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Liebesnot

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 374

Liebesnot.

Roman von

Karla Walther.

 

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

Herr Kammler versuchte umsonst in Körperhaltung und Gesichtsausdruck seine sonstige vornehme Gelassenheit zu bewahren. Sein magerer Kopf mit dem leicht ergrauten Spitzbart und seine hohe schlanke Gestalt, die stets in denselben bereits recht fadenscheinigen Gehrock eingezwängt war, bot in jeder Linie das Bild eines überführten Sünders dar.

Die beiden Männer, die in dem Privatkontor der Firma Aarenhus sich gegenüberstanden, waren in diesem Augenblick zu erbitterten Feinden geworden. Hektor Aarenhus betrachtete den um zwanzig Jahre Älteren nun mit Blicken, in denen nicht lediglich die Empörung über die Unterschlagung der Postanweisung sich widerspiegelte.

Nein – auch versteckter Triumph lag darin, und vielleicht auch noch die höhnische Freude eines Menschen, der einen, den er bisher seine Standes wegen so etwas respektiert hatte, nun gedemütigt sah.

„Herr Major,“ sagte Hektor Aarenhus leise, und seine Stimme sollte dabei teilnehmend klingen, „wie konnten Sie – gerade Sie sich dazu hinreißen lassen, etwas derartiges zu tun?! Weshalb vertrauten Sie sich mir nicht an??! Ich hätte Ihnen doch Geld vorgeschossen. Sehr gern sogar.“

Sie waren gleich groß, der Major a.D. Ferdinand Kammler, jetzt Buchhalter bei der Zigarettenfabrik Helios, und deren Inhaber, der elegante Herr Hektor Aarenhus, der stets betonte, daß er geborener Schwede sei, worauf freilich schon seine blaugrauen Augen und sein blondes, gescheiteltes Haar hinwiesen. Als der Major nun langsam den Kopf hob und ebenso langsam die halbgeschlossenen Lider weiter öffnete, da schossen zwischen diesen Blicke hervor, die auf Aarenhus wie drohende Dolchspitzen wirkten.

„Weshalb – weshalb starren Sie mich so an?!“ stotterte der schöne Hektor verwirrt und trat schnell einen Schritt zurück. Noch nie hatte er in Kammlers Augen diesen Ausdruck gesehen, noch nie. Da war etwas von der sinnlosen Wut eines geprügelten Hundes darin, der seinen Herrn, seinen dauernden Peiniger, insgeheim haßt. Da war noch etwas, das den schlanken, patenten Aarenhus warnte. –

Aber – all das war auch nur für Sekunden aus diesen dunkelbraunen, großen Augen abzulesen, die so sehr denen Margot Kammlers glichen, – so sehr, daß Hektor den Major beinahe nur diese Augen wegen vor vier Monaten als Buchhalter mit sechshundert Mark Gehalt eingestellt hatte.

Nur für Sekunden. Ferdinand Kammler fiel zur rechten Zeit ein, daß er es mit Aarenhus nicht verderben dürfe.

In seinen Augen war wieder ein geradezu demütiger, schuldbewußter und flehender Ausdruck getreten.

„Herr Aarenhus,“ sagte er genau so demütig, „wie hätte ich’s wohl wagen sollen, Sie um ein Darlehn zu bitten, wo ich doch mein Gehalt für ein Vierteljahr bereits vorraus habe. Ich habe die Postanweisung und die 512 Mark unterschlagen, weil ich den Betrag decken, das heißt, die Anweisung in kurzem richtig erledigen zu können hoffte. Nun sind Sie doch dahinter gekommen. Und nun muß ich wenigstens den Versuch machen, meine Tat so etwas zu rechtfertigen. Sie kennen meine Verhältnisse. Nur – meine Frau kennen Sie nicht, meine zweite Frau –“

Hektor Aarenhus winkte liebenswürdig mit der Hand ab. „Eine Rechtfertigung mir gegenüber ist unnötig, Herr Major. Ich werde die ganze Sache als ungeschehen betrachten. Das Geld, die 512 Mark, könnten wir allmählich von Ihrem Gehalt abziehen. Oder –“ – Er zauderte ein wenig – „oder aber, wir regeln’s auf die Weise, daß Sie – hm ja – daß Sie – mich bei meiner Werbung um Fräulein Margots Hand etwas – unterstützen –“

„Margot?“ fragte der Major jetzt. „Margot?! – Ja aber – ich habe nie bisher gemerkt, daß Sie – irgendwie für Margot Gefühle hegen, die –“ Er führte den Satz nicht zu Ende. Er konnte es gar nicht fassen. Aarenhus bewarb sich um seine Einzige?! Das – das erschien ihm so – so gänzlich unmöglich, als ob ihm jemand soeben zugemutet hätte, nochmals eine Unterschlagung zu begehen.

Hektor Aarenhus war ein guter Menschenkenner.

Und so sagte er denn schnell:

„Herr Major, ich habe Ihr Fräulein Tochter vom ersten Augenblick an geliebt. Tatsächlich! Ehrlich geliebt. Ich habe nur meine Gefühle vorsichtig verschleiert, obwohl ich anderseits behaupten möchte, daß Fräulein Margot sehr wohl weiß, wie es um die steht –“

Der Major zog mit einer ihm zur Gewohnheit gewordenen Handbewegung den zu engen Gehrock glatt und richtete sich noch straffer auf.

„Das – das glaube ich nicht, Herr Aarenhus,“ erwiderte er sehr bestimmt. „Nein – Margot ahnt nicht, daß Sie irgend welche ernsten Absichten haben. Niemals ahnt sie das –“ – Er dachte dabei an Herbert von Osternitz, den Vetter seiner zweiten Frau.

Unwillkürlich verglich der Major jetzt die beiden Freier miteinander. Den einen hatte er ja dicht vor sich. Und – der konnte sich als Mann sehen lassen, dieser Hektor Aarenhus. Das war ein Mensch wie aus einem Guß; fast plebeisch gesund und frisch, aber das schmale Gesicht mit der messerscharfen, etwas großen, geraden Nase und dem leicht hochgekämmten blonden Schnurrbart hatte etwas an sich, das nach Rasse aussah, – hätte vielleicht vornehm gewirkt, wenn nicht um die Augen und den vollen, sinnlichen Mund dieser Zug von – unverfrorenem Selbstbewußtsein zu stark ausgeprägt gewesen wäre.

Und dagegen Herbert von Osternitz, Oberleutnant a.D., jetzt Volontär am städtischen Gaswerk mit dreihundert Mark monatlich und einhundertundachtzig Mark Militärpensionen?

Der Major gab das Vergleichen auf. Denn, wenn er ehrlich sein sollte, so mußte er Hektor Aarenhus den Vorzug geben.

Aber Ferdinand Kammler wollte nicht ehrlich sein! Alles in ihm sträubte sich anzuerkennen, daß Hektor Aarenhus äußerlich den Vorzug verdiente. Der blieb doch immer nur der frühere Geschäftsreisende mit dem oft so ‚schnodderigen’ Ton, der blieb für ihn stets der – Kriegsgewinnler, der weiß Gott woher das Geld erworben hatte, mit dem er dann hier in der so günstig gelegenen Seestadt eine Zigarettenfabrik trotzte der für die Tabakindustrie so schlechten Zeiten gründete. –

„Das glaube ich nicht!“ wiederholte der Major jetzt nochmals –zerstreut. „Wirklich nicht, Herr Aarenhus. Ich bin doch nicht blind –“

Hektor lächelte. Bescheiden war dieses Lächeln nicht. Nein – es war ironisch überlegen. Kammler meinte, er sei nicht blind! Eigentlich geradezu klassisch, diese Selbstüberschätzung! – Nicht blind! Und dabei grinste schon die ganze Hafenstraße, wenn Frau Ellinor Kammler, geb. von Osternitz, sich von diesem lächerlichen Knaben, dem Herbert, nach Hause bringen ließ!

„Trotzdem ist es so, Herr Major,“ meinte Aarenhus höflich. „Fräulein Margot weicht mir so geflissentlich aus, daß dies nur einen Grund haben kann. Sie hat gemerkt, wie es in meinem Herzen aussieht, und sie will mir zeigen, daß ich mir keine Hoffnungen machen darf –“

„Hm,“ meinte der Major, „und trotz – trotz dieser ablehnenden Haltung wollen Sie den Versuch machen, Margot für sich zu gewinnen? Und ich – soll Ihnen dabei helfen?“ – Er schüttelte den mageren Charakterkopf. „Herr Aarenhus, – das – das wird wohl kaum Erfolg haben,“ fügte er unsicher hinzu. „Gewiß – was an mir liegt, soll geschehen, um –“

Aarenhus hatte plötzlich die Stirn kraus gezogen. Dann hatte sein Gesicht etwas von brutaler Energie an sich, zumal er gleichzeitig die Haut über den Backenknochen straff zu ziehen pflegte. Er unterbrach Kammler schnell.

„Wozu diese Phrase, die ja doch nichts bedeuten soll, Herr Major?! Sie haben ja auch nicht im geringsten die Absicht, für mich irgendwie einzutreten. Aber – Sie werden es wohl jetzt aus – na sagen wir – aus Kameradschaftlichkeit tun müssen!“

Der Major war leicht erblaßt und hatte den Kopf wieder gesenkt. Er fühlte jetzt geradezu wieder einen Dunst von stiller Feindschaft sie beide umwogen; er fühlte das Flackern in seinen Augen. Aber – er wußte auch ‚Du bist machtlos!’. ‚Aber’, dachte er weiter, ‚auch der Tag wird kommen, wo du diese Rechnung ausgleichen kannst.’

„Wenn ich erst Ihr Schwiegersohn sein werde, Herr Major,“ hatte Aarenhus in einem Atem hinzugefügt, „dann – dann werden Sie es nicht mehr nötig haben, hier den Kontorschemel zu drücken. Dann brauchen Sie nicht mehr gelegentlich auch Botengänge zu erledigen, wie etwa diesen nach der Post, der –“

Aus des Majors Brust war’s wie ein dumpfes Röcheln hervorgedrungen. Aarenhus schwieg sofort. Und – wieder trat er zurück.

Denn abermals hatten die Augen des grauhaarigen schlanken Herrn die seinen mit einem Blick getroffen, der wie eine aufzuckende Degenklinge war.

Ferdinand Kammler streckte jetzt dem anderen die Hand hin. In seinen Augen war wieder nur Harmlosigkeit; die Degenklinge hatte sich wieder in die Scheide zurückgezogen.

„Ich verspreche Ihnen, Herr Aarenhus, daß ich Ihnen bei Margot die Wege ebnen will. Mein Wort –“ Er hatte fortfahren wollen: ‚mein Wort darauf!’ – Aber er besann sich; er war ja ein Defraudant1; seine Ehre war dahin.

„Also – ich verspreche es Ihnen,“ fügte er überstürzt hinzu.

Hektor Aarenhus legte langsam seine Rechte in die des Majors.

„Also Verbündete fortan,“ sagte er ebenso langsam. „Und bald mehr – bald Verwandte. Denn Margot wird mich erhören! Nun, wo ich Ihre Einwilligung habe, kann ich – freier handeln –“

Kammler nickte schwach. „Ja – meine Einwilligung haben Sie. Und – jetzt darf ich wohl gehen.“

*

Frau Ellinor Kammler stand an demselben Vormittag, als Menschenschicksale in Hektor Aarenhus’ kleinem Privatkontor entschieden wurden, vor dem Schrankspiegel im Schlafzimmer und probierte Frühjahrshüte auf. Drei hatte die Modistin zur Auswahl geschickt. Nur drei. Und das magere Laufmädel wartete draußen, um die Hüte gegebenenfalls wieder mitzunehmen – nämlich, wenn der gewählte nicht sofort bezahlt wurde.

Frau Ellinor war eine jener reifen Frauen, die sich ihrer Macht über die Männer sehr wohl bewußt sind. Das drückte sich in ihrer ganzen Haltung, ihren Bewegungen und ihren Mienen so deutlich aus, als ob sie stets laut vor sich hin gesprochen hätte: ‚Ich will Euch gefallen; ich brauche Eure Bewunderung, Eure heimlichen Wünsche, die mir nachschleichen, Eure Blicke, die zuweilen so frech sind –’

Am Fenster lehnte Margot und beobachtete die Stiefmutter. Schlank, fast mager, trotzdem von natürlicher Grazie, etwas blaß, etwas zu ernst für ihre zwanzig Jahre, rassig das Gesicht, fein die Linien, schmal die Hände, dünn die Gelenke über den abgetragenen Halbschuhen, – das war Margot Kammler, des Majors einziges Kind aus seiner ersten Ehe mit Friederike Freiin von Wartberg. –

Sie beobachtete und sprach nur, wenn Frau Ellinor etwa fragte: ‚Kleidet mich dieser Hut besser?’

Dann erklärte sie ehrlich und kurz ‚Ja’ oder ‚Nein’. Und dachte dabei nur an das, was dieser Anprobe folgen würde; die widerwärtige, demütigende Szene mit dem Laufmädchen der Modistin. –

„So – den nehme ich also,“ meinte Frau Ellinor nun. – Sie legte den Hut, der 178 Mark kosten sollte, in den Spiegelschrank und die beiden anderen in den großen Karton.

„Margot, bitte trage den Karton dem Mädchen hinaus,“ sagte sie dann. „Ich werde nachmittags die Rechnung begleichen, bestelle der Kleinen. Und gibt ihr auch fünfzig Pfennig Trinkgeld.“

Margot regte sich nicht.

„Hast du mich verstanden, Kind?“ Frau Ellinors Stimme klang unmerklich schärfer.

„Gewiß. Ich mag mich nur nicht wieder zu einer derartigen Täuschung hergeben. Ich – tue es überhaupt nicht mehr –“

Frau Ellinor zuckte die Achseln. „Täuschung?! Was soll die Bemerkung?! Man braucht doch nicht alles gleich bar zu bezahlen. Jeder Handeltreibende muß Kredit gewähren.“

Sie schnürte den Karton zu und hob ihn auf. „Da, Margot, – bitte!“ Das war schon ein halber Befehl.

Das schlanke Mädchen mit dem feinen, blassen Gesicht begegnete ruhig dem ungeduldigen Blick der um zwölf Jahre älteren, vollerblühten Frau. –

„Wer soll die 178 Mark wohl bezahlen?“ meinte sie mit ihrer müden, farblosen Stimme. „Wer wohl? Der Papa etwa? Wovon? – Oder du – oder ich?!“

Frau Ellinor stellte den Karton wieder hin.

„Kind, was ist eigentlich in dich gefahren? So – so kenne ich dich noch gar nicht –“

„Leider nicht. Ich hätte früher mich aufraffen sollen. Einer von uns dreien muß doch endlich zur Vernunft kommen. Der Papa kann’s nicht, weil er dir nichts abzuschlagen vermag. Du willst es nicht, weil du eben so – so geartete bist. Und ich war bis jetzt zu – friedliebend, um mich einzumischen –“

Frau Ellinor lachte jetzt melodisch auf. „Margot als kleine Bußpredigerin – köstlich! – Kind, Kind, tu’ mir einen Gefallen und verdüstere mir das Leben nicht noch mehr durch solche – spießbürgerlichen Anwandlungen. – Nein – um Himmels willen, hüte dich davor!“ Sie wurde allmählich erregt. „Was hat man denn wohl noch vom Dasein, wenn man sogar darauf verzichten soll, sich –“

„Pflichten hat man,“ fiel ihr Margot ins Wort. „Pflichten, die wir strenger als jeder andere erfüllen sollten. Gerade wir, die wir doch Rücksicht zu nehmen haben auf die, die vor uns unsere Namen trugen und die nie duldeten, daß jemand mit dem Finger auf sie wies und flüsterte: ‚Leichtfertige Schuldenmacher’.“

Abermals lachte das dunkelhaarige, üppige Weib belustigt auf. – „Kind – dieser Rücksichten hat die neue Zeit uns überhoben. Begreife das doch bitte! Ob ich eine geborene ‚von’ Osternitz bin, das kann mir heutzutage sehr gleichgültig sein. Jetzt mißt und bewertet man die Menschen eben anders. – Aber – dazu bist du wohl zu schwerfällig, diese neue Zeit zu erfassen –“

Sie nahm mit einem Achselzucken den Karton auf und ging in die Küche, wo das schmächtige Laufmädchen, ein halbes Kind noch, saß und wartete.

„Da, Kleine, – ich habe nichts Passendes finden können. Vielleicht nehme ich den einen Hut. Ich komme nachmittags zu Fräulein Bürgler und erledigte die Sache. Bestelle ihr das nur – so – hier sind fünfzig Pfennig, Kleine. Auf Wiedersehen –“

Das Mädchen konnte nur annehmen, alle drei Hüte befänden sich in dem Karton. Sie dankte und ging. Und als sie dann der Modistin die Bestellung ausrichtete und als sich weiter ergab, daß ein Hut fehlte, da gab es im Geschäft eine sehr erregte Aussprache. Das arme kleine Ding heulte. Fräulein Bürgler machte sich schließlich selbst auf den Weg, um den Hut zu retten. Denn das von Majors kein Geld zu bekommen war, wußte ganz Oderburg. –

Sie läutete recht stürmisch bei Kammlers. Margot öffnete, erklärte müde und eintönig wie immer:

„Meine Stiefmutter ist soeben mit dem neuen Hut ausgegangen, Fräulein Bürgler. Ich werde dafür sorgen, daß Sie Ihr Geld erhalten.“

Die Modistin war jedoch so empört über diesen ‚gemeinen Schwindel’, daß sie Margot im Hausflur eine Szene machte, bei der es laut genug herging, um zwei der Kontordamen unten ins Treppenhaus zu locken.

Margot war ganz weiß im Gesicht geworden, als Fräulein Bürgler Redensarten wie ‚Betrug, der strafbar ist’ – ‚Polizei holen’ und dergleichen fallen ließ.

Ganz leise verteidigte sie sich nur. „Ich habe doch keine Schuld. Ich sage Ihnen ja, ich werde den Hut bezahlen. Überzeugen Sie sich, ich habe für Frau Konsul Bärenstein die Decke fast fertig gestickt. Morgen kann ich Ihnen achtzig Mark bringen –“

Die Modistin sah die tränenfeuchten, starren Augen des schlanken Fräuleins und verspürte Mitleid mit ihr, von der die Ordenburger nur Gutes tuschelten – nur Gutes.

„Gut – weil Sie es sind, Fräulein Kammler. Die Rechnung ist mit achtzig Mark erledigt –“

Margot schaute sie ernst an, schüttelte den Kopf.

„Sie irren, Fräulein Bürgler. Wie könnte ich Sie wohl um Ihren Verdienst bringen?! Nein – ich werde den Hut auf Heller und Pfennig bezahlen –“

Die Modistin errötete unwillkürlich. „Ich – ich verdiene auch bei achtzig Mark noch – etwas,“ meinte sie zögernd. „Ich – ich habe mich im Preis auch geirrt. Es war mehr der Preis für Fremde –“

„Das verstehe ich nicht,“ sagte Margot einfach. „Sie werden Ihr Geld erhalten. Auf Wiedersehen.“

Und die Modistin ging mit sehr gemischten Gefühlen heim. –

Inzwischen hatte Frau Ellinor den Kurpark von Oderburg erreicht, dessen Ausdehnung und geradezu musterhafte gärtnerische Anlagen ebenso berühmt waren wie die Seebadeanstalten und der Seesteg mit dem Restaurant auf der Spitze.

Frau Ellinor wandte sich dem am wenigsten besuchten Teil in der Nähe der alten Festung zu und setzte sich hier auf eine Bank, die recht versteckt lag. –

Herbert von Osternitz hatte von zwölf bis drei Uhr mittags Tischpause. Sobald er das Verwaltungsgebäude der Gasanstalt verlassen hatte, klemmte er sofort das Monokel ins Auge und wurde so auch äußerlich wieder zum Oberleutnant a.D. Daß er den Krieg beim Train mitgemacht und schon vor Kriegsausbruch infolge etwas dunkler Geschichten ‚a.D.’ gewesen, verschwieg er stets. Er verschwieg noch manches andere. Dafür erzählte er vieles, was nur seine lebhafte Phantasie geboren hatte. Er war jetzt neunundzwanzig Jahre alt, sah aber wie ein Primaner aus, wenigstens für unkundige Augen.

Frau Ellinor hätte sich ohne diesen Vetter in dem ‚elenden Nest’ zu Tode gelangweilt. Die landschaftlich so schöne Umgebung Oderburgs konnte ihr nichts bieten. Sie hatte keinen Sinn für Naturschönheiten. Und Herbert genauso so wenig. –

Bereits vierzehn Tage nach Kammlers Einzug in das alte Haus am Hafen hatte Frau Ellinor ihrem Gatten dann nahegelegt, Herbert die eine Giebelstube zu überlassen und ihn auch gegen ein geringes Entgelt ganz in Pension zu nehmen. Er hätte ja nur dreihundert Mark monatlich und dazu seine Pension. Und vierhundertachtzig Mark für einen Menschen wie ihn, wären heutzutage doch ein Nichts. –

Osternitz fand seine Gönnerin bereits an dem lauschigen Plätzchen vor, begrüßte sie sehr zwanglos durch Handschlag, tat ungeheuer entzückt über den neuen Hut und begangen fast in einem Atem über den öden Bureaudienst, den Spießer von Gasdirektor und die Banausen von Kollegen mit beißender Ironie herzuziehen. Er war verärgert, weil er wieder mal von dem Direktor sich einen Rüffel hatte gefallen lassen müssen.

Frau Ellinor unterbrach ihn bald. „Weißt du wirklich nichts Interessanteres zu erzählen, Herbert?!“ Dabei schaute sie ihn mit herausfordernder Koketterie in die Augen.

„Daß du heute einen vorzüglichen Tag hast und wie neunzehn aussiehst, sagte ich dir ja schon, verehrtestes Kusinchen –“

Sie legte ihm die eine Hand leicht auf die Schulter. „Was nützt mir das?!“ Sie seufzte – auch sehr melodisch. „Dieses Leben ist entsetzlich!“ klagte sie. „Wenn ich nur nicht so töricht gewesen wäre, dem Drängen der Eltern nachzugeben. Ich hätte vielleicht doch noch eine bessere Partie machen können. Aber fünf blutarme Mädels daheim! Da greift man zu, weil man ja nicht ahnen konnte, daß – daß alles nach ein paar Jahren sich so – so entwickeln würde.“

„Allerdings, Ellinor, – schlecht ist dir die Ehe nicht bekommen.“

„Obwohl sie doch –“ –

Sie schwieg plötzlich und biß sich auf die Lippen.

„Sprechen wir von etwas anderem, Herbert,“ fügte sie wieder in jenem besonderen Ton hinzu, der genau so leichtfertig – aufreizend war wie ihre ganze Art sich zu geben. „Wo warst du eigentlich gestern abend? Du kamst erst morgens heim –“

„Im Strandkasino,“ meinte er gelassen. „Ich habe da einen Berliner kennen gelernt, der hier einen Spielklub einrichten will. Vielleicht finde ich dort für den Abend so eine Art Anstellung, von der natürlich meine hohen Herren Vorgesetzten nichts wissen dürfen.“

„Ah. – Ein Spielklub!“ Sie wurde lebhafter. „Es sollen ja wohl mehrere eröffnet werden –“

Sie unterhielten sich eine Weile über dieses Thema. Man merkte, wie sehr ihnen beiden gerade dieser Gegenstand am Herzen lag, wie sie allerlei Hoffnungen an den Einzug des Spielteufels in Oderburg knüpften.

Frau Ellinor hatte sich jetzt ganz zwanglos gesetzt, die Beine übereinander geschlagen und unter dem fußfreien Rock den Halblackschuh und den Florstrumpf mehr zur Geltung gebracht. Ihre Hand lag noch immer auf Herberts Schulter. Zuweilen strich sie ihm mit dem spitzen Nagel des Zeigefingers über die Haut des Halses hin.

Herbert wurde unruhig. Plötzlich schaute er sie durchdringend an.

„Irrlicht!“ sagte er gepreßt.

Sie lachte leise. „Das höre ich von dir jetzt mindestens zum zwölften Mal –“

„Mit Recht! Du – du spielst mit mir; du bist aber nur ein Blender. – Es ist so! Dir fehlt jedes Temperament. Du hast nur Freude am – Vorpostengeplänkel. Jedem ernsthaften Angriff entziehst du dich.“ Er redete sich langsam in eine gewisse Erregung hinein. „Dich lockt nur der Reiz des Verbotenen so weit, als du nichts Großes zu wagen brauchst. Diese Stelldicheins kitzeln deine Sensationslust. Du willst ‚die Frau mit dem Dritten’ sein. Aber diesem Dritten gewährst du nicht einmal deine Lippen. Seit sechs Wochen geht diese Komödie nun so weiter. Sie bleibt stets dasselbe, bleibt – im ersten Akt stecken.

Ellinor – das halte ich nicht mehr aus. Dabei ruiniere ich meine Nerven. Wir betrügen deinen Mann nur zum Schein, weil du eben nur – für den Schein lebst. Nur! Ja – so bist du, Ellinor! Aber – ich bin von anderer Art. Ich liebe nichts Halbes. In meinen Adern rollt ein Blut, das verteufelt heiß ist –“

Er hatte ihre ihn liebkosende Hand gepackt. Sie schrie leise auf. Aber ihre Augen lächelten dazu. Noch nie hatte er so zu ihr gesprochen. Sie fühlte, daß er lichterloh brannte. Und das war ihr eine angenehm prickelnde Genugtuung – das genügte ihr.

„Kleiner,“ lachte sie harmlos, „Kleiner, du bildest dir ja nur ein, mich zu lieben. Ich reize dich als Weib. Sonst – bin ich dir gleichgültig. Deine Seele gehört einer anderen, – der, die mit dir täglich auf dem Fluß rudert und dir dabei Lenaus2 Gedichte vorliest –“ Der Spott war unverkennbar.

Sein Gesicht war plötzlich finster geworden. „Laß Margot aus dem Spiel!“ sagte er grob. „Wir beide sind nicht wert, ihr die Schuhriemen zu lösen. – Ich liebe Margot nicht. Da täuschst du dich. Ich suche nur ihre Gegenwart, weil ich – daraus wieder die Kraft schöpfe, nicht ganz zu – versumpfen –“

Er stand schnell auf, schaute sie forschend an. „Wer doch aus dir klug werden könnte, Ellinor! Weshalb eigentlich diese – scheinbare Liebelei mit mir?! Wirklich nur, weil du dies als Anregung brauchst?“

Seine überschlanke Knabenfigur, sein ebenso rassiges Zigeunergesicht überflog das üppige Weib mit wohlgefälligem Blick.

„Weil – du mir in vielem gleichst,“ sagte sie ganz ernst. „Weil in uns so viel Verwandtes ist; weil wir beide nicht für dieses Dasein passen, das wir jetzt führen –“ Sie reckte die Arme sehnsüchtig aus. „Reich möchte ich sein, reich und – frei! Dann – dann –“ Ihre Lippen blieben halb geöffnet. Ihre Augen waren in das frische Grün der Parkbäume gerichtet.

„Was – dann?!“ fragte er hart und beugte sich zu ihr hinab. „Dann – dann? – So spricht doch!“

„Dann – würde ich mit dir glücklich werden, Herbert. Und – ich würde treu sein. – Aber – all das sind Träume. Erstens, nie wird mir Reichtum in den Schoß fallen; und zweitens, du liebst mich nicht, – begehrst mich nur! Du liebst Margot. Du magst dir über deine Gefühle nicht klar sein. Andere sehen schärfer. Ferdinand sagte noch gestern zu mir: ‚Schade, daß die beiden nichts haben – so gar nichts! Margot würde Herbert nur günstig beeinflussen. Er ist in seiner Kameradschaftlichkeit ihr gegenüber so nachgiebig, so weich. Daß er sie nicht merken läßt, wie es um ihn steht, ist ein schöner Zug von ihm. Die Sache wäre ja so aussichtslos.’ – So sagte er –“

Herbert von Osternitz hatte den Kopf gesenkt und bohrte mit seinem Spazierstock im Sand.

„Unsinn!“ meinte er nun. „Der Onkel sieht zu viel. Meine Freundschaft mit Margot legt er falsch aus –“

Auch Ellinor hatte sich erhoben, stand nun dicht vor ihm.

„Kleiner!“ flüsterte sie zärtlich.

Er schaute auf, nahm ihre beiden Hände bei den Gelenken, ließ seinen Stock fallen. –

Nach einer geraumen Weile gingen sie dann mit hochroten Köpfen der Stadt zu. –

Kaum waren sie verschwunden, als Herr August Sänger das Gebüsch gegenüber der versteckten Bank verließ. Die Mücken hatten ihn übel zugerichtet. Aber – er hatte nun endlich die hundert Mark verdient, die ihm Hektor Aarenhus versprochen. Zufrieden wanderte er mit seinem Momentapparat seiner Bretterbude am Strande zu, über der das Schild mit der Aufschrift ‚künstlerische Aufnahmen jeder Art’ für die Saison bereits frisch gestrichen war.

*

Ellinor kam fünf Minuten vor Herbert heim. Inzwischen hatte Margot das Mittagessen fertiggestellt, den Tisch gedeckt und nebenbei noch an der Decke für die Frau Konsul gestickt.

Punkt ein Uhr war unten bei Aarenhus Kontorschluß. Und zwei Minuten später erschien dann Ferdinand Kammler in seinem Heim, regelmäßig auf zärtlichste begrüßt von seiner jungfrischen Gattin, die er ebenso regelmäßig im Flur herzhaft abküßte. – Heute fielen die Zärtlichkeiten etwas lauer aus. Frau Ellinor merkte es.

„Hast du Ärger gehabt, Ferdinand?“ fragte sie ein wenig beklommen. Sie hatte ja stets ein schlechtes Gewissen.

„Hm – Ärger?!“ meinte er zerstreut. „Das nicht gerade. Eigentlich müßte ich sagen – im Gegenteil! – Doch – davon später.“ –

Gleich darauf setzte man sich zu vieren an den Tisch. Herbert führte wie stets die Unterhaltung. Aber auch er fand heute nicht den sonstigen gewandt oberflächlichen Plauderton. Er mußte immer wieder zu Margot hinüberschauen, die so sehr blaß aussah und dazu noch einen so gequälten Zug um den Mund hatte. –

Nach Tisch hielt der Major sein Verdauungsschläfchen. Auch Ellinor las einen Leihbibliothekband, und Margot und Herbert säuberten gemeinsam in der Küche das Geschirr. Auch das war stehender Brauch geworden, daß Herbert beim Abwaschen half. Erst hatte Margot sich dagegen gesträubt. Aber er war fest geblieben. ‚Ich habe über Mittag ja doch nichts zu tun. Gönne mir die Freude, dir Teller, Messer und Gabeln abtrocknen zu dürfen.’

Sie unterhielten sich auch heute leise, während Margot über die große Wanne gebeugt dastand und ihm das gesäuberte Geschirr dann zureichte.

„Margot,“ meinte Osternitz zögernd, „du siehst heute so traurig aus. Ist etwas Besonderes geschehen?“

Sie schaute auf, nickte.

„Ja. Aber ich darf darüber nicht sprechen,“ meinte sie müder und mutloser denn je.

„Du darfst nicht?“ fragte er argwöhnisch. „Wer hat es dir denn verboten? Etwa Ellinor?“

„Nein. Ich selbst. Ich lasse mir nichts verbieten, Herbert. Das weißt du ja.“

Er betrachtete sie mit Blicken, die ihr liebes, feines Gesicht zu streicheln schienen.

Wieder nickte sie ihm zu. „Unsere Bootsfahrten müssen nun aufhören, Herbert,“ fügte sie hinzu. „Ich – ich will es so. Ich habe meine Gründe dafür.“

Das Tischmesser, das er gerade trocken rieb, fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich schnell danach und dachte, während ihm das Blut in die Wangen schoß: ‚Sie hat fraglos irgendwie gegen Ellinor und mich Verdacht geschöpft!’

„Die – die Gründe liegen in meiner Person?“ forschte er unsicher.

„Nein, wirklich nicht. Wenigstens nicht so, wie du es dir vielleicht zusammenreimen könntest.“

Er atmete auf.

„Margot,“ bat er dann, „weshalb denn in aller Welt raubst du mir diese eine Stunde auf dem Fluß? War’s nicht so traulich schön und so poetisch, wenn wir so allein am Ufer dahinfuhren und du mir die Kenntnis unserer besten Dichter vermitteltest?“

„Gewiß. Es war schön. Aber – über dieser lieben Zerstreuung steht die Pflicht –“

„Pflicht?“

„Ja, Herbert. Ich wünschte, dir wäre dies Wort geläufiger. Man soll ja die Menschen so nehmen, wie sie sind. Aber dich – dich hätte ich mir in deinem Interesse gereifter gewünscht. Der reife Mann wird Pflichten gegen sich und die Umwelt ohne weiteres anerkennen und erfüllen –“

Er lachte gezwungen auf. „Kleine Moralistin!“ Aber er wurde sofort wieder ernst. „Margot, ich kann es mir gar nicht vorstellen, daß wir nun nie wieder in Fischer Oehmkes Boot –“

Sie hatte ihn abermals mit so herzzerreißendem Weh in den Augen geblickt, daß ihm das Wort im Munde erstarb und gleichzeitig in seiner so widerspruchsvollen Seele ein Ahnen aufging, das ihn vielleicht beglückt hätte, wenn nicht so unendlich viel sich zwischen Margot und ihm als Hindernisse aufgetürmt hätte.

Er wich ihrem Blick aus, flüsterte nur: „Weshalb bist du nicht offen zu mir, – weshalb nicht?!“

Sie war an das Fenster getreten und schaute in den wohlgepflegten kleinen Garten hinab. Dort stand vor dem Rosenbeet Hektor Aarenhus und säuberte die Zweige von Ungeziefer. –

Herbert hatte sich ganz leise hinter sie geschlichen, schaute ihr über die Schulter.

Ah – Herr Hektor Aarenhus! – Osternitz verzog ironisch hochmütig die Lippen. – Der schöne Hektor, dem die Weiber nachrannten und der die Weiber mied. Der sogar auch Ellinor nicht beachtete und deshalb von ihr geradezu gehaßt wurde. – Herberts Gedanken glitten so zu Margots junger Stiefmutter hinüber. Siedend heiß wurde ihm plötzlich. Aber nicht deshalb, weil er an die Küsse dachte, die sie ihm heute endlich gewährt hatte. Nein – heißt aus Scham vor sich selbst.

‚Lump!’ dachte er. ‚Was bist du anderes als ein elender Waschlappen, den schon ein paar durchbrochene Florstrümpfe toll machen und der nur aus Eitelkeit sich mit einer Frau Stelldicheins gibt, hinter der die Männer wie ein Rudel Köter her sind.’ –

Margot drehte sich langsam um. Da sah er, wie verwandelt der Ausdruck ihres Auges war.

„Was – was hast du nur heute, Margot?“ flüsterte er beklommen.

„Meine Zukunft festgelegt,“ erwiderte sie leise, aber sicheren Tones.

Er stutzte. –

„Margot, – was – was heißt das?“

„Die – Pflicht!“ sagte sie einfach. –

Sie lehnte sich an die Wand der abgeteilten Speisekammer; sie hatte die Arme wie hilflos sinken lassen.

„Herbert,“ begann sie nun, „es wird jetzt vieles anders werden. Bevor das eintritt, will ich dir noch danken für die Stunden, die du mir gewidmet hast. Ich wußte noch vor vier Monaten kaum, daß es einen Herbert von Osternitz gab. Dann kamst du zu uns; dann gewannst du Einblick in das entsetzliche, jammervolle Leben, das wir hier führen, – in dieses Leben, an dem alles Lüge, Trug und Häßlichkeit ist. Ich war so damals bereits so zermürbt, daß ich für nichts mehr Interesse hatte. Ich vernachlässigte meine Kleidung – mich selbst. Ich hatte es aufgegeben, mich nach etwas Licht und Wärme zu sehnen, seit ich fühlte, daß ich dem Papa unbequem war, ich, die erwachsene Tochter, vor der er sich schämte, weil er in seinen Jahren noch so – so verliebt in seine junge Frau war. Auch ihn habe ich so verloren. Er ahnt wohl, daß ich seine Nachgiebigkeit gegenüber Ellinor nicht billige. Er wird sich insgeheim Vorwürfe machen, weil ich mit zerrissenen Sohlen herumlaufe und Ellinor Lackschuhe trägt, weil meine Wäsche nur noch aus Flicken besteht und seine Frau in Batist3 sich hüllt. –

Genug davon. Ich trage ihm nichts nach. Er ist eben ein Mann, der Sklave seiner Sinne – und nichts weiter ist; der alles geopfert hat, um sein Weib an sich zu ketten durch stetes Nachgeben, durch unkluges Eingehen auf ihre verschwenderischen Launen; der nicht aus diesem Rausch seiner reifen Jahre erwachen will, weil er sonst ja nichts mehr hätte, was ihm erstrebenswert wäre. –

Ich bin alt geworden in dieser Umgebung, altklug, müde und stumpf. –

Und dann – kamst du, Herbert. Du, nicht etwa das Idol meiner Mädchenträume, meiner geheimsten Sehnsuchtsregungen. Nein, Herbert, dazu warst du zu wenig – Mann. Aber – du warst stets zart, rücksichtsvoll und aufmerksam zu mir. Du wurdest mir ein guter, lieber Kamerad; du wurdest der, den ich dann emporheben wollte aus dem Dunkel, in dem er umhertappte. Ich hoffte dich ändern zu können; ich habe nicht ohne bestimmte Absicht dir Goethe, Lenau, Liliencron und andere Dichter vorgelesen, wenn unser Boot in diesem Frühjahr im Sonnenglast durch die Flut strich. Ich wollte dir das Edle näherbringen. Und diese Absicht gab jenen Stunden die große Weihe. Ob ich etwas erreicht habe – ich weiß es nicht. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich nur in diene Seele ein paar gute Samenkörner eingepflanzt hätte, die später einmal aufgehen werden – vielleicht. –

Sieh’, Herbert, – das warst du mir. Möglich, daß du mir noch mehr warst. Ich will nicht zu tief in mein Inneres schauen. Ich darf es nicht.“ – Sie schluchzte ganz leise auf; ihr Kopf sank tiefer.

„Margot!“ –

Er hatte plötzlich ihre beiden Hände ergriffen. Sie waren noch feucht von der Arbeit des Abwaschens. –

„Margot, – weshalb – weshalb kann es nicht anders sein als es ist, weshalb –“

Sie machte sich los von ihm. Ihr Blick ernüchterte ihn.

„Ich habe dir gedankt, Herbert,“ sagte sie schlicht. „Das mußte ich. Dazu drängte mich mein Herz. Und jetzt – jetzt wollen wir – tapfer sein, jeder in seiner Art, Herbert!“

Sie beugte sich wieder über die große Wanne, klapperte mit den Löffeln. Und aus ihren Augen fielen zwei einzelne Tropfen auf des Majors Lieblingskaffeetasse, ein altes Erbstück, auf dem vorn in Goldbuchstaben stand:

Ehre und Pflicht

vergiß die nicht!

*

Margot begann nun eine völlig gleichgültige Unterhaltung. Als sämtliches Geschirr dann an seinem Platz stand, verabschiedete Herbert sich. Sie reichten sich die Hände. Und Margot war allein. Bald hatte sie auch die Dielen gewischt, die Küche aufgeräumt und auch den Kaffee fertig. Um halb drei erhob sich der Major regelmäßig von seinem Verdauungsschläfchen. Dann verlangte er seinen Kaffee. Und Punkt drei ging er eine Treppe tiefer wieder in den ‚Dienst’, wie er es aus alter Gewohnheit nannte. –

Margots Stübchen war die Mädchenkammer; das Fenster nur winzig klein; und der Raum bot gerade Platz für das schmale Bett, einen Schrank, einen Waschständer, einen Stuhl und ein eisernes Tischchen mit runder Platte. Die Tür zu dieser Kammer führte von der Küche aus hinein. Gleich rechts daneben sprang der kaminartige Schornstein vor. Man hatte dieses Monstrum verkleinert, nein, verengert. Und so war es gekommen, daß ein Rohr noch hinablief in Hektor Aarenhus Privatkontor und dort mit einem Luftgitter dicht unter der Zimmerdecke versehen war. Denn das Privatkontor war nichts anderes als die zu diesem Zweck umgebaute Küche und Mädchenkammer der unteren Wohnung.

Margot war abgespannt und setzte sich noch eine Weile in ihr Stübchen, um auszuruhen. Das kleine Fenster, vor dem Tisch und Stuhl standen, ging gleichfalls auf den Garten hinaus. –

Hektor Aarenhus kniete dort und sammelte die welken Rosenblätter in eine Pappschachtel. Margot hatte ihn schon häufiger dabei beobachtet. Sie wußte, er sammelte die Blätter für den alten Fischer August Oehmke, der auch ihr Freund und Gönner war, – für Oehkes Pfeife. Der behauptete, Rosenblätter seien der beste Tabak; und behauptete weiter, daß Hektor Aarenhus der anständigste Kerl unter der Sonne sei.

Auch daran dachte Margot jetzt. – Armer, kurzsichtiger Oehmke! Aarenhus und ein anständiger Kerl!

Sie lächelte nachsichtig. Woher sollte Oehmke auch so viel Menschenkenntnis haben?! –

Und unwillkürlich wanderte ihr Blick hinüber in die Ecke neben der Tür nach dem Monstrum von Kamin hin. Da war noch eine schmiedeeiserne Tür in Schulterhöhe eingefügt, etwa fünfzig Zentimeter im Quadrat groß. Sie mochte einst zum Reinigen gedient haben. Oder aber zu sonst einem Zweck. Jedenfalls ließ sie sich noch heute öffnen. Und wenn man dann den Kopf hineinsteckte in das Mauerloch, dann schimmerte es am Tage unten hell, – lauter helle Punkte. Das war das Luftgitter in der Zimmerdecke des Privatkontors.

Margots Blicke hafteten fest auf der Eisentür. –

‚Armer Oehmke, anständig, anständig?!’ dachte sie wieder. ‚Wenn du alter Mann heute wie ich…’

Es klopfte.

Margot rief: „Herein!“ Sie hatte die Stiefmutter erwartet. Aber es war der Major, der sich hier so gut wie nie sehen ließ.

„Na, Kind, – hältst wohl auch ein wenig Mittagsruhe –“ Er setzte sich auf den Bettrand. Er war verlegen und unsicher. – „Nein, nein, Margot – bleib’ nur auf deinem Stuhl. Ich sitze hier sehr gut.“

Er schaute auf die Spitzen seiner alten Militärstiefel hinab.

„Margot, ich – ich habe mit dir etwas sehr Ernstes durchzusprechen,“ begann er nach einer Weile wieder. „Es handelt sich um –“

„– um meine Zukunft,“ vollendete sie, als ihm das Wort nicht recht über die Zunge wollte.

Er blickte sie überrascht an.

„Du weißt bereits?“

„Ja, Papa. Ich weiß alles, was ihr beide heute vormittag hier gerade unter mir verhandelt habt –“

„Ah – so hast du Aarenhus schon –“

„Nein, Papa. – Aber ich habe gehorcht,“ fiel sie ihm wieder ins Wort. „Ich räumte hier auf und rieb dabei auch jene Türe dort in der alten Kaminwand mit Ofenschwärze ein. Ich öffnete sie dabei. Und da drang von unten Aarenhus’ Stimme durch den Luftschacht zu mir empor. – Ich wußte, daß dieser Teil des früheren Kamins wie ein gutes Sprachrohr selbst das geflüsterte Wort weiterleitet. Ich habe dies jedoch nie bisher ausgenutzt, um deinen Chef etwa zu belauschen. Heute jedoch, als Aarenhus die Worte sprach: ‚Herr Major, wo ist das Geld, das Sie einzahlen sollten?’ – Da hätte mich keine Macht der Erde von jener Tür fortgezerrt. – Ich weiß alles, Papa. Du brauchst mir nicht mehr zu sagen, daß Aarenhus dich in der Gewalt hat, weil du deiner Frau wegen die Postanweisung nicht sofort erledigtest, sondern davon die Rechnung der Schneiderin bezahltest, die mit Klage drohte –“

Ferdinand Kammlers Schultern zuckten wie im Krampf. Er weinte.

Margot stand schnell auf, setzte sich dicht zu ihm und umschlang ihn.

„Mein armer, armer lieber Papa!“ – Ihre Hände fanden sich. Ganz eng aneinander geschmiegt saßen Vater und Tochter da.

„Papa, – beruhige dich doch. Ich werde ja – keine Schwierigkeiten machen. – Aarenhus wird schweigen. Ich – ich werde ihn heiraten –“

Der Major sank förmlich in sich zusammen. Er wimmerte wie ein Kind. Nichts – nichts demütigte ihn so sehr vor sich selbst als dieses Opfer seiner Einzigen. Und aus diesem Gefühl der Demütigung stieg nun der finstere Brodem derselben dumpfen Feindseligkeiten empor, die er heute schon einmal gespürt hatte, – einer Feindseligkeit, die nach Rache schrie.

„Der – der Schuft!“ gurgelte er plötzlich hervor und preßte Margots Hand wie in einem Schraubstock. „Der – gemeine Schuft! Er hat mich ja nur zur Post geschickt, damit ich – der Versuchung unterliegen sollte –“

Margot hörte die Worte, begriff auch den Sinn. Aber so sehr sträubte sich ihr Verstand gegen diese Verdächtigung, daß sie sich einredete, sie müsse sich verhört haben.

„Papa, – das – das ist unmöglich,“ flüsterte sie nun überstürzt. „Ganz unmöglich. So schlecht kann ein Mensch nicht sein. Selbst Aarenhus nicht, Papa. Das bildest du dir nur ein, daß er dir diese Falle stellen wollte –“

„Einbilden – einbilden?! – He – wie kam’s denn, daß er ausgerechnet nach dieser Einzahlung mich heute befragte, – so auf Umwegen, so recht harmlos tuend. Wo er sich doch sonst um diese Dinge nie kümmert und mir alles allein überläßt. Weshalb fiel ihm gerade dieser Betrag ein – weshalb?! Eben weil er damit etwas Arges im Sinn gehabt hatte – deshalb, – der – Lump! Aber – wir werden’s ihm heimzahlen, Kind. So heimzahlen, daß er vor uns im Staub kriechen wird. Oh – ich habe Augen und Ohren im Kopf, Margot. Ich weiß mehr von seinen Geschäften, als er ahnt –“

Margot fühlte, wie die Dunstwelle von Haß auch sie nun einhüllte; wie sie geradezu gelähmt war durch dieses Widersinnige, das da dem verbitterten Herzen ihres Vaters entquoll; wie sie kaum mehr Herr ihrer Gedanken war, die völlig in die Irre gingen und sich in all den Widersprüchen nicht zurechtfanden.

Sie war körperlich und geistig wie gelähmt. Vollständig. Saß regungslos. Ließ des Vaters heiseres Flüstern ihr Ohr umspielen und suchte nur ganz schwach diese halb sinnlosen Sätze wie widerliches Gewürm von sich zu drängen.

„Margot – er ahnt nicht, was alles ich weiß. Der gedeckte Kanal, der nach der See hinläuft vom Fluß aus, dieser uralte Kanal aus den Zeiten der Hansa geht unter diesem Haus entlang, unter einem Teil des Hauses und des Speichers. Im Erdgeschoß des Speichers linkerhand, dort wo die Versandkisten stehen, – da befindet sich im Fußboden eine große Falltür. Wenn man sie öffnet, blinkt zwei Meter tiefer der Spiegel des Kanals. Und zwei flache Kähne liegen dort angekettet –“

Er lachte kurz auf.

„Die Zigarettenfabriken leiden an Rohstoffmangel, haben keinen Tabak zur Verarbeitung. Nur wir, die Firma Helios, sind stets gut versehen – stets! – Margot, über See kommt der Tabak, und – eingeschmuggelt wird er Mithilfe des alten Kanals, der in der Mauer der in das Meer vorspringenden Gustav Adolf-Bastion endigt. Ein rostiges Gitter sperrte ihn nach See hin ab. Schmuggler, Margot, Schmuggler ist Aarenhus! Darauf wette ich meinen Kopf! Aber schlau ist er auch und vorsichtig. So sehr vorsichtig. Nur zu überlisten, wenn jemand Tag und Nacht um ihn ist –“

„Vater!“ stöhnte Margot auf.

Er hörte es nicht. „Wir werden ihn fangen, den Schuft. Und du – du wirst mir helfen, Kind, – nur du kannst es –“

Da wich die Lähmung von ihr. – Sie sprang auf. Seine Hand behielt sie in der ihrigen, stand nun vor ihm, rief leise:

„Niemals – niemals! Das – das kann ich nicht, Papa. Dagegen sträubt sich alles in mir. Das – ist ja auch unmöglich. Er, mein Gatte, – und ihn soll ich dann –“

Sie zitterte wie unter einem Eiseshauch.

„Ich – kann es nicht,“ wiederholte sie bebend. „Und du, Papa, – du selbst kannst das nicht wollen. Nein, so – so gänzlich verändert kannst du nicht sein, daß du nicht das – Scheußliche solcher Pläne einsehen solltest –“

Sie sank wieder neben ihn auf den Bettrand.

Er schwieg. Dann ertönte wieder das harte Auflachen.

„Verändert – gänzlich verändert – ja, das stimmt! Das ist nur zu richtig! Aber – ich habe Grund dazu, Margot, – Gründe, eine ganze Menge, die wie Zentnerlasten meine Seele zerquetscht haben. Nur ein häßlicher Brei ist davon übrig. – Gründe, oder genauer – Schulden!“

Er zog einen Brief aus der Innentasche seines schäbigen Gehrocks.

„Da – lies!“ wieder keuchte er die Worte hervor, als sei ihm die Kehle zugeschnürt. „Auch das ist sein Werk – auch das!“

Und Margot sah den gestempelten Briefbogen eines der beliebtesten Oderburger Rechtsanwälte, las in Maschinenschrift:

Herr Major a.D. Ferdinand Kammler, hier Hasenstraße 9

Die Herren Bäckermeister Frisch, Fleischermeister Degler und Kolonialwarenhändler Moschitzki, das Kaufhaus A. Leonhard, die Firma H. Justus und die Schuhfabrik Ideal haben mich mit der Eintreibung ihrer Forderungen beauftragt. Die Gesamtsumme der Forderungen an Sie für gelieferte Waren beträgt 8258,38 Mark.

Ich bitte, die Zahlung binnen acht Tagen an mich zu leisten. Andernfalls müßte ich einen Zahlungsbefehl erwirken.

Hochachtungsvoll Schwarz, Justizrat

Margot entfuhr nichts als ein leises: „Mein Gott – so viel Geld!“ – Aber sie dachte dabei: ‚Und all das nur dieser Frau wegen, an die er sich klammert mit einer Gier, die kaum mehr normal ist! –

Etwas wie Ekel würgte ihr in der Kehle. Schon so oft hatte sie mit fassungslosem Staunen sich überlegt, wie es nur möglich sei, daß ein Mann so vollständig von einem Weib beherrscht werden könne; hatte sich so und so oft gefragt: ‚Läßt der Vater die Dinge wirklich nur aus Liebe zu Ellen gehen wie sie gehen wollen? – Woher nimmt Ellinor diese Macht, den Vater blind und gefügig zu machen? Ist das Liebe? Ist das die Liebe, wie die Dichter sie besingen? Oder nur das Unreine, das Häßliche, das erst durch den Akkord zweier Seelen in den Himmel des Edlen erhoben wird; ist’s nur der Sinnenrausch, entkleidet von allem, das ihn in etwas Heiliges verwandeln kann?’

Der Major nahm ihr den Brief aus der Hand.

„Margot, die Schmach, daß hier ein Gerichtsvollzieher erschiene, ertrüge ich nicht. Auch – auch Ellinor würde unsäglich leiden. Wir würden noch jämmerlicher dann in fast leeren Stuben hausen als jetzt.“ – Seine Stimme schwankte. Er unterdrückte das klägliche Aufschluchzen.

Margot war bereits mit ihrem Entschluß fertig.

„Papa,“ sagte sie fest, „du kannst Hektor Aarenhus mitteilen, daß ich seine Werbung annehme. Schon heute richte ihm dies aus. Nur – eine Bedingung stelle ich. Du wirst allen Haß, alle Rachepläne gegen ihn begraben! Du mußt es tun, Papa! Zu einem solchen Doppelspiel opfere ich mich nicht! – Es ist ja ein Wiedersinn, daß ich eine Ehe eingehen soll, damit wir – gerettet werden, und daß du gleichzeitig den Mann verderben willst, dessen Namen ich dann trage –“

„Gut – gut, es sei!“ Er sprach es nur so hin wie eine Höflichkeitsphrase. „Du magst recht haben, Kind. Ich will Abstand nehmen von – na – jedenfalls brauchst du nicht zu denken, daß ich dich mit bloßstellen wollte. Nein, es wäre auch anders gegangen –“

Er saß ein paar Sekunden still da und stierte vor sich hin. Dann regte sich die Dankbarkeit in seinem kranken, schwachen Herzen. Er wurde gerührt. Er umfaßten Margot, küßte sie auf die Stirn. Seine Tränen rannen.

„Ich – ich danke dir,“ stammelte er.

Auf dem Tischchen am Fenster stand eine einfache Weckeruhr. Margot hatte schon vorhin festgestellt, daß es bereits nach drei Uhr war.

„Papa, du mußt in den Dienst.“ – Sie wollte allein sein, wollte diese Szene schnell beenden.

Er erhob sich; schaute sie nicht an, küßte sie nochmals, murmelte etwas Unverständliches und ging.

Margot setzte sich kerzengerade auf den Stuhl neben dem Fenster. Es war, als käme sie jetzt aus tiefer Betäubung wieder zu sich. Ihre Lippen bebten; ein Grauen vor der Zukunft beschlich sie, ein namenloses Grauen. Und – die Angst kam hinzu, daß sie nicht die Kraft finden würde, das zu tun, was sie als Kindespflicht ansah; um die Retterin des Vaters zu werden.

Sie, die in all dem Ungemach, in all dem Häßlichen und Demütigenden ringsum klar und scharf zu denken gelernt hatte wie eine um zwanzig Jahre Ältere. Sie suchte nur nach irgend etwas, das diese Angst verscheuchen könnte.

Ganz allmählich erstand nun vor ihr ein Bild der kommenden Dinge, wie sie diese nach ihrem Willen gestalten wollte. – Sie beruhigte sich. Sie stand auf und durchwühlte die Schublade des Kleiderschrankes. In einem Kästchen fand sie, was sie suchte, ein Schächtelchen, das sie einst an sich genommen hatte ohne jede bestimmte Absicht. Es enthielt sechs Morphiumpulver, die der Arzt ihrer Mutter kurz vor deren Tod verschrieben hatte.

*

Hektor Aarenhus’ Privatwohnung im Hochparterre bestand ebenso wie die Kammlersche aus drei Zimmern mit Nebengelaß. Er hielt sich eine ältere Witwe als Wirtschafterin, eine dicke, gemütliche Person, die jeden aber wie eine wütende Katze angefaucht hätte, der etwas Ungünstiges über ihren Herrn zu reden gewagt haben würde.

Um sechs Uhr nachmittag war Kontor- und Fabrikschluß gewesen. Aber bereits eine halbe Stunde früher war Hektor heute ausgegangen und hatte verschiedene Einkäufe erledigt. Als er um halb sieben heimkehrte, empfing ihn seine dicke Frau Schmiegel mit einem verständnisinnigen Grinsen und den vertraulich geflüsterten Worten:

„Die Rosen sind schon da, Herr Aarenhus. Und alles dunkelrote. Wir haben im Garten ja nur rosa und gelbe. Nun kann’s Verloben losgehen. Ja, ja, – ich hab’ das geahnt, Herr Aarenhus, wirklich!“

Er drehte sich um. „Geahnt?“

„Ja doch. Mein Gott, man hat doch Augen im Kopf. Wenn das arme, blasse Fräulein von oben im Garten in der Laube saß und stickte, Herr Aarenhus, dann stand ein gewisser Jemand immer am Fenster der Schlafstube hinter der Gardine –“

Hektor Aarenhus hatte schon den ganzen Nachmittag über ein paar senkrechte Falten auf der Stirn; die vertieften sich jetzt.

„Sie haben mich also belauert, Frau Schmiegel!“

„Nee – so ist das nu nicht gewesen. Nur Mitleid habe ich mit Ihnen gehabt. Und wo Sie jetzt so’n Gesicht machen, das so gar nichts von freudiger Erwartung verrät, da – da bemitleide ich Sie noch immer. Sie haben das Abendrot abbestellt; Sie essen oben bei Majors, sagten Sie. Also wird die Sache wohl heute schon – festgemacht. – Herr Aarenhus, lieber Herr Aarenhus, wenn – wenn dabei man was Gutes rauskommt –“

„Gehen Sie!“ –

Und sie kannte den Ton und verließ das modern und sehr elegant eingerichtete Herrenzimmer. Bevor sie noch in der Küche verschwunden war, hatte die Flurglocke angeschlagen. Sie öffnete. Es war der Photograph August Sänger.

Aarenhus saß am Schreibtisch. Vor ihm stand ein elegantes Etui und ein kleineres, verziertes Schächtelchen. Er deckte schnell eine Zeitung darüber, als Sänger durch die Schmiegel gemeldet wurde.

Der Photograph lächelte voller Triumph.

„Herr Aarenhus – heute mittag! Hier sind die drei Abzüge und die Platte. Tadellose Aufnahmen. Beide ganz deutlich zu erkennen. Eine Stunde lauerte ich wieder im Gebüsch. Die verdammten Mücken! Sehen Sie nur mein Gesicht an – als ob ich die Masern hätte –“

Aarenhus zog zwei Hundertmarkscheine aus der Brieftasche. „Da – bitte! – Wenn Sie aber auch nur je ein Sterbenswörtchen von diesem – Auftrag verraten, dann – sind Sie geliefert! – Ich habe gerade Sie mir absichtlich herausgesucht. Ich weiß zufällig, daß die Staatsanwaltschaft Breslau einen gewissen August Scharfer sucht. Nun – Sie verstehen. – Auf Wiedersehen, Herr – Sänger.“ –

Aarenhus sah sich die Bilder flüchtig an.

„Dirne – und doch nicht Dirne!“ murmelte er.

Dann zerschlug er die Platte in kleine Stücke, zerkratzte noch die Gesichter und warf die Stücke in den Ofen. Die Bilder schloß er in seinen Schreibtisch ein.

‚Ich werde sie kaum mehr brauchen,’ dachte er. –

Herbert von Osternitz fand in seiner Giebelstube als er nach Bureauschluß um viertel sieben abends heimkehrte, einen Zettel von der Hand seines Onkels neben dem Teebrett mit dem Abendbrot liegen. – ‚Lieber Herbert,’ stand da, ‚wir erwarten heute meinen Chef als Gast. Da du Aarenhus nicht gerade schätzt, wollen wir dir ein Zusammentreffen mit ihm ersparen.’

Osternitz wurde sofort argwöhnisch. Dieser deutliche Wink, Kammlers heute nicht zu behelligen, mußte eine besondere Bedeutung haben.

Er begann zu grübeln. Dann ging es wie ein Ruck durch seinen Leib. Sein Knabengesicht, dem doch so deutlich die Spuren eines wilden Lebens anhafteten, straffte sich in allen Muskeln.

‚Margot und Aarenhus – kein Zweifel! Da bereitete sich etwas vor!’ War es ihm durch den Kopf geschoßen. ‚Ja – das ist so! Daher auch Margots halber Abschied heute Mittag von mir! Daher der Verzicht auf die Bootsfahrten!’

Er horchte plötzlich auf. Die Dielen draußen knarrten so laut unter jedem Schritt. Jemand kam.

Vielleicht Margot? Vielleicht noch ein Abschied?

Es klopfte.

Nur Ellinor! Sein Antlitz verfinsterte sich für einen Moment.

Sie riegelte die Tür hinter sich ab, eilte auf ihn zu. Sie hatte ein loses Morgenkleid an mit tiefem Halsausschnitt.

Seine Hand lag kühl in der ihrigen. Ihr belebtes Gesicht entspannte sich; ihre Augen musterten ihn prüfend.

„Herbert, ich habe mich fortgestohlen. Ich wollte nicht, daß du – gerade du im Unklaren darüber sein solltest, was heute –“

„Laß nur!“ meinte er gleichgültig. „Ich kann mir denken, daß Aarenhus –“ Er zögerte.

„– sich mit Margot heute verloben wird?“ beendete sie den Satz mit einem schnellen Aufleuchten in den dunklen Augen.

Er hatte sich gut in der Gewalt. „Ja – das dachte ich mir –“ Er lachte kurz auf. „Aarenhus seine Braut sich – erschachert? Was hat er denn gezahlt für das frische Menschenfleisch?“

Ellinor trat dicht vor ihn hin. Ihr Mund berührte fast den seinen.

„Siehst du, wie – wie es dich mitnimmt, diese Nachricht!“ flüsterte sie. „Mich täuscht du nicht! Mich nicht!“

Er zuckte die Achseln. „Lächerlich! Ich bin kein Primaner, der ein Mädel anhimmelt. – Margot tut mir leid. Sie – wird zugrunde gehen durch dieses – ekle Geschäft. Aber – noch ist nicht aller Tage Abend! Vielleicht hat Herr Hektor Aarenhus auch die Rechnung ohne den Wirt gemacht!“ Seine Sprache war immer erregter geworden. „Wenn dieser Zigarrenfritze auch nur ein bißchen anständige Gesinnung im Leibe hat, dann – dann –“ –

Er wandte sich jäh um und trat an das Fenster, schaute hinab auf den breiten Strom, auf die zahlreichen Fischkutter, die gerade zum Nachtfang den Hafen verließen.

Frau Ellinor beobachtete ihn. Dann fragte sie:

„Willst du dich wirklich einmischen, Herbert?“

„Vielleicht. – Margot darf nicht –“

„Gestatte,“ unterbrach sie ihn. „Margot hat ganz unbeeinflußt sich zu diesem Schritt entschlossen.“

„Du – lügst!“ rief er, ohne sich umzudrehen.

Pause. Dann: „Kleiner, du wirst ungezogen. Komm mal her, du. Ich habe noch eine Viertelstunde Zeit –“

„Aber ich nicht. – Ich muß ins Strandkasino. Der Berliner erwartet mich. – Entschuldige also bitte, Ellinor, wenn ich zu meinem Bedauern sofort aufbrechen muß.“ – Er war plötzlich ganz der höfliche, gewandte Oberleutnant a.D., ging auf sie zu, reichte ihr die Hand, zog ihre Finger an die Lippen und sagte mit einer Verbeugung: „Auf Wiedersehen. Und – viel Vergnügen heute abend –“

Sie war so überrascht über seine kühl förmliche Art, daß sie zunächst ihn anstarrte, als hätte er nur einen Scherz gemacht. Dann glomm in ihren Augen ein gefährliches Licht auf.

„Also – eine Absage?“ meinte sie ironisch. „Ich werde darüber hinwegkommen.“ –

Sie schritt langsam zur Tür, ging hinaus. –

Herbert kleidete sich schnell um. Seine Gedanken bauten eine neue Zukunft auf. – Wozu sich noch weiter in der Gasanstalt schinden – wozu diesen Stumpfsinn noch länger ertragen?! Das da war ja doch kein Acker für ihn, der schnelle Früchte trug. Er würde seine Stellung kündigen und sich dem Spielklubunternehmer ganz zur Verfügung stellen.

*

Der Major führte Aarenhus in den sogenannten Salon. Aarenhus war in Smoking und Lackschuhen. Ferdinand Kammler dachte: ‚Weiß Gott – gut sieht er aus. Ein Trost wenigstens für meine Tochter –’

Margot trat jetzt ein.

Sie trug ein dunkles Kleid mit langem Rock und hohem Stehkragen; ein ganz unmodernes Kleid, das aber ihre schlanke Erscheinung und die Feinheit ihrer Züge noch mehr hob.

Er war aufgestanden, verbeugte sich unsicher. Und ebenso unsicher begangen er:

„Fräulein Kammler, Ihr Herr Vater dürfte –“

Sie deutete durch eine Handbewegung an, daß er wieder Platz nehmen möchte. Er schwieg und setzte sich, ärgerte sich über seine halbe Verlegenheit und nahm sich vor, hier keinesfalls eine klägliche Rolle zu spielen, nein, eher als fordernder Sieger aufzutreten.

Margot saß in dem anderen Sessel. Ihre Augen ruhten mit einem Ausdruck innerer Festigkeit auf seinem Gesicht.

Bevor er noch von neuem etwas sagen konnte, sprach sie mit klarer, voller Stimme ihn an.

„Herr Aarenhus, die Verhältnisse liegen so, daß ich Ihre Werbung nicht zurückweise. Wir wollen hierüber uns jetzt nicht weiter aussprechen. Das mag einer Stunde vorbehalten bleiben, wo wir uns bereits besser kennen gelernt haben als –“

Er konnte nicht anders; er fiel ihr ins Wort. Und es klang genau so abgeklärt und fest wie ihre Sätze, als er sagte:

„Noch besser kennengelernt haben? – Ich denke, wir kennen uns überhaupt noch nicht. Wir haben kaum ein Dutzend Redensarten bisher gewechselt, Fräulein Kammler.“

„Oh – man lernt Menschen auch kennen, ohne mit ihnen zu sprechen. Jedenfalls – ich kenne Sie! – Sie hingegen mögen von mir nicht viel mehr wissen, als daß ich bettelarm bin –“

Er mußte sich gewaltsam zur Ruhe zwingen. Er merkte, sie wollte ihm klarmachen, wie sie über ihn dachte. Und – er konnte hierauf nicht einmal etwas erwidern. –

„Herr Aarenhus, ich hoffe, Sie werden mir die nötige Zeit gewähren, mich daran zu gewöhnen, daß Sie auch bereits als Verlobter gewisse Rechte geltend machen können,“ hatte sie inzwischen ohne Pause hinzugefügt. „Allein von Ihnen wird es abhängen, wie ich mich mit – mit alledem abfinde.“ Sie war jetzt aufgestanden, reichte ihm die Hand. „Sie haben mein Jawort. Ich betrachte mich als Ihre Braut. Ich werde stets treu und ehrlich in allem sein. Und wenn die Stunde der Aussprache da ist –“ – Sie dachte an das erlösende Schächtelchen mit den sechs Pulvern –.

„Dann – werden auch Sie mich kennen lernen –“

Er hielt nun zum ersten Mal diese schmale Hand in der seinen; er fühlte die Kühle dieser weißen Finger mit den rosigen Nägeln; er erinnerte sich an all das, was er sich ausgemalt hatte, wenn – dieser Moment gekommen sein würde. Dann hatte er sie an sich reißen und sie küssen wollen, ohne Rücksicht, hatte ihr beweisen wollen, daß er Mann sei und der Stärkere, daß er Widerstand nicht dulde.

Und jetzt?! – Jetzt?! – Der Moment war da. Und er stand wie gelähmt; fühlte nur die Kühle dieser Mädchenhand und das Übergewicht dieses jungen Weibes, diese seelische Macht der Reinheit über sein unmäßiges Wünschen. Er kam sich vor wie ein Narr. Er hätte am liebsten diesen Raum wortlos verlassen, in dem die Gemälde von den Wänden mit strengen Augen die Szene zu bewachen schienen.

Wie ein Narr! Und doch beugte er sich nun über diese Hand, um sie zu küssen.

Seine Lippen, die so heiß waren und nach anderem lechzten, berührten die weiche Haut. Und diese Berührung war für ihn wie ein elektrischer Schlag, der den lähmenden Bann brach.

Mit einem Ruck richtete er sich auf. Seine andere Hand griff zu; nun hatte er ihre Hände in den seinen. Er war blaß geworden; seine Augen flackerten; seine Stimme war heiser, aber doch lag darin all die wilde Sehnsucht seiner Sinne.

„Margot – Margot! Ich liebe Sie! Ich habe Sie vom ersten Moment an geliebt, als ich Sie sah. Ich habe dann mit mir gekämpft; ich wollte mich nicht unterjochen lassen von Gefühlen, die uns Männern nur hinderlich sind, – Männern wie mir, die – vorwärts wollen. Ich unterlag. Und nun, Margot, nun – bist du doch mein geworden, nun wirst du mir gehören, mir ganz allein. – Margot – ich liebe dich!“

Er zog sie an sich, legte den Arm um sie.

Halb bewußtlos lag sie an seiner Brust mit geschlossenen Augen.

Dann preßte er seinen Mund auf ihre keuschen Lippen.

Ihr verging der Atem. Sie hörte, wie aus seiner Kehle ein Stöhnen herausquellen wollte; und sie erstarrte noch mehr vor so viel Sinnenglut.

Sie duldete alles. Sie lehnte an ihm wie ein krankes Grashälmchen an einem jungen, derben Eichentrieb. Sie dachte nur eins: ‚Er schont dich nicht. Er wird dich nie schonen! Er ist brutal wie ein Raubtier, – und du bist seine wehrlose Beute.‘

Sie duldete alles. Aber allmählich flammte in ihrer Seele ein unendlicher Haß empor; mehr noch; der Wunsch, diese Schmach wettzumachen! Jetzt verstand sie den Vater; jetzt erschien ihr dessen sinnloser, widerspruchsvoller Rachedurst nicht mehr so entwürdigend; jetzt flogen ihr von selbst Gedanken zu, die sie dem Vater verbündeten.

Sie wehrte sich absichtlich nicht. Unter seinen Küssen genoß sie einen anderen Rausch; den des zukünftigen Sieges über ihn – ihn – diesen Lüstling, der sich an sie drängte, daß sie sich vorkam, als trüge sie nichts mehr von Kleidern auf dem Leib.

Ihre Lippen wurden eisiger statt wärmer; sie war nur eine Gliederpuppe in seinen Armen.

Und – das spürte er schließlich. Wie Scham überkam es ihn. Da gab er sie frei. Er hatte ihre Hände noch in den seinen, murmelte:

„Verzeih’, Margot. Ich – liebe dich ja!“

Das war nicht mehr wie ein brünstiger Schrei; das war in flehender Sehnsucht gesprochen. – Sie hielt die Augen geschlossen. Wenn er doch nur noch mehr in dieser Weichheit abbittend geredet hätte. Sie harrte darauf. Denn sie fühlte, dann wäre all das Abstoßende in ihrem Herzen, der Haß, wieder zusammengesunken. Dann wäre nur die kühle Abneigung geblieben. –

Er ließ ihre Hände los. Dann fühlte sie, daß er ihr etwas Kaltes über den Ringfinger der Linken streifte, daß er den Ring und den Finger küßte.

Das kalte Edelmetall verwandelte sich in glühende Lohe. – Der Ring – die goldene Fessel! Die Fessel, die ihm ein Recht gab zu dem, was er soeben gewagt, ein Recht auf ihren Leib, ihre Glieder. Nur nicht auf ihre Seele, ihr Herz! Die würde er sich nie erkämpfen – nie!

Trotz dieser Gedanken blieb sie insoweit eine echte, kleinen Eitelkeiten unterliegende Evastochter, als sie nun zu gern sehen wollte, wie so ein gülden Ringlein an ihrem Finger sich ausnahm. – Sie öffnete die Lider, blinzelte herab auf ihre Hand.

Aber sie sah etwas anderes. Sah, daß Aarenhus ihr ein geöffnetes Etui hinhielt, vernahm genau so abbittend wie vorhin seine Stimme:

„Margot, weise dieses erste Geschenk nicht zurück. Ich würde nie darüber hinwegkommen. Ich will dich erfreuen, dich schmücken. Ich bin ja reich, Margot. Reicher als du ahnst –“

Auf weißem Damastbett sprühte und funkelte es.

Ein brillant besetzter Anhänger an zierlichem Platinkettchen. Ein Ring mit breiter Platte; Perlen, Brillanten darauf. Eine kostbare Armbanduhr als drittes.

Margot faßte ganz mechanisch mit der Linken nach dem Etui, während ihre Rechte sich ihm entgegenstreckte. Er umklammerte sie, fragte scheu:

„Du – du weist es nicht zurück?“

Sie spielte jetzt eine Rolle, eine ganz bestimmte Rolle. Und dazu gehörte, daß sie nickte und erwiderte:

„Ich danke Ihnen – danke dir. – Nur – tragen werde ich diese – Geschenke erst als deine Frau. – Nimm bitte Platz. – Ich habe noch eine Bitte, Hektor –“

Auch diese vertraute Anrede kam ihr so glatt über die Lippen. Sie war ja nicht mehr Margot Kammler; sie war irgendeine Fremde; so schien es ihr selbst, sie war die, die von einem brutalen Tier halb erwürgt und die dann wieder aufgewacht war als ein anderes Wesen.

„Eine Bitte, die du mir unbedingt erfüllen mußt, unbedingt! – Du darfst mir nichts – nichts mehr schenken, solange ich deine Braut bin. Ich würde jede Kleinigkeit zurückweisen. Ich will leben, wie ich bisher gelebt, arbeiten wie bisher, mich kleiden wie bisher –“

„Das – das ist ja unmöglich, Margot!“ Er schaute sie flehend an. Ihre Augen begegneten sich jetzt.

„Unmöglich ist nichts,“ sagte sie ruhig. „Jedenfalls nicht Handlungen oder Unterlassungen, die innerhalb unserer Fähigkeiten liegen. – Du verspricht es mir also, Hektor?“

„Ja – wenn – wenn – du mir verzeihst, daß ich mich vorhin so wenig in der Gewalt hatte –“

„Gut. Dann sind wir ja einig,“ meinte sie, und sie wunderte sich selbst, wie leicht ihr diese Lüge über die Zunge kam. – Sie stand auf. „Gehen wir zu den Eltern hinüber –“

Da erst dachte er an die roten Rosen. Sie lagen noch eingehüllt in Seidenpapier auf einem Stuhl am Fenster. Er holte sie, entfernte die weiße Umhüllung.

„Ich danke dir,“ sagte sie, noch ehe er sie ihr dargeboten hatte. „Es sind prächtige Exemplare. Ich glaube, diese Rose heißt Kaiserin Eugenie – nach der entthronten Gemahlin des zweiten Napoleon, deren einziger Sohn im Kampf gegen die Zulus fiel und den die arme Mutter noch heute beweint – mit Tränen, die blutrot sein mögen, die wir aber nur als farblose Tropfen sehen würden –“ –

Sie nahmen ihm die Rosen ab, schritt zur Tür.

Und – da quoll wieder diese dumpfe Feindseligkeit in ihm hoch, wie sie nun so gelassen, so ganz Dame, vor ihm stand, – so stolz aufgerichtet wie eine Unbesiegte.

„Narr!“ schrie es in ihm höhnend und grell, „Narr, weshalb batest du um Verzeihung! Das – das hat ihr wieder den Hochmut gestählt!“

Sie hatte bereits die Linke auf dem Türdrücker.

„Margot!“ rief er leise, aber befehlend.

Sie wandte sich langsam um. „Du wünschest?“ Und ihre großen, klaren Augen lagen fest auf seinem Gesicht. Nur kühles Abwarten war in diesen Blicken, die den seinen so sicher standhielten.

Auf seiner Stirn vertieften sich die Falten. „Küsse mich, du!“ sagte er hastig. „Du wirst es tun. Ich – will es!“

„Wenn dir an erzwungenen Zärtlichkeiten etwas liegt, gehorche ich,“ erwiderte sie mit einer Stimme, die wie erstorben klang.

Er biß sich auf die Lippen.

„Geh!“ befahl er barsch. „Du – wirst mich lieben lernen – so wahr ich noch stets erreicht habe, was ich wollte.“

Ihre Augenlider sanken halb herab. – Hatte er richtig gesehen? War das nicht wie ein leidenschaftliches Aufflammen in der Tiefe dieser Augen gewesen?

„Vielleicht!“ sagte sie und drückte die Tür auf. „Vielleicht –“

*

Das Verlobungsmahl! – Ein Abendrot so dürftig, wie Aarenhus das seiner dicken Frau Schmiegel trotz der Kriegspreise nie verziehen hätte. Dazu zwei Flaschen Rotwein, – sauer, billig.

Aber der Tisch gedeckt mit dem Inhalt des Kammlerschen Familiensilberkastens; dazu ebenso altes Geschirr mit dem bürgerlichen Wappen der Kammlers. Und aus den alten Schätzen wieder dieser Hauch von Vornehmheit, obwohl – der letzte Kammler doch ein Betrüger war. –

Hätte ein Uneingeweihter diese vier Menschen beobachtet, würde er nur, wenn er sehr scharfe Augen besaß, gemerkt haben, daß die lebhafte Unterhaltung, die gute Laune des alten Herrn, die Heiterkeit Frau Ellinors und die Gesprächigkeit des Bräutigams etwas Unfreies, Erzwungenes an sich hatten. Lediglich Margot benahm sich so, wie es dieser Verlobung angemessen war. Sie war weder schweigsam noch angeregt, weder gedrückt noch leichtfertig gleichgültig. Sie erklärte mit derselben Ruhe, daß sie nichts gegen eine beschleunigte Hochzeit, etwa Anfang Juli, hätte, wie sie betonte, bis dahin nichts an ihrer bisherigen Lebensführung zu ändern.

Hektor Aarenhus erschien das Ganze wie eine ekle Komödie, an der er teilnehmen mußte, weil es in seine Absichten hineinpaßte. Er fand Frau Ellinor albern in ihrem Bemühen, ihm zu gefallen; er fand den Major unsäglich jammervoll in seinem Bestreben, ihn nun als Schwiegersohn herablassend vertraulich zu behandeln.

Nur Margot – ja – sie imponierte ihm. Er sagte sich wiederholt: ‚Welch ein Mädchen! Was alles muß sie durchgemacht haben, bevor sie so gleichmäßig abgeklärt, so reif geworden ist –!’

Er bemühte sich, den aufmerksamen Bräutigam zu spielen. Aber er gab genau acht, daß er sich hierbei nichts vergab. Er wollte nie wieder wie vorhin fühlen, daß sie die Überlegene gewesen. Wenigstens durfte sie selbst dies nie mehr merken. –

Kurz nach zehn Uhr verabschiedete er sich. Im Flur küßte er Margot auf die Stirn. –

Er stieg die Treppe hinab. Er ging langsam. Er empfand deutlich, wie der Bann dieser Umgebung, dieser Stunden mit jeder Stufe mehr und mehr wich; er lachte sogar zweimal auf.

Hinter ihm da eine helle, leise Stimme:

„Herr Aarenhus, dürfte ich Sie einige Minuten allein sprechen. Ich bin’s, Herbert von Osternitz –“

Es war dunkel im Treppenhaus. Aarenhus sah nichts von dem Anderen, der ihm aufgelauert zu haben schien.

„Ich wollte noch etwas frische Luft schöpfen. Gehen wir ein Stück am Hafen entlang. Ich hole nur meinen Überzieher und Hut –“

Der Abend war hell; der Himmel klar; im Westen verglühte das letzte Sonnenrot über der schwarzen Linie der Felder. Schweigend gingen die beiden, bis sie eine Holzbank am Ufer des Stromes fanden, die durch kein Liebespärchen belegt war. –

Sie setzten sich. Hektor Aarenhus zündete sich eine Zigarette an.

Osternitz hatte längst den Verlobungsring erspäht. Er wußte also Bescheid.

„Ich müßte Ihnen nun eigentlich gratulieren,“ begann er, indem er weiter vom Aarenhus abrückte und sich auf das Geländer stützte. „Sie sind Bräutigam geworden. Aber da Sie’s auf eine Weise geworden sind, die nach meinen Anschauungen etwa einem – Wuchergeschäft gleichkommt, kann ich Margot nur bemitleiden und Sie verachten!“

Aarenhus hatte etwas Ähnliches erwartet.

Er zuckte die Achseln. „Verachten?! Und – von Ihren Anschauungen sprechen Sie?! Ich könnte Ihnen beweisen, daß Sie am allerwenigsten ein Recht haben, auf ‚Ihre Anschauungen’ sich zu berufen. – Bitte, bleiben Sie sitzen! Versuchen Sie auch nicht etwa, nicht tätlich zu beleidigen. Ich würde Sie mit der bloßen Faust niederschlagen. – Hören Sie mich ruhig an. Sie haben mit Margot auf recht freundschaftlichem Fuß gestanden, haben vielleicht in ihr irgendwelche Hoffnungen geweckt. Ich lasse das dahingestellt. – Gleichzeitig haben Sie sich mit Frau Ellinor Stelldicheins gegeben. Sie sind eben dem reifen, überreifen Weibestum dieser Dame unterlegen. Sie mögen sich gesträubt haben. Aber – Sie waren doch schwach genug, ein Doppelspiel mit zwei Frauen zu treiben. –

So – das – sind Sie! –

Ich habe Margot vom ersten Sehen an geliebt – auf meine Art. Als Mann, der die Liebe nicht durch rosenrote Gläser schaut, der begehrt und dieses Begehren stillen will. Ich lernte Kammlers und deren Verhältnisse bald ganz genau kennen. Ich habe es mich etwas kosten lassen, ihre ganze Lebensführung sozusagen zu überwachen. Es war jetzt die höchste Zeit, daß dort jemand helfend einsprang. Der Major wäre in kurzem verklagt worden. Die Gläubiger hätten gepfändet. Nichts wäre Kammlers geblieben als – die Betten vielleicht, um darin zu schlafen. Es handelt sich da um eine Reihe von Geschäftsleuten, die der Justizrat Schwarz vertritt, – um 8 300 Mark Warenschulden rund. Dann – um zwei Wechsel über insgesamt 11 000 Mark. Die Wechsel habe ich jetzt in meinem Geldschrank. Und morgen werden auch die 8 300 Mark beglichen sein. –

Ich weiß nicht, ob meine Verlobung ein ‚Wuchergeschäft’ ist. Von meiner Seite jedenfalls kaum. –

Ich frage Sie nun, hätten Sie jemand gewußt, der außer mir für Kammlers eingesprungen wäre?“

Osternitz stand auf.

„Sie – Sie –“

Und plötzlich eilte er schnellen Schrittes davon. Dieses ‚Sie – Sie –’ aber hatte ganz so geklungen, als ob sich keine Beleidigung anschließen sollte. –

Am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr erschien Herbert von Osternitz bei Aarenhus im Privatkontor.

„Morgen, Herr Aarenhus. Darf wohl Platz nehmen. Habe was Geschäftliches zu erledigen. – Übrigens; Gasanstaltschreiber bin ich gewesen. – Also zur Sache. Sie erzählten mir gestern Abend von den 8 300 Mark. Ich war bei dem Justizrat, – so quasi als Onkels Beauftragter. Habe 2 000 Mark abgehandelt. Die Gläubiger geben sich mit 6 000 rund zufrieden. Hier ist der schriftliche Vergleich – alles schwarz auf weiß. – Sie sparen also rund 2 000 Mark, Herr Aarenhus. Ich bin stellungslos. Ich will mir erst eine Existenz gründen –“

„Ich verstehe,“ nickte der Andere. „– ich hätte Ihnen so viel Geschäftstüchtigkeit gar nicht zugetraut –“

„Oh – ich hoffe, noch geschäftstüchtiger zu werden. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine geborene Goldberg aus Frankfurt am Main. Vielleicht daher mein Talent, Vergleiche abzuschließen –“

Aarenhus bot ihm eine Zigarette an. Gestern Abend hatte Herbert sie abgelehnt. Heute nahm er sie an.

„Sind Sie mit tausend Mark zufrieden,“ fragte Aarenhus und reichte dem Gegenüber ein Streichholz.

„Hm – na, weil Sie es sind – abgemacht!“ Er stand auf. „Geben Sie mir das Geld. Ich bezahle den Justizrat und bringe Ihnen sofort die Quittung. Dann sieht’s so aus, als ob Onkel –“

„Ganz recht. – Hier bitte – sechstausend Mark. – Ach so – Ihren Anteil. Bitte, noch tausend Mark. – Auf Wiedersehen.“

Zehn Minuten später bereits lag die Quittung vor Aarenhus. –

„Was werden Sie jetzt eigentlich beginnen, Herr von Osternitz?“ fragte er mit ehrlichem Interesse.

„Ich bin seit gestern Abend Direktor des Spielklubs ‚Strandkasino’ hier. Am 15. Juni machen wir die Bude auf. gejeut wird aber jetzt schon so im kleinen. Wenn Sie sich den Betrieb mal ansehen wollen – alles nur Ehrenmänner als Gäste. – Nebenbei möchte ich mit Zigaretten handeln – im großen. Kein offenes Geschäft. So halb wie aus Gefälligkeit an Badegästen und Klubbesuchern, – nur hundertweise. Sie können wir vielleicht eine besondere Marke herstellen. Nur für mich. Marke ‚Strandkasino’. Zunächst fünftausend Stück. Ich würde sofort tausend Mark anzahlen.“ Und er legte das eben verdiente Geld auf den Tisch.

„Allerhand Achtung!“ lachte Aarenhus. „Sie gefallen mir!“ Er reichte ihm die Hand. „Gut, Sie sollen gleich zehntausend Stück geliefert bekommen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.“ –

Nachmittags machte sich Margot mit der fertigen Tischdecke auf den Weg zu der Frau Konsul Bärenstein. Diese lobte die saubere Arbeit über alle Maßen.

„Liebes Fräulein Kammler, – ehe ich’s vergesse; meinen herzlichen Glückwunsch zur Verlobung! Die ganze Stadt ist voll davon. Aarenhus erfreut sich allgemeiner Achtung. Nun werden Sie wohl keine Aufträge mehr annehmen –“

„Aber gewiß doch. Ich bin auf den Verdienst nach wie vor angewiesen –“

„Oh – dann hätte ich hier noch viel Arbeit für Sie. Nur – nur müssen Sie mir schon gestatten, die Preise zu erhöhen. Sie sind viel zu billig, Fräulein Kammler. Zum Beispiel werde ich die Tischdecke auch anders bezahlen, als ursprünglich vereinbart. Hier sind dreihundert Mark. Nein – kein Wort der Widerrede –“

Die Frau Konsul war ihres Geizes wegen berüchtigt. Auf dem Wochenmarkt feilschte sie um jeden Groschen.

Margot dankte gerührt und kehrte in fast glücklicher Stimmung heim, nachdem sie noch schnell die Modistin bezahlt hatte, die durchaus nicht mehr als achtzig Mark nehmen wollte.

Vor dem alten, schmalen Haus traf sie mit Aarenhus zusammen. Sie reichte ihm die Hand. Er betrachtete ihr heute zart gerötetes Gesicht mit prüfenden Augen. Er war so respektvoll herzlich, daß sie aus einem inneren Mitteilungsbedürfnis heraus ihm erzählte, wie froh sie sei, so viel Geld für die Decke erhalten zu haben.

„Wohl die Decke, die du gestern erwähntest,“ meinte er und schaute nach dem Strom hin. „Mir fällt gerade ein, Margot, daß ich heute mittag einen sehr günstigen Ankauf gemacht habe,“ fügte er sofort hinzu. „Ein Boot mit Kuttertakelage und einem Außenbordmotor. – Willst du es dir ansehen? Oehmke hat es in Verwahrung –“

Sie dachte sofort an die Rosenblätter, die er für den Alten sammelte. –

„Ja, gern. – War es denn teuer?“

Er überhörte die Frage. –

Sie gingen nun zum ersten Mal als Brautpaar gemeinsam über die Straße. Viele schauten ihnen nach. –

Der alte Oehmke besaß ein winziges Häuschen weiter unten am Strom. Er saß jetzt in einem der an einem kleinen Holzsteg vertäuten Boote und pinselte die Sitzbänke frisch an. –

„Ah – das Brautpaar!“ rief er vergnügt. „Gratuliere auch sehr, Fräulein Margotchen, – so recht von Herzen. – Wer mit ‘n Herrn Aarenhus nicht gut auskommt, muß schon rein des Teufels Großmutter sind! Aber Sie beide werden schon ‘n feines Gespann abgeben, Fräulein Margotchen; Sie haben ja das Herz auf ‘n rechten Fleck. Ich kenn’ Sie ja. –

Nun – daß da is der neue Kutter. Schaun Sie nur recht hin. Hab’ ich den Namen ‚Margot’ nicht fein in Gold hingepinselt wie ‘n gelernter Maler? – Nu wird der Kutter doch endlich mal benutzt werden! Zwei Wochen hab’ ich ihn –“

„Oehmke,“ sagte Aarenhus scharf. „Bringen Sie ihn nach dem Steg. – Margot, wollen wir eine halbe Stunde auf dem Fluß kreuzen?“

Sie war sprachlos über das elegante kleine Fahrzeug, das sogar achtern eine niedliche Kajüte hatte.

„Ja, gern,“ meinte sie verwirrt, denn sie dachte nun an den Satz, den Oehmke nicht hatte beenden dürfen. Aarenhus hatte ihr doch fraglos vorhin die Unwahrheit gesagt. Er mußte das Boot schon früher gekauft, aber nie benutzt haben. –

Sie stiegen ein. Margot verstand etwas vom Segelsport. Sie half ihm, das Großsegel hissen. Der Kutter kam in Fahrt. Über den Strom strich eine frische Brise hin. Das Boot legte sich über. Das Kielwasser rauschte. Und Margot und Hektor saßen nun nebeneinander auf der vertieften Steuerbank.

Sie schwiegen. Die Sonne näherte sich bereits den Gipfeln der fernen Wälder. Der Fluß war einsam.

Margot nahm den Strohhut ab, legte ihn neben sich. Der Wind zauste ihr aschblondes Haar. Sie schaute in die Weite. Sie genoß den Frieden dieser Abendstimmung in vollen Zügen; sie wehrte alle störenden Gedanken von sich ab – daß der Mann neben ihr saß, der gestern halb von ihr Besitz genommen mit rücksichtsloser Kraft, dem sie Rache geschworen.

Rache?! – Ja – wie hatte sie gestern nur so schrankenlos ihn hassen können?!

Gestern! – Und heute. –

Heute war Frieden in ihr. Das machte wohl die Umgebung, das Plätschern der Wellen und – das Bewußtsein, daß er ihr doch fraglos eine Freude mit dieser blitzsauberen, leicht beschwingten Namensschwester hatte bereiten wollen.

‚Margot’ hatte er den Kutter getauft. – Und gestern – gestern – das war aus ehrlichem Herzen gekommen, dieses: ‚Ich liebe dich!’

Nun war sie doch ins Grübeln geraten. Nun fragte sie sich abermals: ‚Wo ist der große Haß von gestern?’ –

Eine lange Nacht und ein Tag lagen dazwischen. Eine Nacht, in der sie – seltsam genug! – so viel von Hektor Aarenhus geträumt hatte.

Margot schreckte leicht zusammen. Aarenhus hatte ihre Hand berührt, hielt diese Hand nun in der seinen.

Sie blickte auf. Sie sah sein Gesicht. Ein Ausdruck verzehrender Leidenschaft war darin.

Sie sprang auf. Aber er ließ ihre Hand nicht los.

„Margot,“ rief er leise, „Margot!“

Das weckte die Erinnerung an den kleinen Salon, an – das brutale Tier.

Mit einem Ruck riß sie sich los. Stieg auf das gewölbte Dach der Kajüte, lehnte sich an den Mast.

„Margot!“ –

Das war jetzt ein Befehl. „Ich wünsche, daß du dich wieder neben mich setzt!“

Ah – also abermals dieser häßliche Ton wie gestern. Siedend heiß quoll die Scham in ihr hoch, daß er so – so mit ihr zu reden wagte. Und plötzlich dachte sie an die Rolle, die sie spielen wollte, – an das, was sie sich vorgenommen hatte.

Sie gehorchte; setzte sich neben ihn. Kerzengerade saß sie da. Sie ahnte, was folgen würde.

Aarenhus, der nie mehr sich selbst einen Narren schelten wollte, fühlte nur die wilde Sehnsucht nach ihrem Besitz, nach ihren Lippen. Und diese Gier war stärker als alles andere; sie war’s, die ihn wieder besiegte.

Er ließ das Segel flattern, riß Margot an sich, trug sie in die kleine Kajüte, in dieses Schmuckkästchen mit den zierlichen Schränkchen, den Klapptischchen, den beiden Wandsofas.

Hier zog er sie nieder auf seinen Schoß, riß sie fest an sich, küßte sie. – Aber wieder wurden ihre Lippen so eisig, wieder war’s nur eine leblose Puppe, die er mit stürmischen Zärtlichkeiten bedrängte.

Schneller als gestern erwachte er, besann sich auf sich selbst. Aber heute bat er nicht um Verzeihung; heute gab er sie frei, blieb neben ihr sitzen und begann mühsam eine Unterhaltung.

Margot war bleich; ihre Augen irrten wie die einer Trunkenen umher; fanden dann einen Ruhepunkt. Ihr Denken vereinigte sich plötzlich auf den Gegenstand, der ihre Blicke gefesselt hatte.

Da hing an der Rückwand unter dem eingelassenen Spiegel ein Bild – eine große Photographie.

Ein Frauenkopf in Goldrahmen – ihr Kopf – ihr Kopf!

Sie starrte und starrte.

„Ich habe die Vergrößerung nach einer Momentaufnahme herstellen lassen,“ sagte er da schon. „Ich knipste dich von meinem Fenster aus. – Das Bild ist recht gut, denke ich. Sieh es dir nur näher an –“

Sie stand auf. – Ja – das Bild war vorzüglich; in nichts geschmeichelt.

Sie stand und überlebte. – Die Vergrößerung hatte er heimlich sich beschafft. – Und den Kutter auch wohl nur für sie gekauft. – Er liebte sie. Ja – er liebte sie. Aber auf seine Art. Als Gewaltmensch! Und so hatte er sie sich auch als Braut erobert.

Sie drehte sich nach ihm um.

„Wir müssen heimkehren, Hektor –“ Es klang sehr matt und etwas verzagt. –

Sie segelten wieder der Stadt zu. Sie saßen nebeneinander und sprachen über gleichgültige Dinge. Aber in Margots Seele wisperte fort–gesetzt eine feine Stimme:

‚Wie – wie muß er dich lieben, um so – rücksichtslos und – so unausgeglichen zu sein. Kutter – Bild, – und dazu diese abstoßende Gier seiner Zärtlichkeiten! Wie muß er dich lieben!’

*

Zwei Wochen weiter – bei Kammlers war’s scheinbar alles beim alten geblieben. Nur scheinbar. Frau Ellinor half jetzt in der Wirtschaft mit. Sie fürchtete Aarenhus’ beißenden Spott über ihre ‚Schonungsbedürftigkeit’. Sie wagte auch nicht mehr, Schulden zu machen. Sie hatte jetzt nach der Verlobung Margots überall auf neuen Kredit gehofft. Aber – wo sie auch hinkam, stets dasselbe höfliche: ‚Wir bedauern, wir verkaufen nur gegen sofortige Bezahlung!’ – Ganz entmutigt war sie nun. Sie merkte, daß hier ein geheimer Einfluß gegen sie arbeitete. Auch bei ihrem Mann. Wenn sie dem Major Geld abschmeicheln wollte, machte er stets ein sehr wütendes Gesicht.

„Der – verdammte Kerl führt ja stets für uns die Kasse!“ knurrte er. „Und ich muß still dazu sein!“ – Regelmäßig ballte er ingrimmig die Fäuste. Aber nie in Aarenhus Gegenwart. Zu dem war er stets mild und süß wie Honig.

Herbert war bereits am zweiten Tag nach Margot Verlobung ganz in das Strandkasino übergesiedelt und ließ sich bei Kammlers kaum erblicken, obwohl er doch oft genug in Aarenhus Privatkontor erschien, mit dem er stets allerlei Geschäfte machte. Letztens hatte er sich von ihm dreitausend Mark geliehen, um auf einer Auktion eine Anzahl alte Stahlstiche erstehen zu können, die er dann selbst nach Berlin brachte, wo er das Dreifache dafür erhielt. –

Margot gegenüber hatte er den einstigen kameradschaftlichen Ton völlig wiedergefunden. Aber er wich ihr genauso aus wie auch Ellinor, die sich nun entsetzlich langweilte und mehr denn je auf der Strandpromenade und im Park sich erging, wo ihr wenigstens Männer begegneten, die ihr vorsichtig oder keck durch Blicke huldigten. –

Es war gegen fünf Uhr nachmittags. Margot verließ soeben durch den Privatausgang die Wohnung des Fleischermeisters Hecker. Der wohlgenährte, biedere Hecker ebenso wie seine Frau gehörten mit zu den vielen Gönnern Margots.

„Liebes Fräulein,“ hatte der Meister wie schon so oft gesagt, „Sie sehen mir viel zu blaß und schmal aus. Sie müssen mehr Fett essen und Fleisch. Ich habe da noch ein Stück Schweineschinken liegen und eine gute Leberwurst, die mir doch nur schlecht werden. Badegäste müssten dafür ordentlich bluten. Für Einheimische habe ich, das wissen Sie, andere Preise. Ich werde Ihnen den Schinken und die Wurst noch zu dem Aufschnitt dazu packen. Alles in allem kostet die Geschichte dann für Sie zweiundzwanzig Mark –“

So oder so ähnlich wußte er Margot immer noch etwas zuzustecken. Sie war dann stets ganz gerührt. Aus Dankbarkeit hatte sie letztens für Frau Hecker ein Deckchen gearbeitet und hatte jede Bezahlung abgelehnt.

Nun eilte sie mit ihren Schätzen heim. Auf der Haustreppe traf sie Aarenhus’ Wirtschafterin, der sie freudestrahlend Aufschnitt, Fleisch und die Wurst zeigte.

Frau Schmiegel schlug die Hände vor Staunen knallend zusammen. –

„Und dafür nur zweiundzwanzig Mark?! Das – das ist reineweg unmöglich, Fräulein Margot. Das geht nicht mit rechten Dingen zu!“

Hektor Aarenhus kam die Treppe empor, wie immer im Sturmschritt.

„Ah – Wirtschaftssorgen!“ lächelte er und drückte Margot die Hand. – Der Ton zwischen ihnen war doch freier und vertrauter geworden. „Schau an, ein sehr appetitlicher Braten. Natürlich hintenrum erstanden –“

„Und für ‘n Spott Geld!“ meinte Frau Schmiegel. „Der Hecker muß sich verrechnet haben – zweiundzwanzig Mark für alles dies – das ist glatt ‘n Wunder!“

„Unsinn – Wunder!“ sagte Aarenhus kurz. „Hecker ist kein Wucherer. Er macht Preise je nach den Verhältnissen seiner Kunden. – Auf Wiedersehen, Margot. Um sechs klopfe ich bei euch an. Wir müssen heute unbedingt das Wetter zu einer Fahrt in See ausnutzen. Einverstanden?“

„Ja. Auf Wiedersehen!“ Und Margot ging in den zweiten Stock hinauf. Frau Schmiegels Bemerkungen hatte sie doch etwas nachdenklich gemacht. Es war ihr ja auch bereits aufgefallen, daß sie fast alles weit billiger erhielt als andere. Für sie suchte selbst das Konfektionhaus Gebrüder Rosenbaum stets noch Sachen heraus, die sie fast zu Friedenspreisen abgaben. Nur deshalb hatte sie sich jetzt neu einkleiden können und trug die alten Fähnchen nur noch daheim. Ob etwa die Kaufleute aus Sympathie für sie ihr so entgegenkamen? Oder ob sie hofften, ihr nachher als Aarenhus’ Frau das Doppelte abnehmen zu können? Vielleicht! Denn Hektor hatte sie ja gebeten, in ganz bestimmten Geschäften ihre Einkäufe zu erledigen. –

Sie machte sich denn auch heute über ihre glückliche Hand keine Gedanken, brachte die Fleischwaren im Eisschrank unter, den Aarenhus Kammlers geliehen hatte, weil er ihn angeblich nicht brauchte, und setzte sich dann in den Salon ans offene Fenster, um noch an den Kaffeeservietten für die Frau Konsul zu sticken. Morgen würde sie damit fertig werden, und dann konnte sie sich endlich die wollene Sportjacke bei Rosenbaum kaufen, die man für sie schon zurückgelegt hatte und die nur einhundertundfünfundvierzig Mark kostete, wo doch sonst dieser neue Artikel kaum unter sechshundert zu haben war. –

Inzwischen hatte Aarenhus zu seiner dicken Schmiegel sehr nachdrücklich und sehr leise gesagt: „Wenn Sie noch einmal Margot gegenüber etwas zu billig finden, sind wir geschiedene Leute – verstanden! Wie können Sie ihr nur die Freude an ihren Einkäufen derart verderben wollen. Halten Sie gefälligst den Mund! Das Hecker uns das fünffache abnimmt, ist nur recht und angemessen –“ –

Dann verschwand er in den Kontorräumen.

Frau Schmiegel schaute ihm lächelnd mit ihren lustigen Schweinsäuglein nach. Ihr war plötzlich ein Licht aufgegangen. ‚Also deshalb deshalb wirtschaften Majors so billig!’ dachte sie. ‚Na – das sollte Margot ahnen! Und da sag’ noch einer, daß der Aarenhus keine Seele von Mensch ist!’ –

Die blitzblanke ‚Margot’ glitt mit Motorkraft der Hafenausfahrt zu. Die anderen Margot saß auf der vertieften Steuerbank und hatte die lange Ruderpinne in der Hand. Aarenhus hatte sich weit über Bord gebeugt und regulierte den kleinen Außenbordmotor.

Gleich darauf flog das Großsegel kreischend hoch. Der Kutter legte sich über, machte einen förmlichen Satz.

„Herrlich!“ rief Margot. „Wir laufen gut acht Knoten –“

Aarenhus faßte nach der Ruderpinne, sagte leise:

„So, Margot, – jetzt lies mir etwas vor. Du hast mir letztens mit den Gedichten eine genußreiche Stunde bereitet –“

Sie hatte die kleine Gedichtsammlung wieder mitgebracht. Auf gut Glück schlug sie das Buch auf, auf gut Glück las sie das, worauf ihr Blick gerade fiel:

„Keine Reis’ auf Erden scheint mir so groß und

schwer zu sein,

als die Reis' aus uns heraus, als die Reis’ in

und sie hinein.“4

Sie errötete jetzt jäh, fügte hinzu:

„Aus Wilhelm Müllers Epigrammen5 ‚Selbsterkenntnis’ ist der Spruch. Nicht ganz leicht zu verstehen –“

„Oh doch. Ich verstehe ihn schon, Margot. Die Reise aus uns heraus bedeutet wohl das freiwillige Aufgeben einer persönlichen Eigenart, die wir als uns selbst schädlich erkannt haben; und die Reise in uns hinein ist ein ehrlicher Blick in unserer Seele Tiefen, wo wir dann all die kleinen Fehler und Schwächen entdecken und – ebenfalls beseitigen können. – Jedenfalls ist der Vers eines der schlichtesten und doch tiefsten Dichterworte, die ich je gehört habe –“

Sie schaute ihn mit frohen Augen an.

„Empfindest du das wirklich, Hektor?“ meinte sie zweifelnd.

Er nickte ernst. „Ja – jetzt empfinde ich es so. Vor vierzehn Tagen hätte ich darüber noch gelacht. – Du wurdest soeben so sehr rot, Margot, als du kaum den Spruch vorgelesen hattest. Weshalb? – Sei ehrlich –“

Sie schlug den Blick nicht zu Boden. „Weil ich glaubte, du würdest gerade den Vers als – als auf dich gemünzt auffassen,“ sagte sie offen. „Und ich hatte ihn doch nur durch einen Zufall gefunden –“

Er nahm ihre linke Hand in die seine.

„Auf mich gemünzt! Mithin meinst du, mir könnte etwas Selbsterkenntnis nicht schaden. – Du brauchst nicht zu antworten, Margot, denn du hast recht damit. Ich habe ja auch bereits versucht, mich zu ändern. Im Verkehr mit dir habe ich eingesehen, daß vieles an mir besserungsbedürftig war. Wenn ich jetzt zum Beispiel nochmals um dich anhalten sollte, das heißt zum ersten Mal anhalten sollte unter den selben Vorbedingungen, dann – dann würde ich’s nicht fertig bringen. –

Mir fehlte früher eins, die Selbstbeherrschung und das rücksichtsvolle Verzichten auf eigene Wünsche. Dann hatte ich auch wohl so einen Ton an mir, der allen Leuten zeigen sollte, wie – stark ich mich geistig und körperlich fühlte und schließlich mangelte es mir vollständig an dem Verständnis für die Denkungsart anderer Gesellschaftsschichten. Halb unbewußt verspürte ich stets eine dumpfe Feindseligkeit gegen alle die, die die Vorteile einer guten Erziehung genossen hatten, – eben weil ich sie um das unnennbare sicher zwanglose Auftreten beneidete –“

Margot drückte leise seine Hand.

„Du bist bereits weit gekommen auf der Reise in dich hinein, Hektor. Ich bin – glücklich darüber.“

Er blickte auf. Ihre Augen ruhten ineinander.

„Wirklich, Margot, – glücklich?! – Dann bereue ich diese Reise nicht, die ich so widerwillig antrat –“

Auch der Rest der Fahrt verlief harmonisch wie bisher. Noch nie hatte ihm Margot dann beim Abschied im Flur des alten Hauses so kräftig die Hand gedrückt und noch nie so warm gesagt: „Es war sehr schön heute auf unserer ‚Margot’. Ich liebe sie –“

*

Nach dem Abendbrot waren der Major und Margot in der Wohnung allein. – Kammler hatte sich in der letzten Woche auffällig verändert. Sein Gesicht war blaß geworden; die Augen flackerten stets wie im Fieber; er führte dauernd Selbstgespräche, aus denen niemand recht klug wurde. Er blieb jetzt vor Margot stehen, die am Fenster des Salons saß und stickte, legte ihr die Rechte schwer auf die Schulter und flüsterte:

„Kind – jetzt ist es bald soweit. Warte nur noch vierzehn Tage etwa, dann – dann wird der Lump vor uns auf den Knien um Gnade winseln –“

„Wie – wie meinst du das, Papa?“ fragte sie ängstlich.

„Dummchen! Hast du etwa geglaubt, ich lasse ihn ungeschoren?! Hast du vergessen, daß er – er mich zum Betrüger gemacht, er meine Gläubiger auf mich im Rudel gehetzt und dann dich gezwungen hat, sein – Spielzeug zu werden?! Nein – du kannst das nicht vergessen haben, ebenso wenig wie ich. – Kind, so manche Nacht bin ich jetzt auf Strümpfen hinab in den Speicher geschlichen und habe ihm aufgelauert. Ich schlafe kaum mehr. Ich muß alle seine Schliche aufdecken. Das läßt mir keine Ruhe. –

Er erwartet nun offenbar in nächster Zeit wieder Schmuggelware – Tabak aus Holland. Ich werde ihm die Sache versalzen – gründlich –“

Er kicherte in sich hinein. Es war ein so gräßliches Lachen, daß Margot die Farbe wechselte.

„Noch wenige Wochen – dann – dann!“ Er reckte die Arme hoch, schüttelte die geballten Fäuste.

Margot sah ein verzerrtes Gesicht, sah die zitternden Lippen, die vorquellenden Augen.

„Papa!“ rief sie ängstlich. „Lieber Papa! Rege dich nur nicht auf!“

Der Wutanfall war schon vorüber. Der Major ließ sich in den altehrwürdigen Plüschsessel fallen, stierte in die Luft und faltete die Hände im Schoß, wobei seine Züge sich immer mehr entspannten und sich eine gewisse Verzückung darüber ausbreitete.

Margot kannte dieses feierliche, von kindlicher Frömmigkeit durchleuchtete Antlitz schon. So sah der Vater häufig aus, wenn er vor Tisch aus der Bibel oft endlose Kapitel vorlas.

Er begann nun in singendem Tonfall zu murmeln:

„Und Gott der Herr sprach: Ich werde eine Pest über dieses Land senden, und alles Getier wird dahinsterben; auch die Menschen werden hingemäht werden wie die Halme, die an der Wurzel faul und zu nichts nütze sind. So soll meine Strafe sein, weil Jochanaan sich anmaßte, meiner Rache vorzugreifen.“

Margot trat neben den alten Herrn, lehnte ihren Kopf an seine Wange und bat: „Papa – wir wollen vergessen, was gewesen ist. Jede Rache ist unedel. Ich kann es nicht dulden, daß du Hektor –“

„Schweig! Schweig! Gottes Mühlen mahlen zu langsam. Die Bösewichter triumphieren. Auge um Auge, Zahn um Zahn!“

Margot wurde es jetzt so unheimlich in seiner Gegenwart, daß sie zu weinen begann.

Draußen schellte jetzt zum Glück die Flurglocke.

Margot erhob sich, trocknete schnell die feuchten Augen. Und der Major schien jäh zu erwachen.

„Ich werde öffnen gehen,“ sagte er. Gleich darauf erschien er wieder im Salon in Begleitung eines älteren Herrn, den Margot bereits von Ansehen kannte. Es war der Sanitätsrat Bollmann, der Direktor des städtischen Krankenhauses. Er erklärte, er habe gehört, daß der Major einige ausländische Briefmarken besitze; er sei Sammler und würde die Marken gern erwerben.

Margot ließ die Herren allein und gegen in den Garten hinab. Hier gesellte sich bald Frau Schmiegel zu ihr. Das war Margot nur lieb, denn sie hatte dadurch doch eine Ablenkung von den sorgenden Gedanken, die infolge der so unvermittelt wieder erwachten rachsüchtigen Pläne des Vaters auf sie einstürmten.

Frau Schmiegel besprach ihr Lieblingsthema, die Hochzeit, die nach drei Wochen stattfinden sollte. Der Tag war bereits bestimmt, ein Mittwoch. Die dicke, gemütliche und herzensgute Alte war von Aarenhus weiter als Köchin und Wirtschafterin verpflichtet worden.

„Wir werden schon miteinander auskommen, Fräulein Margot,“ meinte die Witwe nun wieder wie so oft. „Wir beide ganz bestimmt. Nur – nur –“ Sie zögerte. „Nur – ob so zwischen ihnen und Herren Aarenhus in der Ehe alles stimmen wird, das erscheint mir doch ein wenig – ein wenig fraglich. Nicht wahr, Sie sind einer alten Frau, die das Leben kennt, nicht böse, daß sie so was hier mit Ihnen bespricht. Ich habe Aarenhus ja auch zuerst nicht so recht gekannt. Man durchschaut ihn schwer –“

Margot hatte die fettgepolsterte Hand der Witwe ergriffen. –

„Bitte – bitte – nichts davon. Ich – ich kann das mit Ihnen nicht erörtern –“ –

Dann stand sie auf und trat an das Rosenbeet heran.

Hinter ihr sagte die Schmiegel leise: „Und doch wär’s besser, Sie würden noch rechtzeitig –“

„Gute Nacht!“ Und Margot eilte wie gehetzt ins Haus.

Die Alte seufzte. ‚Lieber Gott, wie wird das noch enden!‘ dachte sie. ‚Man hat doch Augen im Kopf! Man sieh doch, daß sie sich nichts aus ihm macht. Und die ganze Stadt lacht ihn aus, nennt die beiden das – Eisbrautpaar. Und – dabei ist’s so schade, um ihn und sie so schade!‘ –

Acht Tage waren erneut vergangen. Der Major hatte nie wieder von seinen geheimen Racheabsichten gesprochen. Er hatte sich jetzt mit Sanitätsrat Bollmann angefreundet, der ihn häufiger besuchte. Diesem war es wohl zuzuschreiben, daß der Major jetzt nur noch von Briefmarken sprach. Er wollte sich selbst eine Sammlung zulegen. Als Anfang hatte er in ein altes Schreibheft lauter deutsche Reichsmarken sauber eingeklebt, eine recht kindliche Spielerei, wie Frau Ellinor dies Margot gegenüber nannte.

Margot hatte ihre Angst, der Vater könnte wirklich allen Ernstes etwas gegen Aarenhus unternehmen wollen, inzwischen wieder beschwichtigt. Sie hatte sich in den ersten Tagen nach dem schrecklichen Wutanfall des Majors mit dem Gedanken getragen, ihren Verlobten zu warnen, ohne jedoch den Major dabei als den heimlichen Widersacher zu nennen. Sie war jedoch davon abgekommen. Der Vater war ihres Erachtens jetzt viel zu zerfahren und energielos, um Aarenhus schaden zu können.

Ihr Verhältnis zu Hektor trug jetzt den heiteren Schimmer einer Freundschaft zweier Menschen, die etwa das Geschick auf eine einsame Insel verschlagen hat und die nun ernsthaft versuchen, sich immer mehr einander anzupassen, weil sie eben wissen, daß sie auf einander angewiesen sind. –

Bei gutem Wetter fuhren sie regelmäßig in den Abendstunden auf das Meer hinaus. Aber Margot entging es nicht, daß Aarenhus jetzt oft trübe vor sich hinstarrte und mit seinen Gedanken weit weg war. Auch eine Nervosität, die er vergeblich zu unterdrücken suchte, hatte sich seiner bemächtigt. Margot glaubte, er habe geschäftliche Sorgen, oder befürchte vielleicht widrige Zwischenfälle beim Landen des geschmuggelten Tabaks, der ja demnächst nun eintreffen mußte. –

Eines Abends bat Aarenhus dann Margot – und dies geschah zum ersten Mal –, mit ihm noch die Strandpromenade zu besuchen. Sie fanden auch auf einer Bank unweit des Konzertpavillons noch zwei Plätze und hatten sogar bald das Glück, daß ihre Nachbarn das Feld räumten. Nun war die Bank ganz für sich allein. –

Sie träumten eine lange Weile vor sich hin. Aarenhus hatte den Strohhut abgenommen. Auf seiner Stirn standen tiefe Falten. Er war nervöser und zerstreuter als sonst.

Dann wandte er sich unvermittelt Margot zu, rückte näher an sie heran. –

„Der Zustand deines Vaters bereitet mir Sorge,“ begann er. „Erschrick nicht, Margot. Ich hoffe, wir werden noch rechtzeitig helfend eingreifen können. Schon seit Wochen ist mir klar, daß sein Nervensystem schwer in Unordnung ist. Ich wollte schon längst mit dir darüber sprechen. Aber – wir sind uns ja eigentlich so fremd, daß ich es nicht wagte, mich in diese –“

„Fremd?“ unterbrach sie ihn. „Fremd?“

Und – noch nie hatte sie dies getan! – Sie legte ihm die Rechte leicht auf den Arm. „Sage das nicht, Hektor. Es hat eine Stunde gegeben, in der du groß warst. Und seitdem bist du mir nicht mehr fremd. Damals meinte ich, als du mir beichtetest, wie widerwillig du die Reise in dich hinein angetreten hättest –“

Er schaute sie scharf an. Ein Aufleuchten ging über sein Gesicht. Er umklammerte ihre Hände, drückte sie sanft. –

„Margot, wenn ich je hoffen dürfte, daß du –“ Sein heißes, sehnendes Flüstern verstummte wieder.

Sie schwieg. Dann – und ihre Stimme war freundlich, aber ohne besondere Wärme – sagte sie: „Ja, Papa, ist zuweilen recht eigentümlich –“

„Er – ist schwer krank,“ erklärte er ernst. Er hatte ihre Hände wieder freigegeben; er – war so bitter enttäuscht. –

„Schwer krank, Margot. Und es ist die höchste Zeit, daß er in einer Nervenheilanstalt in fachgemäße Behandlung kommt. Du mußt ihm dies beibringen, Margot. Und – wenn er sich sträubt, müssen wir’s mit List versuchen. Er muß fort von hier – unbedingt. Es ist zu seinem und unserem Besten. Er kann Unheil anrichten, denn –“

Margot hatte sich plötzlich kerzengerade gesetzt. Es war dies ihre charakteristische Haltung, wenn sie erregt wurde und dies nicht merken lassen wollte. In ihren Ohren klangen nur noch Aarenhus Worte nach: ‚Er muß fort von hier. Er kann Unheil anrichten –’ Und diese Worte schwollen gleichsam an, übertönten alles andere. Ein Verdacht war in Margot aufgestiegen wie eine Rakete, zur Vorsicht mahnt, – ein Verdacht: ‚Aarenhus will den Vater von hier fortschaffen, weil er ihn fürchtet!’

Sie hatte nicht mehr hingehört auf seine weiteren Sätze. In ihr lebte jetzt nur ein Wunsch, ihm allen das mit genau derselben brutalen Offenheit ins Gesicht zu schleudern, mit der er sie schon am Verlobungstag entweiht hatte durch seine Küsse, durch seinen Körper, der sich dem ihrem entgegengedrängt hatte.

„Komm’,“ sagte sie plötzlich. „Ich möchte zum Strand hinab.“ –

Sie eilte ihm voraus über den Plankensteg, der auf das große Familienbad zulief; sie bog links ab, machte erst halt, als die weißen Muschelteilchen unter ihren Füßen knirschten, als die auslaufenden Wellen fast ihre Schuhe netzten.

Sie machte halt und wandte sich um. Aarenhus starrte sie ganz bestürzt an.

„Margot, was – was hast du nur?“ fragte er ängstlich. „Hat dich –“

Da brach der Sturm los. Ihre Seele öffnete sich gleichsam und ließ all das frei, was darin soeben wieder aufgeschäumt war wie der Wasserrest eines Beckens, in das man einen glühenden Stein geworfen hat.

„Nennen Sie mich nie mehr Margot – nie mehr! Sie haben kein Recht mehr darauf. – Sie haben auch nie ein wirkliches Recht dazu gehabt – nie! Sie haben sich mir ja aufgedrängt, haben mich erhandelt wie eine Ware, die man billig haben kann. –

Nein – ich bin nicht mehr ‚Margot’ für Sie – nicht mehr und nie wieder! Mag auch kommen was da will. Mögen Sie meinetwegen auch hingehen und meinen Vater als Dieb anzeigen. Mögen Sie uns auch verklagen wegen der Summe, die Sie für uns beglichen haben! Ich – ich kann nicht länger schweigen zu alledem – ich kann es nicht! Ich hatte mir ja vorgenommen, diese Abrechnung zwischen uns aufzusparen für den Hochzeitsabend, für das erste Alleinsein, für die Stunde, wo Sie sich am Ziel Ihrer Wünsche glaubten, wo Sie schon hofften, nicht nun – noch mehr mit Ihrer Gier schänden zu dürfen. –

Ja – in dieser Stunde sollten Sie hören, daß ich wußte, welch’ ein – Mensch Sie sind! Und dann – dann hätten mich ein paar mitleidige weiße Pulver vor Ihnen gerettet – für immer. Das wollte ich auch! Aber – es ist anders gekommen. Heute – soeben habe ich Sie abermals in Ihrer ganzen kalten Raffiniertheit kennen gelernt. Erst haben Sie meinen Vater dazu verführt, das Geld zu unterschlagen, dann haben Sie unsere Gläubiger auf uns gehetzt, – und –“

„Margot!“ rief Aarenhus da und packte sie bei den Händen. „Margot – bist du denn von Sinnen? Ich soll –“

Sie riß sich los. „Rühren Sie mich nicht an – nein, wagen Sie es nicht! Ich würde um Hilfe rufen. – Ich würde allen Leuten zuschreien: ‚Seht her, das ist Hektor Aarenhus, der seinen ihm unbequemen Schwiegervater jetzt in eine Irrenzelle einsperren möchte! – Wir sind fertig miteinander. – Ich – verachte Sie, ich – hasse Sie!“

Sie drehte sich kurz um und schritt eilends davon.

Aarenhus verharrte regungslos, – wie betäubt. In seinem Gesicht war ein Ausdruck von Schmerz und Bitterkeit. –

„Vorbei – vorbei!“ murmelte er. „Mein Hoffen war eitel. Ich – habe umsonst die Reise unternommen, die doppelte Reise – aus mir heraus und in mich hinein –“

Er schüttelte ganz fassungslos den Kopf. „Also das – das hatte sie sich für den Hochzeitstag vorgenommen! Sterben wollte sie, sterben mit Haß im Herzen. Sie wußte wohl, da ihr Tod mich mit vernichtet hätte –“

Er schaute dann wie ein halb Trunkener um sich.

Margot war verschwunden.

*

Frau Schmiegel saß auf der Bank, die vor dem alten Haus unter den beiden großen Linden stand; sie saß da zusammen mit ihrer einzigen Freundin, der Köchin Therese, die nun schon siebenundzwanzig Jahre bei Konsul Ehrenstein im Dienst war und dort mit zur Familie gehörte. –

Auch jetzt schlenderte der Alte herbei, faßte an die Mütze und brummte:

„‘n Abend auch. ‘s hat ‘n Gewitter gegeben, Frau Schmiegel. ‘s hat eingeschlagen. Die Geschichte ist eingestürzt –“

„Was soll das, Oehmke, – he? Gewitter?“

Er nickte trübe. „Ja – ja. Ich hab’ gesehen, wie die beiden am Strande standen. Ich hatte grad’ im Boot dicht dabei gehockt und das Wasser ausschöpfen wollen. – Er sagte gar nichts. Nur das Fräulein redete. Und wie redete sie! Wie! Sie hat ihn nur ‚Sie’ genannt. Und zuletzt – zuletzt – das war’s einzige, was ich verstand – da hat sie gerufen: ‚Ich hasse Sie!’ – Nu is die Geschichte also aus. Und – ich hatt’ mich doch schon so gefreut, daß da alles ganz von selbst sich einrenken würde –“

„Mein Gott!“ riefen die Schmiegel und Therese in einem Atem.

Der Alte nickte wieder vor sich hin und brummte:

„Gott wird hier auch nicht mehr helfen können. – Aber – nu verschwinde ich. Da kommt sie, das Fräulein Margot. Allein natürlich. – Und schleichen tut sie wie ‘ne schwer Kranke –“ –

Er trollte sich.

„Therese,“ sagte die Schmiegel sehr energisch, „du mußt mich jetzt allein lassen. Ich – ich werde mit ihr reden. Sie – sie soll sich wundern! Den Hochmutsteufel hat Sie noch immer im Nacken. Na – die Schmiegel kann sehr deutlich werden, wenn man Ihrem Herrn was am Zeuge flickt. Geh’, Therese, geh’. Auf Wiedersehen. Und – daß du reinen Mund hältst!“

Margot stutzte, als Frau Schmiegel ihr dicht vor der Haustür den Weg vertrat.

„Fräulein Margot – auf ein Wort. Bitte setzen Sie sich zu mir dort unter die Linden. Ich muß mit Ihnen sprechen –“

„Es – es geht nicht – nicht jetzt, nicht heute. Ich – bin zu müde. Und – wir hier – wir beide haben jetzt auch kaum noch etwas zu besprechen, Frau Schmiegel –“

Margot sagte das alles so tonlos und so gleichgültig.

„Meinen Sie?!“ fuhr die dicke Frau da auf. „Meinen Sie, wir hätten nichts mehr zu besprechen?! Oh – da – da sind Sie sehr im Irrtum, Fräulein Kammler, – sehr! Ich weiß, was geschehen ist. Woher ich’s weiß, bleibt sich gleich. Jedenfalls nicht von Herrn Aarenhus. Und weil ich’s weiß, daß Sie ihm nun den Laufpaß gegeben haben, daß sie ihm zum Schluß zugerufen haben ‚Ich – hasse Sie!’, sollen Sie nun auch erfahren, wen – wen Sie hassen, anstatt – den zu lieben, der jede Stunde nur an Sie gedacht hat, der – doch nein – nicht hier das alles. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir! Und – tun Sie es nicht, dann – dann sind Sie feige und – schlecht.“

Margot richtete sich höher auf. „Gut. Ich komme, obwohl das, was Sie mir zu sagen haben, keinerlei Interesse mehr für mich hat –“

Frau Schmiegel setzte sich etwas schräg, daß sie Margot bequem ansehen konnte. Und Margot saß wieder ganz gerade mit verschlossenem, gleichmütig erscheinendem Gesicht. Das reizte die gute Alte noch mehr. Sie knetete die Hände vor Aufregung im Schoß und platzte dann heraus:

„Ich bin in letzter Zeit Herrn Aarenhus Vertraute gewesen. Er hielt es nicht mehr aus, das Schreckliche in sich hineinzufressen. Er mußte sich jemandem mitteilen. Daher weiß ich jetzt auch, wie es mit Ihrem Vater steht. –

Alles weiß ich also, was Sie beide angeht – Sie und meinen guten Herrn. Denn gut ist er, herzensgut. Glauben Sie denn zum Beispiel, daß die Frau Konsul aus sich selbst heraus Ihnen die Stickereien so – so hoch bezahlt und Ihnen immer neue Arbeit gibt?! Nein – er ist bei ihr gewesen und hat mit ihr alles verabredet. Nur die Therese, die Köchin, ist eingeweiht. Also hat er Ihnen auf diese Weise das Leben erleichtern wollen; er hat die Stickereien bezahlt – er! Und – mit den Kaufleuten ist’s ja genau so! Da ist er von einem zum andern gelaufen und hat gesagt: ‚Ich bezahle alles; meine Braut soll denken, sie kauft billig.’ –

So – so hat er auch hierbei an Sie gedacht, – bis hin zum Fleischermeister Hecker, bis zum Bäcker, der extra für Sie Weißbrot heimlich backen mußte. –

Ja – das hat er, den Sie jetzt – hassen! Mehr noch tat er. Um Sie zu schonen, hat er den Sanitätsrat unter einem Vorwand Ihren Vater besuchen lassen, der doch seit Wochen im Bureau nur noch Unsinn in die Bücher schreibt, solchen Unsinn, daß Herr Aarenhus dann nachts alles wieder ins richtige Gleis bringen muß. Und als er eben merkte, daß der Herr Major jeden Tag wirrer im Kopf wurde lief er zum Sanitätsrat, damit dieser ganz unauffällig Ihren Vater beobachtete. Und Aarenhus war’s, der sich das mit den Briefmarken ausdachte als Vorwand für des Doktors Besuche. Er wollte Sie eben nicht unnötig ängstigen! –

Ach – was hat er mir nur in den letzten Tagen ganz verzweifelt vorgestöhnt! ‚Frau Schmiegel,’ hat er gesagt ‚wie nur soll ich’s Margot beibringen, daß der Sanitätsrat ihren Vater für geisteskrank und zwar für gemeingefährlich geisteskrank erklärt und verlangt hat, der Major müsse sofort in eine Irrenanstalt –’ Geradezu gejammert hat er aus Mitgefühl und inniger, teilnehmender Liebe. Die Tränen sind ihm über die Backen gelaufen. Heute Nachmittag abermals, als der Sanitätsrat dagewesen war und gesagt hatte: ‚Ich bin verpflichtet, diesen Fall von Geisteskrankheit zur Anzeige zu bringen, falls der Major nicht bis morgen abend in eine Heilanstalt überführt ist. Jeden Moment kann ein Tobsuchtsanfall eintreten, der dann die schwersten Folgen für Unbeteiligte haben könnte –’

Ja – geweint hat er aus Mitleid, und hat mich gefragt: ‚Ob ich’s wage, Margot das Furchtbare mitzuteilen, damit sie mir hilft, den armen Mann fortzuschaffen?’ –

Und ich habe ihm zugeredet, habe erklärt, sie seien doch ein verständiges Fräulein. –

Ja – verständiges Fräulein! Hat sich was mit verständig! Eine Szene haben Sie ihm am Strand gemacht. Hassen tun Sie ihn – hassen – hassen! Aber – das ist der Hochmut bei Ihnen – nur der Hochmut! Ja – der Herr von Osternitz – der wäre gut für Sie gewesen! Das ist ja ein Adliger! Daß er sich mit Ihrer Stiefmutter im Park abgeküßt hatte, – das war ja wohl egal. –

Sie brauchen mich gar nicht so groß anzusehen! Es ist so. Der Osternitz und die schöne Frau Ellinor ahnen’s nicht, daß man sie photographiert hat, als sie sich gerade herzhaft umschlangen. Das Bild liegt bei Herrn Aarenhus im Schreibtisch. Ja – diesen Osternitz, den hätten Sie nicht – gehaßt! Aber meinen Herrn, der Ihretwegen allen Weibern aus dem Wege ging, Ihretwegen schon vor der Verlobung wie ein Mönch lebte, den – den –“

Sie schwieg. Denn neben ihr hatte Margot laut aufgeschluchzt, saß nun zusammengesunken da, das Gesicht mit den Händen bedeckend, saß und weinte – weinte und bebte in fassungslosem Weh, so daß die Rückenlehne der Bank sacht mitzitterte.

Frau Schmiegel war ratlos. –

Tränen – Tränen? Und Herr Aarenhus hatte doch mal gesagt: ‚Meine Braut hat das Weinen wohl schon verlernt.’ –

Und nun weinte sie. Und die dicke Schmiegel knetete ihre Finger und dachte: ‚Ob ich wohl zu grob gewesen bin?’ – Sie überlegte dies noch, als neben ihr jeder Laut verstummte. Als sie hinschaute, war der Platz an ihrer Seite leer.

Margot verschwand gerade im Hausflur. –

Sie hastete die Treppen hoch. Im Wohnflur war das Licht eingeschaltet. Die Türen nach dem Eßzimmer und dem Salon standen halb offen. Und im Eßzimmer brannte die Lampe über dem runden Tisch.

Margot stand still und lauschte. Eine herzbeklemmende Angst hatte sie plötzlich gepackt.

Wo – wo war der Vater? Wo nur? Er saß doch sonst stets um diese Zeit am Eßtisch und las.

So unheimlich totenstill war’s hier.

„Papa!“ rief sie leise. „Papa!“

Nichts – nichts.

Auf Zehenspitzen schlich sie ins Esszimmer. Vor des Vaters Stuhl auf dem Tisch lag aufgeschlagen die Bibel.

Aber – noch etwas lag da.

Ein Briefbogen – Ellinors Schrift.

Margot griff danach.

Ich habe dieses Leben satt. Ich gehe. Ich hoffe, daß du einer Scheidung nichts in den Weg legen wirst. –

Ellinor

Der Briefbogen zeigte Tränenspuren, die noch frisch waren, die nur von dem betrogenen Gatten herrühren konnten.

Margot schlich in den Salon. Auch hier war der Vater nicht.

Dann öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer. Der Lichtschalter befand sich links neben der Tür. Sie tastete danach, drehte einem kleinen Hebel. Die Deckenlampe flammte auf.

Ein Blick dann.

Ein Schrei gellte durch das Haus.

Und Margot schlug besinnungslos zu Boden. –

Frau Schmiegel hatte gerade im Erdgeschoß die Flurtür mit dem Schnepper öffnen wollen, als Aarenhus heimkehrte. Und gerade hatte sie ihn mit einem herzlichen Wort begrüßen wollen, als von oben her der Schrei bis hier hinab tönte.

„Um Gott – was – was mag da passiert sein,“ rief sie mit schlotternder Kinnlade.

Aarenhus stürmte schon die Stufen hoch; klopfte gegen die Tür oben – klopfte stärker. Dann trat er zurück, packte den Türdrücker. –

Ein gewaltiger Stoß – ein Krach – die Tür flog auf – und er fand Margot.

Auf der Schwelle des Schlafzimmers lag sie.

Und drinnen im Zimmer hing in einer Schlinge, die an einem Bilderhaken an der Wand über den beiden Betten befestigt war, der Major Ferdinand Kammler mit aufgedunsenem, entsetzlich entstelltem Gesicht.

Er hing an demselben Haken, der auch das große Bild seiner zweiten Frau trug, ein Bild, das sie in einem dünnen Schleier zeigte.

Margot kam zu sich. Sie wußte, daß sie wach war; aber sie war noch zu matt, die Augen aufzuschlagen.

Sie spürte den erfrischenden Geruch von Eau de Cologne; sie merkte, daß jemand sanft ihre Schläfen rieb.

Sie hörte auch Flüstern. Sie erkannte Frau Schmiegels fettige Stimme. Und die zweite war die Hektors.

Eine Tür klappte leise.

Wieder betupfte jemand ihre Stirn mit einem kühlen Tuch.

Und nun gehorchen ihr die schweren Augenlider; nun sah sie, daß sie auf dem Diwan in Hektors Arbeitszimmer lag, daß Hektor neben dem Diwan kniete.

Sie hob den Kopf ein wenig; suchte seine Augen, suchte darin zu lesen.

Seine Hand strich über ihr aschblondes Haar hin. Und dazu sagte er: „Mein armer, armer Liebling!“

Margots Herz wurde warm vor Glück; ihre Seele jubelte.

Sie legte Hektor die Arme um den Hals, zog ihn an sich.

„Verzeih’, – verzeih’ mir. Ich – liebe dich ja!“

Dann küßte sie ihn, während ihren Augen heiße Tränen entquollen. –

Sechs Wochen drauf fand in Oderburg eine ganz stille Hochzeit statt. Und am Abend dieses Tages trug die blitzblanke, flinke ‚Margot’ die junge Frau Margot und ihren glücklichen, strahlenden Gatten hinaus aus der Stadt stromaufwärts auf die Hochzeitsreise.

Hand in Hand saßen sie am Steuer des Kutters; aber heute lehnte Margot an Hektor Aarenhus’ Brust und schaute mit selig verträumtem Lächeln in das Abendrot über den fernen, dunklen Wäldern; sie fürchtete ihn nicht mehr, ihren Hektor, – nein, – sie flüsterte jetzt sogar zum dritten Mal schon:

„Ich – bin so müde. Ich denke, wir ankern bald.“ –

Die blitzblanke ‚Margot’ schaukelte dann in einer kleinen Bucht träge vor ihrer Ankerkette. Der Platz am Steuer war leer. Im Röhricht kreischten Wildenten, am Himmel verblaßte das Abendrot.

In der kleinen Kajüte feierte die Liebe ein Zauberfest.

* *

*

 

Fußnoten:

1 veraltet für Betrüger

2 Nikolaus Lenau (1802-1850) ist der wichtigste deutschsprachige Dichter des Weltschmerzes und Pessimismus. Er gilt als der bedeutendste Dichter Österreichs im 19. Jahrhundert.

3 (franz.) feines Gewebe

4 „Zwei Reisen“ von Wilhelm Müller (1794 – 1827); deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts.

5 (griech.) Sinngedichte