hatten sich mit voller Pension eingemietet. Und die brave Frau Kapitän empfing Viktor sofort mit den Worten:

„Es gibt heute Ihr Leibgericht, Herr Ziegler; gebackene Seezunge mit Remouladensoße –“

Sie hatten sich die Hände geschüttelt. Frau Torstenson betrachtete ihren Mieter nun mit sorgendem Blick.

„Sie sehen wieder so blaß aus. Sie müssen mehr an die Luft,“ meinte sie.

Er stellte sich an das Küchenfenster und schaute in den Hof und das kleine Gärtchen hinab. Hinter ihm rührte Frau Kapitän die Sauce zurecht.

„Nein – ich muß arbeiten, liebe Frau Torstenson,“ sagte er leise. „Wir Schriftsteller müssen jede Zeit ausnutzen, wo wir den Drang zum Schaffen so kräftig in uns spüren wie ich jetzt. – Vorhin habe ich auch drei Novellen Fräulein Sigrids gelesen. Sie sollte sich ganz der Schriftstellerei zuwenden. Sie hat ohne Frage Talent –“

„Das behauptet auch Holger Bark –“

„So so. Nun, Herr Bark hat ganz recht. – Eine Frage, liebe Frau Torstenson! Weiß denn Herr Bark nicht, weshalb wohl Gunnar Alfström Trollhätta verlassen hat oder was sonst aus ihm geworden ist? Ich meine, Herr Bark wird vielleicht als Detektiv sich eine bestimmte Ansicht über dieses rätselhafte Verschwinden gebildet haben –“

„Nein, Herr Ziegler. Holger sagte mir heute Morgen noch, als ich drüben bei seiner Mutter war, die ja meine Freundin ist, er stehe hiermit wirklich vor einem vollkommenen Rätsel –“

„Ich vermisse hier oben in Ihrer Wohnung irgendein Bild Alfströms,“ meint Viktor und drehte sich langsam um. „Besitzen Sie denn keine Photographie von ihm, liebe Frau Torstenson? Ich hätte mir Ihren Schwiegersohn gern einmal angesehen –“

Die Frau Kapitän seufzte. „Oh – es waren schon Bilder da. Im Wohnzimmer stand eins auf dem Schränkchen, ein zweites hing an der Wand –“ Sie sprach leiser. „Aber – hm, Sie werden ja darüber schweigen, Herr Ziegler! – Aber Sigrid schrieb mir aus Trollhätta, und das war schon am Tag nach ihrer Ankunft dort, ich solle die Bilder entfernen und irgendwo verwahren.“ Sie flüsterte nur noch. „Ach – wenn sie doch damals, als Alfström sich um sie bewarb, auf mich gehört hätte. Mir wär’s lieber gewesen, sie hätte sich mit Holger Bark verlobt. Ich will nicht sagen, daß Gunnar mir nicht gefiel. Aber Holger kannte ich doch von Jugend an. Er ist ein trefflicher Charakter. Von Gunnar wußte ich nichts. Ihn sah ich nur als Sigrids Freier. Und dann scheinen alle Männer Engel, wenn sie als Bewerber nur den besten Eindruck machen wollen – natürlich nur den besten. Alfströms redete mir zu viel, war zu lebhaft. Wir Norweger sind meist ruhig und gesetzt. Mein Alter war sogar so schweigsam, daß ihn viele für brummig erklärten. Und er war doch ein so gütiger Charakter. –

Warten Sie, Herr Ziegler. Ich hole Ihnen jetzt ein Bild von Gunnar.“

Aber sie ging nicht, sondern seufzte wieder und murmelte:

„Hier stimmt etwas nicht. Nein – ganz sicher stimmt hier was nicht. Gestern Abend sagte Sigrid, sie wünsche nicht, daß ich Gunnar nochmals erwähne. – ‚Ich weiß jetzt, Mutter, ich habe ihn nie so geliebt, wie ich zu lieben fähig bin,’ meinte sie. ‚Ich kann Gunnar daher auch nicht nachtrauern, Mutter. Frage nicht weiter. Ich habe ihn jedenfalls ganz aufgegeben!’ – Ja – so sagte sie. Ich begreife Sigrid nicht. Sie ist nicht so veranlagt, daß sie heute so und morgen so denkt. Ich werde den Verdacht nicht los, daß sie in Trollhätta etwas erfahren hat, daß Gunnar nicht günstig war. Vielleicht hat er dort eine Liebschaft gehabt –“

Sie verließ jetzt die Küche und ließ Viktor in recht unruhiger Seelenverfassung zurück. Als sie dann wieder eintrat, hatte sie ein Kabinettbild in der Hand, das Alfströms hübschen, energischen Kopf mit allen Einzelheiten der Züge treu wiedergab. Sie reichte Viktor die Photographie. Sie wunderte sich, daß er sie so zögernd entgegen nahm.

Er ging damit ans Fenster.

Ein Blick genügte ihm.

Schweißperlchen erschienen auf seiner Stirn. Vor den Augen wallten ihm plötzlich Nebel.

Und seine Stimme klang ganz anders als sonst, wie er nun sagte:

„Ein hübscher Mensch, Frau Torstenson –“

Sie lachte hinter ihm ärgerlich auf. „Hübsch – hübsch?! Was nützt das?! Nichts! Auf das Innere kommt’s an. Nur darauf!“

Viktor verabschiedete sich. „Ich muß wieder an die Arbeit. Auf Wiedersehen, Frau Kapitän –“

Sie schaute ihm nach, dachte: ‚Wie bleich er ist! Auch in dieser Ehe stimmt etwas nicht. Diese Frau Hedi ist ja auch zu sehr lediglich Spielzeug, hat keinen Gehalt. Der Mann kann einem leid tun. Er ist so bedrückt stets. Und doch fraglos ein guter Mensch –’

*

An demselben Vormittag war Holger Bark ganz überraschend bei seiner Mutter wieder eingetroffen. Er sah abgehetzt und matt aus, so matt, daß der kleinen, rundlichen Frau das Lachen verging. Und sie war doch so gern vergnügt.

„Holger, was in aller Welt ist denn nur geschehen,“ jammerte sie, als er mit ihr am schnell gedeckten Frühstückstisch saß und die Speisen kaum anrührte, nur hastig mehrere Gläser Rotwein trank. „Wo kommst du eigentlich her? Dein letzter Brief war in Berlin aufgegeben. Was tatest du in Deutschland?“

Er starrte vor sich hin. „Dienst, Mutter,“ meinte er widerwillig. „Hoffentlich hast du, wie ich es wünschte, niemandem erzählt, daß ich dir aus Berlin geschrieben habe.“

„Aber Holger! Ich und plaudern! Du kennst mich doch. Ich bin so stolz, daß du vor mir keine Geheimnisse hast.“

Er nickte trübe. Ein gequältes Lächeln spielte dabei um seinen Mund.

„Geheimnisse!“ murmelte er. „Die drängen sich uns zuweilen ganz von selbst auf. Und das sind dann die – gefährlichsten –“

„Um Gott – was heißt das nun wieder, Holger?“

„Nichts anderes, als daß ich diesmal auch dir gegenüber schweigen muß, Mutter.“

„Wirklich?“ Sie machte einen etwas beleidigtes Gesicht. „Natürlich hängt das mit dem Trollhätta-Fall zusammen, – ganz sicher sogar. – Wer war denn nun eigentlich der Tote, den man aus den Fällen gezogen hat?“

Holger Bark stand auf. „Frage nicht – ich gehe jetzt zum Polizeidirektor Bericht erstatten.“

Er seufzte.

„Man wird diesmal mit mir nicht recht zufrieden sein. Ich habe – nichts erreicht –“

Frau Bark trat vor ihn hin, legte ihre Hände auf seine Schultern.

„Mein lieber großer Junge, du hast doch offenbar etwas erlebt, daß –“

Sie brach im Satz ab. Ihr war ein besonderer Gedanke gekommen; und so fuhr sie fort: „Sigrid kam gestern nachmittag zurück. Ihr habt doch ein paar Tage gemeinsam nach Gunnar Alfström gesucht. Wo trenntet ihr euch eigentlich?“

Er nahm ihre Hände in die seinen. „Mutter, schone mich,“ sagte er gepreßt. „Ich mag nicht lügen. Frage nichts über diese Tage – nichts! Lösche sie aus deinem Gedächtnis aus – vollständig! Ich will dasselbe versuchen.“

„Oh – ich weiß schon,“ klagte sie weinerlich. „Durch das stete Beisammensein mit Sigrid ist die alte Herzenswunde wieder aufgerissen worden. Und nun –“

Er drehte sich jäh um und verließ das Zimmer.

Am folgenden Nachmittag zogen Versens bei Frau Bark ein, außerdem noch Herr Fabrikbesitzer Versens jüngerer, unverheirateter Bruder, der Prokurist in einer Berliner Holzgroßhandlung war.

Frau Erna Versen, eine dunkelhaarige, etwas in die Breite gegangene Schönheit von pikantem Reiz, hatte Hedi Ziegler auf dem Bahnhof mit vielen Küssen begrüßt und dann sofort der Freundin Garderobe kritisch mit heimlichen Blicken geprüft, hatte festgestellt, daß Hedi entschieden vornehm aussah und daß man sich ihrer also nicht zu schämen brauche.

Viktor, der zu Versens Empfang gleichfalls erschienen war, lernte den Gatten der von Hedi so oft blühend beneideten ‚Busenfreundin’ jetzt erst persönlich kennen, ebenso auch den Prokuristen. Die beiden Brüder konnten äußerlich kaum unähnlicher sein. Karl Versen, der Stettiner Fabrikherr, schleppte vor sich ein Spitzbäuchlein von unschönem Umfang, war dazu noch klein und Besitzer einer spiegelblanken Glatze. Er nannte sich selbst oft und gern einen Emporkömmling. Aber er fiel niemand mit Vornehmtuerei auf die Nerven. Er gab sich natürlich, hatte gewandte Umgangsformen und einen geradezu sonnigen Humor. Seine aus gutem Hause stammende Frau betete er an. –

Viktor fand ihn jedenfalls durchaus nicht so abschreckend, wie Hedi ihn geschildert hatte. –

Sein Bruder Eduard dagegen gehörte zu jener Sorte von Lebemännern, die nur bei oberflächlichen Frauen und bei Gleichgesinnten mit ihren faden Redensarten, ihrer sogenannten schneidigen Aufdringlichkeit und ihren ‚echt englischen Anzügen’ und dem dazu gehörigen Drumm und Dran Verständnis finden. –

Eduard Versen war ja ohne Frage eine gute Erscheinung. Sein frisches Gesicht mit dem blonden Bürstenbärtchen hätte sogar ganz angenehm gewirkt, wenn nicht die Augen stets jenen fast frechüberlegenen, leicht ironischen Ausdruck gehabt hätten, der all und jedes zu belächeln schien. –

Er begann denn auch sofort Hedi gegenüber den sieghaften Kavalier zu spielen, zumal er mit dem feinen Instinkt des Frauenjägers sehr bald herausgemerkt hatte, daß in der Zieglerschen Ehe ein starker Riß klaffte.

Vier Tage nach Versens Ankunft in Christiania rüstete der kleine deutsche Kreis, dem sich jetzt noch ein jungverheirateter Regierungsbaumeister mit Gattin namens Kriegler angeschlossen hatte, zu einem Ausflug nach der weiter westlich gelegenen Industriestadt Skien. Viktor lehnte für seine Person eine Beteiligung ab. Man drang auch nicht weiter in ihn. Versens fanden ihn pedantisch, langweilig und mürrisch. Eduard Versen meinte sogar, dieser Ziegler sei der reine Oberlehrer. Für den Prokuristen war ein Oberlehrer sozusagen ein Gebilde aus lauter Spießereigenschaften.

So fuhren denn Versens, Hedi und Krieglers eines Morgens ohne Viktor mit der Bahn nach Skien. Sie wollten von dort noch die interessante Dampferfahrt bis Dahlen durch die Gebirgsseen von Telemarken unternehmen und fünf bis sechs Tage fortbleiben.

Viktor atmete auf, als er an dem betreffenden Tag mit lauem Pflichtkuß von Hedi Abschied genommen hatte. Das Verhältnis zwischen ihnen war nur äußerlich ein besseres geworden. Innerlich hatte die Entfremdung derart zugenommen, daß es Viktor sehr gleichgültig war, ob Hedi – vielleicht um ihn eifersüchtig zu machen – über Gebühr mit Eduard Versen kokettierte. Und das tat sie wirklich. Sie tat’s ohne je daran zu denken, daß sie Pflichten hätte und Rücksicht auf ihren Mann nehmen müsste. Viktor war für sie kaum mehr da. Sie brachte es sogar fertig, in des Prokuristen Witzeleien über den ‚fleißigen Oberlehrer’ mit einzustimmen.

Viktor fühlte sich wie befreit. Er hatte inzwischen oft genug mit Sigrid allein ernste Gespräche geführt. Er merkte, daß sie sich gern mit ihm unterhielt. Sie war ihm gegenüber zwanglos wie zu einem guten Kameraden. Zunächst hatte er Mühe gehabt, in ihrer Gegenwart eine gewisse Scheu und ein starkes Schuldbewußtsein zu verheimlichen, hatte nur schwer vergessen können, daß er es war, der Sigrid über den Verbleib Gunnar Alfströms hätte Aufschluß geben können, – er, der ‚Erbe’ dieses Mannes, der durch Selbstmord geendet hatte. Dann fand er jedoch in einer älteren Christianiaer Zeitung eine kurze Notiz über das Verschwinden des Ingenieurs, und in diesem Artikel war zwischen den Zeilen zu lesen, daß Alfström das Städtchen Trollhätta für kurze Zeit zum Spielernest gemacht und wohl nicht ganz freiwillig das Weite gesucht hatte. –

Dies beruhigte sein Gewissen ein wenig. Wäre Alfström ein tadelloser Ehrenmann gewesen, hätte sich ja auch Sigrid kaum so leicht von ihm losgesagt. –

Am Nachmittag um sechs war Sigrids Dienst bei dem Rechtsanwalt beendet. Als sie heute nach Hause kam, öffnete Viktor die Zimmertür und bat, Sigrid möchte doch für einen Augenblick eintreten.

Sie errötete flüchtig, streckte ihn dann jedoch mit einem freundlichen Kopfneigen die Hand hin und meinte:

„Ich wäre beinahe soeben mir selbst untreu geworden.“

Sie schritt über die Schwelle und nahm ohne Aufforderung in demselben Sessel Platz, in dem sie schon damals gesessen, als sie sich kennen gelernt hatten.

Er schloß die Tür und blieb nun vor Sigrid stehen. Sie schaute offen zu ihm auf und fuhr fort:

„Mir selbst untreu insofern, als ich schon Ihre Bitte mit der Begründung ablehnen wollte, es passe sich nicht für ein junges Mädchen, das Zimmer eines fremden Herrn –“

„Ich verstehe,“ unterbrach Viktor sie und lächelte schwach. „Wir sind doch Kollegen, Fräulein Sigrid. Und deshalb –“

„– nein, – nicht deshalb sitze ich nun hier, – nein, vielmehr weil ich nicht mehr zum weiblichen Geschlecht, zu den jungen Mädchen rechne.“ Sie sagte das ohne jede Absicht, irgendwie eine besondere Eigenart herauskehren zu wollen. „Ich bin jetzt nur noch Sigrid Torstenson, die über jede sogenannten zärtliche Gefühle Erhabene; ich sehe in den Männern nicht mehr das andere Geschlecht, dem gegenüber wir die ‚mädchenhafte Anstandspflicht’ wahren müssen. Ich – will erhaben über all das sein; besonders wo ich’s, wie vor Ihnen, tun darf, ohne eine falsche Auslegung meiner freieren Verkehrsauffassung befürchten zu müssen. –

So – und nun, Herr Ziegler, – was haben Sie auf dem Herzen?“

Er betrachtete sie prüfend. Sie war genau wie er blaß und schmal geworden; um ihre Augen lagen dunkle Schatten; ihre Gelassenheit wirkte jetzt zuweilen gekünstelt und unnatürlich.

„Sie haben doch Holger Barks Segelboot stets zu Ihrer freien Verfügung,“ sagte er nun. „Ich hätte Lust, auf dem Fjord den Abend zu genießen. Meine Frau ist heute ja nach Skien gefahren, so daß –“ Er stockte, fuhr dann hastiger fort: „Nun – jedenfalls könnten wir einen Imbiß mitnehmen und draußen auf einem der kleinen Felseneilande abendbroten, – wie wär’s damit, Fräulein Sigrid?“

Abermals errötete sie und schaute einen Moment zur Seite.

„Warum nicht?“ erklärte sich dann und erhob sich. „In einer Viertelstunde habe ich unser Abendrot zusammengepackt. Auf Wiedersehen. Ich klopfe dann hier bei Ihnen an –“

Sie gab ihm die Hand und ging. Oben traf sie die Frau Kapitän im Wohnzimmer an. Frau Thora hatte eine Zeitung vor sich liegen. Es war dasselbe Blatt, in dem auch Viktor Ziegler die Notiz über Alfström gefunden hatte.

„Sigrid,“ sagte Frau Torstenson nach der kurzen Begrüßung durch Kuß und Händedruck. „Frau Bark hat mir vorhin diese Zeitung gebracht. Sie hat sie wieder von Frau Algerborn erhalten, von dieser alten Klatschbase. Alfström scheint ja in Trollhätta kein besonders gutes Andenken hinterlassen zu haben. Frau Bark hat Holger gefragt, was es denn eigentlich mit diesen Andeutungen auf sich habe. Er hat jedoch eine Antwort verweigert. Nun – ich sehe jetzt schon klarer, weshalb ich Gunnars Bilder wegtun mußte –“

Sigrid nahm die Zeitung und überflog die Notiz.

„Ah – also deshalb die Sticheleien meiner Kolleginnen bei Terkollen!“ rief sie leise. „Deshalb! So hat diese häßliche Geschichte also doch zum Teil den Weg in die Öffentlichkeit gefunden! – Nun – mich berührt das nicht mehr – Nein, in keiner Weise. Alfström war es nie wert, daß ich – genug davon. – Mutter, bitte hilf mir, ein paar belegte Brote herzurichten. Herr Ziegler möchte auf dem Fjord ein paar Stunden segeln. Auch mir wird die frische Luft guttun –“

Frau Torstenson stand sofort auf. „Ganz recht, Kind. Und Ziegler vertraue ich dich gern an. Das ist ein durch und durch anständiger Charakter. Weiß der liebe Gott, wie er mal zu dieser Frau gekommen ist. Sie treibt es jetzt geradezu schamlos. Gestern hat sie eine Stunde vormittags in Eduard Versens Zimmer zugebracht. Frau Bark hörte durch die offenen Fenster ihr Lachen bis nach oben –“

*

Viktor Ziegler verstand von Segeln nicht viel. Sigrid wurde seine Lehrerin. Sie steuerte mit dem schlanken, schmucken Boot, das achtern eine winzige Kajüte besaß, immer unweit der zahlreichen, teilweise bewohnten Inseln hin, die den berühmten Christiania-Fjord angenehm beleben.

Der Abend war warm; der Himmel wolkenlos und durchsichtig wie im Herbst. Die Sonne war gerade hinter dem schlanken Bau des Schlosses Oskarball verschwunden. Rötlicher Glanz lag auf den nur leicht bewegten Wassern des Fjords. –

Sigrid saß am Steuer, und Viktor dicht neben ihr. Die vom Abendwind prall gefüllten Segel trieben das Boot schnell dahin.

„Wo werden wir nun landen?“ fragte Viktor, als man sich inmitten einer Anzahl von winzigen Eilanden befand. „Ich stelle es mir recht poetisch vor, auf einem dieser Inselchen für ein paar Stunden die Robinsons zu spielen.“ –

Er war in so gehobener Stimmung heute, war so froh, daß er mit Sigrid hier auf dem einsamen Fjord weilte.

„Wo? – Warten Sie nur ab. Ich habe hier ein Lieblingsplätzchen, Herr Ziegler, wo ich schon so manchen Sonntagnachmittag verträumt habe.“

Sehr bald steuerte sie in eine ganz enge Durchfahrt ein, rief dann, indem sie das Großsegel flattern ließ:

„Nehmen Sie den Bootshaken. Dort jene kleine Bucht laufen wir an. – Achtung – festhalten. So, nun ketten sie das Boot dort an jener Felsnase fest. Wir sind an Ort und Stelle.“

Das Inselchen hatte steile Ufer, senkte sich aber nach der Mitte zu gleichmäßig abwärts. Und in diesem kleinen Tal standen ein paar Birken, Tannen und Krüppelkiefern; hier gab es auch dichter bewachsene Bodenstellen, deren Gras eine Wiese vortäuschte. Es war wirklich ein idyllisches Plätzchen, und Viktor konnte gar nicht genug betonen, wie sehr es ihm hier gefalle.

Sie lagerten sich neben ein paar Tannen und packten die Eßwaren aus, begannen unter zwanglosem Geplauder ihre gemeinsame Mahlzeit und waren heiter und sorgenlos wie seit langem nicht.

Sigrid hatte vorgestern ihren ersten Roman beendet. Bisher hatte sie nie von dieser Arbeit etwas erwähnt gehabt. Jetzt kamen sie darauf zu sprechen. Viktor bat um eine kurze Inhaltsangabe. Sie begann zu erzählen. Sie schilderte alles, als hätte sie es selbst erlebt. Er hörte schweigend zu. Wieder erkannte er, ein wie starkes Talent sie besaß.

„Sie sollten unbedingt Schriftstellerin werden,“ sagte er nachher. „Legen Sie den Roman gleich morgen dem Redakteur Sigurd Livendaal vor, den ich persönlich kenne. Oder, wenn Sie’s nicht wagen, Fräulein Sigrid, so tue ich’s. Nur immer zuversichtlich sein! – Im Vertrauen, ich habe nämlich Livendaal heimlich ihre Novellen lesen lassen, Fräulein Sigrid. Es ist das eine Überraschung, die ich mir für heute Abend aufgespart hatte. Livendaal bietet Ihnen als Honorar für die drei Arbeiten sechshundert Kronen –“

Sigrid schrie leise auf. „Wirklich? Sechshundert Kronen?! Oh – das ist ja viel zu viel. Ich wäre mit dreihundert zufrieden gewesen –“

Dann bedankte sie sich bei Viktor, drückte ihm fast gerührt die Hand.

„Sie sind durch einen Zufall unser Mieter geworden, Herr Ziegler. Ich segne diesen Zufall. Ach – wie gern möchte ich meinen jetzigen Beruf aufgeben, der mir jetzt durch die Herzlosigkeit meiner Kolleginnen verleidet wird –“

Sie schwieg, fuhr dann leiser gort: „Sie verdienen es, lieber Freund – nicht wahr, ich darf Sie doch so nennen? – daß ich Ihnen gegenüber ganz offen bin. Offener sogar als zu meiner Mutter. –

Sie werden sich fraglos gewundert haben, weshalb ich wohl so leicht über den Verlust meines Verlobten hinweggekommen bin. Sie sollen nun die Wahrheit hören. Alfström war ein Spieler geworden. Er hatte in Trollhätta beim dortigen Kraftwerk eine Kasse unter sich und hat aus dieser Geld unterschlagen, – natürlich um Spielverluste zu decken. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit nach Trollhätta, wohin Holger Bark mich telegraphisch gerufen hatte, um diese Sache dadurch zu vertuschen, daß ich meine Ersparnisse opferte und die fehlenden achtzehntausend Kronen ersetzte, – meine Ersparnisse und auch das Erbteil von meinem Vater her. –

So, Herr Ziegler, liegen die Dinge. Nun werden Sie begreifen, daß ich Gunnars Alfström vollständig aus meinem Herzen gestrichen habe. Ich liebe es nicht, viel Worte zu machen. Ich habe Ihnen soeben kurz die Sachlage geschildert, ohne noch rührselige Redensarten hinzuzufügen. Das liegt mir nicht.“

Sie hatte ihn bei all diesen Sätzen nicht angeschaut, sondern gesenkten Blickes nervös mit ihrer langen Uhrkette gespielt. Jetzt blickte sie ihm ins Gesicht und – erschrak.

Viktor Zieglers Antlitz glich dem einer Totenmaske; seine Stirn war mit Schweißperlen bedeckt; seine Augen stierten wie die eines Hypnotisierten über die Felsen hinweg auf den Abendhimmel, der hier in Christiania während des Sommers stets halb hell wie im Morgendämmern bleibt.

„Was – was haben Sie nur?“ fragte Sigrid besorgt. „Sie – sehen ganz entstellt aus. Ist Ihnen nicht gut, Herr Ziegler? – So reden Sie doch bitte. – Hier – trinken Sie schnell einen Becher Rotwein. Sie haben zu viel gearbeitet in den letzten Tagen –“

Sie füllte den Becher, drängte ihn dem bleichen Mann auf.

Viktor nahm sich mit aller Gewalt zusammen; trank, lächelte halb verlegen, halb scheu, und sagte, indem er Sigrids Hand ergriff.

„Sie haben also noch zu allem anderen Ihre Ersparnisse geopfert, um Alfström vor der Schande zu bewahren, daß sein Name als der eines Defraudanten3 in die Zeitungen kommt. –

Sie sind ein seltener Charakter. Wenn – wenn ich doch auch so viel –“ – Er vollendete den Satz nicht, drückte ihre warme, weiche Hand und dachte wieder dasselbe: ‚Eintausendachthundert Kronen! Und ich fand damals bei Alfström im ganzen 147000 Mark, in lauter Tausendmarkscheinen. Wie – wie ist er nur zu diesem Geld gekommen? Ein Spielgewinn vielleicht? Aber – weshalb erschoß er sich dann – weshalb?!’

Sigrid überließ ihm ihre Hand. „Sie überschätzen mich, lieber Freund. Wirklich!“ sagte sie schlicht. „Ich bin kein – seltener Charakter. Ich handelte in meinem eigenen Interesse, als ich das Defizit in der Kasse deckte. Ich wollte nicht, daß man hier in Christiania mit Fingern auf mich deutete: ‚Da – des flüchtigen Defraudanten Braut – das ist sie – die Blonde!’ – Nein, das wollte ich verhüten. Ein Teil der Wahrheit ist aber doch durchgesickert. Meine Kolleginnen beweisen es mir täglich. Ach – Frauen können so schadenfroh sein, besonders wenn’s Frauen sind, die keine Aussicht haben, zu heiraten.“

Es streichelte jetzt mit der linken ihren Handrücken, meinte weich:

„Das soll nicht wieder geschehen, Fräulein Sigrid. Geben Sie sofort Ihre Stellung auf – schon morgen. Ich stehe Ihnen dafür einen, daß Sie als Schriftstellerin vorwärtskommen, – ganz sicher! – Nein – man soll Sie nicht als Zielscheibe schadenfroher Bemerkungen weiterhin täglich zur Verfügung haben. Ich werde Ihnen mit Rat und Tat beistehen. Ich – ich will versuchen, meine Schulden Ihnen gegenüber nach Kräften abzutragen –“

Sie blickte ihn ganz verwirrt an. Sie fühlte, daß diese brüderliche, kameradschaftliche Liebkosung, die in diesem sanften Streicheln lag, ihr langsam eine Ahnung aufgehen ließ, vor der sie zurückbebte; sie hatte ihre scheinbar rein freundschaftlichen Empfindungen diesem Mann gegenüber bisher nie ernstlich geprüft, nun spürte sie in Folge dieser nahenden körperlichen Berührung in ihrem Innern eine siedende Welle aufsteigen und sich ihrem Blut mitteilen; spürte den schnelleren Schlag ihres Herzens und erkannte nur zu plötzlich, daß diese sie ängstigende Ahnung bereits Gewißheit geworden. Deshalb also war sie so rasch mit Ziegler vertraut geworden; deshalb war er ihr gleich wie ein guter Kamerad erschienen; deshalb hatte sie sich so sehr über jede Minute, jede Stunde gefreut, die sie mit ihm verplaudern konnte.

Sie saß regungslos und schaute ihn an wie jemand, den sie jetzt zum ersten Mal sah. Und ganz schwer kamen die Worte über ihre Lippen:

„Eine – Schuld – abtragen? Ich – ich verstehe Sie nicht, Herr Ziegler. – Eine Schuld?! Was – wie meinen Sie das?“

Er umklammerte ihre Rechte mit seinen beiden Händen, stieß gefoltert von einer noch nie so furchtbar empfunden Gewissenspein, silbenweise hervor:

„Nicht – nicht fragen, Sigrid. Nicht fragen. Nie – nie! Es ist so – es ist so! Eine Schuld habe ich zu tilgen. Ich will es tun. Eine Schuld, die ich mir auflud – meiner Frau wegen –“

Er hatte den Kopf gesenkt. Alles in ihm drängte jetzt an die Oberfläche, seine ganze Bitterkeit – mehr noch, sein Haß gegen Hedi.

„Ja, Sigrid – dieser Frau wegen, die wie eine herausgeputzte Marionette ist – ohne Seele; die jetzt gedankenlos ihre Freiheit genießt, die ich ihr so gern gönne; die nicht ahnt, daß in meiner Brust ein Wurm nagt, der – nur durch angestrengteste Geistesarbeit sich ein wenig zurückschrecken läßt –“

Er atmete keuchend; er schwieg Sekunden. Dann:

„Und an diese seelenlose Hülle bin ich nun gekettet, Sigrid, – an ein Weib, das mir nicht nur gleichgültig, – nein, das mir sogar –“ Er sprach den Gedanken nicht aus, schluchzte vielmehr, überwältigt von der in ihm aufgespeicherten Qual, leise auf, erhob sich schnell und ging in dem kleinen Tal hastig hin und her.

Dann stellte er sich vor Sigrid hin, fragte leise:

„Weshalb straft das Schicksal uns arme Menschlein so hart für einen Fehler, den wir einst bei der Wahl derer begingen, die die Ergänzung unseres eigenen Ich’s werden sollte?! Weshalb führte es Ihnen Gunnar Alfström und mir Hedwig Schmidt in den Weg? Weshalb kreuzten sich nicht unsere Lebenspfade, Sigrid, bevor ich als blinder Tor diese Ehe schloß!“

Abermals ließ er sie allein und nahm seinen Rundgang wieder auf. – Er ließ sie allein mit dem Sturm von Gefühlen, der über sie hinwegbrauste.

Sigrid hatte die Hände wie betend gefaltet. Aber sie betete nicht. Sie lauschte nur in wachsendem Glücksrausch auf die Stimmen ihres Innern, die ihr zuraunten: ‚Er liebt dich – er liebt dich!’

Und wieder trat Viktor Ziegler vor sie hin, begann mit einer Stimme, die zitterte und nur undeutlich zu verstehen war:

„Sigrid, ich will Ihnen noch mehr anvertrauen. Meine Ehe mußte –“ Er hatte ihr jetzt alles beichten wollen – alles; und dann sollte sie ihm raten, wie er sein Vergehen aus der Welt schaffen könnte. Er wollte diese Gewissenslast für immer abstoßen.

Doch – es sollte nicht sein.

Sigrid Torstenson war schnell aufgestanden, fiel ihm ins Wort, und ihre Stimme war klar und fest:

„Nichts mehr davon. Ich will nichts mehr hören – nichts!“ Sie legte ihm die linke Hand leicht auf den Arm. „Nichts mehr von dieser Ehe. Aber etwas anderes will ich nochmals hören, daß Sie wünschen, unsere Lebenspfade hätten sich früher gekreuzt – früher! – Ist es so? Wünschen Sie das wirklich?“ Er blickte ihr ins Gesicht; er sah ein zärtliches Lächeln ihren Mund umspielen; er sah in ihren Augen die Hingebung und ein stummes Bitten.

Ihre Hand sank an seinem Arm abwärts, umkrampfte nun die seine.

Er wehrte sich nicht allzu lange. Er wußte; er würde das Weib in ihr verletzen, wollte er jetzt fest bleiben.

Und so legte er denn den anderen Arm um sie, zog sie an sich.

Sie bot ihm ohne Scheu ihre Lippen dar. Es war ein Kuß stiller Seligkeit, den sie tauschten; es war keine wild lodernde Leidenschaft, nein, es war die Zärtlichkeit zweier Menschen darin, deren Seelen zuerst in vollem Akkord zusammenklangen und deren Sinne dann erst wach wurden; es war nicht die begehrende, gewährende Liebe zwischen Mann und Weib; es war ein Höheres, Edleres.

*

Der Versensche Kreis weilte seit gestern in dem kleinen Gebirgsdörfchen Dahlen. Der patente Eduard hatte am Abend einen Ausflug zu Fuß nach dem zwei Stunden entfernten Börefoß-Berg vorgeschlagen, aber nur in Frau Hedi eine Begleiterin gefunden, die die sehr anstrengende Kletterpartie nicht scheute.

Um acht Uhr morgens waren die beiden aufgebrochen. Eduard Versen erklärte schon zehn Minuten später, er scheue die Strapazen doch ein wenig; man solle sich damit begnügen, bis zu dem Gasthaus am Fuß des Börefoß zu wandern, wo man ein gutes Frühstück erhalten würde und den Forellen-Anglern zuschauen könne, die dort im Sommer ständige Gäste seien, – zumeist reiche, mit dem Angelspleen behaftete Engländer.

Hedi war einverstanden. Ihr kam es ja lediglich darauf an, mit Eduard Versen allein zu sein. Sie hatte sich in den kecken Menschen so etwas verliebt, und der Gedanke reizte sie, zu versuchen, wie weit er wohl die Kühnheit bei einem längeren Beisammensein zu zweien treiben würde.

Der Prokurist benahm sich jedoch tadellos. Nur eins unterließ er nicht, die Schleusen seines Spottes über Viktor Ziegler abermals zu öffnen! – Dabei ergab es sich von selbst, daß er Hedi über ihre Ehe mit einer Unverfrorenheit auszufragen begann, wie es ein taktvoller Mensch nie gewagt hätte. Gewiß – er spielte den Mitfühlenden, den warmherzigen Freund. Doch selbst Hedi merkte, daß er nur feststellen wollte, ob sie und Viktor sich bereits ganz auseinandergelebt hätten.

Da er es trefflich verstand, in ihr eine gereizte Stimmung gegen ihren Gatten hervorzurufen, war sich offener, als sie es hätte sein dürfen, weinte auch ein paar zornige Tränen und ließ sie sich von Versen dann trocknen, der sie nun schon Frau Hedi nannte und sie zuweilen bei schwierigeren Wegstellen ritterlich in die Arme nahm und – sehr überflüssiger Weise – eine Strecke trug, ohne sich jedoch noch mehr herauszunehmen. Immerhin erreichte er, daß Hedi sich bei der Ankunft in dem Börsefoß-Rasthaus, das ganz einsam am Ufer des gleichnamigen Baches in einer bewaldeten Schlucht lag, in einem Zustand von sinnlicher Erregung befand, woran lediglich Eduards angebliche Ritterlichkeit schuld war, nämlich dieses Andrücken des weichen Frauenkörpers an seine Brust, wenn er ihn mit seinen kräftigen Armen spielend leicht ein Stück Wegs getragen hatte.

Hedi hörte schweigend zu, als er nun ein Zimmer bestellte und das Frühstück dort zu servieren befahl. Sie lachte sogar leise als er nachher in das Fremdenbuch eintrug ‚Eduard Versemacher nebst Frau, Kaufmann, aus Berlin’; sie lachte ebenso, als er sich mit dem ‚Hotel Dahlen’ in Dahlen telephonisch verbinden ließ und seinem Bruder mitteilte, sie hätten beschlossen, bis zum Abend hier auf dem Börsefoß zu bleiben; sie lächelte etwas beklommen, als das Mädchen die Frühstücksreste abräumte und als sie nun in dem bescheiden eingerichteten Zimmer allein waren.

„Ich denke, wir ruhen uns erst einmal etwas aus,“ meinte er, indem er neben sie trat, die gerade am Fenster stand und den Wasserfall bewunderte, den der Bach in fünfzig Meter tiefem Absturz bildete.

Er legte den Arm um sie, zog sie an sich, zog sie vom Fenster weg – zog sie zum Bett hin. Sie zitterte, aber sie wehrte sich nicht. Sie war Weib, und Viktor hatte sie schmachten lassen.

Es wurde mittag bis sie ihr Zimmer verließen. Unten auf der Veranda aßen sie köstliche Forellen, tranken Rotwein dazu und wanderten dann tiefer in die Schlucht hinein, lagerten sich, tändelten miteinander, küßten sich, haschten sich wie übermütige Kinder, küßten sich wieder und sündigten mit jagenden Herzen unter uralten, rauschenden Tannen von neuem.

Hedi hielt ihn umschlungen, stammelte verliebten Unsinn, wurde aber plötzlich ernst und fragte scheu:

„Ob Viktor auch in eine Scheidung einwilligen wird? Er – er ist in vielem so altmodisch. Vielleicht will er das Aufsehen einer Scheidung vermeiden –“

Eduard Versens Gesicht wurde sehr lang. Er gab sie frei, richtete sich auf.

„Scheidung?!“ meinte er sehr gedehnt. „Scheidung?! Ja – wer spricht denn davon?! Wozu das?!“

Sie erschrak, starrte ihn ganz fassungslos an, meinte verstört:

„Wie – soll ich denn Viktor darüber im unklaren lassen, daß – daß ich ihn nicht mehr liebe? Soll ich ihm nicht nahelegen, daß er mich freigibt? Du – du wirst mich doch heiraten, Eduard. Du – mußt es doch tun – nach heute vormittag. Ich – kann doch niemals nur deine – Geliebte sein –“

Er spielte den Überraschten. „Höre ich recht?! – Heiraten! Aber Kind, Kind, – wie denkst du dir das eigentlich? – Ich eigne mich zum Ehemann nicht – niemals! Außerdem, mein Gehalt reicht gerade für mich hin. Wovon sollte ich wohl die Ausgaben für eine Frau bestreiten?! – Hedi, Kind, kleine Törin, – schlag’ dir doch solche Gedanken aus dem Kopf. Das – das ist einfach unmöglich!“

Sie sprang auf. Sie bebte vor Zorn und Entrüstung; Vorwürfe sprudelte sie hervor, Drohungen.

„Du – du bist ein gewissenloser Mensch. Ich werde Viktor alles berichten. Ich werde mich ihm zu Füßen werfen. Oh – er wird dich fordern, dich erschießen. Er ist kein Feigling –“

Er lächelte zu alledem überlegen. Als sie nun ganz atemlos schwieg, meinte er: „Nichts von alledem wird geschehen – nichts, kleine Frau Hedi. Da kenne ich euch Frauen besser. – Komm’, sei lieb, setz’ dich wieder. Wir werden uns doch den schönen Tag nicht verärgern –“

Er haschte nach ihren Händen, riß die schlanke Gestalt halb zu Boden. „Närrchen – heiraten! Hast du denn im Ernst darauf gerechnet, ich könnte einen braven Ehemann abgeben?! Wir würden uns als Eheleute nach vier Wochen wie Feuer und Wasser hassen –“

Sie begann zu weinen. Und die Tränen spülten das bißchen Reue schnell hinweg. –

Spät abends waren Versens und die anderen wieder in Christiania eingetroffen. Hedi hatte von Skien aus Viktor ihre Rückkehr telephonisch mitgeteilt. Aber er war nicht am Bahnhof erschienen. Als sie – es war kurz vor zehn – vor dem Haus der Frau Kapitän anlangte, bemerkte sie im Vorderzimmer des Erdgeschosses Licht. Viktor arbeitete also. – Die Haustür war noch offen.

Sie betrat das Zimmer. Er saß wirklich am Schreibtisch. Sie stellte schnell die Reisetasche hin und eilte auf ihn zu. Er war aufgestanden. Aber ihre weit geöffneten Arme sanken langsam herab, als er sehr ruhig sagte:

„Schenken wir uns diese Art von Begrüßung, Hedwig. – Bitte, nimm Platz. Ich habe mit dir zu reden –“

Er deutete auf einen der Sessel. Da erst sah sie, daß drüben in der Ecke auf dem Diwan Decken lagen, daß dort ein Bett hergerichtet war.

Sie begriff sofort; Viktor wollte mit ihr nicht mehr in demselben Zimmer schlafen.

Eine furchtbare Angst stieg in ihr auf. – Wie, wenn er sie hatte heimlich beobachten lassen? Wenn er alles wußte – alles, von jenem Tag, an dem sie mit Versen im Rasthaus Börsefoß geweilt hatte?

Sie wurde bleich, senkte den Kopf, ging unsicher nach dem Ses–sel, sank hinein und vergrub das Gesicht in den Händen, begann zu weinen. –

‚Ja,’ dachte sie, –‚ ja, er weiß alles! Was soll nun werden – was nur – was nur?!’

„ Hedwig,“ sagte er da schon sehr ernst, aber nicht unfreundlich, „wir beide müssen uns trennen. Unsere Ehe war wie ein auf Flugsand gebautes Haus. Ihr fehlte das Fundament – die wahre Liebe!“

Sie schluchzte stärker, wimmerte: „Oh mein Gott, ich will ja nie wieder – nie wieder so – so schlecht sein –“

„Schlecht sein?! – Oh – das warst du nicht. Niemand kann etwas für seinen Charakter. Wir passen eben nicht zueinander. Jedenfalls ist es mein fester Entschluß, eine Scheidung baldigst herbeizuführen.“

Sie ahnte noch immer nicht, daß nicht Eduard Versen den Anlaß zu diesem Entschluß gegeben. Sie erhob sich, lief zu Viktor hin, sank vor ihm in die Knie, umklammerte ihn, flehte, weinte.

„Ich weiß – ich bin schlecht. Aber ich werde gutmachen, lieber, lieber Viktor –“

Er glaubte, ihre Selbstvorwürfe gälten nur ihrer Launenhaftigkeit und ihrer Oberflächlichkeit.

Er führte sie halb mit Gewalt nach dem Sessel zurück. Er bedauerte sie sogar ein wenig. Ihr armseliges Seelchen in seiner ganzen Kläglichkeit verdiente mehr Mitleid als ein Gefühl des Widerwillens.

„Beruhige dich, Hedwig,“ sagte er etwas energisch. „Nicht du allein bist schuld daran, daß wir uns langsam auseinandergelebt haben –“

Sie horchte auf; ihre Tränen versiegten; sie lauschte gespannt.

„Auch ich fühle mich schuldig, Hedwig. Nicht nur deswegen, weil ich dir gegenüber zu nachsichtig war. Nein – ich habe deinetwegen etwas getan, was eine Sünde wider mich selbst war. Was, wirst du nie erfahren –“

Sie lauschte. Und sie war ja auf ihre Art klug, die schöne Frau Hedi. Eine Zentnerlast glitt von ihrem verängstigten Herzen. Sie jubelte still; er ahnte nichts!

„Wenn du nicht gutwillig mit einer Scheidung dich einverstanden erklärt,“ fuhr er fort, „muß ich dich sofort verlassen. Dann ist ein öffentlicher Skandal unausbleiblich. – Ich will frei sein. Nichts bringt mich davon ab. Vor mir liegt vielleicht noch ein langes Leben. Und dieses Leben will ich mir so gestalten, daß es wirklich verlohnt, den Kampf mit dem Dasein weiterzuführen –“

Da schnellte sie auf. Ihr Gesicht war verzerrt. Ganz dicht brachte sie ihren Mund an den seinen, zischte förmlich vor maßloser, jäh erwachter Wut:

„Du – du – ich begreife! Ich bin nicht blind, nicht dumm. Du – willst Sigrid Torstenson heiraten! Also deshalb bist du hier in Christiania geblieben – deshalb! Schäferstündchen werdet ihr gefeiert haben, ihr – ihr Ehebrecher!“

Er trat schnell zurück, – denn er hatte die Rechte schon zum Schlag erhoben gehabt. Er trat zurück, sagte dann, indem er auf die Tür des Schlafzimmers deutete:

„Geh’, – wir sind fertig miteinander!“

„Oh – fertig?“ rief sie kreischend. „Fertig?! Meinst du wirklich?! Du irrst! Niemals gebe ich dich frei – niemals! Und morgen früh soll diese Sigrid von mir die Wahrheit so gründlich hören, daß –“ Sie wußte nicht recht, was sie noch hinzufügen solle. Außerdem wurde ihr ja auch unter Viktors drohendem Blick plötzlich etwas bänglich zumute.

„Geh!“ sagte er nochmals kalt. „Geh’! Schade, daß ich um deinetwillen ein einziges Mal vom rechten Wege abgewichen bin –“

„Ah – so gibst du deine Untreue zu?“ fragte sie hämisch.

„Nein, – ich gebe nicht zu. Untreu war ich dir nicht, nur – mir selbst!“ – Er wandte sich um und setzte sich wieder an den Schreibtisch.

Frau Hedi lachte schneidend auf. „Gute Nacht, Viktor. Auf Wiedersehen – morgen!“

Er verstand die versteckte Drohung.

„Morgen? – Morgen wirst du in ein Hotel übersiedeln, ins Hotel ‚Skandinavia’. Das Zimmer habe ich bereits bestellt. Um neun kommt der Hausdiener und holt deine Koffer –“

„So?! – Warten wir ab! Ich weiche hier nicht vom Platz!“

Sie warf die Tür hinter sich zu.

Im Schlafzimmer ging sie noch eine Weile erregt auf und ab, ersann allerlei rachsüchtige Pläne, die doch sämtlich unausführbar waren, wie sie nur zu bald einsah. Sie hatte Viktor jetzt auch von einer anderen Seite kennengelernt; er war nicht mehr der nachgiebige Gatte, der vor jedem Tränenstrom kapitulierte; er konnte auch hart und unversöhnlich sein. Das wußte sie jetzt. Sie erkannte, wie falsch ihre Taktik ihm gegenüber gewesen. Auf diese Weise würde sie nie etwas erreichen. – Sie wurde ganz kleinmütig, weinte leise. Und als sie dann nicht einschlafen konnte, holte sie sich aus ihrem Koffer einen der Romane, die sie von Berlin aus dem Bücherschrank Viktors mitgebracht hatte, – Romane, die Freunde und Kollegen ihm geschenkt hatten.

‚Trugbold’ hieß der Roman, der ihr nun helfen sollte, müde zu werden und einzuschlafen.

Sie schlug den Vorderdeckel zurück. Dabei merkte sie, daß in der Mitte des Buches etwas zwischen den Seiten liegen mußte.

Ah – ein Brief. Und auf dem verschlossenen Umschlag zwei Worte. Das – das konnte Norwegisch oder Schwedisch sein. Das erste Wort bedeutete fraglos ‚Mein –’ – Und das zweite?

Sie besaß ja einen Sprachführer in Lexikonform für diese Reise ins Nordland. Sie blätterte darin; nun hatte sie das betreffende Wort:

‚Geständnis’ –!

Also: ‚Mein Geständnis’

Was bedeutete das? Wie kam dieser Brief in den Roman? – Sigrids Handschrift war es nicht. Es war eine Männerhandschrift.

Frau Hedi schnitt die Briefklappe sauber auf, zog den Briefbogen heraus, sah zunächst nach der Unterschrift:

Gunnar Alfström!

Das gab ihr einen förmlichen Ruck.

Nun war ihre Neugier erst recht gestiegen; nun suchte sie mit Hilfe des kleinen Sprachführers zu übersetzen.

Sie nahm Papier und Bleistift zu Hilfe. Manches vermochte sie nicht zu enträtseln. Aber die Hauptsachen verstand sie doch.

Sie grübelte jetzt wieder; ‚Wie ist dieser Brief in den Roman hineingelangt, wie nur?!’

Dann schaute sie das Schreiben nochmals an. Alfström hatte diese Beichte in Berlin verfaßt und – richtig, – gerade am Tage vor Viktors erfolgreichem Besuch bei den Verleger Grautner, der ihm die zweitausend Mark Vorschuß gegeben hatte.

Zweitausend Mark – in zwei Tausendmarkscheinen!

Und in der Beichte war von Tausendmarknoten ebenfalls die Rede.

Hedi stockte der Atem; wie ein Blitz war ihr die Erkenntnis gekommen. – Ja – ja, so mußte der Zusammenhang sein! Hatte nicht Viktor vorhin von einer Schuld gesprochen, die er ihretwegen auf sich geladen?! – Ja – es konnte nur so sein.

Oh – wie triumphierte sie jetzt. Jetzt hatte sie ihn in ihrer Gewalt! Er würde jetzt noch bitten müssen, daß sie bei ihm blieb, daß sie ihn nicht anzeigte.

Sie freute sich auf den kommenden Morgen. Da wollte sie ihm in Gegenwart Sigrids das Schreiben vorweisen; da wollte sie schlau die nachsichtige, verzeihende Gattin spielen. – Und Sigrid? Die würde sich mit Abscheu von ihm wenden – von dem Dieb, dem Leichenfledderer. –

Jetzt schlummerte sie ein. – Und sie schlief fest und traumlos wie eine Siegerin.

*

An demselben Abend saß Holger Bark in seinem Arbeitszimmer am altertümlichen Schreibtisch und las Sigrid Torstensons ersten Roman, den sein Schulfreund Livendaal ihm mit den Worten heute überreicht hatte: „Ja, Holger, – aus dieser vorzüglichen Arbeit lernst du Sigrid Torstenson am besten kennen – besser als je zuvor. Wir haben den Roman erworben und beginnen demnächst mit der Veröffentlichung. Ich sage Fräulein Torstenson eine große Zukunft als Schriftstellerin voraus. Sie besitzt eine Begabung, die nicht alltäglich ist –“

Livendaal wußte, daß sein Freund Holger das schöne Mädchen noch immer mit sehnsüchtigen Wünschen verfolgte. Er hoffte, Bark würde beim Lesen des Romans einsehen, daß ein Weib wie Sigrid niemals eine halbe Vernunftsehe mit einem weit älteren Mann, wie Holger es war, schließen würde; er wollte Bark endlich von dieser Liebeskrankheit heilen, die den Ärmsten besonders in der letzten Zeit auch äußerlich so ungünstig verändert hatte. –

Frau Bark trat schüchtern ein. –

„Störe ich, Holger –?“

„Nein, Mutter. Im Gegenteil. – Bitte, setz’ dich. Ich lese hier gerade Sigrids Roman. ‚Der blaue Fjord’. – Ja – wer hätte das je gedacht, Sigrid Torstenson wird eine berühmte Schriftstellerin werden, ohne Zweifel. Jedenfalls ein Glück, daß sie meine Werbung ablehnte –“

Frau Bark knetete erregt die fettgepolsterten Hände. „Ein Glück?“ meinte sie. „Wie soll ich das verstehen, Holger?“

„Hätte ich Sigrid geheiratet, wäre ihr Talent unter dem Druck der Pflichten einer mäßig bemittelten Hausfrau verkümmert. Jetzt aber wird sie hoffentlich an der Seite eines Mannes, den sie offenbar mit ganzer Seele liebt, den Flug zur Sonne antreten. Ich gönne ihr diesen Aufstieg und ein großes Liebesglück von Herzen –“

Frau Bark war wie erstarrt. –

„An der Seite eines Mannes?“ wiederholte sie ungläubig „Ja – um alles in der Welt, – wer ist denn dieser –“

„Du kennst ihn,“ fiel ihr Sohn ihr ins Wort. „Und du findest ihn sehr sympathisch, Mutter. Es ist Viktor Ziegler, der mit seiner Frau in sehr unharmonischer Ehe lebt und der die letzten Tage, seit Sigrid die Stellung bei dem Anwalt kurzer Hand gekündigt hat, mit ihr dauernd zusammen war. Den Nachmittag und den Abend verlebten sie regelmäßig auf dem Fjord. Mein Boot trug sie in ihr Liebesnestchen –“

„Nein – wie kann ein Mann nur so selbstlos sein!“ rief Frau Bark kopfschüttelnd. „Holger, Holger, – du wirst noch zu Grunde gehen über dieser Liebesenttäuschung. So mager wie jetzt warst du nie –“

„Ja – selbstlos bin ich vielleicht.“ Er seufzte leise. „Ich werde mich durch meine Berufsarbeit trösten lassen. Ich habe jetzt die feste Absicht, gleichfalls berühmt zu werden. Und dazu gehört die Höchstanspannung aller Geisteskräfte. Darüber werde ich Sigrid als Weib schnell vergessen. Als Freundin wird sie mir stets nahestehen. Uns verbinden genug gemeinsame Erinnerungen ernstester Art.“

Frau Bark wiegte den Kopf hin und her. „Erst gibt sie den Alfström so leichten Herzens wie einen Toten auf, und nun – nun verliebt sie sich in einen verheirateten Mann,“ murmelte sie vor sich hin. „Ach – was wird wohl bei dieser Liebe herauskommen?! Zieglers Frau ist doch nicht so einfach beiseite zu schieben! Ich jedenfalls begreife Sigrid nicht –“

Das Telephon auf dem Schreibtisch schlug leise an. Holger Bark meldete sich, lauschte dann.

Sein Gesicht, das von der elektrischen Hängelampe scharf beschienen wurde, nahm plötzlich einen so bestürzten Ausdruck an, daß Frau Bark entsetzt aufstöhnte:

„Mein Gott – was ist denn geschehen?“

Er winkte ihr zu und sprach dann in den Hörer hinein: „Ja – das wäre mir am bequemsten. Kommen Sie bitte sofort zu mir, Herr Mannhard. Auf Wiedersehen.“ –

Er hing den Hörer weg. Seine Augen begegneten denen seiner Mutter. Er nickte ihr ernst zu.

„Eine sehr wichtige dienstliche Besprechung mit einem Berliner Kollegen, den ich bereits persönlich von früher her kenne.“ –

Eine kleine Pause. Er holte tief Atem, setzte die Brille auf. „Es handelt sich um Personen, die mir nahe stehen, Mutter. Daher mein Erschrecken. Du bist wohl so lieb und bringst eine Flasche Rotwein und zwei Gläser. Morgen erzähle ich dir, was Kommissar Mannhard hier bei mir zu erledigen hatte.“–

Kurz vor zehn Uhr abends betrat der Berliner Kollege dann Holger Barks Arbeitszimmer. –

Sie nahmen Platz. Der Kommissar, ein eleganter, schmächtiger Herr mit dem Aussehen eines Gelehrten, kam sehr bald auf seinen hiesigen Mission zu sprechen.

„Ich deutete ja schon telephonisch an, bester Herr Bark, daß es sich in einer Beziehung um dieselbe Angelegenheit handelt, derentwegen Sie unlängst in Berlin waren. Sie suchten dort einen Ingenieur Gunnar Alfström, und Sie sagten mir, Sie seien in diesem Fall mehr als Privatperson tätig und müssten um strengste Diskretion bitten. Sie – hm ja. Sie fanden Alfström dann nicht und reisten wieder ab.“

Mannhard hatte den Kollegen bei dem letzten Satz prüfend angeschaut. „Wenigstens wollten Sie in der Leiche des im Grunewald kurz vorher entdeckten Selbstmörders jenen Alfström infolge der Entstellung des Gesichts durch Schnabelhiebe von Krähen nicht wiederzuerkennen imstande sein –“

Holger Bark blickte den Kollegen fest an. „Warum sagen Sie nicht ganz offen, daß Sie argwöhnen, ich hätte damals – gelogen?“ meinte er ruhig. „Ich gebe dies jetzt auch zu. Meine Beweggründe für die Unwahrheit sollen Sie nachher hören.“

„Oh – ich glaube sie zu kennen, besster Herr Bark. Sie wußten eben, daß Alfström ein Mörder war, daß er eine große Summe seinem Opfer abgenommen hatte und daß Alfströms Braut für alle Zeit schwer bloßgestellt sein würde, falls dieses Verbrechen ihres Verlobten ruchbar werden sollte. Als sie nun die Leiche des Mörder, der sich selbst gerichtet hatte, vor sich sahen, beabsichtigten Sie Ihre Landsmännin Sigrid Torstenson zu schonen. Dies mag ja nun sehr edel gedacht gewesen sein, nur – nur ist jetzt leider ein neues Moment hinzugetreten, das Ihren damaligen Edelmut zu meinem ehrlichen Bedauern illusorisch macht –“

Holger Bark stierte den Kollegen geradezu entsetzt an. –

„Alfström – ein Mörder?“ fragte er stockend. „Auf mein Wort, ich habe hiervon bis zu dieser Minute nichts – nichts gewußt!“

Der Kommissar reichte ihm die Hand. „Ich glaube Ihnen ohne weiteres, lieber Herr Bark. Wir sind ja auch nur nach mühseligen Nachforschungen hinter diese Geschichte gekommen. Ich habe meinen Schädel verteufelt anstrengen müssen, um die Zusammenhänge herauszufinden. – Die Sache ist ganz kurz die: In Berlin wird ein Bote einer Bank in einem Hausflur überfallen. Der Täter raubt ihm eine Tasche mit Wertpapieren und 148000 Mark in Tausendmarkscheinen, deren Nummern in der Kasse der Bank aber genau verzeichnet worden waren. Ich werde mit der Untersuchung beauftragt und bekomme bald heraus, daß der Täter wahrscheinlich ein von derselben Bank vor kurzem entlassener Bürobeamter namens Bölkin ist, ein ziemlich fragwürdiges Subjekt. Bölkin ist seit dem Überfall aus Berlin verschwunden. Seine Spur weist nach Schweden, endigt in Trollhätta. Ich spielte in Trollhätta den harmlosen Touristen. Auch Sie, bester Bark, waren zur selben Zeit dort, ebenso Siegfried Torstenson. Sie erkannten mich nicht – natürlich nicht. Wir wären ja Stümper, Kollege, wenn wir nicht einmal unsere Alltagsvisage geschickt ummodeln könnten. Sie und Fräulein Torstenson reisten dann ab. Sie hatten Gunnar Alfströms Verschwinden aufklären wollen. Das hatte ich schnell herausgekriegt. Die Sache interessiert mich jedoch nicht. Weit mehr interessiert mich der Tote, den man aus den Fällen herausgezogen hatte und der infolge der Verletzungen an den Felskanten nicht mehr zu rekognoszieren gewesen war. Der Mann konnte Bölkin sein – konnte! Da er aber nichts an Papieren oder dergleichen bei sich gehabt hatte, vermochte auch ich nicht festzustellen, ob’s Bölkin wirklich gewesen.

Ich fuhr also zunächst nach Berlin zurück, ließ aber meinen Begleiter, einen sehr eifrigen Anfänger namens Welzdorf, in Trollhätta zurück. In Berlin kamen sie dann zu mir Alfströms wegen. Sie wollten dessen Spuren bis Berlin verfolgt haben.

Da wurde der Selbstmörder gefunden. Ich begleitete Sie nach dem Schauhaus, nachdem ich Ihnen mitgeteilt hatte, dieser Selbstmörder könne ein Nordländer sein. Sie behaupteten jedoch, es sei nicht Alfström. Trotzdem merkte ich, daß hier etwas nicht stimmte. Schon damals hatte ich das Gefühl, Sie hätten mit der Wahrheit aus irgendeinem Grund zurückgehalten. –

Bald darauf meldete mir Welzdorf aus Trollhätta folgendes: Er hatte herausgebracht, daß ein einwandfreier Zeuge, ein Arbeiter, eines Mittags kurz hintereinander zwei Männer beobachtet hatte, die eins der Inselchen in den Fällen betreten hätten. –

Der zweite Mann war Alfström gewesen. Der erste sehr wahrscheinlich der Tote aus den Fällen – also vielleicht Bölkin. –

Weiter hatte mein Unterbeamter ausgekundschaftet, daß Alfström ein Spieler und daß er außerdem einem in Trollhätta umlaufenden Gerücht nach aus der Kasse des Kraftwerks 18000 Kronen unterschlagen hatte. –

An demselben Tage, als Welzdorfs Schreiben bei mir eintrat, wurde nun auch bei einem Pfandleiher in Charlottenburg, der Nachbarstadt Berlins, einer jener Tausendmarkscheine angehalten, der aus dem Raub Bölkins herrührte, wie sich aus der festgehaltenen Nummer ergeben hatte. Der Pfandleiher konnte nun noch genau sich entsinnen, wer ihm diese Banknote in Zahlung gegeben hatte: ein Schriftsteller Viktor Ziegler beim Auslösen verschiedener verpfändeter Gegenstände –“

„Arme Sigrid,“ sagte Bark leise.

„Ja – ganz recht, bester Kollege,“ nickte Manhard. „Alfströms Verbrechen ist jetzt kaum mehr zu verheimlichen. Das Mädchen kann einem leid tun. – Doch – zur Sache zurück. – Wir beschäftigten uns näher mit Ziegler. Ich habe seine Wohnung durchsucht. Und – ich fand in seinem Bücherschrank hinter einer Reihe von Lexika eingelegt in einen zerfetzten illustrierten Zeitungsband – 142 000 Mark, – gerade alles Tausendmarkscheine. Und auch die Nummern stimmten. –

Ich überlegte mir, wie Ziegler, der sich eines tadellosen Rufes erfreut, zu dem Raub Bölkins gelangt sein könnte. Es gab da nur eine Erklärung. Er mußte Alfström, den Selbstmörder, zufällig im Grunewald bemerkt und den Toten beraubt haben, der wahrscheinlich aus Gewissensbissen Hand an sich gelegt hatte. –

Ich bin Ziegler nun nachgereist und heute Nachmittag hier in Christiania eingetroffen, weiß bereits, daß Ziegler fünf Häuser weiter bei Sigrid Torstensons Mutter wohnt und daß er mit Sigrid sich weit mehr beschäftigt als mit seiner Frau. Bevor ich ihn nun morgen verhaften werde, wollte ich mich mit Ihnen noch aussprechen, bester Herr Bark. Es wird sicher ja unter diesen Umständen nicht umgehen lassen, daß Ihre Reise nach Berlin erwähnt wird. Aus Ritterlichkeit haben Sie damals so getan, als wäre Ihnen jener Selbstmörder ein Wildfremder –“

„Nicht aus Ritterlichkeit,“ sagte Holger Bark da schnell. „Nein, Kollege, – aus Liebe zu Sigrid log ich.“ Und er berichtete Mannhard nun seinen ganzen Herzensroman, sprach auch von Sigrids jungem Liebesglück mit Viktor Ziegler, von Frau Hedi, die eine seelenlose Puppe sei, und von seiner festen Überzeugung, daß Viktor Ziegler nur in einem Zustand höchster seelischer Niedergeschlagenheit den Selbstmörder bestohlen haben dürfte.

Mannhard runzelte die Stirn, meinte ärgerlich:

„Wieder mal so eine Gelegenheit, lieber Bark, wo der Mensch und der Beamte miteinander in Konflikt geraten. Der Mensch Mannhard möchte Ziegler schonen; der Beamte darf es nicht. – Ich kann nicht anders, ich muß ihn verhaften! Er wird ja mit einer ganz geringen Strafe davonkommen, so, wie die Dinge liegen.“

Holger Bark nickte nachdenklich. Plötzlich stand er auf und holte aus dem Bücherschrank ein dickes Buch, blätterte darin, sagte dabei:

„Es sind dies die zwischen Norwegen und den anderen Staaten abgeschlossenen Auslieferungsverträge. Ich muß doch einmal zusehen, ob nicht vielleicht – ach – da habe ich’s schon. – Sehr interessant, Kollege. Lesen Sie bitte diesen Zusatzparagraphen –“

*

Viktor Ziegler hatte nach der erregten Aussprache mit Hedi noch lange tief in Gedanken versunken am Schreibtisch gesessen. Er wußte jetzt, daß seine Frau gutwillig sich mit einer Scheidung nie einverstanden erklären würde, und er fürchtete um Sigrids Willen eine Begegnung dieser und Hedi, bei der Hedi doch fraglos Sigrid in unfeinster Weise beschimpfen würde. Er hatte erst jetzt so recht erkannt, daß seine Frau nicht nur eine seelenlose Marionette, sondern auch ein Wesen von fast abstoßenden Charaktereigenschaften war.

Er grübelte und grübelte, wie er wohl am besten Sigrid vor einem Zusammentreffen mit Hedi schützen könnte. Dann kam ihm schließlich doch ein guter Gedanke. Er ging zu Bett und nahm sich fest vor, bereits um sieben Uhr wieder munter zu werden. Er kannte sich, er selbst war sein bester Wecker! Er wachte genau um die Stunde auf, wie er’s beabsichtigte. –

Frau Hedwig war stets eine Langschläferin gewesen.

Wenn sie heute bereits um acht Uhr das Bett verließ, so geschah’s nur, weil sie die Zeit kaum erwarten konnte, wo sie mit dem Brief des Selbstmörders in der Hand vor Viktor hintreten konnte.

Sie kleidete sich schnell an. Als sie sich frisiert hatte, suchte sie umsonst nach einer Haarspange aus Schildpatt, die mit kleinen Brillanten verziert war und die sie von Viktors Vater vor drei Monaten zum Geburtstag als Geschenk erhalten hatte. Sie suchte bis ihr einfiel, daß die Spange ihr ja bereits in Dahlen gefehlt hatte. Das hatte sie jetzt bei den Gedanken an ihren bevorstehenden Triumph über Sigrid ganz vergessen. –

Sie betrat nun das Nebenzimmer. Viktor war nicht da. Sie ging zu Frau Torstenson hinauf, fragte, wo ihr Mann sei und ob sie Fräulein Sigrid sprechen könne.

„Die beiden sind bereits um acht Uhr ausgegangen. Wohin weiß ich nicht,“ erklärte die Frau Kapitän unfreundlich.

Hedi schoß alles Blut zu Kopf. „Ah!“ rief sie. „Ich merke, Viktor weicht mir aus! Es soll ihm nicht helfen! – Und Sie, Frau Torstenson, Sie sollten mal Ihrer Tochter gehörig den Kopf zurechtsetzen – gehörig! Sie hat eine Liebelei mit meinem Mann und wenn sie von diesem nicht ablässt, werde ich sie wegen Ehebruch anzeigen und Sie – Sie – wegen – Kuppelei!“ Sie wußte kaum noch, was sie redete. Die Enttäuschung, Sigrid und Viktor hier nicht sofort vorgefunden zu haben, raubte ihr jede Überlegung. Es wäre nun zu einer heftigen Szene zwischen ihr und der Frau Kapitän gekommen, wenn nicht gerade jetzt die Flurglocke sehr energisch geschellt hätte. Hedi eilte hinunter, in der Hoffnung, es könnte vielleicht Viktor sein, riegelte die Haustür auf und sah sich Holger Bark und einem fremden Herrn gegenüber, den Bark ihr dann als ‚Herr Mannhard aus Berlin, ein Landsmann von Ihnen’ vorstellte mit dem Hinzufügen, sie hätten mit Herrn Ziegler etwas zu besprechen.

Hedi war auch jetzt noch leidlich von dem Wunsch beherrscht, von dem für Viktor so vernichtenden Beichtbrief Alfströms schleunigst jemanden Mitteilung zu machen, der zu Sigrid in irgendwelchen Beziehungen stand. Da kam ihr nun Holger Bark, Sigrids abgewiesener Freier, gerade recht.

Sie führte die beiden Herren in Viktors Arbeitszimmer. In ihrer rachsüchtigen Stimmung und ihrer Wut darüber, daß Sigrid und Viktor schon früh wieder gemeinsam das Haus verlassen hatten, beachtete sie nicht im geringsten, was daraus entstehen könnte, wenn Holger Bark den Brief las und den ganzen Zusammenhang der Dinge erfuhr.

In ihren Zügen drückte sich geradezu widerwärtig all der Haß aus, der in ihrem Seelchen flackerte, als sie nun den Brief Holger Bark mit den Worten reichte:

„Da – das fand ich gestern Abend durch einen Zufall in unserem Koffer. Mein Mann betrügt mich mit Sigrid Torstenson – mein Mann, der doch Sigrids Verlobten offenbar damals Grunewald bestohlen hat, ihn, einen Toten!“ Sie lachte schneidend auf. „Ein feines Pärchen, diese Sigrid und mein Viktor. Scheiden lassen soll ich mich. Und dann wollen die beiden heiraten! – Ja, lesen Sie nur, Herr Bark, – lesen Sie! Alfström gibt in dem Brief zu, den Fremden auf dem Inselchen in den Fällen ermordet, beraubt und ins Wasser geworfen zu haben. Und Viktor hat dann Alfströms Erbschaft angetreten – das Erbe eines Selbstmörders –“

Holger Bark und Mannhard tauschten beredte Blicke. Bark war sehr betrübt, daß dieses sinnlose Weib nun das zerstören würde, was er mit dem deutschen Kollegen zu Sigrids Bestem verabredet gehabt hatte.

Draußen im Flur hatte es wieder geläutet. Es klopfte. Dann trat ein Postbote ein, reichte Frau Hedi ein eingeschriebenes Päckchen.

„Aus dem ‚Hotel Hardanger’ in Dahlen,“ meinte er.

Hedi war recht ärgerlich über die Störung. Trotzdem überwog die Neugier sie, das Päckchen sofort zu öffnen. Es enthielt die verlorengegangene Haarspange und ein kurze Schreiben.

Frau Hedi überflog dieses, wurde erst sehr rot, dann so bleich, daß Mannhard hier sofort etwas Besonderes witterte. Ehe sich’s Hedi versah, hatte er ihr mit raschem Griff das in miserablem Deutsch abgefaßte Schreiben, das sie schnell hatte in der Tasche verschwinden lassen wollen, entrissen.

Wie eine Katze sprang sie da auf ihn ein, wollte ihm fast an die Kehle, kreischte: „Geben Sie mir sofort –“ –

Da hatte Holger Bark sie jedoch schon am Arm gepackt und zerrten sie zurück.

Sie erkannte, daß sie verspielt hatte. Sie sah, daß Mannhard mit großen Augen das Schreiben schon überflogen hatte; sank aufheulend in den nächsten Sessel, vergrub das Gesicht in den Händen und wimmerte:

„Es ist Lüge – Lüge. – Ich – ich war nie im Börsefoß-Rasthaus –“

Mannhard sagte jetzt zu Holger Bark, indem er ihm den Briefbogen hinhielt: „Diese Haarspange rettet Viktor Ziegler vor der Rachsucht dieser – hm – Dame –“ –

Das Schreiben lautete:

Frau Hedwig Ziegler

Christiania

Sie haben verloren im Zimmer Nr. 5 des Rasthauses Börsefoß diesen Haarschmuck, wo Sie sich mit Herrn Eduard Versen haben ausgegeben als Ehepaar, und in Dahlen habe ich erfahren Ihre richtigen Namen.

Sven Drollgaard

Besitzer des Rasthauses

Holger Bark wandte sich an die entlarvte Sünderin.

„Frau Ziegler,“ sagte er kalt, „Sie werden über den Brief des Selbstmörders jedem gegenüber schweigen, falls Sie nicht wegen Ehebruchs bestraft werden wollen –“

Sie jammerte jetzt, völlig mutlos geworden; „Ich bin mit einer Scheidung einverstanden. Bestellen Sie das Viktor. Ich reise noch heute zu meinen Eltern nach Berlin zurück. Sie werden mich arme, enttäuschte Frau gern wieder aufnehmen bei sich. Sie waren stets so nachsichtig und gut zu mir –“

Die beiden Herren verließen wortlos das Zimmer.

Auf der Straße erklärte Holger: „Falls mein Segelkutter an seinem Liegeplatz fehlt, weiß ich, wo wir Viktor Ziegler finden werden. Wir nehmen dann ein anderes Segelboot und erledigen das nötige fernab von allen lästigen Zeugen –“ –

Das Inselchen beherbergte zwei, die Abschied von einander nehmen wollten – für immer vielleicht.

Viktor hatte sich ja bereits in der verflossenen Nacht vorgenommen gehabt, Sigrid ein volles Geständnis abzulegen. Dann sollte sie entscheiden, ob es ihr möglich sei, noch ferner an ihm festzuhalten. –

Die junge Frau saß auf einem bemoosten Felsblock; er auf einem flachen Stein zu ihren Füßen. So hatten sie oft gesessen, so sehr oft in den letzten Tagen. –

Und Viktor hatte jetzt gebeichtet, während sein Kopf sich an ihre Knie lehnte; hatte ihr erklärt, wie damals alles gekommen, wir er doch schließlich nur Hedis wegen zum Dieb, zum Verbrecher und – zum Erben Gunnar Alfströms geworden.

Sigrid hatte ihn mit keinem Wort unterbrochen. Nur ganz leise aufgeschluchzt hatte sie ein paarmal. Und ihre Hand hatte in sanfter Liebkosung über sein Haar hingestrichen.

Auch von der gestrigen, so unerquicklichen Szene mit Hedi sprach er dann. „Sie wird mich nie freigeben. Nicht etwa, daß Sie mich dir nicht gönnt, Sigrid. Nein – geliebt hat sie mich nie. Frauen wie sie begehren nur. Ihre Begierde halten sie für Liebe. Und so wird sie um mich kämpfen mit allen Mitteln, wird den Prozeß vielleicht jahrelang hinziehen, – nur, um ihre Rache zu haben. Ja – so kleinlich ist sie. – Und all die Widerwärtigkeiten dieses Prozesses sollen mich langsam zermürben. Darauf hofft sie –“ –

Er schwieg und wartete nun auf Sigrids Entscheidung.

Sie beugte sich vor, schmiegte ihre Wange an die seine. Er fühlte, daß ihre Haut feucht war von Tränen.

„Vor mir stehst du rein und schuldlos da,“ begann sie mit ihrer klaren, festen Stimme. „Deine damalige – Unbesonnenheit würde mich nicht abhalten, dein zu bleiben. Aber – du kennst mich; ich bin eine zu gerade Natur, um dich als mein eigen zu betrachten, während du noch gesetzlich einer anderen gehörst. Wir wollen auseinandergehen, Viktor, – wir müssen es. Vielleicht nur für vorläufig. Wenn du dann deine volle Freiheit errungen hast und wenn du dann noch genau so denkst wie heute, dann – komme wieder. Inzwischen werde ich, noch reifer geworden durch diese neue Prüfung, vielleicht den Weg zum Ruhm gefunden haben. Ich sehe ein Ziel vor mir. Und das wird mir hinweghelfen über die Trennung.“

Sie erhob sich, stand nun vor ihm mit ihrem ernsten, durchgeistigten Gesicht, das für ihn jetzt so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Hedis hatte. Nein – Hedis Antlitz fehlte die Seele.

Sie reichte ihm beide Hände. „Leb’ wohl, Viktor! Sei stark! Laß dich durch den Kampf um deine Freiheit nicht zermürben. Ich werde dich nie vergessen und deiner harren.“

Schlicht wie ihr ganzes Wesen waren auch diese Worte. Zärtlichkeiten, Küsse, hatten sie nicht mehr getauscht seit dem Tage, da sich ihre Herzen gefunden.

Dann ging sie ihm voraus dem Boot zu. Auf der Höhe des Talrandes blieben sie stehen, schauten den blauen Fjord nach Süden hinab.

Ein zweites Segelboot hatte soeben neben dem ihrigen angelegt. Sie bemerkten es nicht. Sie standen bewegungslos, hatten die Hände ineinander verschlungen.

„Ich komme wieder,“ sagte Viktor Ziegler laut. Und das war wie ein Schwur. –

Irgendwann wandten sie sich um, stutzten. Holger Bark und Mannhard schritten auf sie zu. –

Holger grüßte nur, ließ Mannhard sprechen. Und der Kommissar berichtete zunächst von der Beraubung des Kassenboten, dann von dem Beichtbrief Alfströms.

Da unterbrach Sigrid ihn. „Also daher das Geld, das Viktor nachher an sich nahm,“ sagte sie ruhig. „Alles weitere weiß ich, Herr Kommissar. Viktor hat mir alles gestanden. Er wird das Geld zurückgeben – bis auf den letzten Pfennig. Seine Strafe kann dann kaum hart ausfallen.“

„Der fehlende Rest des Geldes ist bereits in meinem Besitz, Fräulein Torstenson,“ erklärte Mannhard. „Eine Bestrafung kommt nicht in Frage, da Norwegen dieserhalb nicht an Deutschland ausliefert. –

Ihre Gattin aber, Herr Ziegler, hat sich eines Treuebruchs schuldig gemacht. Dieses Schreiben beweist es.“

Sigrid war dicht an Holger Bark herangetreten. „Holger, nicht wahr, Sie haben das fehlende Geld ersetzt?“ –

Er schaute zu Boden. Da legte Sigrid ihm die Arme um den Hals und küßte ihn und meinte dann: „Besser kann ich Ihnen nicht danken, Sie guter Mensch.“

Holger und Mannhard grüßten wieder, bestiegen ihr Boot und segelten davon.

Sigrid aber zog Viktor in das kleine Tal hinab und ihre Stimme war voll heißer Zärtlichkeit, als sie sagte:

„Jetzt bist du frei, mein Geliebter. Die Andere hat selbst das Band zwischen euch zerschnitten.“

Sie warf sich an seine Brust; und ihre Lippen suchten die seinen.

„Ich komme mir vor wie entsühnt, Sigrid,“ meint er dann, sie noch immer umschlungen haltend. „Das Erbe Alfströms ist von mir genommen. Der Weg zur Sonne, zum Glück ist frei –“

Er schaut an ihr vorüber in den blauen, endlosen Äther. Und er glaubte ganz deutlich ein stilles Totenantlitz zu sehen, dessen Züge gleichfalls ein befreites Lächeln verschönte.

 

 

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Fussnoten:

1 Glücksspiel

2 Glücksspiel

3 Betrügers