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Liebeszauber

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 376

Liebeszauber.

Roman von

Waltraud Kebla.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.

  

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1919 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

Berlin.

 

 

Das Gewitter kam näher. Die lautlose Stille draußen, das Verstummen jeglichen Geräusches im Garten, wo soeben noch die Bäume unter den Windstößen sich ächzend verbeugt und die Blätter wie in Angst eifriger denn je gewispert und gerauscht hatten, zeigte den drohenden Regenguß an.

Abermals zuckte ein ganzes Bündel von Blitzen auf und warf Sekunden eine matte, unheimliche Lichtflut auf die Vorhänge der beiden fest geschlossenen Fenster des gemeinsamen Zimmers der ‚Martinsgänschen‘.

So nannte man in Braunhafen scherzend die Töchter Meister Martins, der in der mittelgroßen Seestadt eine der populärsten Persönlichkeiten war. Magda und Toni Martin waren Zwillinge. Aber sie sahen sich weder zum Verwechseln ähnlich, wie dies immer wieder von Zwillingen behauptet wird, noch stimmten ihre Charaktere und Neigungen im geringsten überein.

Toni, die um eine halbe Stunde jüngere, hatte bereits fest geschlafen und erwachte jetzt erst durch den heftigen Donner, der der elektrischen Entladung folgte und das ganze Haus erbeben und die Fensterscheiben klirren ließ. Sie hatte in jähem Schreck den auf dem rechten Arm ruhenden Kopf etwas gehoben, fand sich nur schwer nach dem Traum, der ihr neunzehnjähriges Herz freudig hatte schneller schlagen lassen, in die Wirklichkeit zurück, starrte erstaunt in das erleuchtete Zimmer hinein und erfaßte erst allmählich alle Einzelheiten des seltsamen Bildes, das sich ihren noch schlaftrunken Augen darbot.

Auf dem Tische vor dem alten hochlehnigen und arg verschossenen Plüschsofa brannte die elektrische Stehlampe mit dem grünen Schirm, der jedoch so schräg gestellt war, daß Tonis an der rechten Wand stehendes Bett im Schatten lag, während die andere Zimmerhälfte von der entblößten elektrischen Birne ganz hell bestrahlt wurde.

Dort nun links neben dem anderen Bett dicht vor der Wand mit der modernen, hellen Gobelintapete stand Tonis Schwester in einem losen, weinroten Morgenkleid, über dessen Spitzenkragen das reiche aschblonde Haar gelöst in langen Flechten herabfiel.

Magda hatte die rechte Hand halb erhoben. Und in dieser blinkte etwas Langes, Dünnes, metallisch Glänzendes, – eine Hutnadel.

Wiederum ein Blitz, dem unmittelbar das Prasseln eines Sturzregens und dann der hallende Donner folgten.

Da war Toni endgültig munter, richtete sich noch mehr auf und schaute mit wachsender Unruhe auf die regungslose Gestalt der Älteren, die nun plötzlich den erhobenen Arm sinken ließ und gleichzeitig einen tiefen Seufzer ausstieß.

Schon wollte Toni sie anrufen, als Magda leise ein paar Worte murmelte, die sie nach kurzer Pause ein wenig lauter wiederholte.

„Er hat’s verdient. Ich will es!“ verstand Toni ganz deutlich.

Wie eine Lähmung überkam es sie da. – Was – was nur bedeutete das alles?! Was hatte Magda vor?! Wozu die spitze Hutnadel?! Wozu stand die Schwester dort vor dem kleinen, mit Photographien dicht besteckten Wandbrett?!

Tonis Gedanken hasteten in jagender Eile und suchten nach einer Erklärung für dieses jetzt während des Gewitters doppelt unheimlich wirkende Bild. Dann zuckte sie jäh zusammen. Doch bevor sie noch diese Vermutung, auf die Magdas merkwürdige Worte sie gebracht hatten, in ihrer ganzen Tragweite richtig erfaßt hatte, geschah schon das, was Toni niemals hätte argwöhnen können. Sie hatte gefürchtet, Magda wolle sich ein Leid antun. Und nun – nun!

Ja – war die Schwester denn plötzlich nicht recht bei Sinnen?! Weshalb stach sie jetzt mit der Hutnadel zweimal zu, als hätte sie die Absicht, die Tapete unter dem Wandbrett zu durchlöchern?!

Toni vermochte sich nicht zu rühren. Sie saß aufrecht da und stierte wie gebannt hinüber auf die Ältere, die nun die Nadel fallen ließ, nach ihrem Bett hinschwankte, davor in die Knie sank und in wildem Aufschluchzen den Kopf in die Kissen vergrub.

Wie ein häßlicher Spuk war dieses ganze, kurze Erleben nach dem schreckhaften Erwachen. Was nur hatte Magda soeben getan?! Weshalb war sie wie taumelnd auf ihr Bett zugeschritten, weshalb so kraftlos niedergesunken?!

Toni hörte das jämmerliche Wimmern der Älteren. Und darüber vergaß sie alles, was in den letzten Wochen sich so entfremdend zwischen sie und Magda gedrängt hatte! Und sie hatte viel zu vergessen, sehr viel.

Wenn je die Verschiedenheit dieser beiden Mädchenseelen sich in unendlich feinen, zahlreichen Äußerungen offenbart hatte, dann war es ja seit dem Tage gewesen, wo in ihr Leben das große, Leidenschaften aufpeitschende Ereignis sich eindrängte: Hektor Binks Einzug in das alte Haus in der Eichenstraße, – in das Haus Meister Martins.

Da hatte der Kampf um den Mann begonnen; ein lautloser Kampf, der von Magdas Seite her mit allen Mitteln geführt worden war, – erbittert, rücksichtslos und doch mit heuchlerischer Harmlosigkeit.

Toni scheuchte diese Gedanken fort. Denn – rief sie sich das alles ins Gedächtnis zurück, was Magda wie eine schlaue Intrigantin ersonnen hatte, um Hektor Bink für sich zu gewinnen, so quoll eine namenlose Bitterkeit, mehr noch, eine rachsüchtige Feindseligkeit in ihr hoch. Und diese häßlichen Empfindungen mußte sie bannen; sie durften nicht Macht über sie erlangen – niemals.

Toni erhob sich leise. Gerade da schien das alte Gebäude unter einem ungeheuren Schlag in den Lüften zu schwanken. Und so furchtbar war dieses Dröhnen des Donners, daß Toni kraftlos zurückfiel und die Hände schnell gegen die Ohren preßte.

So verharrte sie minutenlang. Ihre Augen aber waren dabei unverwandt auf Magda gerichtet, die noch immer in derselben Stellung vor ihrem Bett kniete und deren Leib hin und her geschüttelt wurde von dem gewaltsam unterdrückten Weinen und Schluchzen.

Unwillkürlich eilte ihr Blick dann jedoch wie suchend nach der Stelle der Wand hin, die von der Hutnadel getroffen sein mußte.

Und – emporschnellte sie nun mit schlaff herabsinkenden Armen, hochgerissen von einem wilden Schreck, der ihr das Blut aus den Wangen trieb.

Dort – dort unter dem Wandbrett hing jetzt eine große Photographie – die des ersten Kapellmeisters der Braunhafener Kurkapelle – die Hektor Binks.

Toni ging darauf zu; nicht wahrgenommen von der Schwester, ging wie eine Nachtwandlerin – ohne Gedanken – unfähig zu denken, nur vorwärtsgescheucht von dem Wunsche, zu sehen, was Magda dem Bilde angetan haben könnte.

Nun stand sie davor; nun sah sie, daß es mit der Oberkante unter der Zierleiste des Wandbrettes festgeklemmt war; sah noch mehr, als sie sich so stellte, daß das Lampenlicht voll den etwas weichlichen Künstlerkopf traf. Magda hatte mit der Nadel die Augen des Bildes durchstochen – mitten in die Pupillen hinein hatte sie die Spitze gebohrt.

Toni starrte ganz fassungslos auf diese ihr unerklärliche Zerstörungen dieser Photographie, die sie bisher bei Magda noch niemals gesehen hatte. Und wieder drängten sich ihr neue Fragen auf, für die sie keine Antwort fand. Hatte Hektor Bink Magda dieses Kabinettbild geschenkt oder hatte sie es sich gekauft? – Denn in mehreren Buchhandlungen der Stadt waren Photographien Binks ausgestellt und für jeden erhältlich, der den teueren Preis zahlen wollte. Magda konnte es sich sehr wohl heimlich gekauft haben, obwohl dies zu ihrer fast an Geiz grenzenden Sparsamkeit wenig gepaßt hätte.

Da zog Toni das Bild schnell hinter der Leiste hervor, drehte es um, las als Widmung:

‚Einen Irrtum einsehen und als Freunde scheiden, darin liegt wahre Größe! Alles läßt sich durch Energie vielleicht erreichen, nur eines nicht: In unser Herz Gefühle zu pflanzen, gegen die die Natur sich sträubt! – Und – Liebe ist und soll ein natürliches Empfinden sein, natürlich wie der Trieb, der den Schmetterling dem Duft des Weibchens folgen läßt!‘

Braunhafen, im Juli 1920

Hektor Bink

Langsam schob Toni das Bild wieder an den früheren Platz; langsam kehrte sie zu ihrem Bett zurück, legte sich nieder und schloß die Augen.

Wehe Trauer erfüllte ihre Seele. Die süßen Träume vorhin hatten gelogen. Hektor Bink würde niemals ihr gehören! Magda hatte ihn in ihre Netze gelockt gehabt, hatte ihn dann wieder freigeben müssen! Das besagte die Widmung mit aller Deutlichkeit. Und den Mann, den die Schwester bereits mit Zärtlichkeiten überschüttet hatte, den mußte nun auch sie für immer aufgeben. Denn nur zu gut kannte sie ja jetzt der Älteren wahre Sinnesart! Was Magda nicht für sich besitzen konnte, würde sie nie einer anderen gönnen, ganz besonders nicht der jüngeren Schwester! Und einem Charakter wie Magda würde es nicht schwer werden, das zu zerstören, was hier im alten Hause der Eichenstraße an zarten Fäden eines Liebesglückes sacht entstanden war.

Toni hörte nichts mehr von dem schwächer und schwächer werdenden Grollen des Gewitters. Ihre Gedanken umkreisten jetzt in banger Sorge das seltsame Geschehnis dieser Nacht, das ihr unerklärlich war wie die Tat eines, der in geistiger Umnachtung widerspruchsvolle Handlungen begeht. – Weshalb hatte Magda die Augen des Bildes durchbohrt; weshalb vorher diese aus Rachgier geborenen Worte gesprochen:

‚Er hat’s verdient! Ich will es!‘

Weshalb nur – weshalb?! –

Dann ein Geräusch von drüben. Sie öffnete nur ganz wenig die Lider. Und sie erblickte Magda, die nun aufrecht dastand, die den Mund zu einem grausamen Lächeln verzogen hatte und die jetzt das Bild mit einem Ruck von der Wand riß, es unter ihr Kopfkissen legte und dann die Lampe ausschaltete, nachdem sie noch argwöhnisch nach der Jüngeren Lager hinübergespäht hatte. –

*

Links neben der Haustür zu der drei Steinstufen emporführten, befand sich das große Schaufenster mit der ganz weltstädtischen Anordnung der ausgestellten Waren. Und über dem Schaufenster war das lange Schild angebracht:

Gottlieb Martin

Schuhmachermeister

Martins Schuhe und Stiefel waren berühmt bis hin zu der Provinzialhauptstadt. Leute, die nirgend anderswo für ihre hühneraugenbesäten oder durch Überbeine und hervortretende Ballen entstellten Gehwerkzeuge sofort passende Hüllen gefunden hatten, verkündeten laut Meister Martins Geschicklichkeit und Sorgfalt; Damen, die an pommerschen Füßchen litten, und gern französisch zierliche Schuhchen tragen wollten, taten dasselbe noch lauter. Kurz – Gottlieb Martin war kein Schuhmacher, sondern ein Fußbekleidungskünstler, dazu noch ein Mann von zahlreichen anderen Talenten und Fähigkeiten, die ihm nebenbei den Ruf eines klugen Kopfes und weitsichtigen Geistes eingetragen hatten.

Alles in allem war er ein Original. Und er wollte es sein. Er war schlau. Er wußte, daß er durch sein Äußeres niemandem imponieren konnte. Er war klein, hatte O-Beine und einen starken Buckel, dazu einen langen Hals und einen lächerlich kleinen Kopf mit einem Vogelgesicht.

In seinem Hause war er – scheinbar – unbeschränkter Herrscher. Aber nur scheinbar. Das eigentliche Regiment führte Frau Emilie Martin, eine noch heute stattliche Erscheinung, die seiner Zeit den buckligen Schuhmachergesellen, obwohl selbst hübsch und reizvoll, wirklich aus Liebe geheiratet hatte.

Punkt sechs Uhr begann bei Martins in der warmen Jahreszeit die Tagesarbeit. Auch die ‚Martinsgänschen‘ mußten um diese Stunde sich unten im Erdgeschoß am Kaffeetisch einfinden. Nur der Sohn, Herr Emil Martin, jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und zweiter Buchhalter am städtischen Elektrizitätswerk, durfte länger schlafen. Er nahm überhaupt eine Ausnahmestellung in der Familie ein.

Auch heute nach der Gewitternacht fand sich die Familie wie immer um sechs Uhr in der Wohnstube am gedeckten Kaffeetisch zusammen.

Magda gähnte viel und sah sehr blaß aus. Toni war wortkarg und insichgekehrt.

„Habt ihr euch gezankt?“ fragte Frau Emilie und schaute die Zwillinge prüfend an.

„Wir denken gar nicht daran,“ meinte Magda schnell. „Weswegen wohl?“

Meister Martin, der stets auf einem hohen Kissen auf seinem Stuhl saß, klopfte mit dem Fingerknöchel laut auf die Tischplatte.

„Diese Antwort war ungehörig, Magda!“ sagte er streng. „Überhaupt – du bist in letzter Zeit so gereizt, daß dies wohl eine besondere Ursache haben dürfte. Und bummelig bist du auch! Den Lexikonband mit B hast du noch immer nicht in den Schrank zurückgestellt. Was schmökerst du eigentlich darin herum?“

Magda war plötzlich flammend rot geworden. Trotzdem erwiderte sie gelassen:

„Ich wollte über Bulgarien etwas nachlesen, Vater. Dort soll jetzt ja auch eine revolutionäre Bewegung ausgebrochen sein.“

„So?! Hm – wer’s glaubt, wird selig! Seit wann interessierst du dich für Politik? – Jedenfalls stellst du den Band sofort in den Schrank zurück – verstanden!“

Toni dachte nur an das, was sich in der verflossenen Nacht ereignet hatte. Alles andere war ihr gleichgültig. Sie hatte unruhig geschlafen. Sie fühlte einen dumpfen Druck auf ihrer Seele wie die Vorahnung von traurigen Geschehnissen. In ihrer Ehrlichkeit hätte sie sich am liebsten mit Magda über die ihr unverständliche Verstümmelung der Photographie Hektor Binks offen ausgesprochen.

Meister Martin hatte sein Notizbuch hervorgeholt, blätterte darin und sagte nun: „Toni, du gehst nachher mit Rechnungen zu den faulen Kunden. Du erreichst noch immer am meisten. – Mach’ kein langes Gesicht, Mädel! – Der Major Mutius hat jetzt über fünfhundert Mark zu zahlen, Amtsrichter Sauerbier über vierhundert – und so weiter. Fast viertausend Mark stehen aus. Und die Leute sind ja nur zu bequem, die Beträge zu begleichen. Geld haben sie schon. Na – hätten sie’s nicht, würde ich ihnen auch nicht Kredit gewähren! – Also, Toni, – um acht machst du dich auf die Socken. Du kannst ja die Sache harmlos einleiten und mitteilen, daß die neue Sendung Strandschuhe eingetroffen ist und daß ich zunächst meine alten Kunden befriedigen möchte. –

Du, Magda, übernimmst dann vormittags das Ladengeschäft. Du hast dich oft genug jetzt davor gedrückt. Meine Töchter sind keine Prinzessinnen, du –!“

Frau Emilie hüstelte kräftig. Denn das Dienstmädchen war eingetreten, was Meister Martin nicht bemerkt hatte.

„Die Rötel ist da,“ meldete Anna, eine dralle Landpomeranze mit jeglichem Mangel an Umgangsformen.

„Es heißt ‚Frau Rötel‘, Anna!“ verbesserte Frau Emilie.

Anna zuckte die Achseln. Sie war zwar erst achtzehn, aber sie wußte, was sie ‚Schusters‘ bieten konnte.

„Soll rein kommen,“ brummte Martin. „Was will die alte Spinatwachtel denn schon so früh bei uns?“ fügte er hinzu, als Anna verschwunden war.

Frau Malwine Rötel war die Witwe eines Oberlehrers, kinderlos und seit langem Tanz- und Anstandslehrerin in Braunhafen.

Sie trat ein. Aber heute fehlte auf ihrem mageren, feinen, faltigen Gesicht das liebenswürdige Lächeln. Mehr noch – sie sah ganz verstört aus.

Meister Martin hatte sich erhoben, reichte ihr die Hand.

„Na – wo brennt’s denn?“ fragte er. „Setzen Sie sich Frau Rötel. – Sie sollten sich auch besser ernähren. Wenn Sie sich statt dieses neuen Morgenkleides fünf Pfund Butter gekauft hätten, wär’s schlauer gewesen.“

Frau Rötel hatte den anderen Martins zugenickt, nahm Platz und erwiderte hastig: „Herr Bink ist die ganze Nacht nicht heimgekehrt, und in seinem Zimmer brannte das elektrische Licht. Um elf Uhr abends ging er gestern wieder aus, nachdem er kaum zehn Minuten daheim gewesen. Und – bis jetzt ist er nicht zurück.“

Sie schaute Martin ängstlich an. Der lachte etwas meckernd.

„Künstler! Bummler! – Spaß – er wird gekneipt haben. Was weiter! Wer weiß, wo er seinen Kater ausschläft.“

„Aber – aber, – er hat doch das Licht brennen lassen,“ sagte Frau Rötel unsicher. „Das deutet doch wohl darauf hin, daß er sehr bald zurückkehren wollte. Ich hörte ihn weggehen. Er hat auch nur Hut und Stock mitgenommen, obgleich es doch bereits im Westen stark wetterleuchtete.“

„Hm – und was soll ich nun dabei tun?“ meinte der Meister kurz. „Wollen Sie gleich zur Polizei rennen und ihn ausklingeln lassen – als abhanden gekommen?! – Nein, warten Sie nur ruhig ab. Er wird schon wieder auftauchen.“

„Vielleicht haben Sie recht,“ nickte die magere, grauhaarige Dame nachdenklich. „Künstler sind ja so unberechenbar. Jedenfalls – ich würde nie wieder einen als Mieter aufnehmen. Man – man erlebt doch zu viel mit den Herren, ganz besonders wenn sie noch wie Bink Stunden erteilen.“

Martin und seine drei Frauensleute waren aufmerksam geworden. Die Rötel war ja für Braunhafen überhaupt die wandelnde Skandalchronik. Aber – was sie weitertrug, stimmte stets mit den Tatsachen überein.

„Was haben Sie denn erlebt?“ fragte Martin aufmunternd. „Reden Sie nur frisch von der Leber weg! Meine Weiber schwatzen nichts aus, und ich als Hauswirt muß doch wissen, was hier vorgeht.“

Frau Alwine hob die reich beringten Hände zu einer sehr schönen, eindrucksvollen Geste der Abwehr.

„Wo werde ich derlei Kleinlichkeiten aufbauschen, lieber Meister! Nein, das – das liegt mir nicht. Mich geht es nichts an, daß die jungen Damen unserer ersten Kreise plötzlich alle ihr Geigentalent entdeckt haben und bereitwilligst zehn Mark für die Stunde zahlen und daß gerade die wohlhabendste von ihnen täglich Unterricht nimmt, wobei stets der Türvorhang nach dem Flur zugezogen wird, so daß man nichts hört und sieht.“

„Durchs Schlüsselloch, – verstehe!“ meckerte Martin. „Hm – die wohlhabendste? – Das kann nur Fräulein Poputtke sein, die seit drei Monaten plötzlich ‚erblondete‘ Erna, die strohblondes Haar wohl für vornehmer hält als braunes! Auch ‘n Geschmack!“

„Bitte – ich habe keinen Namen genannt!“ lächelte Frau Rötel schwach. Dann stand sie auf und verabschiedete sich.

„Ein netter Filou!“ sagte Martin nun zu den Seinen. „Dieser Fiedelfritze ist das reine Malheur für Braunhafen. Das ganze Weibervolk ist verrückt nach ihm.“ Er sah scharf nach Magda hin. „Daß er auch hier bei uns sich als Familienfreund eingenistet hat, paßt mir gar nicht! Der Kerl ist keine Partie für euch, hat nischt, wird nie was haben und verdreht euch die Köpfe.“

Frau Emilie warf ihrem Mann einen empörten Blick zu.

„Wir können froh sein, daß wir durch ihn etwas geistige Anregung haben,“ sagte sie kurz. „Du übersiehst auch, daß er im Winter zweiter Kapellmeister am Stadttheater in Rostock und auf vier Jahre noch fest engagiert ist. Wir können zufrieden sein, wenn er – Magda nehmen würde.“

„So?! Zufrieden sein! Ich danke!“ brummte Martin. „Dann könnt’ ich ihm wohl erst ‘n ganzen Sack voll Schulden bezahlen! – Doch – ich will nicht leeres Stroh dreschen! Der nimmt weder Magda noch sonst ein wenig begütertes Mädel. Du hast ja von der Rötel gehört, Emilie, nach wem er angelt. Erna Poputtke ist ihre Million schwer. Daß ihr Vater noch vor einem Jahr ‘n ganz übel beleumundeter Viehhändler war, – daran wird er sich kaum stoßen!“

Toni hatte den Kopf tief gesenkt. Das, was hier so brutal offen verhandelt wurde, traf ihre zartbesaitete Seele wie schmerzhafte Keulenschläge.

Also auch die Mutter hoffte, daß Magda und Bink vielleicht ein Paar werden würden! – Das hatte sie nicht geahnt – niemals! – War sie denn blind gewesen, daß sie nicht gemerkt hatte, was doch offenbar der Mutter bereits aufgefallen war, – eben eine gewisse Vertrautheit zwischen Bink und Magda?! Ja – blind und töricht hatte sie sich gezeigt, hatte sich durch des vielbegehrten Mannes heimliche Händedrücke und zärtliche, werbende Worte völlig in Sicherheit wiegen lassen! Erst diese Nacht hatte ihr dann die Augen geöffnet, – die Widmung des Bildes und Magdas ganzes Verhalten.

Sie saß still da; sie fühlte nur eins: Sie würde über diese Enttäuschung nie hinwegkommen! Sie hatte ja so fest erwartet, daß Bink in allernächster Zeit zu ihr das entscheidende Wort sprechen würde; sie hatte sich als Siegerin in dem mit so ungleichen Waffen ausgefochtenen Kampf um den Mann betrachtet, hatte gewähnt, gerade ihre Zurückhaltung, ihre keusche Weiblichkeit hätten Bink zu ihr hingezogen! –

Und nun – nun mußte sie einsehen, wie gewissenlos er mit ihr gespielt hatte. Magda war ja fraglos schnell von ihm erobern worden, war ihm aber wahrscheinlich nur deshalb auch so schnell wieder gleichgültig geworden. Und – nebenbei dann noch sein ohne Zweifel ebenso verwerfliches Spiel mit der reichen Erna Poputtke, deren Vater sich jetzt Rittergutsbesitzer nennen durfte und letztens die eleganteste Villa hier in Braunhafen gekauft hatte! –

Das – das also war Hektor Bink. Ein leichtfertiger Don Juan – nichts weiter! Einer, der mit Frauenherzen spielte, der vielleicht die harmlose Toni Martin belächelt hatte, weil auch sie ihm so leicht ins Garn gegangen.

Sie hörte nicht mehr hin auf das, was die Eltern und Magda sprachen, sie dachte jetzt, und dies war ihr ein kleiner Trost in ihrem Herzeleid: ‚Nur gut, daß ich so vorsichtig war, ihm nichts zu gestatten, was mich noch enger an ihn gefesselt hätte – keinen Kuß, keine Umarmung, kein heimliches Stelldichein!‘

Da – ihr Name!

„Toni, zum Donner, – schläfst du!“ rief Meister Martin. „Geh’ mal zur Rötel nach oben und sag’ ihr, sie soll mich wissen lassen, falls der Bink bis zehn Uhr nicht wieder da ist. Um elf hat er ja das Frühkonzert zu dirigieren, und –“ Er machte eine kurze Handbewegung. „Na – geh’ nur, Mädel! Brauchst übrigens nicht so ängstlich zu sein. Die Rötel beißt niemand, wenn sie auch Haare auf den Zähnen hat und von dir letztens erzählt haben soll, du träfest dich mit einem Matrosen im Park! Es wird wohl der junge Kerkholm gewesen sein, mit dem sie dich zusammensah.“ –

„‘s ist nichts dabei,“ fügte er hinzu, als Toni ärgerlich die Stirn kraus zog. „Ich weiß ja – du und ‘n einfacher Motorbootführer! Da kenne ich meine ‚feinen‘ Töchter zu gut!“ Das letzte klang stark ironisch. Nichts konnte Meister Martin ja so in Erregung bringen, als Versuche seiner drei ‚Frauenzimmer‘, über ihren Stand hinaus die Vornehmen spielen zu wollen. –

„Und dann bring’ auch gleich das Lexikon mit von eurem Zimmer herunter, Toni,“ rief er ihr noch nach.

*

Toni hatte die Bestellung bei Frau Rötel ausgerichtet. Und diese hatte dem jungen Mädchen dann zugeflüstert: „Passen Sie auf, – da ist ein Unglück mit dem Bink geschehen! Er ist ja so – so wenig wählerisch! Vom Tanzboden holt er sich die Mädels, aus der Dampfwäscherei. Die Fischerburschen haben ihm schon Rache geschworen. – Ach Gott – ich wünschte, er wäre erst wieder da. Er ist mir noch die ganze Junimiete schuldig!“

Toni mochte die Rötel nicht leiden. Das war schon so gewesen, als Toni noch barfuß im Hof und Garten umherlief. Jetzt aber, wo sich Tonis Herz in Angst um Hektor Bink aufs neue zusammenkrampfte, vergaß sie diese Abneigung und fragte leise: „Haben Sie denn irgend welche Anhaltspunkte dafür, daß Bink etwa von den Fischerburschen in einen Hinterhalt gelockt worden ist, Frau Rötel?“

Frau Alwine ergriff plötzlich Tonis Hand. „Kind,“ sagte sie fast innig, „liebes Tonichen, Sie haben sich von mir bisher stets in fast verletzender Kälte zurückgezogen. Sie glauben, ich habe eine böse Zunge, trachte nur danach, die Leute zu beklatschen. – Oh – ich lächle über diese Verdächtigungen! Was ich weitererzähle, geschieht stets in bestimmter Absicht, Kind, – glauben Sie mir! Aber – diese Absicht –. Doch nein – wozu soll ich mich verteidigen! Vielleicht wird die Zukunft Ihnen noch zeigen, was Alwine Rötel mit alldem bezweckt. –

Nun zu Ihrer Frage. Nein – Anhaltspunkte habe ich nicht dafür, daß Bink vielleicht blutig geschlagen irgendwo im Park oder am Strande liegt. Nein, nein, – das war nur so ein bloßer Verdacht von mir. Er mag zutreffen, mag’s auch nicht! Jedenfalls, liebes Kind, lassen Sie sich das eine gesagt sein von einer Frau, die mehr Menschenkenntnis besitzt als ein steinalter Pfarrer: Bink ist kein schlechter Mensch! Nur eitel wie alle schönen Männer, denen die Weiber sich anbieten. Ihm fehlt eine feste Hand, die ihn sicher auf den rechten Weg leitet – eine Frauenhand. Vielleicht, Kind, vielleicht könnten Sie diese Retterin werden, wenn Sie genug Energie aber auch Zurückhaltung besitzen. Gerade Sie, Tonichen! Ja – schaun Sie mich nur so maßlos erstaunt an. Es ist so – wirklich! Bink liebt Sie fraglos. Vorläufig noch auf seine Art, das heißt, er möchte auch mit Ihnen gern so eine kleine Saisonliebelei anfangen. Und – weil er bisher stets so rücksichtsvoll zart Ihnen gegenüber geblieben ist, – deshalb eben nehme ich an, daß diese Liebe diesmal bei ihm tiefer sitzt –“

Das weitere hörte Toni nicht mehr. Sie hatte sich plötzlich umgedreht und war aus dem Wohnungsflur der Rötel förmlich hinausgestürzt, hastete nun die Treppe empor in das zweite Stockwerk und in das gemeinsam mit der Schwester bewohnte Zimmer.

Hier sank sie in eine Ecke des verschossenen Plüschsofas und begann bitterlich zu schluchzen.

‚Hat die Rötel mich nur verhöhnen wollen?‘ dachte sie. Und sofort beantwortete sie sich selbst diese Frage, sagte sich, daß diese Frau, die heute ihr gegenüber so herzenswarme Töne angeschlagen hatte, diese niedrige Absicht kaum gehabt haben könne.

Und aus dieser Überzeugung entsprang dann weiter für sie die Gewißheit, daß Frau Rötel sehr wohl Beweise dafür haben müßte, ob Hektor Bink gerade sie, die bescheidene, scheue Toni, anders liebe als die vielleicht zahlreichen Mädchen, die aus ihrer Schwärmerei für ihn kein Hehl machten und die glücklich waren, wenn er sie ansprach, wenn er ihnen noch mehr gewährte.

Aber – was nützte ihr diese Liebe eines Mannes, der so wenig inneren Halt besaß, der eine Schmetterlingsnatur war, der gleichzeitig Magda und auch ihr wahrscheinlich dieselben zärtlichen Redensarten zuflüstert und dieselben heißen Blicke zugeworfen hatte? Ihr wäre es weit weniger peinvoll gewesen, wenn Frau Rötel ihr das gerade Gegenteil anvertraut hätte, – daß sie für Hektor Bink eben auch nur ein Spielzeug sei – eine von den vielen, die er zu lieben vorgab und die ihm doch nicht näher standen als eben Gespielinnen eines Augenblicksrausches.

Sie durfte sich hier jedoch diesen Gedanken und den Äußerungen ihres Schmerzes nicht länger hingeben. Sie stand auf, trocknete die Augen, kühlte die brennenden Lider mit dem feuchten Schwamm und betupfte sich anschließend ganz leicht mit der Puderquaste.

Dann schaute sie sich nach dem Lexikonband um. – Ah – dort lag er ja in der Öffnung von Magdas Nachttischchen unter ein paar Zeitschriften, die ihn fast ganz verdeckten. Deshalb auch hatte sie ihn bisher nicht bemerkt. Wirklich – Magda hatte die Zeitschriften so darüber gelegt, daß dies ganz den Eindruck machte, als ob das dicke Buch den Blicken der Schwester entzogen werden sollte.

Und – da besann Toni sich nun auch auf Magdas verlegenes Erröten und auf die so durchsichtige Notlüge, als der Vater gefragt hatte, was sie denn in den Bande habe nachlesen wollen.

Ein ganz ungewisser Verdacht stieg da in Toni auf. Magda könnte in dem Buche vielleicht etwas gesucht haben, das zu den Vorgängen der verflossenen Nacht in irgend einer losen Beziehung stand.

Kaum war dieser Gedanke in ihr rege geworden, als ihr auch blitzartig etwas ganz Seltsames einfiel, – eine scherzende Bemerkung Binks, als dieser letztens spät abends noch mit den Eltern und den Zwillingen in der Laube im Garten gesessen hatte.

Da war die Rede auf den Aberglauben der Seeleute und der Strandbevölkerung, der Fischer und Haffbauern, auf die versunkene Stadt Vineta und schließlich auch auf sogenannte Liebestränke gekommen. Und an letzteres hatte Bink die Äußerung geknüpft, in Bayern sei letztens ein sehr merkwürdiger Prozeß vor den Geschworenen zur Entscheidung gelangt, in dem es sich darum handelte, daß eine Bauerndirne eine männliche Wachspuppe mit Teilen aus der Kleidung ihres ungetreuen Geliebten angezogen und dann zu dem Zwecke hinter der Scheune verbrannt habe, um durch die Vernichtung dieser Puppe auch den Geliebten zu töten. Hierbei war nun durch einen unglücklichen Zufall die Scheune mit in Flammen aufgegangen, und ein zweiter, noch unseligerer Zufall hatte gerade in derselben Scheune jenen Treulosen seinen Rausch ausschlafen lassen. –

Das Bauernmädchen war mit einer geringen Strafe davongekommen. In der ländlichen Bevölkerung jener Gegend aber hatte der Aberglaube nun neue Nahrung erhalten. Fester denn je vertrauten die Leute auf die Tatsache des sogenannten ‚Bildzaubers‘, und jeder war überzeugt, nicht ein Zufall habe dem treulosen Liebhaber den Tod gebracht, sondern lediglich der Wunsch des Mädchens, durch die Verbrennung der Puppe auch den Geliebten zu verderben.1

Bildzauber! – Das Wort ließ Toni nicht mehr los.

Und als sie nun den Lexikonband in der Hand hielt, als sie auf dem Rücken des Einbandes las: ‚Ast bis Bismarck‘

Als sie weiter dann sofort nach ‚Bildzauber‘ suchte und gerade an der richtigen Stelle zwischen den Seiten – ein Streichholz als Buchzeichen vorfand, da zuckte auch schon ein neuer, furchtbarer Verdacht in ihr auf.

Magda hatte vielleicht die Photographie Hektor Binks nur deshalb mit der Hutnadel durchbohrt, um demjenigen einen körperlichen Schaden zuzufügen, den die Photographie darstellte.

Kein Wunder, daß sie nun zitternd vor Erregung den kurzen Artikel mit der Überschrift ‚Bildzauber‘ überflog. –

Bildzauber, schon von indischen, chaldäischen, griechischen und römischen Magiern geübte Einwirkung auf lebende Personen vermittelst eines gemalten oder aus Ton, Wachs, Metall geformten Bildes der betreffenden Person. Je nachdem man dieses Bild durch den Magier behandeln ließ, sollte die Person in derselben Weise beeinflußt werden. Der Ausdruck ‚Hexenschuß‘ stammt z.B. davon her, daß man eine solche ‚Rachepuppe‘ durch einen Pfeil durchbohren ließ, um den Tod der Person herbeizuführen. Zum ‚Liebeszauber‘ wieder fertigten die Magier die Bilder der beiden Personen an, die in Liebe vereinigt werden sollten, und vollzogen mit diesen Puppen zu diesem Zweck allerlei Hokuspokus. –

Im Mittelalter und in den Hexenprozessen spielte das Zauberbild eine große Rolle. Die Päpste erließen zahlreiche Bullen2 gegen seinen Gebrauch. –

Dieser Aberglaube hat sich in Europa in verschiedenen Ländern bis auf den heutigen Tag erhalten, so besonders in Oberbayern, Italien, Spanien und Südrußland.

Toni saß jetzt wie versteinert da.

Für sie gab es keinerlei Zweifel mehr, daß Magda in ihrer verzehrenden Eifersucht in der vergangenen Nacht den Versuch gemacht hatte, Hektor Bink auf diese unsinnige Weise zu verderben – zu töten!

Ja – es war so, mußte so sein: Magda hatte Binks Photographie als ‚Rachepuppe‘ benutzt!

Und – Hektor war nicht heimgekehrt nach diesem schweren Gewitter!

Geradezu lähmendes Entsetzen packte Toni nun. Tränenlos, mit ängstlich flatterndem Herzen stierte sie auf das Buch in ihrem Schoß und auf das unheilvolle Wort ‚Bildzauber‘.

Minutenlang dauerte diese Erstarrung, die sie sogar unfähig machte, irgend einen klaren Gedanken zu fassen.

Dann endlich regte sie sich. Aber noch immer wie im Traum stieg sie nun die Treppen ins Erdgeschoß hinab und stellte den Lexikonband in den Schrank zurück.

Langsam schritt sie über den Hof in die Werkstatt, wo Meister Martin die Rechnungen für die säumigen Zahler hatte. –

Der Vater schaute zu ihr auf.

„Du siehst ja ganz verstört aus, Mädel?“ meinte er. „Hat die Mutter wieder mal mit dir gezankt? Wenn ja – nimm’s nicht zu schwer. Mutter ist schlechter Laune.“ Er seufzte. „Ich bin schuld daran. Ja, ja, Kind, – im Vertrauen, weil du ja doch mein Liebling bist und verschwiegen sein kannst: – Man hat mich schamlos ausgenutzt. Wechsel habe ich unterschrieben; Bürgschaft für Darlehen übernommen – seit Jahren! Und nun – nun sitzt mir das Messer an der Kehle. Unser Haus ist heimlich mit Hypotheken bepflastert worden. Und – all das nur, weil die verfluchte Eitelkeit mich plagte, hier in Braunhafen die Rolle des populärsten Mannes der Stadt zu spielen, weil ich bei aller Pfiffigkeit gutmütig bis zur Dummheit bin! –

Ja – die Mutter trägt mit mir diese Sorgen. Und daher – sieh ihr vieles nach, Mädel, obwohl sie nicht gerade immer an dir ihren Groll auslassen dürfte. Na – die Magda ist eben ihr verjüngtes Ebenbild, und der Emil, hm, der Junge –, der läßt sich ja überhaupt nichts mehr sagen und ist die Wurschtigkeit selbst. –

Nun geh’, Kind, und sieh zu, daß wir Geld ins Haus bekommen. Wir brauchen’s nur zu nötig.“

Toni blickte den Vater ungläubig an.

Sorgen – Geldsorgen?! Martins hatten Geldsorgen? Ihre Eltern waren verschuldet?! – Sie konnte das nicht fassen! Sie hatte bisher stets gedacht, die Eltern seien beinahe reich.

Meister Martin nickte ihr traurig zu. „Ja, Kind, – es ist so! Ich verstehe deinen Blick. Wir sind eigentlich – arm! Ich müßte Konkurs anmelden – aber eher tue ich mir was an!“

Toni regte sich, beugte sich herab zu dem schmalen, verkniffenen Vogelgesicht und küßte den Mund mit den vollen, schönen Lippen, die so gar nicht zu diesem Antlitz paßten.

„Mut, Vater, – so schlimm kann’s ja nicht werden,“ flüsterte sie. „Dir hilft doch jeder! Du bist doch wahrhaftig kreditwürdig, du mit deinem Ruf als bester Schuhmacher der ganzen Umgegend!“

„Meinst du?!“ entgegnete er bitter. „Da kennst du die Menschen schlecht, Kind! Heutzutage regiert krasseste Selbstsucht die ganze Welt im Kleinen und Großen. Wenn einer erst im Hinabgleiten ist, dann geben ihm die guten Freunde noch ‘n Stoß mit dem Fuß, damit es schneller geht, und lachen hinter dem Dummkopf drein. – Geh’, Kind, – es wird ja schon irgendwie werden. Und – schweige! Ich spiele ja auch weiter das große Original, obgleich mir – Na – lassen wir das! Wiedersehen, Toni!“

*

Toni schlug zunächst den Weg nach dem Hafen ein. Dort wohnte dicht am Wasser im eigenen Hause der Major Mutius. Sie traf das alte Ehepaar am Kaffeetisch auf der Veranda an. – Nun – hier ging alles glatt und ohne Demütigung ab. Frau Mutius reichte ihr sogar noch ein Stück des selbstgebackenen Napfkuchens, und der alte Herr entschuldigte sich, weil er das Bezahlen ‚wahrhaftig bisher nur verbummelt habe‘.

Dann mußte Toni nach der ‚Kolonie‘. Das war das feinste Villenviertel von Braunhafen, an der Westmole mitten im Kiefernwalde abseits der Hotels und Pensionate gelegen.

Toni wählte den Umweg entlang des Flußufers, kam so am Fischerbollwerk vorüber, wo auch die Boote anlegten, die den Verkehr nach den anderen Badeorten der großen Meeresbucht vermittelten. –

Günter Kerkholm sah Toni von weitem. Er hatte gerade den Motor seiner ‚Nixe‘ wieder in Ordnung gebracht, der bereits etwas an Altersschwäche litt.

„Hallo, Fräulein Toni!“ rief er hinüber. „Wie wär’s, wenn Sie eine kurze Probefahrt mitmachten?“

Sie kam etwas zögernd näher, wollte schon dankend ablehnen, sah dann aber sein heiter glückliches Lächeln und – stieg an Bord.

Sie begrüßten sich zwanglos wie immer.

„Meine Pfote kann ich Ihnen nicht geben, Fräulein Toni,“ meinte er. „Sie sehen – alles voll Schmieröl!“

Er warf den Motor an, und der Bootsjunge löste die Taue. Die ‚Nixe‘ schoß in den Fluß hinaus.

„Die Morgenstunden sind doch am schönsten,“ meinte Kerkholm und reckte die Arme empor in jugendlicher Kraftfülle. „Wenn die Badegäste das nur erst begriffen hätten! Dann würden sie nicht bis zehn Uhr im Bett faulenzen.“

Er sah so sehr jung aus, dieser Günter Kerkholm. Sein bartloses, schmales Gesicht mit der etwas starken Nase und den grauen Augen war braun gebrannt wie das eines Mulatten. – Erst vor acht Wochen war er in Braunhafen aufgetaucht und hatte irgend eine Beschäftigung gesucht. Daß er Seemann von Beruf war, gab er ohne weiteres zu. Über seine Familienverhältnisse jedoch schwieg er sich selbst Toni gegenüber aus, die seine Bekanntschaft im väterlichen Laden gemacht hatte und dann nachher wirklich ganz zufällig mehrmals mit ihm zusammengetroffen war.

Toni hatte auf seine Bemerkung über die Schönheit der Morgenstunden nichts erwidert, sondern nur verstohlen einen Seufzer zurückgedrängt, der den Ereignissen dieses Tagesbeginns galt, die ihr doch nur neue Aufregungen und neuen Grund zu ernstesten Gedanken gebracht hatten.

Er beobachtete sie nun. Das Steuer hatte er dem Bootsjungen überlassen. Sie standen am Heck unter dem Sonnensegel, und Toni blickte trübe auf die leicht gekräuselte Oberfläche des lehmfarbenen Flusses hinaus.

„Sie haben Schmerzliches heute erlebt,“ sagte er plötzlich leise. „Sie sind so anders als sonst, Fräulein Toni. Kann ich Ihnen irgendwie beistehen? Sie wissen, wenn ich auch erst achtundzwanzig Jahre alt bin, erlebt habe ich so viel wie ein Fünfzigjähriger.“

Toni hatte still zugehört. Nun schaute sie Günter Kerkholm voll an.

„Wollen Sie mich noch weiter glauben machen, daß Sie nur Dampfermaschinist gewesen sind?“ fragte sie ernst. „Nein – Sie verbergen vieles vor mir, ganz gewiß! Ich mag ein einfaches Bürgermädel sein, daß froh sein kann, die Töchterschule bis zur zweiten Klasse besucht zu haben, – aber ich kenne doch das Benehmen und die Ausdrucksweise anderer Kreise. Sie, Herr Kerkholm, fallen oft aus der Rolle des bescheidenen Seemanns so sehr heraus, daß ich bereits nach unserem dritten Beisammensein argwöhnte, Sie müßten einst wohl bessere Tage gesehen haben.“

„Bessere?“ lächelte er. „Habe ich’s nicht gut hier? Ich bin ‚Kapitän‘ eines Schiffleins von zwölf Meter Länge, bekomme monatlich achthundert Mark Gehalt und heimse dazu noch täglich eine Menge Trinkgelder ein, wenn ich die Fahrkarten verkaufe! Was fehlt mir also?! – Hm – nur eines fehlt mir, Fräulein Toni!“ Er blickte ihr tief in die Augen, tastete nach ihrer Hand.

„Sie fehlen mir, Sie liebes, gutes Mädel, – Sie, nur Sie!“ flüsterte er nun, und sein braunes Gesicht strahlte in warmer Zärtlichkeit. – Er hatte ihre Hand in der seinen, – in seiner von Öl- und Benzinresten geschwärzten Hand.

„Toni – Toni, – ich liebe Sie!“ fügte er leidenschaftlicher hinzu. „Weshalb soll ich mit diesem Geständnis noch länger warten? Ich kann ein Weib ernähren, einen bescheidenen Hausstand gründen. Wenn die Saison hier zu Ende, werde ich mit drei Freunden auf einem Schoner Frachtfahrten nach Schweden hinüber unternehmen. Das wird noch mehr abwerfen.“

Er sprach weiter. Doch was er sprach, vernahm Toni nicht mehr. In ihrem Herzen war ein Sturm von widerstreitenden Empfindungen entfacht worden, der all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie lauschte den Stimmen, die in ihrem Innern durcheinander tönten, lauschte und wußte doch nicht, welcher der Stimmen sie folgen sollte.

Jäh war Hektor Binks edelgeschnittener, nur in den Zügen etwas zu weichlicher Künstlerkopf vor ihr aufgetaucht. Sie sah die großen, schwärmerischen Augen, sah die vollen, roten Lippen. Und diese Lippen flüsterten ganz deutlich:

‚Ich liebe dich! Du kannst meine Retterin sein. Du weißt es! Um deinetwillen werde ich alles von mir werfen, was schlecht an mir ist. Dir werde ich treu sein! Verlaß mich nicht!‘

Und wieder raunte dagegen eine andere Stimme:

‚Bedenke, wie leichtsinnig, wie frivol dieser Hektor Bink mit Frauenherzen spielt! Wie soll er wohl Treue halten, der bisher stets nur von Blume zu Blume flatterte?! – Und – sieh den Anderen! Der ist aus starkem Holze geschnitzt. An dem ist nichts weichlich und halb weibisch; der tändelt nicht; der liebt und spricht doch erst dann von Liebe, wenn er ein Weib auch zu seiner Gattin wünscht. Darin liegt Achtung vor der Frau; das beweist den Mann von Charakter.‘

So raunten die Stimmen. Eine dritte mischte sich ein:

‚Toni Martin, prüfe dein Herz, bevor du dich bindest! Bedenke: Bisher war Günter Kerkholm dir nichts als ein Mensch, der dir sympathisch ist. Du merktest wohl, daß er dich gern hatte. Aber – es ließ dich kalt. – Und Hektor Bink?! Flog ihm nicht von dem Augenblick an dein Herz entgegen, als du ihn die Ouvertüre zu Wagners Lohengrin dirigieren sahst, als ein Meer von mächtigen Tönen dich umrauschte, als er diese Töne hervorzauberte aus den Instrumenten durch einen Wink seiner den Taktstock führenden Hand. Toni Martin – prüfe dich! Ein Jawort ist leicht gegeben, schwer zurückgenommen, wenn die bessere Erkenntnis kommt!‘ –

Kerkholm schaute in das feine, zarte Gesicht des Mädchens, das er liebte. Er fand darin jedoch nichts von alledem, was er erhofft hatte zu sehen – kein frohes, halb verschämtes Aufleuchten, keinen Ausdruck, der wärmere Gefühle verriet. Nur eins war darin zu lesen; daß dieses junge Weib, dem bisher die Macht des bezaubernden Liebreizes des eigenen Antlitzes unbekannt war, jetzt in ernstem Grübeln sich verlor.

Er wartete noch Sekunden. Dann – gab er ihre Hand frei, trat etwas zurück und sagte leise und schmerzlich:

„Verzeihen Sie, Toni. Ich fürchte, ich habe zu früh von Ihnen eine Entscheidung verlangt. Ein Mann, der solches zu einem Weibe spricht wie ich soeben, hofft auf eine freudige, schnelle Antwort. Wo diese Antwort erst Abwägen erfordert, redet nicht das Herz, sondern der Verstand.“

Toni blickte ihn ehrlich an.

„Lassen Sie uns Freunde bleiben, Kerkholm. Mehr als Freundschaft kann ich Ihnen zunächst nicht geben. Vielleicht wird –“

Da unterbrach er sie. „Nein, Toni, – kein Vielleicht, kein karger Trost, der stets Trost bleiben wird! Ich weiß es jetzt: ich habe, was Sie angeht, von der Zukunft nichts mehr zu hoffen. – Es – hat nicht sollen sein –!“

Er wandte sich langsam ab und starrte nach dem schlanken, weißen Leuchtturm hinüber, der aus grünem Buchenhain trotzig hervorwuchs. Oben auf der umlaufenden Plattform war ein einzelner Mann zu erkennen, der Leuchtturmwärter. Jeder in Braunhafen kannte die Lebensgeschichte jenes Einsamen, den man nur den ‚stummen Heinrich‘ nannte. Was er vor langen, langen Jahren, bevor er Leuchtturmwärter wurde, eigentlich gewesen, wußte so recht niemand. Nur daß Heinrich Lörke Bildung besaß und ein Auftreten, das schon durch einen Blick selbst die rüdesten Patrone zum Schweigen brachte, war damals nicht lange verborgen geblieben, ebenso, daß er sein Weib getötet, weil er sie in den Armen eines anderen gefunden. Der ‚stumme‘ Heinrich war er bald getauft worden. Und er schien wirklich stumm zu sein. Selbst seine Vorgesetzten hatten sich daran gewöhnt, daß der nur durch Kopfbewegungen antwortete. –

Nach der Stadt kam er nie. Einsam, allein hauste er in dem hohen Turme, und Gefährten seiner Einsamkeit waren ein zahnloser, halb gelähmter Hund und zwei schneeweiße Milchziegen. –

Das Motorboot hielt auf die Anlegebrücke zu, die zur Kolonie gehörte.

„Herr Kerkholm,“ rief Toni leise. Sie wollte nicht ohne ein herzliches Wort von ihm gehen. Sie mußte ja nun gleich aussteigen.

Er wandte sich ihr wieder zu. Etwas scheu blickte sie ihn an.

„Wollen Sie meine Freundschaft zurückweisen?“ fragte sie traurig. „Tun Sie es nicht. Vielleicht kann ich einen Freund einmal sehr dringend brauchen, – einen Menschen, zu dem ich volles Vertrauen habe! Und – das habe ich zu Ihnen!“

Sie streckte ihm beide Hände in herzlicher Bitte hin.

Kerkholms Stirn legte sich in tiefe Falten.

„Zürnen Sie mir nicht, Toni!“ stieß er hervor. „Freundschaft zwischen uns beiden kann es nicht geben. Bedenken Sie, Toni,“ – jetzt hatte er ihre Hände jäh gepackt mit festem Druck – „daß ich nicht eine Sekunde neben Ihnen weilen kann, ohne Sie – zu begehren! Liebe ist Begehren und Erfüllung! Und – ich liebe Sie ja! – Nein, Toni, es wäre eine Qual ohne Ende, ein steter Kampf gegen mein Mannestum! – Mädchen, Mädchen, was weißt du denn bisher von Leidenschaft und seligem Genießen! Nichts – nichts! Ich weiß etwas davon. Ich habe einmal zu lieben geglaubt, habe mich glücklich gewähnt, habe vor einem Weibe auf Knien gelegen und ihr die nackten, stets zart nach Fliederparfüm duftenden Füße geküßt. Vier Wochen dauerte der Traum. Dann – mußte ich fort, mußte wieder hinaus aufs Meer, hinab ins Meer, wußte nicht, ob’s ein Wiedersehen geben würde. Tod und Verderben lauerten rings auf meinen verschwiegenen Wegen. Tod und Verderben brachte ich selbst. –

Und – es gab ein Wiedersehen – nach einem vollen Jahr, als jeder mich längst vermodert auf dem Meeresgrunde glaubte. Aber – welch ein Wiedersehen! Die, die mein Weib geworden und es vier Wochen gewesen, – die hatte sich längst getröstet – mit meinem besten Freunde! – Mädchen – da bin ich wie ein Wahnsinniger zurückgestürzt zum Hafen, wo mein Schiff lag, und abends fuhr ich wieder aus – hinein in das weite Meer, das nun meine einzige Liebe sein sollte. –

Es kam anders. Und jetzt bin ich hier Motorbootführer, und mein Weib hat den Freund geheiratet, der ihr nicht im Liebesrausch die Füße küßte, – nein, der über ihr die Peitsche schwang. Und – das brauchte sie, die blonde Bestie, – sie brauchte einen Bändiger, keinen – Zuckerbrotbäcker! Sieh, Mädchen, – das liegt hinter mir! Und dann kamst du, kamst und belebtest mein totes Herz wieder! –

So, nun leben Sie wohl, Toni! Fortan von ferne ein freundlicher Gruß! Das soll alles sein zwischen uns!“

Das Boot schrammte gegen die Balken der Brücke. Der Bootsjunge warf geschickt das Tau über den Pfahl und achtete nicht auf die beiden.

Günter Kerkholm hatte seine Hände zurückziehen wollen. Aber Toni hielt sie fest.

„Nein, nein, – so, so wollen wir nicht scheiden!“ sagte sie gepreßt, und in ihrem Herzen brannte das Mitleid mit diesem armen Betrogenen in schmerzhafter Tiefe. „Sie sollen nicht einsam sein, Kerkholm! Sie sollen in mir eine Schwester gefunden haben, die –“

Da hatte er ihre Hände plötzlich losgelassen, hatte sie an sich gerissen, flüsterte ihr nun ins angstvolle, erblaßte Gesicht – fast Mund an Mund:

„Mädchen, – Schwester, du mir Schwester! Du holde Törin, du kleine, liebe Unschuld!“

Er schaute ihr in die Augen. „Toni, Toni, darf ich? Nur einen Kuß – einen einzigen!“

Auf der Landungsbrücke stand ein älterer Mann. Der rief den beiden jetzt zu, und seine Stimme hatte einen fast drohenden Klang:

„Hallo, Käp’ten – tut Ihr so eure Pflicht! Und das Mädel – hat ‘s nichts Besseres vor, als am Morgen schon Männern die Köpfe zu verdrehen?!“

Kerkholm hatte Toni frei gegeben. In seinen Augen erschien ein unwilliges Blinken.

„Frechheit!“ murmelte er. „Dem Menschen will ich doch mal –“

Toni hielt ihn zurück. – „Sie sehen, er macht sich schon davon,“ sagte sie scheu. „Auf Wiedersehen, Herr Kerkholm –“ Und mit schnellen Schritten verließ sie das Boot, eilte weiter in die Parkanlagen der Kolonie hinein, ohne sich umzuschauen.

*

Toni hatte bei den säumigen Zahlern in der Kolonie genau so viel Glück wie bei Major Mutius. Nicht einer hielt heute Ausflüchte bereit!

So konnte sie denn gegen halb zehn den Rückweg nach der Stadt antreten. Sie tat’s in froherer Stimmung als bisher. Sie wußte, der Vater würde mit ihr zufrieden sein! Sie freute sich auf sein Lächeln, wenn sie ihm die dreitausendachthundertundzweiundsiebzig Mark hinzählen würde.

Sie mußte jetzt die Dünenpromenade entlang gehen, da sie noch im Badviertel drüben zwei Kunden zu besuchen hatte.

Der Spazierweg war um diese Stunde noch völlig ohne Menschen. Toni war das nur lieb. Da konnte sie denn ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Ungestört denken! Und sie hatte jetzt ja noch mehr zu denken als bisher! Ein Mann hatte vorhin ihr einen Blick in sein Herz gegönnt, ein bedauernswerter, betrogener Einsamer, der – nun einsam bleiben würde, weil er bei der keine Gegenliebe gefunden, die ihn hätte seelisch wieder aufrichten können.

Und diese Eine war sie – sie, Toni Martin!

Sie begriff es nicht, daß gerade sie es war! Sie hatte wohl gewußt, daß sie nicht häßlich war, ja daß viele Männer sie mit seltsamen Blicken verfolgten. Aber daß gerade sie fähig sein sollte, einem Manne einen zerstörten Liebestraum schöner wieder auferstehen zu lassen, – das konnte sie nicht fassen! –

Sie war jetzt ruhiger geworden. Sie hatte die Erregung nach jener letzten, leidenschaftlichen Szene an Bord des Motorbootes überwunden. Kühl und klar war ihr Verstand, der nun wiederum ihre Empfindungen Günter Kerkholm gegenüber nachprüfte. – Nein – sie liebte ihn nicht! Sie hätte sich wohl von ihm küssen lassen. Aber – es wäre aus Mitleid geschehen. Nur aus diesem Grunde hätte sie ihm ihre Lippen nicht verweigert.

Und doch – sie wurde die Gedanken an den schlanken Mann mit den grauen, etwas herrischen Augen nicht los! Eines war ihr jetzt klarer denn je – daß er nie und nimmer ein einfacher Maschinist war!

Sie hatte nicht vergessen, wie er von den Küssen gesprochen, die er im Liebesrausch auf zartparfümduftende Füßchen gedrückt. Derartige huldigende Liebkosungen hatte sie wohl hie und da in Romanen erwähnt gefunden. Aber – dann hatten diese Romane in Kreisen gespielt, in denen die verfeinerten Lebensansprüche auch verfeinerte Zärtlichkeiten bedingt hatten.

Wer war Kerkholm? – Was zum Beispiel hatten seine Andeutungen besagt von Verderben und Tod, den er anderen gebracht? – Sie fühlte, dunkler als bisher lagerten die Schleier eines besonderen Geheimnisses um seine Person.

In Sinnen verloren stand sie nun da. Ihr Blick war weit hinaus auf die feine Linie gerichtet, wo Meer und Himmel in eins zu verschmelzen schienen.

Und sie dachte an die beiden Männer wieder, die ihr wie kranke Pilger erschienen: an Hektor Bink, den Frauenliebling, der ruhelos von Blüte zu Blüte flatterte, und an Günter Kerkholm, den Enttäuschten.

Da – ein geller Schrei von irgend woher.

Sie zuckte auf; sie stand und lauschte, – atemlos, mit stetig schneller jagenden Pulsen.

Und abermals dieser heisere, wilde Ruf:

„Hilfe – Hilfe!“ – Ja – so klang’s, obwohl die Stimme wie zerbrochen war.

Sie suchte mit den Augen die Dünen ab, die Höhen und Täler, die Baumgruppen, die ebenen Flächen, die sich nach Süden zu als Heideland bis zum Stadtwalde hinzogen.

Zum dritten Mal derselbe Schrei, – heiser, wie aus einer überanstrengten Kehle hervordringend.

Und dann – dann tauchte dort zwischen den Dünen, wo ein Stück Sumpf vereinzelt mit trüben Lachen schillerte, wo Birken und Erlen sich angesiedelt hatten, unter den weißen Stämmchen der Birken ein barhäuptiger Mann auf, – einer, dessen Hemdbrust groß und weiß leuchtete, da er sonst ganz schwarz gekleidet war.

Hektor Bink!

Tonis Gestalt sank förmlich vor Entsetzen in sich zusammen. Ihre Augen weiteten sich, starrten – starrten –!

Was – was nur fehlte Hektor Bink?! Weshalb schritt er so unsicher daher mit vorgestreckten Armen?

‚Wie – wie ein Blinder!‘ schoß es Toni durch den Kopf.

Und sie starrte weiter hinüber, während langsam ihr Gesicht jede Farbe verlor.

Wie ein Blinder! Ja – nur ein Blinder tappte so unsicher vorwärts! – Aber – Hektor Bink und blind?! Unmöglich!

Da – er war stehen geblieben; er ließ die Arme sinken; reckte den Kopf nach hinten, als wolle er im Himmelsblau irgend etwas erspähen.

Und nun – flogen seine Hände nach dem Gesicht, ballten sich zu Fäusten, preßten sich gegen die Augen.

Und – wieder kam der gräßliche Hilferufe aus seiner Kehle.

Toni zitterte; versuchte vorwärts zu eilen; ihre Füße jedoch klebten am Boden.

Aber – sie besiegte die Erstarrung; sie hastete die Dünen hinab, hinan; stolperte; raffte sich auf.

Und war dann vor ihm, dicht vor ihm.

Und dennoch, – dennoch schon wieder der furchtbare Schrei. Und in seinem Gesicht, seinem Verhalten keine Veränderung, – so, als ob er die nicht sehen wollte, die nun endlich sein Ruf herbeigelockt hatte.

Wollte?! – Wollte er sie nicht sehen?!

‚Nein – nein!‘ – Eine Stimme sprang in Tonis Herzen auf, rief dieses ‚Nein‘ ihr zu. – Er konnte nicht sehen – konnte nicht! Seine abermals vorgestreckten Arme bewiesen es; sein Gang bewies es, dieses furchtsame Heben der Füße, dieses übermäßige Ausweichen vor dem Grasbüschel, den sein Fuß nun berührt hatte.

Toni stand wieder und spürte nur, daß sie dieses Entsetzliche nicht fassen konnte, daß sie nicht glauben wollte: ‚Diese Augen sollten, äußerlich so unverändert, die Sehkraft verloren haben! –‘

Aber – nur zwei Schritt von ihr war der Mann, dem ihre Liebe gehörte. Und seine Augen glitten hierhin und dorthin; und in seinem Gesicht blieb trotzdem dieser mit Worten nicht wiederzugebende Ausdruck unendlicher Seelenpein.

„Herr Bink!“

Endlich hatte Tonis Zunge ihr wieder gehorcht.

Und Hektor Bink bog den Oberkörper vor, ließ die Arme sinken.

„Wer – wer ist da!“ keuchte er. Und die Töne klangen wie aus einem Grabe hervor.

„Wer ist da? – Um Gottes Barmherzigkeit – wer es auch sei. Schnell die Antwort! Ist es Nacht, oder – oder – bin ich erblindet durch den Blitzstrahl, der mich bewußtlos niederwarf?“

Er heulte diese Frage heraus wie ein Wahnsinniger; seine Hände hatten sich wieder zu flehender Gebärde gehoben.

Toni trat noch näher, erfaßte diese Hände; Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Toni Martin steht vor Ihnen,“ sagte sie leise, und die Worte zögerten ihr im Munde.

Er wurde zur Statue. Nur in seinem Gesicht arbeitete es. Und dann lallte er:

„– steht – vor – mir! Und – ich – sehe Sie nicht, – ich – sehe nichts mehr!“

Sie merkte, jetzt kannte er die furchtbare Wahrheit! Jetzt erlosch die letzte Hoffnung in ihm!

Schluchzend rief sie, denn sie wollte trösten, wollte ihm Mut machen:

„Sie – Sie werden ja wieder geheilt werden, Herr Bink! Seien Sie doch –“

Da hatte er sich zu Boden geworden, wühlte das Gesicht in den Sand.

Und aus seiner Kehle kamen Laute, die nichts Menschliches an sich hatten, bis daraus ein Wort wurde – ein einzelnes Wort, immer wieder–holt:

„Blind – blind – blind!“

Toni sank in die Knie, beugte sich über ihn, streichelte sein Haar, redete – redete. Was? – Sie wußte es kaum.

Da – neben ihr eine Gestalt, ein alter Mann; schlicht gekleidet; das linke Auge verdeckt von dem hängenden Augenlid; sonnengebräunt das eckige, bartlose, von Falten zerrissene Gesicht; aber das rechte Auge hell und groß, voller Leben.

Toni hatte schnell aufgeschaut. Sie erkannte den Fremden, der den Kuß an der Anlegebrücke der Kolonie vereitelt hatte. Sie stutzte. Dieses schmale Gesicht mit der Hakennase und den vollen Lippen hatte für sie etwas seltsam Bekanntes.

Der Fremde nickte ihr ernst zu.

„Ich habe mir gedacht, daß dieser Herr das Augenlicht plötzlich verloren hat,“ sagte er leise. Sein Deutsch hatte einen fremden Klang. „Ich habe beobachtet, wie Sie diesen Ärmsten fanden. – Wir müssen ihn fortbringen von hier. Er ist völlig erschöpft, und es besteht die Gefahr, daß sein Geist diesem Ansturm des Entsetzlichen unterliegt.“

Er bückte sich, legte Hektor Bink die Hand auf die Schulter.

„Verzweifeln Sie nicht!“ sagte er ganz laut und fast befehlend. „Ich habe Fälle erlebt, in denen die Sehkraft sich nach Blitzschlag ganz von selbst wiederfand. Glauben Sie mir das! Ich lüge nicht. Eine derartige Lähmung der Sehnerven schwindet in den meisten Fällen bei richtiger Behandlung ohne jede schädigenden Folgen!“

Bink hatte sich aufrecht gesetzt. Toni kniete noch immer neben ihm.

„Sie – Sie wollen mich nur trösten,“ flüsterte er, und sein Schmerz löste sich nun in Strömen von Tränen auf.

Toni weinte mit ihm. – Der Fremde hatte sich wieder aufgerichtet, schob den hellen, breitrandigen Filzhut aus der Stirn und saugte wartend an seiner erloschenen kurzen Holzpfeife.

„Lieber – lieber Herr Bink, es wird ja alles wieder gut werden,“ schluchzte Toni und streichelte die Rechte des Jammernden.

Allmählich beruhigte der sich. Er umklammerte Tonis Hände; er zog sie näher an sich heran, bis ihr Kopf fast an seiner Schulter lag.

„Toni – verlassen Sie mich nicht!“ wimmerte er. „Gerade Sie sollen jetzt bei mir bleiben, gerade Sie, Toni! Ich – ich habe Sie lieb, und ich weiß, daß Sie mich wiederlieben. Sie sind gut, Toni, Sie sind keusch, rein und barmherzig. Toni – verlassen Sie mich nicht!“

Er sank haltlos vornüber; er ruhte an ihrer Brust, hatte das Mädchen umschlungen, an das er sich nun klammerte in seiner namenlosen Pein wie an eine gütige, liebende Mutter. –

Der Fremde schaute herab auf die beiden, schüttelte den Kopf. Und um seinen Mund erschien etwas wie ein Ausdruck von Geringschätzung.

„Stehen Sie auf, Herr Bink,“ sagte er dann und wieder war in seiner Stimme ein Unterton, der Gehorsam heischte. „Fräulein Martin mag vorausgehen und einen Wagen nach der nächsten Straße bringen. Taxameterdroschken sind ja neben dem Kurhaus stets zu finden.“

Hektor Bink löste seine Arme und gab Toni frei.

„Wer sind Sie?“ fragte er unsicher.

Toni war schnell aufgestanden und eilte auf einen Wink des Fremden von dannen.

„Wer ich bin? – Mein Name tut nichts zur Sache,“ erwiderte der Alte. „Jedenfalls ein Mann, der sich den Wind aller Erdteile unseres kleinen Planeten hat um die Nase wehen lassen und der mehr erlebt hat, als für gewöhnlich in ein rundes Hundert Menschenleben sich hineinpressen läßt. – Stehen Sie auf. Ich führe Sie zu einer Bank, wo wir auf den Wagen warten können.“

Bink richtete sich schwerfällig auf. Der Fremde half ihm, nahm ihn unter den Arm und schritt so der Promenade zu.

„Ich wiederhole: Sie haben keinen Grund zu so unmännlichen Verzweiflungsausbrüchen,“ begann er wieder. „Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß ich aus einem Holze geschnitzt bin, das hier in Deutschland selten ist. Ich bin Amerikaner. Wir sind ein besonderer Menschenschlag, und wir verlangen von Männern selbst im größten Unglück Standhaftigkeit, kaltes Blut. Sie sind Künstler. Das entschuldigt Sie etwas. – Denken Sie nicht, daß ich gefühllos sei. Ich bin nur hart geworden in der Schule des Lebens. Doch wo es angebracht ist, beweise ich mein Herz.“

Bink war plötzlich stehen geblieben und hatte sich mit unwilliger Heftigkeit von seinem Führer frei gemacht.

„Sie – Sie wollen ein Herz haben?“ rief er. „Sie bringen es fertig, mir Unmännlichkeit vorzuwerfen, wo mich das Schwerste getroffen hat, was einem Menschen –“

„Halt!“ hatte der Fremde ihn da unterbrochen. „Was wissen Sie von mir? – Nichts! Aber ich weiß von Ihnen mehr, als Sie ahnen. – Doch kommen Sie!“ Und diese letzten Worte waren ein Befehl. „Kommen Sie! Sie werden anders über mich denken lernen, wenn erst das eingetreten sein wird, was geschehen muß.“

Er hatte seinen Arm wieder in den Hektor Binks geschoben. Und Bink sträubte sich nicht mehr neben dem seltsamen Menschen zu bleiben, der so schroff seinen Willen lähmte und so niederdrückende Andeutungen machte, – niederdrückend für einen, der wie Hektor Bink ein übergroßes Schuldkonto jeglicher Art hatte.

Schweigend schritten sie weiter. Erst als die Bank erreicht war, die nahe der Zugangsstraße zur Dünenpromenade stand, als sie nun hier nebeneinander saßen und die Holzpfeife des Fremden schnell im Winde zerflatternde Rauchwölkchen aushauchte, erst da hub der Alte wieder zu sprechen an.

„Sie fragten vorhin, wer ich sei. Ich will Ihnen wenigstens etwas näheren Aufschluß über meine Person geben. Alles andere erfahren Sie schon von selbst und – sehr bald. – Ich bin geborener Deutscher, armer Leute Kind. Ich hatte hier das Schlosserhandwerk erlernt. Ich war ein stattlicher Bursche, und die Mädels machten es mir leicht, sie zu betören. Ich hatte gleichzeitig wohl ein Dutzend heimliche Bräute stets. Daß ich die armen Dinger für ihr Leben unglücklich machte, wenn ich ihrer überdrüssig geworden war und sie sitzen ließ, scherte mich wenig. Bis – ja bis ich dann eine kennenlernte, die ich bald anders liebte, die ich gern geheiratet hätte. Und die – die wies mich zurück, nahm meinen Bruder zum Mann, der im Vergleich zu mir äußerlich ihr nichts bot – gar nichts! Und damals bin ich vor Liebesgram ausgewandert. Das sind nun vierundzwanzig Jahre her. Man hält mich hier längst für tot, verdorben, gestorben. Und – ob die sich freuen werden, die mir die Nächsten sind, wenn ich nun plötzlich wieder auftauche, – ich weiß es nicht recht! Ich werd’s ja erleben und dann sehen, wie sie mich empfangen, – mich, den Bruder, den Schwager, der als armer Mann heimkehrt.“

Er schwieg und paffte dickere Wolken.

„Ich bin schon eine Woche in Braunhafen,“ fuhr er fort. „Ich wollte mich hier erst so ein wenig umtun, bevor ich meine Verwandten aufsuchte. So habe ich denn Gelegenheit gehabt, auch Sie so etwas zu beobachten. – Ja, Sie meine ich, Herr Bink. – Was ich beobachtete und auch durch Nachfrage feststellte, erinnerte mich an meine eigene Jugend. Sie treiben’s, wie ich es trieb.“

Bink hatte nach dem Arm des Fremden gegriffen.

„Weshalb – weshalb hatten Sie gerade für mich ein solches Interesse?“ fragte er gereizt. „Überhaupt – Ihr ganzes Benehmen mir gegenüber ist –“

„Halt!“ sagte der Alte ruhig. „Lassen Sie mich erst ausreden. – Sie treiben’s hier wie ich seiner Zeit. Ich hätte also wahrlich kein Recht, Ihnen Moral zu predigen. – Aber – Sie haben mit zwei Mädchen hier – angebändelt, die mir nahe stehen.“

Eine kleine Pause. Dann:

„Ich heiße Friedrich Martin, und Magda und Toni sind meine Nichten.“

Bink saß sekundenlang ganz still. Sein Kopf sank ihm langsam auf die Brust. Und er flüsterte nur, als er sagte:

„Sie – Sie wollen Toni vor wir warnen?“

„Das dürfte kaum mehr nötig sein, denke ich. Toni scheint mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. – Nein, ich wollte Ihnen nur klar machen, daß nichts ungestraft bleibt. Ich bin heimatlos geworden, weil ich die Liebe verhöhnte. Sie haben jetzt eine Prüfung vom Schicksal auferlegt bekommen, wie sie härter kaum sein kann. Und diese Prüfung begann in der verflossenen Nacht, als Sie dort hinter uns in den Dünen – nicht allein waren!“

Bink stöhnte auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Ja – nicht allein waren. Aber – Sie wurden dann allein gelassen von der, die mit Ihnen spielt, wie Sie’s mit ihr tun, die aus Furcht, ihr Ruf könnte darunter leiden, niemandem mitteilte, daß sie Zeugin war, wie der Blitz Sie niederstreckte. Erna Poputtke heißt das junge Mädchen ja wohl. –

Denken Sie nicht, daß ich Ihnen beiden gestern etwa nachgeschlichen bin. Nein – ich saß dort hinten auf einer versteckten Bank kurz vor Beginn des Gewitters. Und da kam ein Liebespaar an mir vorüber, sehr eng umschlungen, wie zwei, die nie mehr voneinander lassen wollen. Nach zwanzig Minuten, kurz vor dem Platzregen rannte dann dasselbe Mädchen mit dem hellen Kopfschleier und den kurzen Röcken wie gehetzt denselben Weg zurück, kaum zwei Minuten nach einem Blitz, der in eine Kiefer der Dünen gefahren war und der mir, dem kaum dreihundert Meter Entfernten, zwei Menschen wie in Scheinwerferbeleuchtung dicht neben jenem Baume gezeigt hatte. Gestern glaubte ich, Sie beide hätten sich nur gezankt und wären in Unfrieden auseinander gegangen. Jetzt aber durchschaue ich eben, was geschehen. Das Mädchen hat Sie Ihrem Schicksal überlassen, ging heute früh um neun Uhr ganz heiter mit einem Anderen ins Familienbad.“

Bink hatte die Hände wieder sinken lassen und wandte nun das Gesicht mit den erloschenen Augen seinem Nachbar zu.

„Wir sind auch im Unfrieden geschieden, jene Dame und ich,“ sagte er leise. „Sie hatte mir gestern ein letztes Stelldichein gewährt, um Abschied zu nehmen, weil – sie sich mit – dem Andern verloben will. Sie hat mir dies aber erst mitgeteilt, als bereits das Gewitter über uns stand. Und als sie, gereizt durch meine Empörung über dieses jähe Ende unserer Beziehungen, mir den Rücken zugedreht hatte, da – da kam der Blitz, der mich niederwarf und – blind machte, blind – blind! Erst morgens weckte mich die warme Sonne. Und da – da habe ich um Hilfe gerufen, – denn um mich her blieb es ja Nacht, obwohl ich die Sonne spürte und die Vögel hörte, die Möwen und die Finken, – nur hörte!“ Tränen entquollen schon wieder den toten Augen.

Der Amerikaner ergriff Binks Hand, behielt sie in der seinen.

„Ja, ja, Herr, Sie hatten wohl auf diese reiche Partie gerechnet,“ meinte er weniger hart als bisher. „Und das Ende dieser aus kühler Berechnung entsprungenen sogenannten Liebe?! Dieses Ende ist schlimmer geworden, als Sie’s vielleicht verdient haben. – Nun – auch für Sie wird es Heilung geben. Seien Sie ein Mann jetzt, Bink! Nur dann werden Sie die folgende Zeit ohne Schaden – weiteren Schaden überstehen! Ein Mann in allem, Bink, in allem! Dort kommt schon Toni, meine Nichte. Verschweigen Sie, daß Sie wissen, wer ich bin. Ich habe meine Gründe dafür.“ –

Friedrich Martin hatte Bink im Wagen nach der Eichenstraße gebracht. – Frau Alwine Rötel war vor Schreck zunächst ganz verstört, als sie ihren Mieter in diesem traurigen Zustand wiedersah. Sie bewies dann aber weit mehr Teilnahme, als der Amerikaner von ihr erwartete, der über sie bisher nicht gerade Günstiges gehört hatte.

Er blieb dann noch eine halbe Stunde bei Bink, um mit diesem das zu besprechen, was die so trostlos veränderten Umstände verlangten.

Ja – trostlos lag die nächste Zukunft vor dem Erblindeten, da er weder Verwandte noch Freunde besaß, die sich seiner angenommen hätten, noch über nennenswerte Geldmittel verfügte, um sich ohne Verdienst vielleicht Monate weiterhelfen zu können.

Als Friedrich Martin dies durch Fragen von dem völlig gebrochen in einer Sofaecke Sitzenden erfahen hatte, als Bink nun abermals in wehes Jammern ausbrach, da wurde der Amerikaner wieder fast schroff.

„Nehmen Sie sich zusammen!“ stieß er hervor. „Niemand ändert sein Geschick durch weibische Tränen. – Ein Zufall hat mich mit Ihnen zusammengeführt. Doch ich werde Sie nicht verlassen. Ich bin arm, aber ich weiß stets, was ich will. Frau Rötel wird Sie fürs erste bedienen und Toni wird Ihnen ebenfalls Gesellschaft leisten. Die Hauptsache ist, daß Sie irgendwie zu Gelde kommen. Ich werde mit dem Kurdirektor sprechen. Der soll ein Konzert zu Ihrem Besten veranstalten. Und Sie selbst müssen es dirigieren. Seien Sie überzeugt, selbst bei höchsten Eintrittspreisen wird der Saal überfüllt sein. Der blinde Hektor Bink wird als Sensation ziehen. Ich kenne die große Menge. –

Jedenfalls dürfen Sie mit ein paar tausend Mark Einnahme rechnen. Dann werde ich an die Augenklinik der nahen Universitätsstadt schreiben und Sie dort anmelden zur Untersuchung und Behandlung. –

So, und jetzt legen Sie sich ins Bett und schlafen erst einmal gehörig aus. Ihre Nerven müssen zur Ruhe kommen. Die Rötel wird wohl sicher irgend ein Schlafpulver im Hause haben. – Warten Sie, ich gehe mal fragen.“ –

Alwine Rötel bereitete in der Küche das Mittagessen vor.

Friedrich Martin hatte sich ihr nur mit seinem amerikanischen Namen als Master Fred Martney vorgestellt. Was er mit ihr nun verhandelte, blieb zunächst ein Geheimnis zwischen den beiden. Frau Alwine hatte ihm feierlich in die Hand gelobt, sein Vertrauen nicht zu täuschen. Und im Laufe der Unterhaltung gewann er ein anderes Bild von ihrem Charakter. –

Er hatte sich auf einen Küchenstuhl gesetzt und sagte nun, indem er ihr freundlich zunickte:

„Sie scheinen ja eine ganz verständige Person zu sein. Weshalb sorgen Sie nicht dafür, daß man Ihnen hier in Braunhafen einen anderen Ehrentitel gibt als den der wandelnden Skandalchronik und den einer Klatschbase?!“

Ihr mageres Gesicht behielt das liebenswürdige Lächeln bei. – „Weil ich dann nicht mehr Vorsehung spielen könnte!“ erwiderte sie leise. „Glauben Sie, man kann nicht auch Gutes stiften, wenn man die Öffentlichkeit auf dies und jenes aufmerksam macht und Eltern oder Ehegatten durch auftauchende Gerüchte rechtzeitig davor warnt, daß irgend etwas in der Familie oder in der Ehe nicht ganz stimmt?! –

Oh ja – man kann’s, Herr Martin,“ er hatte ihr mittlerweile seinen richtigen Namen genannt, „und ich tue es! Ich ertrage gern die üble Nachrede der Klatschtante, wo ich doch weiß, daß ich hier schon manches Unheil verhütet habe dadurch, daß die Öffentlichkeit das Richteramt sozusagen übernahm. Zum Beispiel Ihr Neffe Emil, Herr Martin, – ja, der kommt jetzt heran, der Bruder Leichtfuß, der die halben Nächte in einem geheimen Spielklub verbringt und auf des Vaters Namen Schulden macht. Und gleichzeitig geht’s dann auch der Spielhölle an den Kragen, die die Polizei duldet, weil auch unser Herr Kommissar dort verkehrt. Unseren Superintendenten habe ich schon scharf gemacht, ebenso die Damen vom Frauenverein. Herr Emil wird sich wundern! Heute ist die Waschfrau bei Ihren Verwandten, und die wird so einige Andeutungen machen. Dann kommt der Stein hier ins Rollen.“

Der Amerikaner lachte dröhnend. „Sie gefallen wir, Frau Rötel! Teufel noch eins – das ist wahrhaftig ‘ne neue Manier, Weltverbesserin zu spielen. Gehört Mut und Selbstverleugnung dazu!“ Er reichte ihr die Hand. „Auf gute Freundschaft, Frau Rötel! – Nun will ich gleich nachher hinuntergehen und den Schusters die frohe Überraschung meiner Heimkehr bereiten. Bin neugierig, was Bruder Gottlieb für ein Gesicht zeigen wird zu dem neuen Tischgast. – Geben Sie mir das Schlafpulver. Der Bink muß Ruhe haben. Sonst kriegt er womöglich noch einen Gehirnknacks.“

*

Toni hatte noch schnell im Badviertel am Strande die beiden Kunden besucht und auch hier Erfolg gehabt, obwohl sie so zerstreut und geistesabwesend war, daß sie kaum wußte, was sie sprach.

In ihrem Herzen lebte jetzt nichts als die Sehnsucht nach dem Unglücklichen, der nun ihres Zuspruchs so sehr bedurfte, der hier wohl niemand hatte, der ihm mit lieben Worten Trost spenden und ihn aufrichten würde.

Als sie daheim angelangt war, suchte sie zuerst den Vater auf. Der saß im Herrenzimmer am Schreibtisch vor einem mit Zahlen bedeckten Bogen, über den er nun schnell eine Zeitung legte.

Toni zählte das Geld auf die Tischplatte. „Da, Vater, – ich habe Glück gehabt.“

Sie hoffte auf ein anerkennendes Wort. Aber Meister Martin seufzte nur und meinte:

„Mädel – ein Tropfen auf den heißen Stein ist’s! Mehr nicht!“

Toni vergaß die kleine Enttäuschung schnell.

„Weißt du schon, was – was mit Herrn Bink –“

Er ließ sie die Frage nicht vollenden.

„Schweig’ mir von dem Menschen, Kind,“ sagte er ärgerlich. „Die Mutter, Magda, auch du – rein toll seid ihr nach dem Kerl! – Es ist so. Wenn –“

„Vater,“ unterbrach Toni ihn schnell, und zwei dicke Tränen rannen ihr die Wangen hinab. „Vater – er ist – erblindet – durch Blitzschlag!“

Martins Kopf fuhr hoch. „Erblindet?“ Sein Gesicht drückte Zweifel und doch Teilnahme aus.

„Ja, Vater.“ Sie seufzte auf – und dann erzählte sie, wie sie Bink in den Dünen gefunden hatte.

„Der arme Mensch!“ meinte Martin leise. „Der Ärmste! Blind – entsetzlich!“ Dann schaute er sein Kind ernst an.

„Toni, Toni, – ich warne dich,“ sagte er eindringlich. „Halte dein Herz fest, Mädel! Mitleid ist so eng verwandt mit Liebe, eine Verwandtschaft wie Bruder und Schwester, aber nicht wie Mann zum Weibe. – Du verstehst mich wohl! – Mädel – mach’ mir keine Geschichten! Bleib’ ihm fern, lade dir keine Pflichten auf, die Ketten werden können.“

Er nahm ihre Linke und drückte sie. – „Wer war denn eigentlich der Fremde, der Bink dann heimbrachte?“ fragte er nach kurzer Pause.

„Ich weiß es nicht, Vater.“ Sie starrte vor sich hin. „Vater, verlange nicht von mir, daß ich – daß ich mich Binks nicht annehmen soll. Ich – ich kann nicht anders, Vater. Ich gehöre zu ihm, gerade –“

Sie schwieg plötzlich. Ihr Blick war auf den Bücherschrank, auf die dicken Bände des Lexikons gefallen.

„Magda!“ schrie sie auf. Und sie war bis in die Lippen erblaßt.

Meister Martin war erschrocken aufgestanden bei diesem überlauten ‚Magda!‘, das wie eine furchtbare Anklage geklungen hatte. – „Was – was gibt’s denn, Mädel? Zum Donner, du jagst einem wahrhaftig –“

Da hatte er ihr weißes Gesicht bemerkt.

„Was ist’s mit Magda?“ fuhr er überstürzt fort. „So sprich doch! Was stierst du immer dort auf den Schrank?! Was –“

Toni schaute ihn an. In ihren Augen war ein Ausdruck unnatürlicher Angst.

„Nichts, Vater, – nichts ist’s mit Magda!“ hauchte sie kaum verständlich. „Ich – ich dachte nur daran, daß Magda – mir’s nicht gönnen wird, daß ich Bink jetzt näher stehe als bisher, daß er gerade mich gebeten hat, ihm –“

„Schon gut,“ brummte der Meister. „Schon gut! Immer nur eure verrückten Herzensangelegenheiten! – Laß mich allein jetzt. Ich habe zu rechnen.“

Toni schritt wie im Traum hinaus und ging durch die Tür in den Laden.

Magda saß hinter dem Ladentisch mit einem Roman. Ihr Blick streifte nur kalt die Eintretende. Dann las sie weiter.

Toni stützte sich auf eine Stuhllehne. Ihr zitterten die Knie.

„Magda,“ begann sie leise, „weißt du, daß Bink in der verflossenen Nacht erblindet ist?“

Der Romanband polterte zu Boden. Und Magdas Oberkörper sank nach vorn, bis der Kopf auf den Armen ruhte, die einen Halt auf dem Ladentisch gefunden hatten.

Schweigen.

Dann Magdas undeutliche, wimmernde Stimme:

„Du – du lügst! Du lügst! Es – es kann nicht sein –!“

„Es ist so! Und du hast es ja gewollt. – Ich habe den Artikel im Lexikon gelesen über Bildzauber; ich habe dich beobachtet, als du – Binks Photographie – die Augen durchstachst! Du – du wünschtest in dem Moment, ihm zu schaden! Und ein Zufall hat nun erfüllt, was deine Absicht war. Aber – selbst dieser Zufall trifft dich wie eine furchtbare Schuld! Sieh zu, wie du innerlich damit fertig wirst. – Das wollte ich dir sagen. Und – noch eins. Ich betrachte mich als Binks Braut! Ich werde ihn pflegen und – warten, so gut ich’s kann. Dir verbiete ich, ihn etwa zu besuchen. Du würdest ihn nur aufregen.“

Magdas leises Weinen ging in ein fassungsloses Schluchzen über. Nur schwer verständlich war das, was sie nun in Unterbrechungen hervorstieß:

„Nur ich – bin schuld daran, nur ich! Wie – sollte es einen solchen Zufall geben?! Unmöglich – unmöglich! Toni, Toni, – verrate mich nicht. – Ich will ja auch –“

Da schlug gellend die Klingel der Ladentür an. Magda sprang auf, stürzte ins Nebenzimmer, das Gesicht mit dem Taschentuche verdeckend.

„Tag, Kind,“ sagte der Eintretende, der Mann, den sie vorhin in den Dünen getroffen hatte, vertraulich zu Toni. „Kann ich mal deinen Vater sprechen?“

Er streckte ihr die Hand hin. „Ich bin nämlich dein Onkel Friedrich, der Verschollene, Mädchen! Ja, ja, – auch dein Vater wird sich wundern, was?!“

Nach erstem Erstaunen fand Toni schnell ein paar herzliche Worte der Begrüßung. Dann führte sie den Amerikaner durch den Wohnraum an die Tür des Herrenzimmers. Friedrich Martin klopfte, trat ein. Toni hörte noch den halblauten Ruf des Vaters.

„Du – du lebst? – Bruder, du –“

Dann schloß sich die Tür. Und Toni überlegte nun, ob sie nicht die Mutter vorbereiten solle. Sie wußte ja, daß Frau Emilie jeden Besuch von Verwandten nur als eine Belastung der Haushaltskasse empfand. Nun gar dieser so schlicht gekleidete Onkel Friedrich, der mit seinem Schlapphut und dem einen toten Auge halb wie ein Künstler, halb wie ein Brigant aussah und der sicherlich arm heimkehrte, wie er arm einst vor langen Jahren in die Fremde gezogen war. Über diesen Gast würde die Mutter wohl geradezu entsetzt sein, denn den konnte man doch nicht durch Unliebenswürdigkeit schnell wieder fortgraulen.

Toni glaubte im Interesse des Vaters zu handeln, wenn sie der Mutter die erste Mitteilung von dem unerwarteten Besuch machte. –

Sie traf die Mutter im Gemüsegarten beim Erdbeerenpflücken an. Und – was sie gefürchtet, ereignete sich auch wirklich. Frau Emilie war anfangs sprachlos, rief dann aber: „Kann mir denken, – so als halber Vagabund erscheint er hier, der ‚schöne‘ Fritz, der Lidrian, der Schürzenjäger! Will sich hier wohl aufmästen! Na – unnütze Fresser dulde ich in dieser teuren Zeit nicht. Ich habe schon Arbeit für ihn, genug Arbeit! Dann wird er sich bald wieder drücken. Die Sorte haßt die Arbeit –“

Toni versuchte für den Onkel einzutreten und die Mutter günstiger für ihn zu stimmen. Doch Frau Emilie hatte in letzter Zeit viel Ernstes erlebt, zu viel geheime Sorgen kennen gelernt. Dadurch war sie verbittert worden und stets leicht gereizt.

„Komisch, daß du so sehr seine Kante hältst,“ meinte sie. „Was weißt du denn von ihm?! Hast kaum drei Worte mit ihm gewechselt und willst behaupten, er würde uns kaum zur Last fallen! Sagtest ja selbst, er sehe nicht gerade aus wie einer, der Geld hat! – Aber ich bin solche Schrullen von dir ja gewöhnt. Du mußt immer was Besonderes haben – immer! Spielst so das Aschenbrödel vor den Leuten mit deinem gefühlvollen Augenaufschlag –“

„Mutter!“ sagte Toni leise. „Du bist heute –“ – Sie führte den Satz nicht zu Ende. Noch nie hatte Frau Emilie sie so schroff, so lieblos behandelt. Aber – noch rechtzeitig dachte sie an des Vaters Worte. ‚Habe Nachsicht mit ihr!‘ hatte er am Morgen in der Werkstatt geäußert. Und deshalb ersparte sie sich nun jedes Wort der Abwehr.

Frau Martin war schon wieder eifrig bei der Arbeit, kümmerte sich nicht weiter um ihre Jüngste. Toni stand noch immer auf demselben Fleck. Die aufsteigenden Tränen hatte sie hinabgewürgt. Sie durfte jetzt nicht empfindlich sein. Sie wußte, daß es für sie noch weit Schwereres durchzukämpfen gab – Hektor Binks wegen!

„Mutter,“ begann sie wieder. „Herrn Bink ist ein furchtbares Unglück zugestoßen. Er ist infolge Blitzschlages erblindet.“

Frau Emilie richtete sich schnell auf. „Erblindet, Kind?“ Die Worte wollten ihr gar nicht über die Lippen. Ihre Mißstimmung war verrauscht. Das Mitleid gewann die Oberhand.

„Ja. Und gerade Onkel Friedrich und ich haben ihn in den Dünen aufgefunden.“ Sie kämpfte schon wieder gegen Tränen an. Ganz kurz berichtete sie das Nötigste.

„Armer Mensch!“ meinte Frau Emilie. „Ja – man könnte hier– bei fast an eine Strafe des Himmels denken. Er hat’s arg getrieben. Magda –“ –

Sie zögerte etwas – „Magda hat’s mir vorhin anvertraut, daß – daß es zwischen ihr und ihm nie was werden könnte, nie! Er hat nur mit ihr geflirtet. Nun ist ja gut, daß er noch nicht zu uns gehört. Wir – wir schlagen uns ja selbst nur so durch. Und wäre es Magdas Bräutigam, dann – müßte man doch für ihn sorgen.“

Toni schaute zu Boden. „Wir – ich werde – werde ihn nicht allein sich selbst überlassen, Mutter,“ sagte sie zaghaft. „Ich – ich bin so gut wie verlobt mit ihm.“

Frau Emilie öffnete den Mund vor Staunen, schnappte erst nach Luft, ehe sie ihrer Jüngsten Arm mit hartem Griff packte und hervorstieß:

„Was – was redest du da?! Du – verlobt mit ihm –?!“ Sie lachte schrill auf. „Wirklich, das muß ich sagen: Ein vielseitiger Herr, dieser Bink! Magda, Erna Poputtke, noch ein paar andere und – du! Und gerade du – du bleibst nun an ihm hängen! Natürlich du! Doch – da werde ich schleunigst einen Riegel vorschieben! Da muß ich als Mutter die verständigere sein! Nun geht mir auch ein Licht auf. Hast wohl den Onkel Friedrich schon eingeweiht, damit er dir beisteht?! Daher wohl dein Eintreten für ihn! – Na – das ist ja eine nette Suppe, die du dir eingebrockt hast –“

Die Gartenpforte war soeben knallend ins Schloß gefallen. Meister Martin und der Amerikaner näherten sich.

Frau Emilie schaute hin, schaute weg.

„Sieht wie ‘n Leierkastenmann aus,“ murrte sie leise. „Na, ich werd’ ihm –“

„Mutter!“ mahnte Toni ernst. „Es ist Vaters Bruder!“

Da waren die beiden schon heran, der bucklige, kleine Schuhmacher und der hagere Alte mit dem braunen Charakterkopf.

Friedrich ließ den Bruder, der irgend etwas zu seiner Frau sagen wollte, nicht zu Worte kommen.

„Tag, Schwägerin,“ meinte er gleichmütig. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Dabei lächelte er etwas.

Sie sah dieses spöttische Lächeln, wurde verwirrt und ergriff seine hingestreckte Hand.

„Sehr lange nicht,“ entgegnete sie, nur um nicht stumm zu bleiben.

Meister Martin stand dabei mit verlegenem Gesicht. Am liebsten wäre er zu seiner Emilie grob geworden, weil sie auch nicht ein freundliches Wort für den Heimgekehrten fand.

Friedrich wandte sich an Toni. „Geh’, Kind, – was wir hier zu besprechen haben, ist nur für alte Leute.“

Toni schritt langsam dem Hause zu.

„Schwägerin,“ begann der Amerikaner jetzt in wärmerem Tone. „Gottlieb hat mir bereits mitgeteilt, daß ihr Sorgen habt. Da magst du denken, ich könnte euch nun auch noch zur Last fallen. Ihr braucht das nicht zu fürchten. Ich wohne am Hafen in einem bescheidenen Stübchen, werde ja wohl auch bald eine Beschäftigung finden. Und – schämen braucht ihr euch meiner nicht. Ich bin immer ein ehrlicher Kerl gewesen, wenn auch ruhelos und so etwas Abenteurer. Ich sehnte mich nach der deutschen Heimat und nach Gottlieb. So kam ich denn hierher.“

Sie hatte aus seinen Worten nur das eine herausgehört: Arbeit wollte er suchen! – Also besaß er nichts, war ein Bettler.

Ihre Hand machte sich aus der seinen frei. „Mag’s dir gut gehen hier,“ sagte sie kalt.

„Emilie!“ fuhr der Schuhmachermeister da auf. Er konnte sich nicht länger beherrschen. „Emilie – ist das alles, was du als ersten Gruß für meinen Bruder übrig hast?! Bist du denn –“

„Stopp!“ fiel ihm der Amerikaner in die Rede. „Stopp! Jeder Mensch muß so genommen werden, wie er ist. Emilie war schon als Mädchen sparsam und ein wenig auf ihren Vorteil bedacht. – Nicht wahr, – wir kennen uns ja, Emilie. Wir drei wissen, daß ich Deinetwegen auswanderte. – Ja, vieles ändert sich, und vieles entwickelt sich anders, als man denkt.“ Und im stillen fügte er hinzu: ‚Du bist auch anders geworden, als ich’s je vermutet hätte!‘

„Was sollen diese Erinnerungen?!“ Frau Martin zuckte die Achseln. „Und – du kannst nicht von mir verlangen, daß ich Freude heuchele über deine Heimkehr, wo Gottlieb unsere Ersparnisse geradezu leichtsinnig an noch leichtsinnigere Menschen ausgeliehen hat, so daß wir nun bald nicht mehr aus noch ein wissen vor Schulden! Soll ich da nicht verstimmt und bitter sein?! Und – dann noch – noch jetzt die Toni! – Du, Mann, – verlobt ist sie mit dem Bink. – Verlobt!“

Friedrich Martin horchte auf.

Frau Emilie aber redete weiter. „Am besten, wir schicken sie weg für ein paar Wochen – zu meiner Schwester! Gleich morgen muß sie fahren. – Sie muß!“

„Und wenn sie sich weigert?“ fragte der Amerikaner kurz.

„Weigern – weigern?!“ Frau Emilie schaute ihn fast böse an. „Kinder haben zu gehorchen, Schwager! Wenigstens meine Kinder!“

„Und – wenn sie’s nicht tun?“ meinte er gelassen.

„Dann – dann – jage ich sie zum Hause hinaus!“

Friedrich Martin schüttelte den Kopf. „Das ist ja nicht dein Ernst, Schwägerin. Du bist doch weit besser, hoff’ ich, als du dich heute hier zeigst. Ich begreife, daß die Sorgen dich bedrücken. Aber – man darf sich durch Sorgen nicht so verwandeln lassen, daß man lieblos und hart erscheint. – Über Toni wollen wir nachher reden. Was aber Gottliebs unbesonnene Wechselunterschriften und Darlehn betrifft, so habe ich ihm schon versprochen, für ihn diese Dinge so etwas auf amerikanische Art zu ordnen. Er hat mir die Forderungen zum Schein abgetreten, und ich – ich werde zu dem Gelde kommen, verlaß dich drauf, Schwägerin!“ Er lächelte wieder. Und es war diesmal ein freies, selbstbewußtes Lächeln.

„Wir wollen dich nun nicht weiter stören, Emilie,“ fuhr er fort. „Auf Wiedersehen.“ Er reichte ihr die Hand. „Gottlieb hat mich zwar zum Mittagessen eingeladen. Ich möchte euch aber nicht gern zu Mehrausgaben zwingen. Ich koche mir mein Gemüse schon selbst zurecht. Ich bin recht anspruchslos.“

Frau Emilie wehrte jedoch ab. „Nein, du bleibst zu Mittag, Friedrich, auf jeden Fall.“

„Gut, ich bleibe. – Komm’, Gottlieb, zeig’ mir den Garten.“ –

*

Hektor Bink hatte bis halb fünf auf das Beruhigungspulver hin fest geschlafen. Dann hatte Frau Rötel ihm beim Ankleiden geholfen und ihn auf den Besuch des Sanitätsrats Friedmann, ihres Hausarztes vorbereitet, von dessen Wissen sie sehr eingenommen war. –

Schon bald erschien der Arzt. Er begnügte sich jedoch mit allgemeinen tröstenden Redensarten, die bei Hektor Bink den Eindruck zurückließen, daß seine Heilung durchaus nicht so sicher sei, wie der Amerikaner dies behauptet hatte.

Er war nun wieder allein, saß im Korbsessel am offenen Fenster, hörte draußen die Bäume des Gartens rauschen und die Schwalben mit ihrem hellen Twi-Witt durch die Luft schießen.

Um ihn her war Nacht, tiefe Nacht. Und in seiner Seele war dasselbe Dunkel, – ein Dunkel des Haderns mit dem Schicksal, das ihm diese Prüfung auferlegt hatte.

An die Zukunft dachte er nicht. Dies wies er fast feige von sich. Er hatte stets nur dem Augenblick gelebt. Drängten sich solche Gedanken an ihn heran, dann zwang er stets schnell die Vorstellung herbei, er würde ja bestimmt wieder das Augenlicht zurückerhalten, und alles würde dann sein wie früher.

Er saß, und die Langeweile kam. Und mit den endlos langsam entschwindenden Minuten erwachte allmählich das Gefühl des Verlassenseins, erwachte das, was er bis dahin, frisch gekräftigt durch den Schlaf, bezwungen zu haben glaubte.

Die Angst kam – eine verzehrende Angst, daß er blind bleiben könnte! Sie ließ sich jetzt nicht mehr verscheuchen. Sie erfüllte sein Herz, trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn.

Mein Gott – nur Menschen um sich haben – irgend jemand! Nur sich ablenken! Nur nicht diese schwarze Finsternis als einzige Gesellschaft.

Toni! Toni – wo war sie?! Wollte sie ihn wirklich allein lassen?! Hatte er sie nicht so flehend gebeten, ihm beizustehen in seinem namenlosen Jammer? War sie nicht die einzige, der er so viel Herz zutraute, bei ihm auszuharren auch in dieser Zeit der grausamen Heimsuchung durch ein ungerechtes Geschick? Sollte er sich doch in ihr getäuscht haben?!

Er fuhr leicht zusammen. Die Flurglocke der Rötel schrillte so überlaut.

Da – abermals das Rasseln der Klingel. – War die Rötel vorhin nicht ausgegangen? – Und – wenn’s nun vielleicht Toni war, die zu ihm wollte?

Er erhob sich. Mit vorgestreckten Händen tappte er aus dem Raum hinaus, betrat den Flur, tastete sich bis zur Korridortür, öffnete diese, fragte:

„Wer ist da?“

„Toni!“ klang’s leise zurück.

Er fühlte ihre Hand in der seinen. Sie kam hinein, zog die Tür hinter sich zu.

„Toni!“ jubelte er. „Toni – endlich – endlich!“

Seine Stimme versagte. Er hielt mit der Rechten ihre Hand fest, tastete mit der Linken nach ihrer Schulter, umschlang dann ihren Nacken, riß sie an sich.

„Toni, ich liebe dich!“ stammelte er. Und er spürte den Duft von Frauenhaar dicht vor sich, preßte seine Lippen in die Fülle ihrer dunklen Flechten.

Sie ruhte an seiner Brust. Und – sie wartete, daß jetzt in ihrem Herzen jene heiße Seligkeit erwachen sollte, die sie sich so oft in Gedanken ausgemalt hatte.

Sie wartete. Und dann drängte sie ihn sacht von sich.

„Seit heute morgen betrachte ich mich als deine Braut,“ sagte sie nun, und sie wunderte sich, daß sie’s so ruhig aussprechen konnte. „Ich habe auch meinen Eltern erklärt, daß ich zu dir gehöre. Sie wissen, daß ich dir Gesellschaft leiste. Onkel Friedrich hat die Mutter umgestimmt, die – die so sehr dagegen war, daß ich mich als gebunden betrachte. – Komm’, setzen wir uns ans Fenster in den Abendsonnenschein, Hektor. Du sollst nicht allein sein.“

Sie führte ihn nach dem Sessel, rückte sich einen Stuhl dicht daneben und nahm seine Rechte in ihre warmen Hände.

Bink saß zurückgelehnt da, hatte den Kopf nach ihr hingewandt. Aber – auch er fühlte deutlich den kalten unerklärlichen Hauch, der ihn und dieses Mädchen umwehte.

Doch er wollte diesen Bann um jeden Preis von sich abschütteln. Er wollte Toni an sich fesseln – für immer! Sie durfte ihm nicht entgleiten infolge irgend eines besonderen Empfindens ihrer unberührten Seele, das ja doch nur mädchenhafte Scheu vor dem ersten Alleinsein mit ihm sein konnte.

Er tastete nach ihrem Kopf; er lehnte sich an sie, streichelte ihr Haar, hielt sie umschlungen und flüsterte ihr heiße Zärtlichkeiten zu.

Und – Toni wartete wiederum auf das Große, Heilige, das in ihrem Herzen wach werden sollte.

Er flüsterte süße, schöne Worte. – Wie oft hatte er schon Ähnliches geflüstert. Ganz unwillkürlich schoß ihm dieser Gedanke durch den Sinn. Und ebenso unwillkürlich prüfte er sich, ob er heute nicht doch andere Worte fand als sonst. Toni sollte ja die Eine – seine Göttin werden! Und da würde sein Geist doch besseres an Liebesbeteuerungen hervorbringen als sonst.

Er beobachtete sich, wie’s vielleicht ein Schauspieler bei der Probe tut, der feststellen will, ob auch genug Wärme im Klang der Stimme ist. – So wurde notwendig das, was er sprach, immer erkünstelter und er selbst unruhig, ja unzufrieden mit sich.

„Toni, Liebling, mein süßes Bräutchen, trägst du denn so gar kein Verlangen nach einem Kuß, dem ersten Kuß, den du mir gewährst?“ flüsterte er nun leise und versuchte ihren Mund zu finden.

Toni hatte gewartet – gewartet. Aber – in ihrem Herzen war etwas ganz anderes lebendig geworden als der Wunsch nach schrankenloser Hingabe, als ein übergroßes Sehnen.

Sie bog den Kopf zurück; sie wich seinen Lippen aus.

„Toni, – du – du liebst mich nicht!“ klagte er bitter. „Du verweigerst mir –“

„Habe Geduld mit mir,“ flüsterte sie hastig. „Ich – ich komme nicht so leicht darüber hinweg, daß du – noch in der verflossenen Nacht von Erna Poputtke – Abschied genommen hast. Onkel Friedrich hat mir alles erzählt. – Ach, ich kann’s nicht glauben, daß du – so, so leicht zu verwinden vermagst, daß Erna dir nun wieder – ganz fremd sein soll. Du wirst sie doch auch – geküßt haben! Und auch meine Schwester Magda, – wie standest du zu ihr? – Sei ehrlich, sag’ mir alles! Sieh’, ich will ja versuchen, dein Gefühlsleben zu begreifen –“

Ein Eiseshauch umwehte ihn jetzt.

„Liebling, – laß doch die Vergangenheit ruhen!“ bat er etwas ungeduldig. Und er dachte: ‚Wie schwer man’s mit so zartbesaiteten Mädels hat!‘

„Vergangenheit?!“ meinte sie ernst und machte sich frei von seinem Arm. „Nennst du das Gestern Vergangenheit?! Und – wie willst du mich wohl anders lieben als die übrigen, wenn du noch gestern nacht zum Stelldichein gingst, wenn du nicht einmal gewußt hast, daß dies Zusammentreffen ein Abschied werden sollte! Wenn’s nun keiner geworden wäre?! Was wäre dann heute, wenn dich – nicht das Schicksal so hart angepackt hätte? – Würde ich für dich dann nicht weiter Toni Martin geblieben sein, die dich vielleicht reizte, weil sie mehr als Weib auf sich hält als die Erna zum Beispiel, als Magda und – wohl noch manche andere?! – Sei ehrlich, Hektor! – Onkel Friedrich meinte, du hättest vielleicht darauf gerechnet, Erna würde dich – heiraten. Onkel hat mit mir vorhin im Garten sehr ernst gesprochen, hat mir dasselbe wie neulich schon der Vater gesagt ‚Prüfe dich, deine Liebe!‘ –

Sag’ mir alles, Hektor, ich bitte dich. Verhehle wir nichts, und vertraue dabei –“

Er hatte plötzlich seine Hand ihr entzogen, den Kopf weggewandt.

„Dein Onkel hat Gift in dein Herz gestreut!“ stieß er hervor, ihr ins Wort fallend. „Bist du denn deshalb zu mir gekommen, mir Vorhaltungen zu machen?! – Niemals habe ich an eine Ehe mit Erna gedacht – niemals! Sie hat sich mir aufgedrängt. Ich hätte mich von ihr allmählich losgesagt. Beabsichtigt hatte ich es schon lange. – Und deine Schwester? Das war doch ein ganz harmloser Flirt – wirklich, ganz harmlos.“ –

Er log. Und er belog Frauen nicht zum ersten Mal! Aber heute wurde es ihm schwer. Er hatte das Gefühl, daß seine Worte gesucht und unsicher, ja unwahr klangen.

„Harmlos?! – Und das Bild, das du ihr geschenkt hast?! Die Widmung darauf?!“ fragte Toni.

„Wie viele Bilder verschenkt unsereiner! Wie viele Widmungen habe ich nicht schon geschrieben! – Ich weiß kaum mehr, was ich für Magda auf die Rückseite der Photographie kritzelte.“ Seine schlanken Finger bewegten sich in nervösem Spiel, und seine Stimme klang gereizt.

„Und doch klingt diese Widmung so – so gehaltvoll, – so, als ob sie eine ganz bestimmte Bedeutung für Magda hätte. – ‚Einen Irrtum einsehen und als Freunde scheiden, darin liegt wahre Größe!‘ – So lautet der Anfang. Und leicht kann man herauslesen, daß du geglaubt haben magst, sie zu lieben, und daß du sie aufgabst, weil diese Liebe eben ein Irrtum war.“

„Liebe – Liebe?! – Kind, es war doch nichts als ein Geplänkel!“ Er log wieder. Er hatte Magda und ihre Leidenschaftlichkeit genau so fürchten gelernt wie ihr offenbares Streben, ihn zu einem entscheidenden Wort, zu einer Verlobung, zu drängen. Da hatte er eben wie immer rechtzeitig Schluß gemacht, hatte dies fein verhüllt durch das Bild und die Widmung.

„Kind,“ fügte er schnell hinzu und suchte wieder ihre Hand, „verdirb uns doch nicht dieses Alleinsein! Schone mich doch! Ich habe dir doch versprochen, mich von Grund auf zu ändern!“

Er hatte den rechten Arm um sie gelegt, drückte sie wieder an sich.

„Liebling – nur einen Kuß!“ bat er erneut. Und er dachte: ‚Sie wird mich zu quälen aufhören, wenn nur erst das Weib in ihr sich regt.‘

„Nein!“ Sie drängte ihn abermals von sich. „Ich – ich kann nicht. Ich bin nicht oberflächlich genug, um so schnell zu vergessen. – Hektor, gedulde dich. Auch der Tag wird kommen, wo ich sie überwunden habe – deine Vergangenheit!“

Langes, endloses Schweigen. Und der Abendsonnenschein umspielte Tonis feines Antlitz, das jetzt einen Ausdruck hatte, als sei es um Jahre gealtert. –

Sie blieb noch eine Stunde bei ihm. Und mit ihr blieb der kühle Hauch. Dann kam Frau Rötel und meldete den Herrn Kurdirektor, der Bink seine Teilnahme aussprechen wollte.

*

Am nächsten Vormittag traf der berühmte Augenarzt ein, blieb eine halbe Stunde bei Hektor Bink, untersuchte die Sehorgane ganz genau und erklärte dann, er halte eine Heilung der Lähmung für so gut wie gewiß. Mit der Behandlung wolle er jedoch erst nach einiger Zeit beginnen. – „Hüten Sie sich vor Aufregungen,“ warnte er. „Es kann geschehen, daß dadurch die Wiederkehr der vollen Gebrauchsfähigkeit der Nerven verzögert wird. Ich kenne allerdings auch Fälle, in denen eine freudige Erregung ganz plötzlich die Sehkraft wieder hervorrief. Wir wollen jedoch vorsichtig sein.“

Als der Professor gegangen, als Toni nun bei Bink sich einfand, da rief er ihr scherzend entgegen: „Alles wird sich wieder einrenken, Kleines! Aber – küssen darf ich dich nicht! Aufregungen sind mir verboten! Du bist ja auch ohnedies geradezu geizig mit Zärtlichkeiten.“

Sie stand vor seinem Sessel. Er hatte ihr beide Hände hingereicht. Sie nahm sie; aber ihre Finger waren kühl und wie leblos. – „Ich freue mich, daß du so guter Dinge bist,“ sagte sie und dachte: ‚Wie leicht er doch sein Unglück nimmt! Wie schnell er zu trösten ist!‘

„Puh – bist du heute förmlich!“ meinte er. „Ich brauche Frohsinn, Ausgelassenheit, Lebensfreude um mich. Du bist so schwerblütig, Kind, so – so ehrpusselig, so – so gar nicht Weib!“

In demselben Augenblick klopfte es. Die Rötel trat ein. –

„Herr Bink, eine Dame ist draußen. Sie will ihren Namen nicht nennen, und sie ist so tief verschleiert, daß man von dem Gesicht nichts sieht. Soll ich sie wegschicken?“

Toni beobachtete sein Gesicht. Er zögerte so auffällig mit der Antwort. Sie merkte, daß er sich nur vor ihr scheute, die Verschleierte zu empfangen. – Da war sie es, die ihm die Entscheidung erleichtere. –

„Verzeih’, ich muß wieder gehen, Hektor. Mutter braucht mich jetzt in der Küche. Nachmittags habe ich mehr Zeit,“ sagte sie hastig, drückte ihm flüchtig die Hand und verließ das Zimmer. Im halbdunklen Flur stand die Dame, eine hohe, schlanke Erscheinung. Toni schaute nur einen Moment hin. Der Figur nach war’s – Erna, die reiche Erna Poputtke.

Nachmittags erwähnte Bink Toni gegenüber diesen Besuch mit keiner Silbe, und sie selbst fragte nicht, ob er die Verschleierte wirklich empfangen habe. Er war sehr zerstreut, und schon nach kurzer Zeit begann er den Müden zu spielen, gähnte, entschuldigte sich und erklärte dabei, er habe die Nacht sehr schlecht geschlafen.

Toni durchschaute ihn. Er wollte allein sein. Mehr noch, sein ganzes Verhalten bewies, daß sie ihm bereits unbequem war. – Doch es schmerzte sie nicht. Nein, sehr gelassen meinte sie, er solle versuchen, im Sessel den versäumten Schlaf nachzuholen. Noch ein kühler Händedruck, und sie verließ ihn wieder.

Frau Rötel putzte den Messingdrücker der Flurtür, flüsterte Toni jetzt zu: „Es war die Poputtke! Hat er Ihnen erzählt, daß sie eine Stunde blieb?“

Toni lächelte ganz zwanglos. „Nein. Wozu auch, liebe Frau Rötel? Ich bin ja nur seine – Krankenschwester. Und eine solche braucht doch nicht alles zu wissen!“

Die Tanzlehrerin streichelte ihr die Wange. „Tonichen, Tonichen, – ich verstehe! Und ich bin froh darüber, daß Sie so – so verständig sind! Nur – nur etwas hätte bei alledem nicht sein dürfen.“ Sie machte plötzlich ganz böse Augen. „Ihre Schwester hätte nicht gestern der Tochter des Friseurs Quatzner erzählen sollen, daß Sie heimlich mit ihm,“ ihr Kopf deutete nach hinten, „verlobt sind – noch verlobt sind. Nun ist die Sache schon in der Stadt herum.“

Tonis Gesicht wurde starr. „Magda – Magda hat das wirklich –?“

Ja, Magda! Hüten Sie sich vor ihr, liebes Kind. Ihre Schwester vergißt nichts – nichts!“ – Dann schloß sie die Tür. – Toni aber regte sich nicht. Sie hörte noch immer den Satz: ‚In der ganzen Stadt herum!‘ Und die Worte waren für sie wie ein Messerschnitt, der sie von einer feinen, zarten Hoffnung trennte. –

Sie regte sich nicht. Und abermals lauschte sie nun in ihr Herz hinein. Und ein Stimmchen wisperte: ‚Gestern fühltest du dich noch verletzt, weil Bink sich scheinbar vor dem Landrat schämte, dich als seine Braut zu bezeichnen. Heute aber fürchtest du geradezu, es könnte bekannt geworden sein, daß du in heißem Mitleid dem Manne dich versprachst, der Treue nicht kennt, der haltlos ist wie ein Halm im Wind, der sich nur einbildet, er sehne sich nach einer Retterin, – der diese Retterin wohl in jedem Weibe erblickt, das nicht so rasch wie die anderen ihm anheimfällt! –

Weshalb fürchtest du dies?! Doch nur deshalb, weil in der verflossenen Nacht in deine Träume der Andere sich eingeschlichen hatte, der Geheimnisvolle, der bitter Enttäuschte, – weil du im Traum nochmals die Szene durchlebtest, als er dich an seine Brust gerissen hatte und küssen wollte, – und als du dann nachher dachtest: ‚Schade, daß dieser Kuß nicht geküßt wurde!‘ –

Und das Erwachen nach diesem Traum zeigte dir weiter in dunkler Nacht Günter Kerkholms Bild wie eine Vision! Und da, Toni Martin, da hast du so bitter geweint wie noch nie in deinem Leben; da hast du erkannt, daß nur unreife, romantische Schwärmerei und tiefstes Mitleid mit dem Erblindeten, den du nicht achten konntest und nicht achten werden kannst, dieses Verlöbnis zustande brachten! Da sahst du erst ein, was der Andere im Vergleich zu Bink für ein Mann ist – eben ein Mann mit Charakter!‘

So wisperte das Stimmchen. – Und Toni schlang ratlos die Hände ineinander vor verzweifeltem Weh, vor innerer Zerrissenheit.

‚Kerkholm wird’s ebenfalls erfahren!‘ gellte die Stimme nun ganz laut. ‚Er wird’s erfahren, und – dann ist auch diese Hoffnung tot, dann hast du auch ihn verloren!‘

Schritte kamen die Treppe empor, schwere, müde Schritte. – Heinrich Lörke, der Leuchtturmwärter war’s – der stumme Heinrich. – Toni kannte ihn von Ansehen. Sie wunderte sich, daß der Weißbart, der Menschenscheue, sich in der Stadt blicken ließ. Was wollte er nur hier im Hause?

Er blieb vor ihr stehen. Seine tiefliegenden Augen betrachteten sie mit einem Interesse, das verletzend gewesen wäre, wenn er nicht eben der stumme Heinrich geheißen hätte. – „Sind Sie Toni Martin?“ fragte er dann. „Ja, Sie müssen’s sein. Man hat Sie mir so genau beschrieben. – Ist es wahr, daß Sie mit dem jetzt erblindeten Bink verlobt sind, wie’s in der Stadt erzählt wird?“

Toni nickte schwach. – Da schüttelte der Alte den Kopf. „So, so, – also es ist so! – Na, dann brauche ich mir die Bestätigung nicht erst von dem Kapellmeister zu holen, der hier ja wohl wohnt.“ Wieder derselbe ernst prüfende Blick aus den großen Augen. Dann wandte er sich um und ging wieder die Treppe hinunter – schwer, langsam wie einer, den im Leben nichts mehr zur Eile treibt.

Toni stierte ihm nach wie einer Erscheinung. Sie konnte gar nicht fassen, daß es wirklich der sonderbare Alte gewesen, der ihr hier soeben gegenüber gestanden hatte. – Was – was in aller Welt bedeutete es, daß dieser Sonderling zu Bink hatte gehen und diesen fragen wollen, ob es mit der Verlobung seine Richtigkeit hätte? – Und – wer hatte dem Alten von ihr, von Toni Martin, eine so eingehende Beschreibung geliefert, daß dieser sie sofort erkannte?! –

Neues war so in ihre Seele gepflanzt worden, – neue Fragen, neue Unruhe. Stumm und gedrückt erledigte sie ihre kleinen Pflichten im Hause. Stumm ertrug sie die spitzen Bemerkungen der Mutter, die noch immer fürchtete, diese Verlobung könnte für die Familie nur eine Last werden. Als der Nachmittag kam, schützte sie Kopfschmerzen vor und blieb oben auf dem gemeinsamen Zimmer, ging nicht zu Bink, schickte ihm nur ein paar kühle Zeilen der Entschuldigung ihres Fernbleibens wegen. Auch am folgenden Vormittag ersann sie eine Ausrede, um einen Besuch bei dem Kapellmeister zu vermeiden. Sie fühlte ja mit aller Deutlichkeit, sie konnte die traurige Komödie dieser Brautschaft nicht mehr fortsetzen! Am liebsten hätte sie Bink schon jetzt ganz offen erklärt, daß sie das Verlöbnis lösen müsse. Aber damit wollte sie doch noch warten, bis er genesen oder bis irgend welche anderen Umstände eintraten, die es ihr ermöglichten, ihr Jawort ohne Gefahr einer Schädigung seines Gesundheitszustandes zurückzunehmen. –

Nachmittags war er mit der Probe für das Konzert beschäftigt, das nun an diesem Abend im Kurhaussaal stattfinden sollte. – So kam es, daß Toni ihn vor diesem entscheidenden Termin nicht mehr sah.

Friedrich Martins Voraussage traf ein; der Saal war nicht nur ausverkauft, nein, er war geradezu unzulässig überfüllt.

Der Amerikaner war’s auch gewesen, der das Besorgen der Eintrittskarten übernommen hatte. Meister Martin fiel dann aus allen Wolken, als sich herausstelle, daß Friedrich sechs Zwanzigmarkplätze in der dritten Reihe gekauft hatte, – Zwanzigmarkplätze. Bis zuletzt hatte er dies vor seinen Verwandten verheimlicht, hatte nur gesagt: „Kinder, ihr werdet zufrieden sein. Putzt euch nur gehörig heraus, damit ihr mir Ehre macht!“ – Er liebte es ja, seine Scherze so etwas ironisch zu färben.

Und sie hatten sich ‚fein gemacht‘, alle. Und als der Onkel die Familie Martin dann abholen kam, staunte selbst Herr Emil über das Aussehen des ‚alten Vagabunden‘, wie er ihn Magda gegenüber stets bezeichnete.

Donnerwetter – der Herr Oheim war wirklich kaum wiederzuerkennen. Der besaß ja sogar einen tadellosen, auf Seide gearbeiteten Smoking und Lackstiefel! – Meister Martin machte sich so seine besonderen Gedanken über diesen ‚Aufzug‘ seines Bruders; er glaubte nicht mehr recht daran, daß Fritz als armer Teufel heimgekehrt sei. So verschiedenes hatte ihn schon stutzig gemacht. –

Nun saßen die sechs Martins nebeneinander in dem strahlend hell erleuchteten Saal, und Frau Emilie, Magda und Herr Emil schwammen in Wonne, weil sie so mitten unter den ‚oberen Zehntausend‘ von Braunhafen hier Plätze hatten und – weil unzählige Augen immer wieder gerade die Martins musterten.

Toni fühlte diese Blicke, die sämtlich ihr galten, – ihr, Hektor Binks Braut! Sie wagte nicht aufzusehen; sie hielt den Kopf gesenkt; sie kämpfte fast mit Tränen.

Das Orchester war auf der Bühne gruppiert. In der Mitte vor dem Souffleurkasten stand Binks Dirigentenpult. Es war mit Blumen überreich geschmückt.

Nun erschien er selbst, geführt von dem ersten Geiger.

Lautlose, teilnahmsvolle Stille; dann ein wahrer Orkan von klatschenden Händen, der nicht enden wollte.

Bink im Frack, im Knopfloch eine weiße, halberblühte Rose, sah vorzüglich aus, – frisch und gesund. Er verbeugte sich ernst; verbeugte sich immer wieder.

Dann die erste Programmnummer: Wagners Feuerzauber aus der Walküre.

Das Orchester gab sein Bestes. – Nach dem ersten Teil des Programms Blumen über Blumen, Pakete mit Liebesgaben, Kränze über Kränze. –

Nach der Pause dann die Sensation des Abends:

‚Liebeszauber, – Walzer von Hektor Bink.

(Bisher öffentlich noch nicht gespielt)‘

stand im Programm.

‚Liebeszauber! – Ein Titel, der ganz dem Charakter des Komponisten entsprach!‘ dachte Toni, die noch immer ganz scheu und verschüchtert dasaß und nur zuweilen schnell sich umschaute und – suchte, – den Anderen suchte, – Günter Kerkholm!

Liebeszauber! – Unwillkürlich dachte sie jetzt auch an den anderen Zauber, an den finsteren Aberglauben des Bildzaubers. Und ihr war’s, als läge jene Gewitternacht, in der Magda die Augen der Photographie durchstochen hatte, bereits monatelang zurück. Und es waren doch erst vier Tage seitdem vergangen, aber diese Tage hatten eine solche Fülle von Geschehnissen aufzuweisen, daß man sie auf Jahre hätte verteilen können. –

Bink hob den Taktstock. Bisher war er ganz ruhig gewesen. Das Dirigieren lediglich aus dem Gedächtnis machte ihm keine Schwierigkeiten. Nun aber, wo sein eigenes Werk hier aus der Taufe gehoben werden sollte, bemächtigte sich seiner eine schnell wachsende Erregung. Er wußte ja, dort unten im Saal saßen auch ein paar Berliner Musikkritiker. Wenn sein Walzer denen gefiel – dann war ihm der Weg zu den Operettenbühnen geebnet.

Binks Nerven vibrierten; er lebte mit den Tönen, er fieberte, ob auch jede Feinheit des Tonsatzes voll zur Geltung kam. Er wußte kaum mehr, daß vor seinen Augen finstere Nacht lauerte; er hatte alles ringsum vergessen – nur nicht sein Werk, nur nicht den Ruhm, der ihm vielleicht winkte!

Nun das Finale, nun der Schlußakkord. Und dann setzte der Beifallssturm ein; dann hörte er das Branden der ‚Da Capo – da Capo!‘ rufenden Stimmen.

Er verbeugte sich fast automatisch. In seiner Brust war ein namenloser Jubel. Er merkte, wie seine Glieder ein nervöses Zittern befiehl.

Da – wie ein Blitz war’s, der die Finsternis urplötzlich in strahlende Lichtfülle verwandelte.

Die Nacht vor seinen Augen war jäh gewichen.

Er taumelte zurück mit ausgebreiteten Armen.

Und in die ebenso plötzlich eingetretene, angstvolle Stille hinein gellte sein Ruf nun:

„Ich – sehe – ich sehe! Ich bin nicht mehr blind!“

Der erste Geiger war zugesprungen und wollte ihn stützen. Doch es war nicht mehr nötig.

Hektor Bink trat vor, bückte sich, hob einen der Kränze auf, hielt ihn hoch, rief abermals:

„Ich sehe – ich habe mein Augenlicht wieder!“

Und dann setzte die Raserei des Publikums ein; man stürmte die Bühne; jeder wollte Bink die Hand drücken; Menschenwogen schoben sich um ihn; schöne Frauen suchten einen Blick dieser wieder sehend gewordenen Augen zu erhaschen; junge Mädchen vergaßen jede Zurückhaltung, wollten nur wenigstens ihn berühren, den schönen Mann, den Begnadeten, den Vielumworbenen.

Und er – er lächelte sein altes Siegerlächeln, sein berückend liebenswürdiges, eitles, selbstbewußtes Lächeln. –

Langsam trat wieder Ruhe ein. Und wieder jubelten, klagten, schluchzten die Geigen, wieder umwehte der Liebeszauber die Ohren der begeisterten Menge. –

Toni Martin hatte die Hände im Schoß gefaltet. Er – er sah! Er sah – und sie brauchte ihn nicht mehr zu schonen! Sie war frei – frei! – Das waren ihre Gedanken. –

Das Konzert war aus. – Frau Emilie flüsterte Toni zu: „Bink, jetzt gehörst du zu ihm. Du bist seine Braut. Geh’, beglückwünsche ihn –“

Onkel Friedrich stand dicht dabei. Sein gesundes Auge lag fest auf Tonis blassem Gesicht. Und – dieser Blick gab ihr Mut.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich gehöre nicht zu ihm, Mutter,“ sagte sie fest. „Ich bin nicht mehr seine Braut. Diese Liebe war eine Selbsttäuschung –“

Frau Martin kniff die Lippen zusammen. Bevor sie jedoch noch etwas erwidern konnte, sagte der Amerikaner ruhig: „Gut so, Toni, – gut so! Ich habe das vorausgesehen! – Komm, gehen wir noch in eine Weinstube. Ich lade euch ein. Meines Lieblings wiedergewonnene Freiheit muß begossen werden.“

In einer Nische der teuersten Bar von Braunhafen saßen dann die sechs Martins, und fünf von ihnen konnten sich gar nicht genug über den Oheim Friedrich wundern, der nicht nur Sekt, sondern auch allerlei Delikatessen bestellte, und der dann nach dem ersten Glase sehr gelassen erklärte: „Kinder – ihr sollt nun die Wahrheit erfahren. Ich bin nicht arm. Im Gegenteil!“ Und er lachte vergnügt. „Aber – wie viel ich habe, das sage ich niemandem! Jedenfalls, Kinder, – für uns alle langt’s schon! – So, und nun macht gefälligst andere Gesichter! Prost – es lebe der Liebeszauber, Tonis Freiheit, das freie Amerika und die Schafwolle, – denn durch die bin ich reich geworden!“

So wurde es denn ein recht vergnügter Abend. Nur für Toni nicht. Die blieb still und insichgekehrt, obwohl der Onkel ihr zugeflüstert hatte: „Mädel, du wirst mal meine Erbin! Und als solche kannst du dir nun einen aussuchen, der nicht so ‘n Weiberheld ist wie der – der – na, du weißt schon, wer!“

*

Frau Emilie war jetzt sehr damit zufrieden, daß Toni dem ‚leichtsinnigen Bink‘ einen Absagebrief schickte – gleich am nächsten Morgen.

Bink lag noch im Bett, als die Rötel ihm das Schreiben durch die Türspalte ins Zimmer schob. – Er las – und dann sagte er ganz laut: „Habe ich nur einen Dusel!“

Toni aber hatte den Eltern erklärt, sie wolle jetzt zu Tante Pauline nach Mecklenburg reisen, noch heute abend. Und sie würde dort bis zum Schluß der Badesaison bleiben, damit sie Bink nicht mehr begegne.

Die Eltern waren einverstanden. Auch Onkel Friedrich. Der aber ging dann doch noch mit Toni in den Garten und zog seinen Liebling hier in der Laube auf seine Knie. –

„Mädel,“ sagte er, „du erinnerst dich –! Ich war doch damals Zeuge, wie dich da ein Mensch auf dem Motorboot küssen wollte. – Wer war das eigentlich, he?! Ich habe mich wahrhaftig nach dem Kerl umgesehen, aber – es gibt zu viele Leute in Seemannstracht hier. – Wie kam der Frechling dazu, dich so – so stark vertraulich zu behandeln? Du – du wehrtest dich nämlich verdammt wenig, Mädel, so daß ich beinahe glaube, daß du vielleicht zwei Lieben gleichzeitig in deinem Herzchen wohnen gehabt hast und daß –“

Toni begann zu weinen, – weinte sich an des Amerikaners Brust satt. Und der streichelte ihr Haar und lächelte verständnisinnig. Aber – nichts verriet Toni von dem, was jetzt ihr größter Schmerz war.

Nachmittags jedoch ließ sie sich im Boot nach dem Leuchtturm übersetzen. Sie wollte, bevor sie Braunhafen verließ, darüber sich Aufschluß verschaffen, wer wohl den ‚stummen Heinrich‘ vorgestern zu Bink geschickt hatte. Sie vermutete ja, daß es nur Günter Kerkholm gewesen sein konnte. Aber sie mußte Gewißheit haben! Und – der alte Leuchtturmwärter würde ihr dann auch wohl ehrlich erklären, wie Kerkholm das Gerücht von ihrer Verlobung aufgenommen hatte. –

Der Weißbart öffnete die Tür des Leuchtturms erst auf wiederholtes Läuten. –

„Na – was wollen Sie?“ knurrte er Toni an.

Aber die ließ sich dadurch nicht abschrecken. Und der Alte nahm sie dann mit in sein enges Stübchen, hörte geduldet zu, als Toni ihm sagte, weshalb sie ihn besuche.

„Hm,“ brummte er dann. „Also die Verlobung ist schon wieder gelöst! – Hm – und nun?!“

Toni konnte die Tränen nicht mehr zurückdrängen. „Quälen Sie mich doch nicht!“ schluchzte sie. „Ich will wissen, wer Sie zu Bink sandte. Antworten Sie doch.“

„Hm – wer? – Einer, den ich auch erst zwei Wochen kenne; einer, der jetzt mein einziger Freund geworden; einer, den die Weiber auch innerlich totgemacht haben. – Ihr Weiber, ihr! Die ihr alle nichts wert seid!“

Er schwieg und betrachtete das weinende Mädchen. Und da leuchtete langsam das Verstehen in seinem verwitterten Gesicht auf.

„Hm – wie er heißt?“ fuhr er bedächtig fort. „Ja – das – das muß Ihnen schon wer anders sagen; einer der’s besser weiß. Gehen Sie dort nur die Treppe nach oben. Auf der Plattform sitzt einer, der heut’ nachmittag frei hat. Und – der kennt den Namen ganz genau. – Gehen Sie nur. Es gibt da oben viel zu sehen – sehr viel –“

Und Toni stieg ahnungslos höher und höher; dachte, auf der Plattform einen Bekannten Kerkholms vorzufinden.

Und – fand ihn selbst; fand ihn auf der Holzbank sitzen mit verschränkten Armen und ins Weite starrend.

Er hörte das Klappern der kleinen Tür, wandte den Kopf, schnellte hoch.

Toni schritt auf ihn zu. Ein seltsamer Mut war in ihrer Seele. Sie hatte ihr Schicksal in der Hand; sie wollte nun das Schicksal zwingen, ihr ein frohes Gesicht zu zeigen nach all den bitteren Tagen.

Dicht vor ihm stand sie, sagte fest:

„Günter, ich bin frei. Ich habe diese Verlobung rückgängig gemacht. Ich war auch nie wirklich Binks Braut, – denn meine Lippen haben die seinen nie berührt.“

In seinen Augen glomm ein Strahlen auf. Und er hob die Arme, breitete sie in Sehnsucht aus, – wortlos, weil keines Wortes fähig.

Sie sank an seine Brust. Und sie reckte den Kopf hoch.

„Küsse mich, Günter!“ flüsterte sie. –

Dann trug die Holzbank zwei Glückliche, dann nannte Kerkholm seinen wahren Namen. Und es war der eines der bekanntesten U-Bootskommandanten aus dem Weltkrieg. –

Im Herbst heiratete Toni Martin den Kapitänleutnant a.D. Günter von K… – Und als das junge Paar auf der Hochzeitsreise auch in Berlin einige Tage weilte, wurde gerade im Theater am Nollendorfplatz Hektor Binks Operette ‚Liebeszauber‘ zum 15. und so weiter Male gegeben.

Sie sahen sich die Operette an, die beiden Glücklichen. Sie saßen Hand in Hand, als der große Walzer im zweiten Akt mit seinen einschmeichelnden Melodien sie umtoste.

Toni wurden die Augen feucht. Sie konnte noch immer nicht recht fassen, daß sie das Schicksal wirklich gezwungen hatte, ihr Tage und Nächte voll jubelnder Seligkeit zu schenken, voll von berückendem – Liebeszauber.

 

 

Fußnoten:

1 Der Prozeß hat wirklich stattgefunden, ebenso wie die weiteren Angaben über ‚Bildzauber‘ der Wahrheit entsprechen.

2 Bulle = päpstliche Urkunde, die den Namen erhielt, da sie mit einer Bulle (einem kreisrunden Siegel) verschlossen war