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100000 Mark

Feine Havanna

Pikante Lektüre

Band 3

 

100 000 Mark

 

Ein Tiergarten-Abenteuer

von

Hector Sylvester.

 

 

Verlag moderner Lektüre

Berlin S.14

Dresdenerstraße 88-89

 

 

I.

Emil Werner, ein junger Kaufmann von acht und zwanzig Jahren, ging stark mit Selbstmordgedanken um.

Seit acht Tagen irrte er in Berlin umher, mittellos, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche.

Er hatte während dieser Zeit nur von dem Frühstück, bestehend aus Milch-Kaffee fragwürdiger Güte und zwei Schrippen, das er morgens von seiner Logis-Wirtin vorgesetzt erhielt, gelebt, und war mit dem Schwinden seiner Kräfte nun am Ende seiner Willenskraft angelangt, dies Leben länger zu ertragen.

Stumpfsinnig wanderte er durch die Leipzigerstraße dem Tiergarten zu.

Am Potsdamer-Platz herrschte — es war an einem Augustabend um die siebente Stunde — das gewöhnliche Treiben. Fußgänger vermochten in dem Tohuwabohu von elektrischen, Last- und Kutschwagen, Automobilen und andern. Gefährten, nur mit Lebensgefahr den Platz zu passieren.

Emil Werner ging wie ein Schlafwandler durch das Gedränge. Was hatte er zu befürchten? Unter Huftritten der Pferde oder der Plattform einer „Elektrischen“ zu enden? Pah! das konnte ihn nicht schrecken.

Nur die Erwägung, daß er vielleicht lediglich zum Krüppel gefahren würde, hatte ihn überhaupt davon abgehalten, den Tod auf den Schienen zu suchen.

Vor dem Kaffee Josty blieb er eine Weile stehen. Die Terrassen waren dicht besetzt von eleganten und vergnügten Menschen, die Kaffee und Chokolade, Tee und Bier tranken, oder Kuchen und Schlagsahne verzehrten, und alle so lachend und wohlgemut dreinschauten, als ob es gar kein Elend auf der Welt gäbe.

Einen Augenblick stieg eine ungeheure Wut im Herzen des unglücklichen Zuschauers auf. Es war ihm, als müsse er mit seinem Spazierstocke auf die Menge einschlagen — doch er bezwang sich noch rechtzeitig und ging seufzend weiter, die Bellevuestraße entlang zur Sieges-Allee.

Die brandenburgischen und preußischen Herrscher, deren Marmorbilder dort stehen, und uns ansehen, konnten dem Selbstmord-Kandidaten heute kein Interesse abgewinnen, obwohl er sie in besseren Zeiten oft mit Vergnügen betrachtet und im patriotischen Empfinden bewundert hatte.

Er schlug sich seitwärts der Allee in die Büsche, setzte sich auf eine Bank und grübelte weiter über das ihn allein interessierende Thema nach: „Auf welche Art schaffe ich mich am besten aus der Welt?“

Im Wasser zu sterben, zumal in jetziger Jahreszeit, muß eine wahre Wonne sein, dachte er. Aber er hegte die Befürchtung, daß ihm als guter Schwimmer die Lust vergehen könnte, sich im Wasser zu begraben, — und außerdem: eine Wasserleiche, quabbelig weiche — — Über die sich die Kinder lustig machen, wenn sie singen:

Es liegt eine Leiche im Landwehrkanal,

Lange sie mir mal her

Aber knautsch’se nich zu sehr!

Nein, dabei vergeht jedem anständigen Menschen der Appetit und das Verlangen, sich von Aalen auffressen zu lassen!

Um Gift oder einen Revolver nebst Munition zu kaufen, fehlte ihm das Geld; es blieb also nur noch, da er als reinlicher Junggeselle Fenstersturz und Überfahrenlassen verabscheute, das — —

Seine Blicke fielen zufällig auf eine unfern an einem Zweig hängende starke Schnur von etlichen Meter Länge, die sich auf irgend eine Weise dorthin verirrt hatte. Er ging hinüber und nahm den wertvollen Fund in Besitz.

O — nun war ja die Frage mit einem mal gelöst. Er besaß das Instrument, — einen Strick, lang und stark genug, — an dem er in die sogenannte Ewigkeit hinüberbaumeln konnte.

Noch wußte er freilich nicht recht, wie er die Sache deichseln sollte; aber er tröstete sich damit, daß sich so viele Menschen erhängen, die vorher auch keine Übung darin haben und es doch prompt zu Wege bringen, sich den Mitmenschen als Leichname zu präsentieren.

Das Einzige, was er mit knurrendem Magen bedauerte, war die Gewißheit, daß er sich keine Henkersmahlzeit vorsetzen könne. Erbsen mit Pökelfleisch und Sauerkraut würde er gewählt haben, und ein kühles Glas Bier dazu — — ihm lief das Wasser im Munde zusammen…

Aber der Mensch soll nicht gleich zu üppig werden, sondern dem Schicksal danken, wenn es ihm großmütig einen Strick reicht.

Nun war weiter nichts zu dem Vorhaben Emil Werners nötig, als — Dunkelheit. Denn seitdem der Tiergarten so gelichtet ist, daß man von einem zum anderen Ende hindurchsehen kann, kann sich kein honeter Mensch mehr am Tage darin ruhig aufhängen.

Um sich die Zeit bis zum Anfang des Baumelns möglichst zu verkürzen, legte sich Emil auf einer Bank, die fern von jeglicher Beleuchtung stand, längelang nieder und schlief schon in wenigen Minuten ein.

 

 

II.

Als er erwachte, war es ebenso still wie dunkel um ihn. Er erhob sich, um nunmehr ungesäumt ans Werk zu gehen.

Dicht neben der Bank stand ein für seine Zwecke vorzüglich sich eignender Baum, eine Ulme.

Emil trat auf die Lehne der Bank, ergriff einen der niedrigsten Äste und schwang sich in den Baum. Dann befestigte er die beiden Enden der Hanfschnur an einen starken Zweig und siehe da! die schönste Schlinge war fertig. Er brauchte blos noch den Kopf hindurchzustecken, die Füße von dem Ast gleiten zu lassen, und — —

Schritte näherten sich. An die Dunkelheit gewöhnt, gewahrte Emil durch die Zweige zwei Gestalten, die den Weg entlang kamen und sich auf der Bank unter ihm niederließen.

Obwohl die Beiden den Baumbewohner in seiner Beschäftigung nicht hätten hindern können, so hielt er doch damit inne und lauschte auf das in gedämpftem Tone geführte Gespräch.

Er unterschied eine männliche und eine weibliche Stimme.

„Nun, Kind, erzähle mir doch endlich! Ist die Sache geglückt?“ flüsterte der Mann, „du begreifst, daß ich — —“

Ihm schien der Mund mit einem Kusse verschlossen zu werden; denn Emil hörte deutlich das köstliche Geräusch, das beim Küssen entsteht.

„Mit dem Schlüssel war es mir eine Kleinigkeit, den Schrank zu öffnen; Du hast Deine Sache vortrefflich gemacht, lieber Paul!“

„Und lag das Geld wirklich darinnen? Hunderttausend Mark? Schnell, Kind, rede doch!“

„Aber gewiß war es drinnen, ich wußte es ja! Hier, mein Süßer, in diesem Portefeuille stecken wohlgezählte hundert Tausendmarkscheine — —“

„Wirklich? oh — zeig’her!“ klang es wie unterdrückter Jubelruf, und der gebannt auf dem Baume hockende Selbstmord-Kandidat hörte in der nächsten Minute keine andern Laute, als lang anhaltende, leise, aber jedenfalls desto intensivere Küsse.

„Au, Du beißt mich ja, Laura!“ sagte endlich Paul und entwand sich der Umarmung, um aufzustehen; allein Laura hielt ihn fest.

„Wie, Du willst aufstehen, Barbar? O fühle, wie mein Herz pocht — — ach! ich muß mir Luft verschaffen…“

Sie atmete tief auf…

„Vertraue mir das Geld an, Laura; es ist jedenfalls bei mir besser als in Deiner Behausung aufgehoben.“

„Aber — wirst Du auch Dein Versprechen halten, und nicht allein —“

„Pfui, Kind, über Dein Mißtrauen! Du machst mich ernstlich böse, wenn Du es nicht augenblicklich aufgibst!“

„Ei, Du Närrchen! Alles gebe ich Dir, Leib und Seele, und sollte Dir den Mammon nicht anvertrauen?“

Sie drückte das Portefeuille an ihre Brust.

„Hunderttausend Emmchen; mein liebes Alterchen wird große Augen machen, wenn er das Nest leer findet… Es ist eigentlich häßlich von mir, ihn so zu hintergehen; aber warum ist er alt? Nicht wahr, Paul, warum bist Du stark und jung?“

„Jawohl, Laura, — und morgen abend entfliehen wir!“

„Ach, warum nicht schon heute… o, wie mich’s heiß überläuft… komm, küsse mich, Paul, ehe wir scheiden.“

Sie zog den Mann zu seliger Umarmung nieder und weltvergessen hielten sich beide umschlungen.

Der Wind rauschte in den Bäumen und knarrend und knackend bogen sich die Zweige.

Vorsichtig spähend, beugte sich Emil aus seiner luftigen Höhe hernieder. Achtlos war das kostbare Portefeuille den Händen der Frau entglitten und lag abseits auf der Bank.

Deutlich gewahrte es Emil Werner und sein Herz pochte gewaltig. Aber hier galt es schnelles Handeln — jede Sekunde konnte es vereiteln, daß er in den Besitz des Raubes kam.

Er steckte jetzt statt des Kopfes einen Fuß in die Schlinge, damit er vor dem Fallen geschützt sei und ließ sich dann kopfabwärts am Baum herunter. Der unterste Zweig gab seinem rechten Arm Halt, während er mit der Linken die Ledermappe ergriff, sie an den Mund führte und mit den Zähnen festhielt.

Leise klomm er dann rückwärts von Zweig zu Zweig wieder empor; die furchtbare Anstrengung und Aufregung brachten ihn zwar einer Ohnmacht nahe, aber seine Willenskraft siegte — —

Es war die höchste Zeit gewesen. Kaum oben angelangt, setzte ein heftiger Regenguß ein, den der Wind klatschend gegen die Blätter schlug, während er die Liebenden aus ihrer Umarmung riß.

Sie taumelten empor und schickten sich zum eiligen Verlassen des Platzes an.

„Hast Du das Täschchen, mein süßes Lieb?“ fragte der Mann, den Rockkragen emporziehend.

„Ich, Paul? Mein Gott, habe ich es Dir nicht gegeben? Du erschreckst mich —“

„Aber nicht doch, Laura! Besinne Dich, daß Du es mir wieder aus der Hand nahmst!“

„Ach richtig — Himmel! Wo ist’s denn nur? Es kann doch höchstens von der Bank herabgeglitten sein, während wir — — Warte, gleich müssen wir’s finden!“

Ihr Suchen war natürlich vergeblich. In das Wehklagen der Frau und das zornige Fluchen des Mannes mischte sich plötzlich das Geräusch von Schritten, die von den Beiden überhört wurden, bis eine Schutzmannspatrouille dicht neben ihnen stand, die auf einer Razzia begriffen war und bereits einige Individuen zweifelhaftester Sorte in ihrer Mitte führte.

Laura stieß einen Schrei aus und wollte davoneilen; sie wurde jedoch nebst ihrem Begleiter von derben Fäusten festgehalten.

„Lassen Sie mich los, Schutzmann!“ zischte die Frau erregt; „ich bin —“

„Jawohl, diese Dame ist meine Frau,“ fiel Paul schnell ein und wollte sie dem Schutzmann entreißen.

Der Polizei-Leutnant trat vor:

„Wer Sie sind, wird sich finden; zunächst folgen Sie uns gutwillig, sonst —“

Die Frau taumelte bei dem Klang der Stimme des Leutnants zurück. Aber im nächsten Augenblick stand der Leutnant dicht neben ihr und der Strahl seiner schnell in Funktion gebrachten elektrischen Taschenlaterne fiel auf ihr Gesicht.

„Um Gott — gnädige Frau — Sie?“ Er flüsterte es, nur ihr verständlich; wandte sich dann zurück und sagte: „Die Dame und der Herr brauchen nicht zu folgen, ich kenne sie!“

Grüßend die Hand an die Mütze legend, entfernte er sich mit dem Trotz der Schutzleute und Vagabunden und war bald wieder in der Dunkelheit verschwunden.

 

 

III.

Emil Werner schlug verwundert die Augen auf, als ihm am folgenden Morgen wie gewöhnlich seine Wirtin den Kaffee mit den obligaten zwei Schrippen und vier Stückchen Zucker ins Zimmer brachte.

Er nickte der gutmütigen alten Dame schlaftrunken zu, wartete bis sie wieder hinausgegangen war und wollte sich auf die andre Seite legen, um wieder einzuschlummern, als er einen harten Gegenstand unter seinem Kopfkissen verspürte.

Unwillig griff er mit der Hand danach und zog — das Portefeuille hervor…

Ein mächtiger Schrecken überfiel ihn, denn mit einem Schlage wurde sein gestriges Abenteuer in ihm lebendig…

So hatte er also nicht geträumt?

Mit zwei Sätzen war er an der Tür und verschloß sie von innen; dann schnitt er mit einer Schere den Deckel der Tasche auf, da er den Verschluß nicht zu öffnen vermochte, und legte ihre Eingeweide blos.

Es flimmerte ihm vor den Augen.

Er vermochte nicht zu zählen.

Blaue und braune Lappen, ein Päckchen ums andere.

Jedes zehntausend wirkliche, lebendige Mark.

Er war reich — reich — reich…

Aber ein Dieb — Dieb — Dieb — war er auch.

Nein — triumphierte er — ich bin keiner.

Ich habe einem Räuber ungerechtes Gut abgejagt… und einer Räuberin…

Ach! diese Räuberin! Diese prachtvolle, junoische Gestalt mit dem wunderbaren Gesicht!

O — er hatte dies Gesicht genau gesehen — wie der Schein der Laterne des Leutnants hell darauf ruhte — nur eine Sekunde lang — aber er wird dies Gesicht unter tausenden wiedererkennen…

O, dieses Weib! Dieses reizende, schamlose — — —

O — was nützte ihm das Geld, wenn er dieses Weib nicht sein nennen könnte — —

So wirbelten die Gedanken im Gehirn des jungen Mannes umher, bis er durch ein heftiges Klopfen an der Tür unsanft gestört wurde.

„Bitte, Herr Werner, öffnen Sie, ein Schutzmann wünscht Sie zu sprechen!“ hörte er die Stimme seiner Wirtin draußen sprechen.

Der „Schutzmann“ fiel ihm mit Centnerschwere auf die Seele. Emil wurde leichenblaß und die Beine sackten ihm unter dem Körper zusammen.

Was wollte der Schutzmann bei ihm?

Ihn festnehmen wegen Diebstahls?

War die Tat ruchbar geworden?

Hatte ihn jemand gesehen— wie er das Portefeuille heimgetragen hatte?

Er hatte keine Zeit, sich hierüber Kopfschmerzen zu machen, denn es wurde nochmals sehr energisch an die Tür gepocht.

Es half nichts, Emil mußte öffnen.

Er vergrub das kalblederne Behältnis nebst papierenem Inhalt tief im Bette und ging zur Tür, indem er mit angstbebenden Lippen rief: „Ich öffne schon!“

Nachdem er es getan, trat der Schutzmann ohne große Komplimente ein.

„Sie sind Herr Werner, Kaufmann? Betreiben Sie ein selbständiges Geschäft?“

„Ich bin nur kaufmännischer Angestellter —“ stotterte der Gefragte mit leiser Stimme.

„Ach so, Herr Werner. Ich komme nämlich, um wegen der rückständigen Gemeindesteuern Erkundigung einzuziehen; können Sie nicht zahlen?“

„Ich war längere Zeit krank und hatte im letzten Vierteljahr keine Stellung; deshalb war’s mir nicht möglich gewesen, Steuern zu entrichten.“

„Also krank — ohne Stellung — das werde ich mir notieren,“ sagte der Schutzmann, sein dickes Notizbuch aus der Tasche ziehend. „Da kann man natürlich keine Steuern bezahlen.“

Emil’s Mut kehrte zurück.

„Bitte, Herr Schutzmann, wollen Sie dazu bemerken, daß ich schon binnen kurzem in der Lage sein werde, meine Steuerschuld zu begleichen.“

„Wieso?“ fragte der Schutzmann.

„Ich habe schon für die nächsten Tage eine lohnende Beschäftigung in bestimmter Aussicht!“

„Gut, Herr Werner, nichts für ungut wegen der Störung, Adieu!“

Nachdem sich der Schutzmann entfernt hatte, beeilte sich Emil, die Tür wieder sorgfältig zu verschließen, damit er sich ungestört an seinem Schatze weiden könne.

Aber kaum hatte er begonnen, eine genaue Zählung der Scheine vorzunehmen, so wurde von neuem an die Tür gepocht.

Wieder verbarg Emil das Geld so schnell er vermochte und fragte dann:

„Wer ist draußen?“

„Der Geldbriefträger, Herr Werner!“ ertönte eine Stimme im tiefen Baß.

Mit dem Postmann zugleich trat die Wirtin mit frohem Lächeln ein.

„‘N Morgen, Herr Werner; bitte quittieren, 500 Mark.“

„An mich?“ fragte Emil erstaunt, „woher kommt’s denn?“

„Weiß nicht,“ meinte der Geldbote, indem er die blanken Füchse auf den Tisch des Hauses zählte, „aber die Adresse stimmt doch: „Emil Werner, Buchhalter, wohnhaft bei Frau Witwe Hebenstreit, Krausenstraße 180, Hintergebäude 2 Treppen links.“

„Janz in Ordnung, Herr Müller,“ sagte die Dame des Hauses zu dem Geldbriefträger, „da bürge ich dafür, daß es der richtige Emil Werner ist; ne, uff meine Mieter laß ich nischt kommen!“

„Na also,“ meinte Müller, „soll ich ein Zwanzigmarkstück in Kleingeld umwechseln?“

„Bitte, es darf sogar ganz kleines sein.“ Emil schob von dem aufgezählten Gelde dem Bringer zwei Markstücke als Trinkgeld zu, worüber mit einem im kräftigsten Baß herausgestoßenen: „Donnerwetter! ich danke schön!“ quittiert wurde.

„So — und nun, Frau Hebenstreit,“ sagte Emil, nachdem sich der Geldbriefträger vergnügt schmunzelnd entfernt hatte, „wollen wir mal rechnen! Oder nein — heute nicht; da, nehmen Sie vorläufig hundert Mark.“

„Aber so viel macht’s ja gar nicht, Herr Werner!“

„Schadet nicht, liebe Frau Hebenstreit; rechnen können wir ein andermal; ich habe jetzt notwendig zu tun.“

„Na, wie Sie wollen… sehen Sie, ich hab’s immer gejagt: Herr Werner läuft mir nicht davon, das ist ein netter, solider Mensch, der eine arme Witwe nicht im Stich läßt.“ —

Emil verschloß diesmal die Tür nicht, als er allein im Zimmer war.

Er blieb sinnend im Stuhl sitzen, den Abschnitt der Postanweisung in der Hand haltend.

Das Geld kam von einem Onkel, der nur ein paar Worte dazu geschrieben hatte: „Lieber Junge, ich war längere Zeit recht krank, sonst hätte ich früher an Dich gedacht. Laß bald mal von Dir hören.“

Merkwürdige Verkettung der Umstände! Hätte er die 500 Mark früher erhalten, so würde er nicht um Mitternacht auf einem Baum im Tiergarten gehockt und das Portefeuille geraubt haben! Nun aber, im Besitz beider Summen, war er keinen Augenblick mehr im Zweifel darüber, daß er die im Portefeuille enthaltene nicht anrühren dürfe, sondern sie womöglich dem wirklichen Eigentümer wiederbringen müsse.

Ihn zu ermitteln konnte wohl nicht besonders schwer fallen — — aber…

Dies „Aber“ galt der Frau, zu der es ihn mit dämonischer Kraft hinzog, trotzdem — oder vielleicht weil er sie unter Umständen kennen gelernt, die eine Frau gewöhnlich nicht empfehlenswert machen…

„O, von diesem Weibe geliebt zu werden!“ rief Emil aus, indem er die Augen schloß, „muß das schönste Erdenglück sein!“

Wenn er durch seine Diskretion sie davor bewahrte, kompromittiert zu werden, mußte sie sich ihm nicht dankbar bezeigen? Und lag es nicht in seiner Hand, den Preis zu bestimmen.

 

 

IV.

Wie ein Unglück selten allein kommt, so liebt es auch die kapriziöse Glücksgöttin, dem von ihr wahllos Heimgesuchten ihre Gaben verschwenderisch in den Schoß zu werfen.

Als Emil Werner vom Mittagsmahl — das er zur Feier des Tages in einem bekannten Weinrestaurant eingenommen — in seine Wohnung zurückkehrte, fand er einen Brief vor, in dem er gebeten wurde, sich „behufs eventuellen Engagements“ in der Wohnung des Konsuls Riemschneider, Tiergartenstraße, möglichst noch heute zwischen 5 und 6 Uhr einzufinden.

Emil kramte in seinem Gedächtnis nach und entsann sich schließlich, daß er sich vor einigen Wochen auf eine Chiffre-Annonce, in der ein Privatsekretär gesucht wurde, gemeldet hatte, den Posten zu übernehmen.

Eine Stelle als Buchhalter wäre ihm zwar lieber gewesen; aber um zunächst wieder festen Fuß zu fassen, beschloß er, falls ihm die Bedingungen zusagen würden, das Engagement als Privatsekretär nicht von der Hand zu weisen.

Kurz nach fünf Uhr befand er sich in der bezeichneten Wohnung dem Herrn Konsul gegenüber, einem kleinen, ältlichen Manne in den siebziger Jahren, aber noch sehr beweglich und geistesfrisch.

Ein Diener hatte Emil auf sein Klingeln geöffnet und ihn zum Konsul geführt; — sonst hatte er niemand im Hause gewahrt.

Der alte Herr empfing ihn mit gewinnender Freundlichkeit.

„Ich bin auf Ihren Bewerbungsbrief erst jetzt zurückgekommen, weil ich einige Wochen verreist war und erst seit heute wieder hier bin. Es handelt sich um die Führung meiner Privatkorrespondenz in französischer und englischer Sprache, sind Sie perfekt darin?“

„Jawohl, Herr Konsul; auch italienisch verstehe ich.“

„Sehr gut, Herr… Werner, sehr gut! Auch stenographieren können Sie?“

„Gewiß; ich habe besondere Übung in der Kurzschrift!“

„Famos, famos! Da — setzen Sie sich mal gleich an diesen Schreibtisch und stenographieren Sie los!“

Emil nahm lächelnd den ihm bezeichneten Platz ein, tauchte die Feder ein und schrieb nach dem Diktat:

„Ich nehme die Stellung beim Konsul Riemschneider gegen ein monatliches Salair von dreihundert Mark an, verpflichte mich, täglich vier bis sechs Stunden zu seiner Verfügung zu stehen und während dieser Zeit die mir übertragene Korrespondenz gewissenhaft zu erledigen. Falls ich den Herrn Konsul auf Reisen begleiten soll, so muß mir derselbe dafür außer den Fahrspesen täglich zwanzig Mark besonders vergüten. Das Engagement tritt von heute mit der gesetzlichen Kündigungsfrist in Kraft.“

„So, Herr Werner — einverstanden?… Na ja, dann übertragen Sie das Stenogramm zu Kurrentschrift — sagen wir mal — französische, weil ich auf diese Sprache den größten Wert lege, und wenn ich dann Ihren Stil tadellos finde, soll die Sache all right sein!“

Nach fünf Minuten war Emil Werner wohlbestallter Privatsekretär des Herrn Konsuls Riemschneider, und trat dies Amt am andern Morgen pünktlich um zehn Uhr an.

Um zwölf Uhr servierte der Diener ein Frühstück, an dem auch der Privatsekretär teilnehmen mußte.

Während des Essens kam ein reizender Wildfang ins Arbeitszimmer gesprungen, bei dessen Anblick Emil das Kauen vergaß.

Eine junge Mädchenknospe zwischen sechzehn und siebzehn etwa; blond, mit dunklen, fragenden Augen; mehr schlank als voll; mit leichtgeröteten Wangen, süßen schmalen Lippen und einem allerliebsten schelmischen Näschen.

Ein duftiges, zartes Gewand umhüllte wie ein Frühlingsgedicht das liebliche Menschenkind, das keck fragte: „Stör’ich?“

„Beim Speisen, Nixchen? Nimm Dich nur in acht, daß wir Dich nicht anbeißen; sieh nur, Herr Werner macht schon Anstalten dazu.“

Der Konsul weidete sich sichtlich an der Verlegenheit seines Sekretärs, der das schöne Kind sprachlos anstarrte und nun errötete wie ein Spitzbube, der auf verbotenen Dingen ertappt wird.

„Wollt’s keinem raten,“ sagte das Nixchen, indem es die kleinen Hände mit den rosigen Fingernägeln drohend vorstreckte, und den Sekretär von der Seite betrachtete.

„O, gnädiges Fräulein, der Herr Konsul scherzen ja blos,“ stotterte Emil heraus, „ich — ich —“

Das Fräulein achtete gar nicht auf ihn, sondern sagte zum Konsul:

„Die Dame des Hauses ist nicht wohl; ich soll allein ausfahren. Ich nehme also Urlaub, gestrenger Herr Gebieter, und hoffe in längstens zwei Stunden wohlbehalten zurückzukehren.“

„Bravo, Constanzchen, schön gesagt — auf Wiedersehen, Kind!“

Sie war, wie sie gekommen, eben so schnell entschlüpft — ein Schmetterling, der unhörbar über Blumen gaukelt.

„Meine junge Schwägerin Constanze, Herr Werner; ein neckischer Irrwisch, was? Zart wie eine Elfe — aber trotzig und von einer Willenskraft — —“

Werner hörte kaum, was der Konsul sagte, so stand er im Banne der lieblichen Erscheinung des Mädchens.

Schade, daß der Konsul ihn heute schon vor zwei Uhr entließ und ihm dadurch die Hoffnung raubte, das süße Geschöpf nach der Rückkehr vielleicht noch mal zu sehen…

Aber das Glück war ihm hold. An der Ecke der Bellevuestraße fuhr Constanze im offenen Wagen an ihm vorüber; auch sie gewahrte ihn, wie er den Hut zog, und in ihrem flüchtigen Nicken glaubte Emil ein leichtes Erröten zu bemerken.

Das Bild der Andern verblaßte vollständig neben der jugendlichen Unschuld und Reine, die in dem herrlichen Wesen verkörpert waren; freilich, sagte er sich, würde niemals daran zu denken sein, daß sie ihm gehören könne, — aber sie im Herzen zu tragen und daraus jedes unheilige Gefühl zu verbannen: dies sollte ihm niemand wehren! —

Vor dem Schultheiß — Restaurant am Potsdamer Platz hörte er plötzlich seinen Namen rufen. Über die Balustrade blickend, die den Vorraum des Etablissements nach der Straße abschließt, gewahrte er an einem der besetzten Tische einen Jugendfreund, von dessen Anwesenheit in Berlin er nichts wußte.

Er trat zu ihm:

„Franz, Du hier? Bleibst Du länger in Berlin?“

„Aber gewiß, mein Junge, bin ja schon ein paar Jahre hier — und Du — bist Du hier auch in Stellung?“

Emil bejahte und bestellte, indem er sich neben dem Freund niederließ, beim wartenden Kellner die Suppe und Bier.

„Nein, wie mich das freut, Franz, daß wir uns mal endlich wiedersehen — ich schlage vor, wir trinken nach dem Bier eine Flasche Wein, wenn Dir’s recht ist.“

„Recht ist mir’s schon, Emil, besonders wenn Du sie zum besten geben willst! Denn so dicke sitzt’s bei mir nicht… Ich esse nur heute ausnahmsweise im Restaurant; denn Du mußt wissen, daß ich verheiratet und glücklicher Familienvater bin.“

„Ei, da gratulier’ich nachträglich! Wie lange trägst Du denn schon Hymens Fesseln?“

„Seit einem Jahre, und“ — fügte Franz leise hinzu — „so alt ist mein Junge auch schon… Er war nämlich die Veranlassung, daß ich meine Frau zum Standesamt führte.“

Emil drohte ihm scherzhaft mit dem Finger und rezitierte:

„Wer A gesagt, der sag’ auch B,

C, D dann hinterdrein,

Und buchstabiere bis in E-h’

Sich treu und brav hinein.“

Gott sei Dank, ich bin bisher von Amor’s Pfeilen verschont geblieben!“

„Gott sei Dank sagst Du, Emil? Du gehörst doch nicht etwa gar zum dritten Geschlecht?“

„Unsinn,“ erwiderte Emil; „aber — ich setze den Fall, mir wär’s so ergangen, wie Dir… ich meine, der Klapperstorch hätte vor der Tür gestanden und auf’s Standesamt gewiesen… Himmel, ich wäre verrückt geworden! Ich will Dir nämlich nur gestehen: mir ist’s bis vor ganz kurzem verflucht dreckig gegangen; krank, keine Stellung, keine Existenzmittel… ich war nahe daran, mich freiwillig ins bessere Jenseits zu befördern.“

„Nun, lieber Emil, davon kann ich auch ein Liedchen singen, vom sogenannten „Schlechtergehen“ nämlich. Aber auf Selbstmordgedanken bin ich deshalb keinen Augenblick gekommen. Du bist eben zu verwöhnt, mein Junge! Ich bitte Dich, hier in Berlin braucht feiner zu verhungern, der gesund ist und Lust zum arbeiten hat.“

„Aber wenn man keine Arbeit findet, Franz?“

„Laß Dich nicht auslachen, Emil! Arbeit gibt’s hier immer, ist’s nicht diese, so ist’s jene. Man darf sich nur nicht genieren und muß den Kopf oben behalten. Du lieber Himmel! Ich war auch ein „stellenloser Kaufmann“ und habe, da ich keine feste Stellung erhalten konnte, alles mögliche gemacht, um mich über Wasser zu halten. Ich habe Adressen geschrieben — war Inseraten-Acquisiteur — Versicherungsagent der „Victoria“ — Zeitungs-Reporter — und weiß Gott sonst was, aber gehungert habe ich nie und auch stets eine „Bleibe“ gehabt.“

„Und was hast Du jetzt für eine Stellung?“

„Seit einem Jahre — kurz vor meiner Verheiratung — bin ich Vertreter einer größeren Bankfirma und habe dabei ein anständiges Einkommen, so daß wir keine Not zu leiden brauchen und auch noch etwas zurücklegen können. Als Familienvater muß man sich eben manches versagen und seine Freuden mehr auf die Häuslichkeit als nach außen hin zu konzentrieren verstehen.“

„So bist Du also glücklich in Deiner Ehe?“

„Aber selbstverständlich, mein Sohn! Und ich freue mich schon unbändig auf den mir von meinem lieben Frauchen avisierten Familienzuwachs, der in ungefähr vier Monaten zu erwarten sein wird.“

Emil lächelte: „Ich weiß nicht, wie ich zu der Rolle eines braven Ehemannes passen würde — na, vorläufig denke ich nicht daran, sie zu übernehmen.“

„Das kommt mitunter schnell, — unverhofft kommt oft… Wann gehst Du wieder ins Geschäft?“

„Für heute bin ich frei!“

„Ab, das ist schön! Ich habe mein Pensum auch hinter mir und mache Dir den Vorschlag, mich nach meiner Wohnung zu begleiten, damit Du meine Frau und meinen Buben kennen lernst. Wir plaudern dann bei einer Tasse Kaffee über vergangene Zeiten — ist Dir’s recht?“

„Mit Vergnügen, Emil! Ist Deine Wohnung in der Nähe?“

„Das gerade nicht, denn ich wohne im Norden, am Arkonaplatz; aber mit der „Elektrischen“ sind wir in einer halben Stunde dort.“

„Gut, Franz! Ich werde zur Feier des Tages eine Droschke spendieren — Prost Rest!“

Nachdem Emil noch einen Strauß prächtiger Rosen von einer Händlerin erstanden hatte — „für Deine junge Frau, Franz!“ — stiegen sie in eine der am Platz haltenden Droschken ein und fuhren hinauf nach dem Norden.

Von der glücklichen jungen Mutter und Frau — die sich als eine reizende kleine Berlinerin mit natürlichem Mutterwitz erwies — auf das herzlichste aufgenommen, verflogen die Stunden in angeregter Unterhaltung; auch zum Abendessen mußte Emil bleiben, so daß, als er endlich mit Gewalt zum Gehen drängte, die zehnte Abendstunde schon herangekommen war.

Franz begleitete den Freund mit brennendem Licht die Treppe hinunter, um die Haustür aufzuschließen.

Sie standen gerade an der geöffneten Tür und wechselten Abschiedsworte, als von der Treppe zwei andere Personen herabstiegen, die ebenfalls zum Hause hinaus wollten.

Es war ein Mann und eine Frau. Letztere, als sie in den Bereich des Lichts, das Franz auf den Treppenpodest gesetzt hatte, gelangte, zog einen Schleier aus der Tasche, um ihn vor das Gesicht zu legen.

Emil blickte mehr zufällig, als aus Neugierde, hinauf: im hellen Lichtschein. erkannte er an dem noch unverschleierten Gesicht und der vollen, üppigen Figur — — — die Frau aus dem Tiergarten, und die Statur des sie begleitenden Mannes entsprach ganz der ihres Geliebten jener Nacht…

Emil war vor Schreck wie gelähmt und lehnte, während das Paar dicht vorüber und aus der Haustür ging, an der Wand, keines Wortes mächtig.

„Was hast Du plötzlich?“ fragte Franz, als die Beiden das Haus verlassen hatten, „Du stehst ja wie eine Bildsäule! Bist Du unwohl geworden?“

Emil winkte ab.

„Nein — nein, Emil… kennst Du die Zwei?“

„Der Mann wohnt als Chambregarnist bei meinen Flurnachbarsleuten, erst seit ungefähr vierzehn Tagen; die Frau… na, was wird’s sein? Billig jedenfalls nicht… Donnerwetter ja, famose Figur!“

„Gute Nacht, Franz,“ sagte Emil mit schnellem Entschlusse, „auf baldiges Wiedersehen!“ und stürmte davon.

„Mach’ keine Dummheiten!“ rief Franz lachend hinterher, und verschloß die Tür. Dann ging er vergnügt die Treppe hinauf und dachte daran, wie er in seiner Junggesellenzeit oft genug abends hinter einem Mädchen hergelaufen war… ‘s ist doch nicht das Richtige, der alte Bürger hat das Wahre getroffen wenn er sagt:

Was für ein Wunsch zu guter Nacht sich schickt,

Das brauch’ ich nicht erst lang und breit zu sagen:

Ein Weibchen muß man mit zu Bette tragen,

Das jede Nacht wie eine Braut entzückt.

— — — — — — — — — —

In fieberhafter Aufregung eilte Emil dem Paare nach, und hatte es in der menschenleeren Straße bald erreicht.

Wenige Schritte hinter ihm hörte er die Frau sagen: „Er hat noch nichts gemerkt, sonst hätte er doch Lärm geschlagen. Verflucht! solche Gelegenheit kommt vielleicht niemals wieder!“

Der Mann entgegnete: „Mir ist und bleibt die Geschichte ein Rätsel; ich bin, nachdem ich Dich nachhaus begleitet, wieder auf den Platz zurückgekehrt, und habe nach Tagesanbruch jeden Grashalm im Umkreise abgesucht — ohne Resultat. Rein vom Erdboden verschwunden — —“

„Da kommt eine Droschke — geh’ zurück, ich werde einsteigen und nachhaus fahren! He, Kutscher!“

Der Mann half seiner Geliebten beim Einsteigen; Emil hörte ihr sagen! „Potsdamer Platz,“ und dann ratterte das Gefährt davon.

Emil blieb nichts übrig, als tatlos zuzuschauen. Wäre zufällig eine andere Droschke in der Nähe gewesen, so würde er hinterher gefahren sein, um ihre Wohnung zu erkunden — — aber wozu das? sagte er sich, nachdem sich seine Aufregung gelegt hatte.

Einen Moment — als er sie auf der Treppe so unvermutet erblickt — war ihm der Gedanke an ihren Besitz wieder gekommen und hatte sein Blut in Wallung gebracht; allein jetzt im langsamen Gehen tauchte das Bild des wunderbaren Geschöpfes, das er Mittags leider nur zu flüchtig kennen gelernt, vor ihm auf und gaukelte unaufhörlich in seinem Kopf und Herzen umher. Ob er sie morgen wohl wiedersah?

Als er spät nachts in seiner Wohnung angekommen war und sich von dem Vorhandensein des Portefeuilles mit seinem Inhalt überzeugt hatte, war sein Entschluß gefaßt.

Er wollte den Tresor als Fundsache morgen vormittag auf der Polizei abgeben und die Sache ihren Lauf gehen lassen. Hatte der Eigentümer den Diebstahl bereits angezeigt — gut; wenn nicht, so würde der Bestohlene sich wohl noch melden. Der Dieb samt seiner Helfershelferin mochten immerhin ohne Strafe ausgehen.

 

 

V.

In einer Laube des Parks, der sich im Hintergrunde der Villa ausdehnte, saßen am anderen Morgen der Konsul Riemschneider mit seiner Gemahlin und jungen Schwägerin beim ersten Frühstück.

Drei verschiedene Lebensalter wurden von den drei Personen repräsentiert: von dem Konsul das rüstige Alter, von der Gemahlin die Zeit der üppigen Reife des Weibes, und von Constanze, die knospende Jugend.

Die Damen waren in leichtester Morgentoilette, denn der Tag hatte schon ungewöhnlich warm eingesetzt. Durch die Spitzen des Kleides schimmerten bei der Frau die mächtig aufquellenden Formen der Büste, während sie bei der Jungfrau die diskretere, noch in der Entwicklung begriffene Rundung der jungen Brust verrieten.

So bildeten die beiden Schwestern in ihrem Äußern einen wundervollen Kontrast, der durch die Farbe des Haares und der Augen noch erhöht wurde: die ältere war dunkel und hatte ein Gesicht wie Elfenbein getönt, aus dem die tiefblauen Augen in verhaltener Leidenschaft strahlten. Und Constanzens nicht minder reiches, aschblondes Haar krönte ein rosig angehauchtes Antlitz mit dunklen Brauen und einem sammetschwarzen Augenpaar…

Ein Frühlingsmorgen die eine; die andere ein glutvoller Sommermittag, an dem drohende Wetterwolken rings am Horizont auftauchen.

„Was hast Du, meine Liebe, seit einigen Tagen? Du bist so trübe, so mürrisch gestimmt… Da sieh’ unsern Wildfang an, wie er von Heiterkeit strahlt und — —“

„Welchen beneidenswerten Appetit er schon frühmorgens entwickelt, lieber Herr Schwager!“ warf Constanze ein, indem sie letzterem eine frische Tasse Kaffee einschenkte.

„Was ich habe, Alfons? Aber nichts… wenn Du meine Migräne nicht als Entschuldigung für mein sogenanntes launisches Benehmen gelten lassen willst.“

„Nun ja, gewiß entschuldige ich’s mit Vergnügen; Du weißt aber, daß ich gerne vergnügte Gesichter um mich sehe… Nun, mein Nixchen, Du hast mir noch nicht erzählt, wie Dir mein neuer Sekretär gefallen hat?“

„Ach du lieber Himmel, Alfons, als ob ich an nichts anderes zu denken hätte… Ist’s denn so etwas Besonderes mit dem Herrn?“

„Na — das gerade nicht, Constanze. Ich will nur sagen, daß er mich im ersten Augenblick für sich eingenommen hat und wünschen möchte, daß er Euch ebenfalls sympathisch ist. Er hat nebenbei sehr schöne Kenntnisse, spricht und gebraucht englisch und französisch wie seine deutsche Muttersprache und versteht sich auch im Italienischen gut zu unterhalten.“

„Da ist er ja ganz ein Mann nach Deinem Herzen, lieber Schwager; vielleicht könnte ich —“

„Was denn, Nixchen?“

„Könnte ich im Italienischen bei ihm etwas profitieren…“

„Warum nicht? Werner wird sich jedenfalls gern bereit finden lassen, Dir einige Stunden Unterricht in der Woche zu erteilen.“

„Nun, so sprich gelegentlich mit ihm, ich habe nichts einzuwenden.“

Der Diener meldete Fräulein Lydia Killag, die Klavierlehrerin des Fräuleins, an.

„Ach richtig, ich habe sie gebeten, bei der Hitze die Unterrichtsstunden möglichst früh mit mir abzuhalten — ich empfehle mich also den Herrschaften auf eine Stunde.“

„Es ist neun,“ sagte der Konsul auf seine Uhr blickend, „da werde ich auch gleich Besuch bekommen; denn Aron Seligmann ist pünktlich… Adieu, mein Lieb, unterdessen; Du hättest nicht so zeitig aus dem Bade zurückkehren sollen! Vielleicht fahren wir noch auf ein paar Wochen nach Ostende — wenn ich nur nicht immer so viel zu arbeiten hätte!“

Er entfernte sich, während seine Gemahlin sich gelangweilt in ihren Sessel zurücklehnte.

„Du Narr,“ murmelte sie ihm nach, „mit Deinem Phlegma! Wähnst wohl gar, ich solle mich am Schnee Deiner Jahre erwärmen — — haha! Mir ist blühendes Leben nicht zu jung, wenn ich es mit süßer Leidenschaft umschlinge, die mein Verlangen nach verzehrendem Genuß erweckt — oh!“ — — —

Aron Seligmann, der Hypotheken- und Grundstücksmakler, kam pünktlich in seiner eleganten Equipage vorgefahren und wurde an der Pforte vom Konsul selber empfangen.

„Run, heute alles in Ordnung, Herr Seligmann? Schade, daß das Geld während der vierzehn Tage Verzögerung der Angelegenheit hat brach liegen müssen.“

„Gott soll hüten, Herr Konsul, daß Sie den Schaden allein tragen! Werd’ ich meinen Klienten bestimmen, daß er muß die Zinsen vergüten, da es gewesen ist sein Verschulden.“

„Gut gut, mein lieber Herr Seligmann; wenn Sie es erreichen können, daß der Mann die Zinsen ab ersten dieses zahlt, wäre mir’s natürlich lieb! Und sonst — haben Sie alles genau geprüft?“

„Unbesorgt, Herr Konsul, prima, prima — pupillarische Sicherheit, erste Stelle.“

„Na, dann treten Sie bitte ein; in zwei Minuten haben Sie das Geld; es liegt noch unberührt, wie Sie mir’s vor vierzehn Tagen gebracht haben.“

In seinem Arbeitszimmer mit Seligmann angekommen, bot der Konsul dem Makler zunächst eine Zigarre an und ging dann in sein nebenan liegendes Schlafgemach, um aus dem dort stehenden eisernen „Geldschrank die zur Ausleihung als Hypothek auf ein Grundstück bestimmte Geldsumme von 100000 M. zu entnehmen.

Gewöhnlich bewahrte der Konsul derartige größere Geldsummen nicht in dem Schranke auf; nur der Zufall hatte es mit sich gebracht, daß der Betrag, der schon vor zwei Wochen gezahlt werden sollte, wieder in die Hände des Konsuls gelangt, und von diesem um jederzeit im Besitze der Summe zu sein, in den Schrank gelegt war. Seine Reise war dazwischen gekommen, und er hatte bis jetzt durch keine Erfahrung gewitzigt, nicht daran gedacht, sich zu überzeugen, daß die Summe noch unangetastet an ihrem Platz lag.

Um so größer war jetzt seine Bestürzung, als er gewahr wurde, daß das Portefeuille, welches die abgezählten 100000 M. in Banknoten enthalten hatte, samt denselben aus dem sicheren Behältnisse verschwunden war.

Er rief den Makler zu sich herein.

„Gott, was sind Sie blaß, Herr Konsul! Möchten Sie vielleicht haben ein Gläschen Wasser? Ich hab’ manchmal auch solche Anfälle, wo mir’s läuft kalt über’n Rücken und heiß über’s Gesicht.“

Der Konsul schüttelte mit dem Kopf.

„Herr Seligmann, hier in diesen Schrank und hier in dieses Fach hab’ ich vor vierzehn Tagen die Banknoten gelegt — Sie haben selber nachgezählt: hundert Reichsbankscheine a tausend Mark — — finden Sie sie?“

„Machen Se keinen Stuß, Herr Konsul; man soll nicht spaßen mit solchen Dingen! Ich beschwör’s: hundert lebendige koschere Reichsbanknoten und kein Grünthaler darunter! Wollen Se sagen, daß sie fort sind und Se wissen nicht, wohin?“

„Das behaupt’ ich aber, Verehrtester! Futsch — gestohlen — Donnerwetter Paraplü!“

„Jesus, wie Se können gottlos fluchen, Herr Konsul! Möge der Spitzbube verdammt sein, daß er erblindet und erlahmt! Möge er erben 100 Städte, und in jeder Stadt mögen sein 100 Häuser, in jedem Hause 100 Betten, und möge er liegen in jedem Bette 100 Jahre krank!“

„Eine nette Bescherung, lieber Seligmann — Himmelkreuz — —“

„Fluchen Se, Herr Konsul, aber suchen Se… Vielleicht finden Se noch das Geld.“

„Hahaha! Wo soll ich’s suchen? Vielleicht im Nachtstuhl? Glauben Sie, ich hätte die Scheine zu „edlen Zwecken“ verwendet?“

„Se machen noch Witze — Gott soll hüten!“

Der Konsul warf krachend die Tür des Arnheim zu und ging in sein Arbeitszimmer, dem Makler überlassend, ihm zu folgen.

Nachdem er vergeblich versucht hatte, am Telephon Anschluß beim Polizei-Präsidium zu erlangen, da die Leitung „besetzt“ war, eilte der Konsul zu seiner Gemahlin in den Park hinunter.

Sie saß noch in der Laube und las im Unterhaltungsteil einer Zeitung.

„Laura, hältst Du es für möglich, daß während meiner Abwesenheit Diebe in unserer Behausung gewesen sind?“

Gelangweilt aufsehend, erwiderte sie:

„Diebe? Wie kommst Du darauf?“

„Weil mir aus dem Geldschrank hunderttausend Mark entwendet worden sind.“

Laura lächelte gezwungen: „Laß doch solche Scherze! Du wirst Dich hüten, soviel Geld zu Hause aufzubewahren!“

„Und doch hab’ ich’s getan… Das Geld war zur Ausleihung auf Hypotheken bestimmt!“

„So hast Du eben sehr leichtsinnig gehandelt, mein Freund — — hunderttausend Mark, sagtest Du?“

„Jawohl, Laura, kein Pfennig weniger. Die Sache ist mir unbegreiflich und kann nur während meiner Abwesenheit passiert sein.“

„Ich habe natürlich keine Ahnung… hattest Du denn den Schlüssel stecken lassen?“

„Keineswegs; er ist mit den anderen hier im Ringe befindlichen Schlüsseln nicht aus meiner Tasche gekommen!“

„So weiß ich mir keinen Vers darauf zu machen. War denn das Geld gestern noch im Schrank?“

„Ich weiß nicht, Laura, da ich leider nicht nachgesehen habe. Vermutlich aber nicht!“

„Vermutlich ist gar nichts! Der Diebstahl kann ebenso gut erst diese Nacht ausgeführt…“

„Das ist ja möglich, aber unwahrscheinlich, da ich während der Nacht nicht das geringste Geräusch vernommen habe.“

„Ach was, Geräusch… Wenn der Dieb einen Schlüssel besitzt, braucht er kein sonderliches Geräusch zu machen.“

„Aber wie sollte jemand zu einem Schlüssel zu meinem Geldschrank kommen?“

„Weiß ich’s?… Apropos… Dein neuer Sekretär, Werner heißt er ja wohl?… Bist Du von seiner Ehrenhaftigkeit und Treue überzeugt? Hast Du Erkundigungen über ihn eingezogen…“

„Unsinn, Laura, Unsinn! Er hat nicht einmal eine Ahnung von dem Geldschrank, viel weniger von dessen Inhalt!“

„Du bist eben immer ein Optimist… vertrauensselig in jeder Angelegenheit… Na, mich kümmert’s nicht — — sieh’ nur zu, wie Du wieder zu Deinem Gelde kommst.“

Aron Seligmann, der inzwischen herangekeucht war, hatte die letzten Worte vernommen und fiel vorwurfsvoll ein:

„Gott soll hüten, gnädige Frau Konsul! Sein Geld ist Ihr Geld und Ihr Geld ist sein Geld! Handelt sich’s um hundert Mark, um tausend Mark, gut — möchten Se sagen: laß se schießen! Aber bedenken Se doch: hunderttausend lebendige Mark!“

Die Frau Konsul lachte verächtlich: „Soll ich mir vielleicht die Haare ausraufen wegen dem Leichtsinn meines verehrten Herrn Gemahls?“

„Du hast ja vollkommen Recht mit Deinem Vorwurf, liebes Kind,“ sagte besänftigend der Konsul, ich hätte vorsichtiger sein sollen, indessen…“

„Indessen verschone mich mit Deinen Angelegenheiten, mein Freund — — o Gott, muß man sich auch noch dieserhalb aufregen; als ob ich nicht genug an meiner Migräne hätte!“

Dies sagend, erhob sie sich und ging dem Hause zu. Seligmann verschlang die üppige Gestalt mit seinen Blicken.

„Herr Konsul, was haben Se für ‘ne großartige Frau! Verzeihen Se gütigst… aber man kommt unwillkürlich auf andere Gedanken —“

Der Angeredete war schon voran geeilt. Er rief nach dem Diener und beauftragte ihn, sofort anspannen zu lassen. In einer Viertelstunde saß der Konsul im Wagen und fuhr nach dem Polizei-Präsidium.

 

 

VI.

Emil Werner hatte an diesem Morgen die Zeit verschlafen und konnte daher seinen Vorsatz, das Portefeuille als Fundsache auf der Polizei abzugeben, bevor er seine Bureaustunde bei dem Konsul antrat, nicht zur Ausführung bringen, da er sich sonst erheblich verspätet haben würde.

Er verschob deshalb sein Vorhaben bis nach Beendigung seines Dienstes auf Nachmittag, steckte das Geld zu sich und begab sich — es war hohe Zeit — nach der Wohnung des Konsuls.

Er traf ihn nicht an; der Diener bat jedoch den Herrn Sekretär im Auftrage des Konsuls, auf dessen Rückkehr zu warten und sich inzwischen mit der Lektüre französischer und englischer Journale, die auf dem Arbeitstische lagen, zu beschäftigen.

Emil war bald in diese Lektüre vertieft.

Er hörte es nicht, wie die Tür leise geöffnet wurde und Constanze eintrat.

Sie beobachtete ihn lächelnd eine Weile — anders als gestern, wo er ihr anscheinend der gleichgültigste Mensch von der Welt war.

Welch hübsches Profil sein Gesicht hat und wie schön ihn der kurzgeschnittene braune Vollbart kleidet — was er wohl für Augen haben mag? Das mußte sie wissen…

Sie trat auf ihn zu und sagte: „Guten Morgen!“

Emil, von ihrer plötzlichen Anwesenheit verwirrt, erhob sich, rot bis in die Schläfe und erwiderte:

„Guten Morgen, gnädiges Fräulein!“ indem er sich verbeugte.

Warum wird er rot wie ein ertappter Dieb? dachte sie und ging noch näher an ihn heran, ihm scharf in die Augen sehend…

Es waren träumerische, nußbraune Augen von eigentümlicher Schönheit.

Aber plötzlich empfand sie, daß es für ein junges Mädchen nicht gut ist, einem Mann zu tief in die Augen zu blicken. Namentlich in nußbraune, deren Strahl eine merkwürdige Gewalt auszuüben vermag.

Diese spürte sie nun, und zwar gar nicht widerwillig: sie errötete ihrerseits und ihr sonst keckes Lächeln wurde verlegen…

Sekundenlang standen sie sich stumm gegenüber, bis sie, sich gewaltsam aus dem Bann reißend, fragte:

„Mein Schwager ist nicht hier?“

„Der Herr Konsul hat mich ersuchen lassen, auf ihn zu warten; er ist, bevor ich hier war, durch eine wichtige Angelegenheit abberufen worden.“

„Ah — er ist ausgefahren? Davon weiß ich gar nichts; ich habe eben meine Klavierstunde absolviert — schreckliche Plage!“

„So spielen Sie nicht gern, gnädiges Fräulein?“

„Nein, Croquet und Tennis sind mir lieber.“

„Bravo, mein Fräulein, das gefällt mir!“ platzte Emil heraus.

„So? warum denn?“ fragte sie naiv, ihn mit entzückendem Lächeln anschauend.

Hierdurch ermuntert, erwiderte Emil: „Weil ich den Sport einer jungen Dame für vernünftiger, weit zuträglicher halte, als die ewige Klavierpaukerei, die doch im Grunde — keinen Zweck hat.“

„Constanze!“ rief in diesem Augenblick eine Stimme draußen, bei deren Klange Emil erbleichte.

„Constanze!“ tönte es noch einmal, und unwillig wandte sich die Gerufene mit den Worten: „Meine Schwester!“ zur Tür, die sie öffnete. „Hier bin ich, Laura!“

„Was tust Du da drinnen? Ich habe mit Dir zu sprechen!“

Die Frau Konsul war näher gekommen, so daß Emil, der wie gebannt auf seinem Platz stand, sie durch die offene Tür genau betrachten konnte.

Er sah kaum, daß Constanze ihr Gesicht noch einmal zu ihm wandte und ihm freundlich zunickte, bevor sie die Tür schloß.

Also hier mußte er die Frau wiederfinden, die er unter so eigentümlichen Umständen kennen gelernt hatte? Die Ehebrecherin und Diebin als Gattin eines verehrten, angesehenen Mannes; als Schwester eines über alles geliebten Wesens?

Welche entsetzliche Entdeckung!

Sollte er das Weib entlarven?

Den Frieden des Hauses stören?

Ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken…

Aber bevor er sich weiteren Grübeleien hingeben konnte, wurde die Tür geöffnet und der Konsul, gefolgt von einem Herrn, trat ein.

„Ah, mein lieber Herr Werner! Es tut mir leid daß ich Sie so lange habe auf mich warten lassen!“ und — zu dem Herrn gewendet: „Herr Leutnant, mein Sekretär!“

Der Leutnant verbeugte sich leicht und fragte: „Weiß Ihr Sekretär bereits —“

„Nein, Herr Leutnant; ich habe ihm noch nichts mitgeteilt… Zur Aufklärung möchte ich Ihnen, Herr Leutnant, sagen, daß Herr Werner sich erst seit gestern in meinem Dienst befindet, daß wir beide gemeinschaftlich bis zwei Uhr Mittags hier in diesem Zimmer gearbeitet haben, ohne daß es einer von uns auch nur auf eine Minute verlassen hätte, und folglich von einem Verdacht auf Herrn Werner nicht die Rede sein kann.“

„Gut, Herr Konsul, das genügt mir! Darf ich mir jetzt einmal Ihr Schlafzimmer und das Behältnis des Geldes näher ansehen?“

„Stehe sofort zu Diensten, Herr Leutnant! Um Sie, Herr Werner, aufzuklären, erfahren Sie, daß mir aus meinem verschlossenen Geldschrank auf die rätselhafteste Weise ein hoher Geldbetrag entwendet worden ist.“

„Aber doch nicht diese Nacht, Herr Konsul?“

„Das — vermag ich mit Bestimmtheit nicht anzugeben; ich vermute indessen, daß es unbedingt früher geschehen ist. Darf ich bitten, Herr Leutnant?“

Die Beiden begaben sich ins anstoßende Gemach, während Emil mehr tot als lebendig im Arbeitszimmer zurückblieb und mechanisch in den aufgeschlagenen Journalen blätterte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können.

Nur das Eine fühlte er instinktiv heraus: Seine Existenz konnte auf dem Spiel stehen, wenn — das Geld bei ihm gefunden wurde.

Lag es denn außer dem Bereich der Möglichkeit, daß der Leutnant, um seiner Pflicht zu genügen, eine Visitation bei ihm vornahm?

Der Leutnant… dämmerte es in ihm auf… weshalb kam er ihm bekannt vor? Wo hatte er seine Stimme schon gehört?

Ah — jetzt entsann er sich: in jener Nacht im Tiergarten — bei der Razzia…

Er war es, der zu den Schutzleuten gesagt hatte, daß er die Frau kenne…

„Nicht die Spur einer Gewalt, Herr Konsul! Der Fall ist rätselhaft.“

Mit diesen Worten trat der Polizei-Leutnant, gefolgt vom Konsul, wieder ins Zimmer.

„Nicht wahr? Da mögt Ihr Kriminalisten Euch die Zähne dran ausbeißen!“

Der Leutnant lachte.

„Wissen Ihre Leute — ich meine Ihre Dienstpersonal und Ihre Angehörigen — bereits um den Diebstahl?“

„Außer meiner Frau Niemand!“

„So bitte ich um ein Personalverzeichnis sämtlicher Hausbewohner — damit ich eventuell den Hebel irgendwo ansetzen kann.“

„Also der Beginn der hochnotpeinlichen Untersuchung gegen „Unbekannt“ — so würde ja wohl das Aktenrubrum zunächst heißen?“

„Richtig, Herr Konsul!“

„So entschuldigen Sie mich einige Minuten; meine Frühstückszeit ist da und bei einem Glas Wein läßt es sich besser verhandeln.“

Mit diesen Worten entfernte sich der Konsul aus dem Zimmer.

Emil saß immer noch unbeweglich auf seinem Stuhl. Der Polizei-Leutnant betrachtete ihn verstohlen von der Seite, und, vielleicht nur um etwas zu sprechen, sagte er:

„Sie, Herr Werner, vermögen jedenfalls Ihr Alibi für die letzte Nacht zu beweisen?“

Der Angeredete starrte ihn fragend an, als habe er den Sinn der Worte nicht verstanden.

„Ich meine, Sie werden einwandsfrei nachweisen können, wo Sie während der Zeit von Ihrem Weggange gestern Mittag aus diesem Zimmer bis heute Morgen zugebracht haben?“

Emil hatte jetzt, wo er das Unabwendbare zu nahen vermeinte, seine Geistesgegenwart wiedergefunden und versuchte, mit der Gefahr zu spielen.

„Und wenn ich es nicht könnte, Herr Leutnant?“

Der Polizeimann stutzte… Wollte ihn der junge Mann foppen? Er erwiderte deshalb in etwas strengerem Tone:

„So wäre das immerhin bedauerlich für Sie!“

„Und weshalb, Herr Leutnant?“

Ist der Mensch wirklich so schwach von Begriffen, dachte der Leutnant, oder verstellt er sich blos? Er wartete deshalb eine Weile, bevor er antwortete:

„Weshalb Herr Werner? Hm… ich dächte…

Emil lächelte

„Ersparen Sie sich die Inquisition Herr Leutnant und erlauben Sie mir eine Frage: Waren Sie nicht kürzlich Nachts Leiter einer Razzia im Tiergarten?“

„Was wissen Sie?“ entschlüpfte es dem Leutnant.

Emil fragte weiter:

„Und trafen Sie nicht unter Andern eine Dame in Gesellschaft eines Mannes, die Sie vor dem Schicksal, sich den übrigen Aufgestörten zum Zuge nach der Polizeiwache anschließen zu müssen, bewahrten?“

„Herr — Sie wissen…“

„Ich weiß noch mehr… nämlich, wer diese Dame war — —“

„Aber Herr Werner, wie ist das möglich?!“

Unbeirrt fuhr Emil fort:

„Und weiß auch, daß Niemand anders als sie die — Diebin der hunderttausend Mark ist, die aus dem Geldschrank des Konsuls gestohlen sind!“

Der Leutnant war sekundenlang sprachlos. „Und wodurch — Herr Werner — wollen Sie diese Anschuldigung beweisen?“

„Dadurch, daß ich selber in jener Nacht der Frau das Geld abgenommen habe, freilich ohne ihr Wissen — — — hier ist es!“

Emil zog bei diesen Worten das Portefeuille aus der innern Tasche seiner Weste hervor und überreichte es dem Leutnant.

Wenn diesem plötzlich seine Ernennung zum Polizeipräsidenten kundgetan wäre, hätte er nicht verblüffter dreinschauen können.

„Aber Herr! Das ist ja ein Roman, wie er wirkungsvoller gar nicht erfunden werden kann! Allerdings ist mir die Geschichte noch total schleierhaft und Sie müssen mir schon — auch behufs Ihrer eigenen Rechtfertigung — die näheren Aufschlüsse geben!“

„Selbstverständlich wird dies nötig sein, Herr Leutnant; aber um eins möchte ich Sie bitten, nämlich: dem Herrn Konsul die Sache so schonend wie irgend möglich mitzuteilen und, wenn es geht, mich dabei aus dem Spiel zu lassen.“

„Ich überlege eben… hm… der arme alte Herr… pst… jetzt kommt er, kein Wort von der Sache, Herr Werner!“

Der Leutnant verbarg das Portefeuille schnell in der Tasche seines Uniformrockes und ging dem Eintretenden entgegen:

„Herr Konsul, ich glaube bereits eine Spur zur weiteren Verfolgung der Sache gefunden zu haben; vielleicht kommen Sie früher wieder in den Besitz des Geldes, als Sie glauben!“

„Wie sollte das möglich sein,“ versetzte der Konsul zweifelnd, „da müßten Sie doch während der kurzen Zeit meiner Abwesenheit eine wichtige Entdeckung —“

„Richtig, Verehrtester! Und zwar rein durch Zufall! Aber lassen Sie mich vorläufig darüber schweigen!“

„Gern zugestanden, Herr Leutnant, aber ich verhehle Ihnen trotzdem meinen Zweifel nicht, bald, oder überhaupt wieder zu meinem Eigentum zu gelangen.“

„Zweifeln Sie immerhin, Herr Konsul, ich verarge es Ihnen durchaus nicht… jetzt gestatten Sie, mich Ihnen zu empfehlen, um Ihnen hoffentlich recht bald gute Nachrichten überbringen zu können.“

„Aber ein Glas Wein und kleinen Imbiß dürfen Sie nicht verschmähen — — bitte hier herein, wenn’s gefällig ist! Auch Sie, Herr Werner, bitte ich, sich mit hier herein zu bemühen!“

Der Konsul öffnete die Tür eines Nebensaals, wo bereits ein kaltes Frühstück serviert war, zu dem aus dem Eiskübel verführerisch einige Flaschenhälse hervorblickten.

„Na dann in Gottes Namen, Herr Konsul — wer vermöchte einer so schmeichelhaften Einladung zu widerstehen?“

In gehobener Stimmung verließen eine Stunde später der Leutnant und Werner das gastliche Haus. Der Konsul hatte seinem Sekretär für heute Urlaub erteilt, da er — der alte Herr — doch nicht in der Lage sein würde, zu arbeiten.

„Die Sache geht mir doch zu sehr im Kopf herum,“ hatte er gesagt, und trotz der hoffnungsfreudigen Stimmung, die der Vertreter der hohen Polizei fast ostentativ zur Schau trägt, wage ich nicht, an das gute Gelingen zu glauben… Na… schließlich bin ich auf Alles gefaßt!“

 

 

VII.

Unterwegs erzählte Werner dem Polizeileutnant ausführlich sein Abenteuer jener Nacht, die für sein Lebensschicksal so entscheidend gewesen war, und mit gespannter Aufmerksamkeit hörte der Leutnant zu.

Die Beiden nahmen den Weg durch den Tiergarten; mit leichter Miene fand Werner die Stelle wieder, auf der sich neben einer Ruhebank die Rüster erhob, in deren Schutz der Lebensmüde das Liebespaar beobachtet und ihm den Raub abgenommen hatte.

„Sehen Sie, Herr Leutnant, dort oben hängt noch der Strick, mit welchem — —“

„Wahrhaftig! Ein Viertelstündchen später, und das Pärchen hätte sein Schäferstündchen unter Ihrem Leichnam verbracht… Aber daß die Beiden so gar nichts gemerkt haben, als Sie in Ihrer unbehaglichen Situation das Portefeuille von der Bank aufhoben, ist mir schleierhaft. Allerdings,“ trällerte er unter bezeichnendem Lächeln:

„Im Liebesfalle

Da sind sie Alle

Ein bischen trallalla!“

„Schade, daß ich mir den Partner der Frau Konsul nicht ein wenig näher angesehen habe. Aber ich kümmerte mich nicht um ihn, weil ich füglich der galanten Dame keine Vorschriften über die Wahl ihrer Liebhaber zu machen habe. Sie kennen den Mann natürlich auch nicht, Herr Werner?“

„Doch, Herr Leutnant, und ich weiß sogar, wo er wohnt und daß die Frau Konsul gestern Abend in seiner Wohnung gewesen ist.“

„Mensch, sind Sie denn allwissend? Wodurch haben Sie erfahren, daß —“

„Durch Zufall, Herr Leutnant“ fiel Werner ein, „lediglich durch Zufall!“

„Das ist ja prächtig,“ meinte der Leutnant, sich vergnügt die Hände reibend, als er vernommen, auf welche Weise Werner Gelegenheit gehabt hatte, von der heimlichen Zusammenkunft des Liebespaares im „hohen Norden“ Kenntnis zu erlangen. „Wer weiß, welcher Fang uns in jenem Herrn gelingt… irgend ein Geheimnis scheint sich hinter ihm zu verbergen, und ich werde ihn ungesäumt observieren lassen.“

Sie waren in der Siegesallee angekommen, und der Leutnant rief eine leer vorüberfahrende Automobildroschke heran.

„Ich fahre jetzt nach dem Polizeipräsidium; das mir übergebene Geld wird als „Fundsache“ betrachtet und dem ja bekannten Eigentümer übermittelt werden. Ihr gesetzlicher „Finderlohn“ beträgt 1000 Mark —“

„Worauf ich natürlich verzichte, da ich meinen Namen nicht in die Sache verwickelt haben möchte,“ erwiderte Werner schnell.

Der Leutnant stieg ein.

„Na — ich will sehen, wie die Sache am besten zu regeln ist — — ich gebe Ihnen bald Nachricht!“

— — — — — — — — — —

Gegen Abend kehrte der Konsul mit lächelnder Miene vom Polizeipräsidium, wohin er telephonisch beschieden worden war, in seine Behausung zurück.

Er hatte zu seiner großen Überraschung das geraubte Portefeuille mit dem völligen Inhalt ausgehändigt erhalten und versäumte natürlich nicht, sofort nach seiner Heimkehr die Gemahlin aufzusuchen und ihr freudestrahlend die wichtige Neuigkeit mitzuteilen.

„Denke Dir, Liebe, das Geld ist im Tiergarten gefunden worden und der ehrliche Finder hat es ohne Nennung seines Namens auf der Polizei abgegeben — sollte man das für möglich halten?“

Die Frau Konsul war bei dieser Nachricht ganz blaß geworden und konnte kaum die Worte hervorbringen:

„Im Tiergarten… gefunden?“

„Ja freilich, Laura… da, schau her!“ Bei diesen Worten hielt der Konsul das Portefeuille triumphierend in die Höhe.

Laura lächelte gezwungen.

„O — da gratuliere ich bestens, Alfons! Gott sei Dank, daß Du das Geld wieder hast; sein Verlust hat mir doch mehr Kummer verursacht als ich Dir gestehen wollte.“

In anscheinend überwallender Zärtlichkeit umarmte und küßte sie den Gatten.

Dieser aber, nachdem er sich sanft aus der Umarmung los gemacht, sagte glückselig:

„Ich werde nun gleich bei Aron Seligmann anklingeln, daß er das Geld morgen früh abholt! Diese Nacht muß ich’s freilich noch im Hause behalten — aber keine Minute länger, keine Minute!“

Kaum hatte der Konsul das Zimmer seiner Frau verlassen, um sich mit dem Makler telephonisch ins Einvernehmen zu setzen, so begab sich Laura an ihren Schreibtisch, nahm einen Briefbogen und schrieb hastig Folgendes:

„Geliebter Paul!

Laß uns diese Nacht gemeinschaftlich fliehen; ich kann nicht ohne Dich leben. Ich erwarte Dich um elf Uhr reisefertig an der Haustürpforte und werde im Besitz des uns in jener Nacht auf so unerklärliche Weise abhanden gekommenen Geldes sein. Denn vernimm: Das Portefeuille mit dem gesamten Inhalt ist im Tiergarten gefunden worden, mein Mann hat es heute auf der Polizei zurückerhalten und verwahrt es bis morgen — nur bis morgen früh! — wieder im Geldschrank. Der Schlüssel von Dir soll mir noch einmal gute Dienste leisten! Also pünktlich! Morgen gehören wir uns für immer! Meine Juwelen bringe ich mit. In glühender Liebe

Deine Laura.“

Nachdem sie das Schreiben in ein Rohrpost-Kuvert getan und dieses mit der Adresse versehen hatte, vervollständigte sie schnell ihre Toilette, ließ dem Konsul, durch Constanze mitteilen, daß sie von einem kleinen Spaziergange bald zurückkehren werde und begab sich dann aus der Wohnung, um den Brief eigenhändig in den nächsten Rohrpostbriefkasten zu befördern.

 

 

VIII.

Emil Werner war abends im, Kaffee Josty gewesen, demselben Kaffee am Potsdamerplatz, an dem er neulich lebensüberdrüssig vorübergegangen war und dessen Terrassenbesucher seine kurze Wut entfacht hatten… Und jetzt hatte er eben auf dieser Terrasse seinen Mokka und hinterher sein „Pils“ getrunken… und vielleicht war er von einem armen Schlucker, der vorüberflankierte, auch beneidet und als „Protz“ mit seinem Zorn bedacht worden…

Emil blickte nach seiner Uhr: sie wies 3/4 11 Uhr. Er bezahlte und stand auf.

Mit ihm zugleich erhob sich ein Herr, der unfern von ihm gesessen, dem er aber keine Beachtung geschenkt hatte.

Aber jetzt, fast unmittelbar vor ihm stehend, erkannte Emil — den Geliebten der Frau des Konsuls. Er schreckte unwillkürlich zusammen und blieb stehen, während der Andere die Terrasse langsam verließ und den Weg in die Bellevuestraße einschlug.

Pochenden Herzens folgte Emil in gemessener Entfernung. Als der Fremde am Kemperplatz nach der Tiergartenstraße einbog, war es Emil klar, daß das Ziel der Villa des Konsuls Riemenschneider galt — — — zu welchem Zwecke?

Während der Andere sich an der Häuserseite hielt, begab sich Emil möglichst geräuschlos auf den Parkweg und blieb unfern der Villa stehen.

Er bemerkte, wie sein Vorgänger vor derselben Halt machte, sich vorsichtig nach allen Seiten umschaute und dann, die Pforte mit einem Schlüssel öffnend, hinter dieser verschwand und sie wieder verschloß.

Emil blieb eine Weile ratlos auf seinem Beobachtungsposten stehen… Sollte er bis zum Anbruch des Morgens hier verweilen, um den Aufpasser zu spielen… und würde dies einen besonderen Zweck haben?

Ein Rudel Ratten, das wenige Schritte an Emil vorüber lief, schreckte den jungen Mann aus seinen Betrachtungen auf; er ging langsam zurück und schlug den Weg durch die Viktoriastraße ein, unschlüssig, wohin er eigentlich wolle…

Am Landwehrkanal angekommen, dessen hoch ummauerte Ufer nur sporadisch von Laternen erhellt wurden, gewahrte er in geringer Entfernung ein weiblich gekleidetes Wesen, das über die eiserne Brüstung der Mauer gelehnt stand und beim Nahen Emils schnell die steinerne Treppe hinabeilte, die bis ans Wasser führte.

Emil, nichts Gutes ahnend, ging ihr, seine Schritte beeilend, nach und kam gerade zur rechten Minute an, um zu sehen, wie das Weib von der untersten Stufe in den Kanal sprang.

Im Nu befand sich Emil unten. Der schwere Mantel der Lebensmüden hatte sich rings um sie platt über das Wasser gelegt und verhinderte, ehe er sich vollgesogen, das Untergehen seiner Besitzerin.

Im nächsten Augenblicke hatte der junge Mann einen Zipfel des Mantels ergriffen und zog daran trotz dem Sträuben und wilden Umsichschlagen der Selbstmörderin diese ans Ufer und trug sie die Treppe hinauf.

„Was führt Sie zu dem unseligen Schritt, Unglückselige?“ fragte er, oben angekommen.

Aber er erhielt keine Antwort, ihr Kopf war zurückgesunken und sie schien ohnmächtig zu sein.

Behutsam legte Emil seine Last auf einer unfern der Treppe stehenden Bank nieder und stand ratlos daneben. Keine Menschenseele war in der Nähe, und kein Laut ließ sich vernehmen.

Es war eine rauhe Nacht, und der Wind pfiff dem Retter um die Ohren… verwünschte Situation, in die er gekommen war…

Während er sich um das Mädchen oder Weib bemühte und sich überzeugte, daß ihr Puls regelmäßig schlug, schlug die Gerettete plötzlich die Augen auf und richtete sich empor.

„Wer sind Sie?“ waren ihre ersten Worte, und „wo — bin ich — hier?“

Der Klang der Stimme berührte der Gefragten ungemein sympathisch und er erwiderte:

„Unglückliche! Was taten Sie? Ich habe Sie aus dem Kanal gerettet!“

„Aus dem — Kanal?… Ach ja… ich besinne mich… o, warum ließen Sie mich nicht da unten? Muß meine Qual nun von neuem beginnen?“

Sie erhob sich und machte Miene, direkt von der Mauer in das Wasser hinabzuspringen.

Emil faßte sie fest beim Arm.

„Geben Sie die Absicht auf! So lange — ich bei Ihnen bin, werde ich sie zu verhindern wissen — wo ist Ihre Wohnung?“

„Unbarmherziger Mensch! Sie wissen nicht, wie willkommen einem der Tod ist, wenn man so unglücklich ist, wie ich!“

„Aber trotzdem, Sie haben kein Recht. Ihrem Leben ein Ziel zu setzen. Sind es vielleicht Nahrungssorgen, die Sie zu dem unseligen Entschluß getrieben haben, so —“

Er griff in seine Tasche und zog die Börse heraus.

Sie wehrte ihm.

„O, ich bin reich, mein Herr… Aber mich fröstelt… es sei, führen Sie mich in meine Wohnung; sie ist ganz in der Nähe, dort, jenes Haus gehört mir.“

Sie hing sich an Emils Arm und zog ihn mit sich fort.

Im Schein der Laterne, an der sie vorübergingen, bemerkte er flüchtig, daß das Gesicht seiner Begleiterin von eigentümlicher Schönheit war…

Nach kaum fünfzig Schritten an dem bezeichneten Hause angekommen, zog die Schöne einen Schlüssel aus der Tasche ihres Kleides und schloß die Tür auf.

Emil wollte sich entfernen, aber sie ließ seinen Arm nicht los.

„Kommen Sie mit mir, ich beschwöre Sie!“

Was soll das werden? dachte Emil; etwa ein galantes Abenteuer?

Nun, dagegen kann Willenskraft schützen, argumentierte er im Innern weiter und setzte den Fuß über die Türschwelle.

Nach wenigen Minuten befand er sich, geführt von der Unbekannten, in einem prächtigen Salon, der behaglich durchwärmt und von einer hohen Lampe traulich erleuchtet war.

„Frau — oder Fräulein —“

„Nennen Sie mich Frau; ich habe auf diesen Titel Anspruch und bin Fräulein, Frau und Witwe zugleich.“

„Sie sprechen in Rätseln, gnädige — Frau also,“ erwiderte Emil lächelnd, indem er ihr beim Ausziehen des Mantels behilflich war. „Sie müssen, um einer etwaigen Erkältung mit ihren Folgen vorzubeugen, so schnell wie möglich zu Bette gehen —“

„Und vorher heißen Tee trinken… ich werde Ihren Rat befolgen. Verzeihen Sie einige Minuten, mein Herr!“

Sie enteilte in ein anstoßendes Gemach.

Emil, der sich bei der folgenden Beschäftigung der Dame — des Teetrinkens und Zubettegehens — höllisch überflüssig vorkam, aber, was leicht zu verstehen, auch sehr neugierig geworden war, mehr von der reizenden „Jungfrau, Frau und Witwe“ zugleich zu erfahren, spazierte auf und ab und bewunderte die ebenso gediegene wie geschmackvolle Einrichtung des Salons.

Fünf Minuten mochten verflossen sein, als die Schöne wieder zurückkehrte. Sie hatte die vorigen Kleider abgelegt und trug ein leichtes, seidenes Nachtgewand. Ihr dunkles Haar — das übrigens bei dem Bade im Kanal nicht einmal naß geworden war — hing aufgelöst im Nacken bis über die Knie herab.

Emil betrachtete das herrliche Weib mit unverhohlenem Erstaunen; er erachtete indeß die Zeit gekommen, um sich mit Ehren zu verabschieden, und sagte:

„Gnädige Frau, ich will nunmehr nicht länger lästig fallen; Sie gestatten, daß ich —“

„Nein, nein, bitte, bleiben Sie, Sie müssen die Quelle meines Unglücks erfahren.“

„Aber Sie werden sich in dem leichten Anzuge der Gefahr der Erkältung aussetzen, wenn ich Sie länger aufhalte, zu Bett zu gehen.“

Sie lächelte.

„O, mein Herr, ich bin geschützt; ich habe — wollene Unterhosen angelegt.“

„Wirklich? Dann allerdings! Ach, verzeihen Sie, aber ich muß es aussprechen: Damen, die wollene Unterhosen tragen, sind sicher tugendhaft.“

„Nicht wahr, mein Herr? Aber glauben Sie wohl, daß es eine Zeit für mich gab, in der im — — doch nein, ich will lieber nichts verraten… Wofür halten Sie das?“

Sie trat dicht vor Emil, nestelte den Verschluß ihres Gewandes los und zeigte dem Überraschten auf ihrer entblößten Brust einen schmalen, roten Streifen. Auf der Stelle darunter mußte das Herz des schönen Wesens sitzen, wie Emil an den regelmäßigen leichten Zuckungen des Hautstreifens bemerkte… Wie wunderbar hob sich die Weiße der übrigen Haut, die gleich poliertem Elfenbein glänzte, von dem ein paar Zentimeter langen Mal ab!

„Nun, wofür?“ wiederholte sie, als Emil über den wunderbaren Anblick die Antwort vergaß und wie gebannt die lieblichsten aller „Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden,“ betrachtete.

„Gnädige Frau,“ stotterte er, „für eine verheilte Wunde.“

„Erraten,“ rief sie und lachte wie Kind, indem sie das kostbare Schauobjekt profanen Blicken entzog.

„Aber eigentlich,“ fügte sie, ernsthaft werdend, hinzu, „ist’s nicht zum Lachen; denn die Wunde rührt von einem Dolchstoß her, den mir mein Mann in der Hochzeitsnacht versetzt hat… Der Arme hielt mich, während ich zitternd seine Liebkosungen erwartete, in plötzlich ausbrechendem Wahnsinn für ein wildes Tier und stieß erst mir und dann sich den Dolch in die Brust!“

„Entsetzlich!“ rief Emil aus, „und er ist gestorben, während Sie mit dem Leben davonkamen?“

„So ist es, mein Herr…“

Ein Schauder überlief Emil. Die nachtdunklen Augen des armen Weibes richteten sich starr auf einen Punkt an der Decke des Zimmers, ihre Pupillen erweiterten sich, und mit verändertem Accent kam es von ihren Lippen:

„Ein kahler, öder Raum, mit kleinen vergitterten Fenstern… eine hohe Gestalt tritt herein, die Tür fällt hinter ihr zu… die Gestalt hebt wie verzweifelnd die Hände hoch empor… sie wendet mir das Gesicht zu… ein bleiches abgezehrtes Gesicht…“

„Fliehen Sie, mein Herr, fliehen Sie,“ rief sie mit angsterfüllten Zischlauten aus.

Mit Gewalt machte sich Emil aus dem Bann, der ihn gefesselt hielt, frei.

„Gnädige Frau — ich bin schon aus mancher Gefahr glücklich hervorgegangen und fürchte kein Ungemach; dafür bin ich ein Mann! Aber Sie Ärmste, die zum Glück geschaffen erscheint… reich, jung, von seltener Schönheit… , wie herzlich bedauere ich Sie! Versprechen Sie mir, nichts mehr gegen Ihr Leben zu unternehmen und gestatten Sie, daß ich mich gelegentlich nach Ihrem Befinden erkundigen darf?“

„O — Sie können ja nicht, mein Herr!“ rief sie schmerzlich aus, „folgen Sie meinem Rat und fliehen Sie weit, weit von hier! Doch — jetzt bin ich matt und so müde… ich will zu Bett gehen.“

Sie reichte ihm die schmalen, feinen Finger mit wehmütigem Blick; Emil drückte seine Lippen auf die sammetweiche Haut der Hand, die ohne seine Hülfeleistung jetzt mit ihrer Besitzerin im nassen Grabe ruhen würde und entfernte sich mit schnellen Schritten.

 

 

IX.

Mit dämonischer Gewalt zog es Emil nach der Tiergartenstraße…

Barg die Villa des Konsuls außer dem liebesdurstigen Weibe nicht auch ein unschuldsvolles, süßes Kind, Constanze, das Nixchen? Bis in den Hals hinauf schlug Emil das Herz, als er daran dachte, daß dem teuren Wesen Gefahr drohen könnte…

Seine Schritte beschleunigend, stand er bald vor der Pforte, die jetzt merkwürdigerweise nur angelehnt war.

Unbeweglich verharrend, verflossen dem Lauscher fünf, zehn Minuten, wie ebensoviele Stunden.

Endlich hörte er, wie die Tür über ihm sich leise öffnete und zwei Stimmen leise zu flüstern begannen.

„Paul, hier mein Juwelenkästchen, und hier das Geld; verwahre es diesmal besser! Und nun laß uns eilen; mein Mann kommt gewöhnlich gegen zwei Uhr aus dem Klub.“

„Inzwischen sitzen wir längst auf der Eisenbahn, mein Kind, und sind morgen früh, wenn der Alte aufsteht, schon in München.“

Die beiden Flüsternden gingen kaum zwei Schritte an Emil vorüber. Hier galt kein Besinnen, wenn sie nicht mit ihrem Raube in Sicherheit kommen sollten.

Emil trat vor und erschrocken wich das Paar zurück.

„Keinen Schritt weiter,“ sagte Emil in gedämpftem Tone, „bevor Sie Ihren Raub herausgegeben haben, Sie Dieb und Ehebrecher!“

„Wer bist Du, Lump, der sich in fremde Angelegenheiten mischen will,“ erwiderte der Angeredete, und seine Worte ertönten wie die Zischlaute einer Schlange; „zur Seite, oder —“

Emil faßte nach dem Rockschoß des Mannes, um ihn zu halten; im selben Augenblick hatte letzterer schnell in die Tasche gegriffen, ein Stilett blitzte in der Luft und mit einem leisen Aufschrei griff Emil nach seiner Brust.

„Schnell vorwärts, der Hund hat genug!“ hörte er noch wie aus weiter Ferne; dann sank er bewußtlos an der Treppe nieder.

Kaum eine Stunde später hielt der Wagen im Hof, der den Konsul heimgebracht hatte.

Der alte Herr, rüstig wie ein Junger, war in rosigster Stimmung und pfiff leise die Melodie von den „Kirschen in Nachbars Garten“, die so süß und so rot sind, vor sich hin, als er plötzlich die Gestalt Emils vor sich liegen sah.

Er erkannte ihn natürlich nicht und rief erschrocken den Kutscher herbei, der mit dem Ausschirren des Pferdes beschäftigt war. Die Stalllaterne in der Hand kam der Mann eilig gelaufen und beleuchtete den anscheinend leblosen Körper, um den sich eine große Blutlache gebildet hatte.

Entsetzt wurde der Konsul gewahr, daß es sein Sekretär war, der hier lag…

Bald waren Ärzte zur Stelle; der Konsul gestattete nicht, daß Emil in ein Krankenhaus geschafft wurde, sondern ließ ihm ein leeres Zimmer in der Villa einräumen, in dem er untergebracht wurde.

Tagelang schwebte er zwischen Tod und Leben. Als er das erste Mal zum Bewußtsein kam und die Augen aufschlug, war das erste, was er erblickte — — Constanze, das Nixchen, das an seinem Bette saß. Wäre er eine Minute früher erwacht, so würde er ihre Lippen auf den seinigen gespürt haben…

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